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Kapitel 4

Als Doktor Finch wieder den Salon betrat, fand er dort nur Rhona McDermid vor, die immer noch in dem Sessel am Kamin schlief.

Sie regte sich und schlug die Augen auf. Er fühlte die leichte Verlegenheit, von der man immer überwältigt wird, wenn man bei der Beobachtung eines Schläfers ertappt wird. Dieses junge Mädchen strahlte etwas aus, das ihn auf seltsame Weise fesselte. Sie war blond, aber ihr Haar war viel voller und goldener als das von Nora Burdett. Ihre Gestalt war fülliger und das Rot ihres Mundes wirkte leicht übertrieben. Allerdings nicht billig, sondern eher trotzig, wie er fand. Ihre dunklen Augen blickten mit der Verschleierung der Kurzsichtigen. Er hatte das Gefühl, in ein Geheimnis eingedrungen zu sein, als sie um sich schaute. Es war fast, als drückte sie die Enttäuschung, sich immer noch hier zu befinden, hörbar aus. Schließlich richtete sie ihre Augen auf ihn und fuhr mit einem Ruck auf.

»Es ist also überstanden«, sagte sie und atmete erleichtert auf.

»Wie bitte?«

»Ist Ryan arrestiert worden?«

»Leider nicht, Miss McDermid. Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle … Doktor Charles Finch. Ich bin wie Sie alle in diese Falle geraten.«

»Haben Sie eine Zigarette für mich?«, bat sie.

»Leider nein. Ich rauche Pfeife. Ich sehe aber einen Humidor auf den Tisch..« Er nahm eine Zigarette heraus, reichte sie ihr und gab ihr Feuer.

»Verstehen Sie sich darauf, einen Martini zu mixen? Da drüben auf der Bar dürfte alles Erforderliche sein.«

»Wie haben Sie ihn am liebsten?«

»Spülen Sie den Schüttelbecher gerade nur mit Wermut aus.«

Er ging zur Bar und stellte ihr einen so trockenen Martini her, dass ihm beim Gedanken daran schauderte. Als sie ihn fragte, wie er hierher geraten sei, berichtete er es ihr.

»Wenn mir das jemand erzählte, würde ich es nicht glauben«, sagte sie, als er geendet hatte. »Vielen Dank, Charly.« Sie streckte die Hand nach dem Glas aus, das ihm beinahe heruntergefallen wäre. Kein Mensch hatte ihn mehr wohl so genannt, seit … nun, das war viel zu lange her, um darüber nachzusinnen. »Sie haben sicher schon einen Ausweg gefunden«, bemerkte sie, nachdem sie das Cocktailglas in einem Zug geleert hatte. »Jeder hat das schon fertig gebracht, nur waren alle bisherigen Vorschläge sinnlos.«

»Es ist nicht einfach«, erwiderte er.

»Auch eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig«, lächelte sie.

»Darin stimme ich Ihnen zu. Nur weiß ich bislang zu wenig. Es ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht denken.«

»Es wäre auch nicht lustig, wenn es leicht wäre.«

»Finden Sie es lustig, Miss McDermid?«

»Nennen Sie mich Rhona, Charly«, forderte sie ihn wenig damenhaft auf. »Ich hasse es, ans Ledigsein erinnert zu werden. Um die Wahrheit zu gestehen, seit sechs Jahren ist es das erste Mal, dass ich mich nicht langweile.«

»Und vorher haben Sie sich manchmal gelangweilt?«, fragte er trocken.

»Walter fiel vor sechs Jahren«, erklärte sie, und ihre Augen bewölkten sich.

»Walter?«

»Mein Verlobter. Er war Kavallerieoffizier in Indien. Es geschah während eines Patrouillenritts. Damals war ich noch ein anständiges Mädchen.«

Finch lächelte.

»Sind Sie das denn jetzt nicht mehr?«

»Nein«, gab sie zurück. »Ich bin eine Trinkerin, Charley. Werden Sie niemals ein Trinker, Charley. Man fühlt sich dabei grässlich … vorher, während und nachher. Aber noch schlimmer fühlt man sich, wenn man aufhört. Sie müssen wissen, ich bin die gefährliche Frau von Aylesbury. Ich bringe alle netten jungen Paare auseinander. Ich habe einfach keine Moral, Charley.«

»Das ist nicht unpraktisch«, bemerkte er.

»Ja und nein. Würden Sie mir bitte noch einen mixen?« Sie wies unbestimmt zur Bar hinüber. »Es lohnt sich nicht, geizig zu sein, Charley. Machen Sie einen Shaker voll und trinken Sie mit.«

»Ich finde es besser, einen klaren Kopf zu behalten«, entgegnete er, nahm ihr Glas und ging wieder zur Bar.

»Darin unterscheiden wir uns«, lächelte sie. »Sie wollen hier weg, und mir ist es gleich.«

»Aber nein!«

»Es ist meine einzige Chance, unsterblich zu werden, denn unsterblich ist allein der Tod. Alle Anthologien über wahre Verbrechen werden uns berühmt machen.«

»Ruhm nach meinem Tod lockt mich nicht«, erwiderte er.

»Sie können meine Hand halten, wenn er uns erschießt, Charley. Sie gefallen mir. Sie tadeln mich nicht.«

»Ich tadle nie einen Menschen, Rhona.« Er brachte den vollen Schüttelbecher zurück und stellte ihn auf das Tischchen neben ihrem Sessel. »Sehr wenige Menschen haben in ihrer Verhaltensweise eine freie Wahl. Im heutigen Leben sind Konflikte und Druck so stark, dass die meisten nicht damit fertig werden.«

Er füllte das Glas, reichte es ihr und sie nahm einen großen Schluck. Ihre kurzsichtigen Augen blickten zu ihm auf. »Sie finden also, dass Ryan keine Wahl hat?«

»Jedenfalls nicht ohne Hilfe.«

»Hilfe?«

»Zahnschmerzen werden durch den Druck auf einen Nerv hervorgerufen«, erklärte er. »Alle Logik und klare Urteilsfähigkeit können den Schmerz nicht lindern. Irgendjemand muss den Druck beheben.«

»Da ist etwas dran«, stimmte sie zu. »Nur kann mir niemand meinen Walter zurückbringen.«

»Mein liebes Kind«, sagte er freundlich, »Walter war ein Objekt der Liebe. Ihr Glück rührte davon her, dass Sie imstande waren, ihm Ihre Liebe frei zu schenken. Glauben Sie mir, es gibt noch andere, die es wert wären. In diesem Sinne kann er zurückgebracht werden.«

Sie leerte ihr Glas, und er füllte es abermals.

»Bitte, Charley, keine Vorträge über Seelenfrieden. Das ist doch nur eine Illusion, der sich die Menschen hingeben. Liebe ist etwas, das einfach geschieht. Man kann sie nicht mechanisch herstellen.«

»Zerstören Sie nicht durch Rückwärtsschauen Ihren Seelenfrieden. Leben Sie in der Gegenwart und haben Sie Freude an ihr«, sagte er eindringlich leise. »Aber ich bitte um Verzeihung.«

»Howard Lancaster ist ein netter Junge. Wir haben viel gemeinsam. Wir könnten miteinander auskommen. Nur liebe ich ihn nicht, und er liebt mich nicht. Er liebt Kathlyn.«

»Mrs. Greenwood?«

»Er hat sie immer geliebt«, fuhr Rhona McDermid leichthin fort. »Immerhin habe ich ihn für diese Woche beschlagnahmt. Der einzige andere Junggeselle ist Nicolas, und der sollte unter den Stein zurückkriechen, unter dem er hervorgekrochen ist.«

»Sie mögen Mr. Brown nicht?«

»Er ist im Grunde ein Raubritter«, antwortete sie lachend. »Ich habe temperamentvolle Männer gern, aber ein paar Schüsse möchte ich selbst abgeben.«

»Das finde ich sehr vernünftig.«

»Nicolas findet das nicht.«

Finch holte mechanisch seine Pfeife hervor.

»Wer hat Ihrer Meinung nach Mr. Greenwood so weit getrieben, Rhona? Was glauben Sie?«

»Jedenfalls ein gemeiner Kerl«, erklärte sie unumwunden. »Ryan war zu uns allen immer sehr anständig … zumindest bis jetzt. Wenn ihm jemand die Daumenschrauben angelegt hat, so ist das wirklich ein unfairer Zug.«

»Wenn der Druck nicht aufhört, verdient keine Lebensversicherung mehr viel an uns«, meinte Finch.

In diesem Augenblick erschien Kathlyn Greenwood in der Tür. Sie trug eine weiße Rüschenschürze um die schlanke Taille.

»Oh, da sind Sie ja, Doktor«, stellte sie fest. »Wir dachten, Sie würden uns bei Ihrer Rückkehr in der Küche hören.«

»Miss McDermid und ich haben Bekanntschaft geschlossen«, antwortete er.

»Haben Sie meinen Mann gesehen?«

»Ja, auch mit ihm gesprochen?«

»Und?«

»Vielleicht spart es Zeit, wenn ich Ihnen allen gleichzeitig Bericht erstatte.«

»Natürlich. Wir haben in der Küche den Tisch für das Abendessen gedeckt.« Sie warf einen Blick auf den Cocktailshaker neben dem Sessel. »Meinst du nicht, du hast jetzt genug getrunken, Liebes?«, fragte sie.

»Sei nicht immer so mütterlich, Kathlyn«, kam als Antwort. »Ich hasse es, bemuttert zu werden. Außerdem: werden den Verurteilten nicht immer die letzten Wünsche erfüllt?« Sie hob ihren Martini und zitierte Gustave Flaubert: »Der Gedanke, nicht mehr zu sein, ist so süß! Welch‘ tiefe Ruhe ist über alle Friedhöfe gebreitet!«

***

Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns

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