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Оглавление2.Thomas Morus und seine Utopia
Das Rätsel um die richtige Lesart seiner Schrift hat die Nachwelt bis heute nicht losgelassen. Die Interpretationsversuche sind inzwischen Legion.21 Kern des Streits ist dabei fast immer die Frage, wie ernst, im Sinne eines persönlichen Ideals, der Entwurf des utopischen Staatsmodells gemeint war. Die Frage hat viel mit Morus’ Biografie zu tun, wenngleich damit auch viele falsche Fährten gelegt werden.
Geboren wurde Thomas Morus am 6. oder 7. Februar 1478 in London. Als Richter und Diplomat, als Gesandter und Parlamentssprecher, als Universitätsverwalter und Gelehrter hatte es Morus zu europäischer Bekanntheit gebracht. Neben Erasmus von Rotterdam, mit dem ihn eine lebenslange und tiefe Freundschaft verband, galt er als einer der größten Humanisten seiner Zeit. Eine steile Karriere führte ihn bis in das höchste Amt unter dem König: Von 1529 bis 1532 war Morus englischer Lordkanzler. Zwei Ereignisse ragen jedoch aus seiner Biografie heraus. Sie machten ihn hochberühmt und stehen sich doch scheinbar unversöhnlich gegenüber.
Da ist zum einen der Märtyrertod. Morus wurde man 6. Juli 1535 auf dem Towerhügel enthauptet. Der historische Hintergrund ist eines der prägendsten Ereignisse der englischen Geschichte. Mit der Entscheidung von Heinrich VIII., seine Ehe mit Königin Katharina für ungültig erklären zu lassen und Anna Boleyn zu heiraten, nahm auch das unglückliches Schicksal von Morus seinen Lauf. Der König hoffte seit geraumer Zeit auf einen männlichen Thronerben. Er schwärmte zudem leidenschaftlich für Anna Boleyn, die sich ihm als Mätresse aber verweigerte. Überdies war die Ehe mit der Spanierin Katharina nicht mehr von besonderem politischen Nutzen, weil sich England auf die Seite Frankreichs zu schlagen begann. Als der Papst dem König das Vorhaben verwehrte, scheute Heinrich keine Eskalation mehr. Er trennte die englische Kirche von Rom und ließ sich zum Oberhaupt seiner neuen Anglikanischen Kirche ausrufen. Der englische Thron führt den Titel bis heute. Begleitet wurde die Affäre von einem an Spitzfindigkeit kaum zu überbietenden Theologenstreit.22 Viele Menschen verloren im Gefolge der Auseinandersetzung ihren Kopf. Nach dem einmal begangenen Tabubruch kannte Heinrich keine Hemmungen mehr: Insgesamt sechs Mal war er verheiratet; zwei seiner Ehefrauen, darunter Anna Boleyn, endeten auf dem Schafott. Die Aufhebung der Klöster und Stifte machte 6251 Mönche und 1560 Nonnen obdachlos. Heinrich entwickelte sich zu einem der grausamsten Herrscher der englischen Geschichte.
Das Manöver seines Königs hatte Morus von Anfang an mit Skepsis begleitet. Die protestantische Reformation lag erst wenige Jahre zurück. Morus sah die Einheit der Christen endgültig bedroht. Bereits im Mai 1532 war er unter vorgeschobenen Gründen vom Amt des Lordkanzlers zurückgetreten. Öffentlich ließ er nichts verlauten, auch nicht, als der längst vorgezeichnete Weg seinen Lauf nahm: Am 25. Januar 1533 heiratete Heinrich heimlich Anna Boleyn, am 1. Juni wurde sie zur Königin gekrönt. Als Morus schließlich 1535 im Palast von Lambeth genötigt wurde, den Eid auf die neue Kirche zu leisten, verweigerte er den Schwur. Man warf ihn daraufhin in den Tower, machte ihm den Prozess und verurteilte ihn zum Tode mit den denkbar grausamsten Methoden. Sein Strafurteil sah vor, ihn durch Londons City zu schleifen, lebendigen Leibes sollte ihm das Geschlechtsteil abgeschnitten, der Bauch aufgeschlitzt, die Eingeweide herausgerissen und verbrannt werden. Danach sollte man ihn vierteilen und jedes der vier Teile auf einem der Tore Londons und sein Haupt auf der London Bridge zur Schau stellen. Morus blieb die Prozedur erspart, weil ihn der König in letzter Sekunde zum Tod durch Enthauptung begnadigte. Von der Hinrichtung sind allerdings keinerlei Äußerungen der Bitterkeit überliefert. Vielmehr kommentierte Morus das Hinrichtungszeremoniell mit Ironie. Zum Gouverneur des Towers soll er scherzend gesagt haben: „Helft mir bitte beim Hinaufsteigen, Master Kommandant, für mein Herunterkommen laßt mich selber sorgen.“ Seine letzten Worte, die über die Jahrhunderte hinweg inzwischen zum geflügelten Wort geworden sind, lauteten: „Ich sterbe als des Königs treuer Diener, doch Gottes zuerst.“23 Seit 1935 zählt ihn die katholische Kirche zu ihren Heiligen.
Doch ausgerechnet dieser Mann, der für die Einheit der Kirche sein Leben opferte, hatte knapp zwei Jahrzehnte zuvor eine Schrift veröffentlicht, die mit seinem Märtyrertod völlig unvereinbar schien. In seiner Utopia von 1516 beschrieb Morus kein genuin christliches Gemeinwesen, sondern einen weitgehend heidnischen, rationalistischen und sozialistischen Staat. Der Widerspruch schien so unüberbrückbar, dass viele Kommentatoren kurzerhand einen tiefen Bruch in Morus’ Biografie unterstellten. Vom erzkonservativen Katholiken (Reinhold Baumstark) bis zum überzeugten Sozialisten (Ernst Bloch) reichte die Spanne, die die Auflösung des Rätsels mit dem Argument versuchte, Morus sei eben bis zur Abfassung der Utopia, oder zumindest während dieser Zeit, kein Christ im dogmatischen Sinne gewesen.24 Der Inhalt der Schrift schien Beweis genug, um den Verfasser als aufgeklärten, ja zutiefst antiklerikalen Gelehrten einzustufen. Diese Einschätzung ist jedoch schlechterdings falsch. Ein „heidnischer“ Morus ist zu keiner Sekunde seines Lebens und Schreibens überliefert. Bereits die frühen Jahre zeigen einen tieffrommen Menschen. Immerhin vier Jahre (1499–1503) lebte er, ohne ein Gelübde abzulegen, bei den Londoner Kartäusern. Die Entscheidung zugunsten einer bürgerlichen Laufbahn ist wohl auf zwei Faktoren zurückzuführen: die Rolle seines Vaters und das Eingeständnis, ungeeignet für den Zölibat zu sein. Erasmus schrieb, Morus wollte lieber ein reiner Ehemann als ein unkeuscher Priester sein.25 Morus aber blieb zeitlebens ein frommer Christ, der selbst der Askese gegenüber nicht abgeneigt war. Bis zu seinem tragischen Tod fastete und betete Morus zu regelmäßigen Zeiten und sein Schwiegersohn Roper berichtet, dass er heimlich „ein härenes Hemd auf der bloßen Haut“ trug und seinen Körper von Zeit zu Zeit „mit einer geknoteten Geißel“ kasteite.26 Auch Morus’ Schriften geben keinen Anlass, an seinem Katholizismus zu zweifeln. Ob in seinen Epigrammen oder den Übersetzungen des griechischen Satirikers Lukian (1505/06), ob in der frei übertragenen Biografie des Pico della Mirandola (1505) oder dem dramaturgischen Werk über die Geschichte Richard III. (1514) – immerzu tritt dort ein ebenso gottesfürchtiger, historisch interessierter wie politisch engagierter Humanist und Literat hervor. Bis zur Abfassung der Utopia (1515/16) spricht nichts für die These eines zeitweilig „unchristlichen“ Morus. Im Anschluss daran ist das noch weit weniger der Fall: Ab Mitte der 1520er-Jahre engagierte er sich mit theologischen Kontroversschriften vehement gegen reformatorisch gesinnte Zeitgenossen (Luther, Tyndale). Und die Zeit im Tower ist schließlich reich an christlicher Erbauungsliteratur, tröstlichen Briefen und frommen Gebeten. Wenn man also nicht behaupten will, dass Morus in den wenigen Monaten während der Abfassung der Utopia von einem „heidnischen Fieber“ befallen wurde, dann heißt das: Es steckt hinter der Utopia kein heidnischer Verfasser. Die genannten Urteile werfen daher vielmehr ein grelles Licht auf das methodisch höchst problematische Vorgehen, vom Inhalt des utopischen Entwurfs auf die persönliche Ansicht des Autors zu schließen. Auf dem Prüfstand steht damit aber noch weit mehr, nämlich zugleich, was gemeinhin fast als Synonym zur Utopie gilt: die Fiktion eines im Sinne des Autors idealen Gemeinwesens.
Gleichwohl muss man sich auch davor hüten, die Utopia nur vor dem Hintergrund von Morus’ dramatischem Ende zu betrachten. Als er sie niederschrieb, stand das Ereignis der Reformation noch bevor. Diese Zäsur hat das geistige Klima in Europa nachhaltig verändert und die Fronten polarisiert. Auch Morus’ Reformeifer ist dadurch gemäßigter geworden.27 Eine Verbindung zwischen seinem Märtyrertod und seiner berühmtesten Schrift gibt es dennoch: Der Mensch, dem selbst im Augenblick des Todes der Humor nicht zu nehmen war, war auch zeitlebens ein ebenso ernsthafter wie heiter-ironischer Charakter. Und exakt in diese beiden Gesichter blickt man letztlich auch bei der Lektüre seiner Utopia. Vor allem das beständige Schwanken zwischen Ernst und Ironie ist einer der Hauptgründe für die beinahe groteske Palette der Interpretationsperspektiven.
Nach Morus’ Seligsprechung (1886) und mehr noch nach der Kanonisation (1935) begannen in konservativ-katholischen Kreisen verstärkt Versuche, die „heidnische“ Utopia mit ihrem christlichen Autor vereinbar zu machen. Wollte man die Schrift nicht sogleich als Morus’ „größten Missgriff“28 werten, dann musste man sie zu einem rein ironischen Spiel, zu einem einzigen humanistischen Jux erklären.29 Völlig anders werteten allerdings die sozialistischen Vertreter die Schrift. Nicht als Scherz, sondern als Morus’ ganz persönlicher und sozialistischer Idealstaatsentwurf galt dort die Utopia. Der bekannte Sozialist Karl Kautsky hielt die Utopia für die wichtigste vorwissenschaftliche Version des modernen Kommunismus; und er war damit nur der erste Vertreter einer langen Reihe von Autoren, die keineswegs nur sozialistische Kommentatoren umfasste.30 Auffallend an den vielen Lesarten der Utopia – von denen hier nur zwei exemplarisch herausgegriffen wurden – ist allzu oft die Einseitigkeit bei der Beobachtung oder Betonung bestimmter Aspekte. Zudem hat sich die Forschungsliteratur inzwischen darin überboten, eine schier endlose Liste an möglichen Quellen oder Vorbildern zur Utopia zu erstellen, die nicht selten monokausal zur Entschlüsselung des Werkes dienten: Platons Politeia, die Gemeinschaft der Urchristen, Augustinus’ Gottesstaat, die Ironie Lukians, die römischen Satiriker Horaz und Juvenal, das Klosterleben, die Gattung der Fürstenspiegel oder Amerigos Reiseberichte – all diese Einflüsse und Quellen lassen sich problemlos nachweisen und je nach Blickwinkel wird man somit auch stets sozialistische, idealstaatliche, satirische, reformerische, heidnische, machtpolitische, moderne oder mittelalterliche Elemente in der Utopia finden. Doch für viele Lesarten gilt, was bereits Eberhard Jäckel 1955 mit Nachdruck kritisierte: Es mangelt ihnen selten an der Entdeckung neuer Momente, vielmehr kranken sie an Überbetonung oder Verabsolutierung.31
Für eine dritte Gruppe ist die Utopia daher zunächst ein Zeugnis frühhumanistischen Denkens.32 Wenngleich viele Einzelfragen auch innerhalb dieser Perspektive offen und strittig geblieben sind, so verfügt der „humanistische“ Ansatz doch zumindest über den Vorteil, einen Einzelaspekt nie für das Ganze zu nehmen. Die Antwort auf die Frage nach der richtigen Interpretation der Utopia – und damit auch ein wichtiges Vorverständnis des Utopiebegriffs – lässt sich selbstredend nicht ohne Blick auf die Schrift selbst gewinnen.
2.2Grundzüge und Gestaltungsmerkmale der Utopia
Rein formal handelt es sich bei der Utopia um einen literarischen Dialog, dessen Thema der „beste Staat“ ist. Ort der ausgesprochen dürftigen Handlung ist Antwerpen, eine der wichtigsten Handelsmetropolen Europas im frühen 16. Jahrhundert. Das Buch beginnt nachweislich autobiografisch: Morus befindet sich von Mai bis Oktober 1515 auf einer königlichen Gesandtschaft in Flandern, um dort über Handelsverträge zwischen englischen und niederländischen Kaufleuten zu vermitteln. Als die gegnerische Delegation vorübergehend abreist, um erneut ihre Auftraggeber zu konsultieren, nutzt Morus die Gelegenheit, den befreundeten Humanisten Peter Gilles in Antwerpen zu besuchen.
Von hier ab verlässt die Erzählung den Boden der Tatsachen und geht in den Bereich der Fiktion über. Nach einem Gottesdienstbesuch trifft der Ich-Erzähler seinen Freund Peter Gilles, den Stadtschreiber von Antwerpen, den er in ein Gespräch mit einem Fremden verwickelt sieht. Der Fremde ist Raphael Hythlodaeus. Die Gesprächspartner begeben sich in den Garten von Morus’ Antwerpener Domizil, gehen mittags Essen und kehren nachmittags in den Garten zurück. Das Gespräch endet abermals im Speisezimmer mit dem Wunsch auf baldige Fortsetzung des Dialogs. Damit ist im Grunde alles zum formalen Geschehen in der Utopia gesagt: Nicht die Handlung kennzeichnet die Schrift, sondern die im Gespräch behandelte Gedankenwelt. In einer über weite Strecken monologisierenden Rede berichtet Hythlodaeus im zweiten Teil von der fernen und glücklichen Insel „Utopia“. Diesem Bericht gehen aber zunächst zwei ausführliche Erörterungen im ersten Buch voraus. Dabei handelt es sich zum einen um die Frage, ob nicht ein so erfahrener und philosophischer Kopf wie Raphael in den Dienst eines großen Fürsten treten sollte, um diesem mit seinem Rat zur Seite zu stehen. Raphael lehnt den Vorschlag kategorisch ab. Zum Zweiten trägt Raphael eine massive Sozialkritik vor, die sich gegen die innenpolitische Situation Englands sowie das außenpolitische Verhalten der Fürsten Europas richtet. Bereits damit ist angezeigt, dass sich Morus’ Utopie nicht im Porträt einer imaginären Welt erschöpft. Mindestens ebenso bedeutsam erscheint die kritische Diagnose der Gegenwart, die Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Verhältnissen der Zeit.
Die Komposition der Schrift erschließt sich zum Teil bereits aus ihrem unmittelbaren Entstehungskontext. Auf seiner Gesandtschaft in Flandern hat Morus auch das zweite Buch, also den Bericht über die entlegene Insel, niedergeschrieben. Nach seiner Rückkehr nach England sah sich Morus dann mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich intensiv mit den politischen Realitäten seiner Zeit auseinanderzusetzen, vor allem durch das dringende Ersuchen, seine Dienste künftig allein dem König zu widmen. Erst in London fügte er das erste Buch nachträglich hinzu. Dieser Teil ist deshalb vor allem das Ergebnis von Morus’ Reflexion über die Problematik, wie man in einer korrupten Wirklichkeit politische Verantwortung übernehmen kann, ohne dabei von den moralischen Prinzipien eines christlichen Humanismus abzufallen. Mit dem Vorziehen des später geschriebenen ersten Teils entsteht der Eindruck, und diese Wirkung ist zweifellos gewollt, dass der Anlass zur spielerischen Reflexion über das fiktive Gemeinwesen die kritische Betrachtung der europäischen Zustände gewesen sei. Die Konstellation aus beiden Büchern erfüllt damit zwei Funktionen: Sie ist einerseits Darstellung dessen, was ist, aber nicht sein sollte; andererseits ist sie auch der fantasievolle Entwurf einer anderen Welt, die als Denkanstoß und kritisches Korrektiv zugleich fungiert. Ohne ein eindeutiges Reformideal zu verkörpern oder unmittelbare Handlungsanleitungen zu geben, besitzt die Utopia sehr wohl einen Erkenntniswert für die zeitgenössische Wirklichkeit. Morus geht es aber nicht darum, die geschilderte Fiktion in die Wirklichkeit zu überführen, sondern durch die Betrachtung der utopischen Welt die Defizite der Herkunftsgesellschaft umso deutlicher erkennbar zu machen.
Nach Vollendung der Schrift in London schickte sie Morus an Erasmus. Im Dezember 1516 erschien sie erstmals in Löwen unter dem Titel: „Wahrhaft goldenes, nicht weniger nützliches als vergnügliches Büchlein über den besten Staat und die neue Insel Utopia.“ Obwohl das Werk sofort den ungeteilten Beifall aller herausragenden Humanisten seiner Zeit fand, ein Beifall, der bis heute nicht verstummt ist, spielt Morus in der Vorrede an Peter Gilles den eigenen Anteil an seinem Werk deutlich herunter. Mit dem originellen Einfall, er müsse nur wiedergeben, was ihm Raphael berichtet habe, beansprucht Morus nur noch die Rolle eines Herausgebers. Außerdem wendet er sich mit der Bitte an Gilles, er möge doch Raphael nochmals zu einigen Details befragen, vor allem: Wo denn die glückliche Insel Utopia liege?33 Damit aber gleicht der Widmungsbrief dem sprichwörtlichen „Wink mit dem Zaunpfahl“. Morus macht bereits zu Beginn der Lektüre den Leser ziemlich offensichtlich auf die spielerischen Aspekte des Werkes aufmerksam. Das Augenzwinkern fällt mitunter so deutlich aus, dass die Hinweise auf einen hintersinnigen und bisweilen spöttisch aufgelegten Verfasser kaum zu übersehen sind.
Die Utopia ist gleichwohl nicht nur Spiel. So entzündet sich die harsche Sozialkritik des ersten Buches an der steigenden Zahl von Dieben und Bettlern in England. Raphael wehrt sich dabei vehement gegen die Auffassung, die Diebe würden die drakonischsten Strafen bis hin zum Galgen verdienen: Das Todesurteil, so Raphael, sei weder gerecht, noch sei es im Interesse des Staates. Er analysiert das Phänomen ausgesprochen rational und führt es auf sozial-ökonomische Ursachen zurück. Verantwortlich für die ungerechte Situation sei in Wahrheit die Praxis der englischen Großgrundbesitzer: Durch das großflächige Einzäunen früheren Gemeindelandes (Allmende) und der Umwandlung von Acker- zu Weideland würden die Agrarflächen nun zunehmend für die Schafzucht und Textilproduktion okkupiert. Was aber bleibe den Unglücklichen dann anderes übrig, so fragt Raphael, als Haus und Hof zu Schleuderpreisen zu verkaufen und als Bettler oder Diebe in die Städte zu ziehen? Dort würden sie nun aber schon eines gestohlenen Sümmchens wegen aufgehängt.34 Nicht an das Gewissen der Großgrundbesitzer richtet sich Raphaels Appell, noch weniger an das Seelenheil der Armen; vielmehr werden die Missstände als tiefe Krise der Sozialverfassung diagnostiziert. Die Kritik ist ohne Spott vorgetragen und sie ist so analytisch-rational und auffallend deutlich zugleich, dass kaum ein Grund besteht, ihre grundsätzliche Ernsthaftigkeit anzuzweifeln.
Des Weiteren beinhaltet das erste Buch eine Kritik der außenpolitischen Praktiken der europäischen Fürsten. Zu diesem Zweck schildert Raphael eine hypothetische Szene, die er an den Hof des französischen Königs verlegt.35 Er lässt dort die Höflinge eine Fülle von macht- und eroberungstaktischen Vorschlägen unterbreiten, die in auffälliger Weise an Machiavellis Principe erinnern, etwa wie Bündnisse geschlossen und Verträge gebrochen, wie Gegner ruhig gestellt und neue Territorien erobert werden können.36 Die Art dieser Gespräche dient Raphael als schlagendes Argument gegen eine mögliche Beraterfunktion, weil er in den höfischen Kreisen entweder selbst korrumpiert oder rasch vertrieben würde. Die Streitfrage, ob der Philosoph in den aktiven Fürstendienst treten soll, ist das eigentliche Kernproblem des ersten Buches. Die weiteren Diskussionspunkte gehen aus dieser Erörterung hervor und während Raphael mit seiner Sozialkritik weitgehend Zustimmung findet, bleibt diese Kontroverse offen und endet argumentativ unentschieden. Morus und Gilles betonen wiederholt, dass es bei aller offensichtlichen Ungerechtigkeit dennoch nötig bleibe, durch das persönliche Engagement wenigstens einen Beitrag zur Besserung zu leisten.
Der Streit um den Vorzug von vita actica oder vita contemplativa war für die Humanisten der damaligen Zeit nichts Neues; die Entscheidung betraf ein unmittelbares Problem. Die Humanisten formten ein neues Bild, eine neue Stellung des Menschen, die sich deutlich von der hierarchischen Abstufung des Mittelalters unterschied. Sie bemühten sich um eine neue, wesensgemäße Bestimmung von Herrschaft, Bildung, Gesetz, Eigentum und Strafe; und sie versuchten nicht nur Gehör bei den Trägern der politischen Macht zu finden, sondern traten meist selbst in den Dienst der Fürsten, um sich dort aktiv für die Umsetzung ihrer Ideen einzusetzen. Auch Morus selbst sah sich vor diese Entscheidung gestellt, und er hat sich die Antwort keineswegs leicht gemacht. Sein Leben ist ein beständiges Schwanken zwischen den Polen der rein geistigen Existenz eines christlichen Gelehrten und der aktiv-politischen als Staatsmann. Die zentrale Stellung der Berater-Thematik nährt daher den Verdacht, dass Morus an dieser Stelle, argumentativ und kontrovers, einen Grundkonflikt seines eigenen Lebens ausgetragen hat. Überzogen freilich scheint es, darin sogar den tiefen psychologischen Konflikt einer gespaltenen Persönlichkeit zu erblicken, die zeitlebens bereut hat, nicht Mönch geworden zu sein.37 Das Dilemma beschäftigte schließlich nicht nur Morus, sondern den gesamten christlichen Humanismus der damaligen Zeit.
Das zweite Buch, rund zwei Drittel des Textes, ist dann ganz auf die Beschreibung Utopias konzentriert. Raphaels Schilderung folgt dabei keiner strengen oder konsequenten Gliederung. Dennoch ist die Darstellung inhaltlich erschöpfend und kennt im Wesentlichen fünf größere, aufeinander aufbauende Kapitel: Die Schilderung beginnt mit der geografischen Lage, der Landesstruktur und den Städten Utopias. Im Anschluss folgt die Beschreibung der sozioökonomischen Ordnung (Arbeit, Handel, Freizeit), ehe der Bericht zur utopischen Lebensphilosophie, der Ethik und dem Erziehungs- und Bildungssystem übergeht. Der vierte Abschnitt mit der Schilderung des Kriegswesens und den Hinweisen auf Verbrecher, Sklaven und Ehebrecher verdunkelt dann in Teilen das Bild. Die zentrale Bedeutung des Kapitels liegt in der Abweichung von der bis dahin weitgehend positiven Normgestalt des utopischen Gemeinwesens. Der fünfte und letzte Abschnitt konzentriert sich schließlich auf die Religion der Utopier, einschließlich der Behandlung der Todesthematik. Willi Erzgräber spricht aufgrund des Aufbaus daher von einer insgesamt „dramatischen“ Linienführung.38 Die Hinweise zum formalen Aufbau sollen hier vorerst genügen, weil sich an späterer Stelle noch eine genauere Analyse des utopischen Staatswesens anschließen wird.
In der Schlussszene wird die Dialogsituation wieder aufgenommen. In einem leidenschaftlichen Plädoyer für das utopische Gemeinwesen bricht Raphael mit seiner anfangs quasi-neutralen Berichterstattung. Der „Dialog-Morus“ reagiert ausweichend. Sein Verweis auf das anstehende Abendessen setzt dem Gespräch ein vorzeitiges Ende. Morus lobt sowohl die beschriebenen Einrichtungen wie die Rede des Raphael. Seine Bedenken, namentlich gegenüber der Kriegspolitik, der Religion und der kommunistischen Lebensweise der Utopier, formuliert Morus nicht mehr an die Adresse Raphaels, sondern richtet sie direkt an den Leser. Er schließt mit dem Satz: „Inzwischen kann ich zwar nicht allem zustimmen, was er gesagt hat, obschon er unstreitig sonst ein ebenso gebildeter wie welterfahrener Mann ist, jedoch gestehe ich gern, daß es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann.“ 39 Damit endet die Utopia. Der zentrale Aspekt einer endgültigen Bewertung des Gesagten wird vertagt. Ein solcher Schluss ist im Grunde noch gar keiner. Das Ende ist bewusst offen gelassen; und es ist nun am Leser, Raphaels Standpunkte im Einzelnen zu prüfen. Die Erzählstruktur führt zu einer argumentativen Pattsituation, die verhindert, dass sich der Leser vorbehaltlos auf die eine oder andere Seite schlagen kann. Die Aufgabe des Nachdenkens und der Bewertung wird dem Publikum übertragen und in dieser Weise ist der Aufruf zur eigenen Urteilsbildung ebenso unverkennbar wie die Parallele zu Platons Dialogen.
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der gesamten Schrift sind die dort auftretenden Personen. Die schillerndste Gestalt ist zweifellos der einzige, frei erfundene Charakter: Raphael Hythlodaeus. Ein erster Zugang erschließt sich über seinen Nachnamen. Dieser nämlich enthält – wie schon die Utopia-Wortschöpfung – zwei griechische Begriffe: „hýthlos“ heißt Posse oder Geschwätz; bei dem Wort „dáios“ ist allerdings die Betonung entscheidend: dāios (mit langem a) heißt „feindlich“, demzufolge wäre Raphael der Feind des Geschwätzes oder eben: der inhaltsschwere, weise Philosoph. Liest man jedoch dăios (mit kurzem a), wie es die meisten Interpreten tun, dann erhält man Raphael, den Schwätzer und Possenerzähler, denn das Wort bedeutet so viel wie „erfahren“ oder „kundig“.40 Dass allein damit das Vorzeichen der gesamten Utopia-Schilderung wechselt, liegt auf der Hand. Doch nicht einmal das ist wirklich eindeutig: Selbst bei einer unzweideutigen Übersetzbarkeit könnte der Name im Sinne humanistischer Satire noch immer ironisch gemeint sein.
Im Text wird Hythlodaeus zunächst vorgestellt als ein ehemaliger Reisebegleiter des Amerigo Vespucci. Morus hält ihn deshalb anfänglich für einen Seemann, doch Gilles entgegnet ihm: „Weit gefehlt! (…) Jedenfalls fährt er nicht zur See wie Palinurus, sondern wie Odysseus oder, besser gesagt, wie Platon.“ 41 Der Platon-Vergleich, die Seefahrt und die Weltentdeckung sind unverkennbar Hinweise und Metaphern für philosophische Wahrheitssuche. Der Verweis auf Platon bereitet zudem Raphaels Thema vor: die Frage nach dem „besten“ Staat. Konzipiert ist die Figur als deutliche Kontrastfolie zu den übrigen Personen der Erzählung. Im Gegensatz zu Morus und Gilles kennt Raphael weder private noch berufliche Pflichten. Auch sein gesamtes Vermögen hat er bereits zu Lebzeiten seinen nächsten Verwandten vererbt, um sich auf diese Weise von jeder sozialen Verantwortung freizukaufen.
Darüber hinaus ist Raphael ein großer Vereinfacher. Ablesen lässt sich das an seinem Diktum, wonach alle Besitzenden unnütz und frevelhaft seien, Arme und Besitzlose dagegen prinzipiell bescheiden und gut. Mit der Abschaffung des Geldes, so Raphael, werde auch die Geldgier verschwinden und damit zugleich Betrug, Raub, Mord, Streit, Furcht und Sorgen.42 Hythlodaeus verkürzt nicht nur gern, bisweilen verfängt er sich sogar in groteske Widersprüche. So entwirft ausgerechnet er – die Losgelöstheit in Menschengestalt – das Bild eines Gemeinwesens, in dem das Kollektivinteresse über jede individuelle Selbstbestimmung triumphiert. Ferner besitzt Raphael eine besondere Vorliebe und Gabe, um von politischen Einrichtungen fremder Länder zu berichten. Auf der Insel Utopia gelten Diskussionen über Politik, außerhalb von Senat und Volksversammlungen, allerdings als Hochverrat.43 Raphael ist zudem ein Weitgereister; in Utopia aber muss man sich für jedes Verlassen des Wohnbezirks einen Erlaubnisschein holen und reist im Normalfall in der Gruppe. Außerdem besteht Raphael während seiner Ausführungen explizit darauf, nur von den „Einrichtungen zu berichten, nicht aber diese zu rechtfertigen.“ 44 Gegen Ende seiner Rede formuliert er jedoch ein derart flammendes Plädoyer für die Utopier, dass er seine angeblich neutrale Haltung damit völlig ad absurdum führt.45 Fast noch kurioser ist die Diskussion um die Todesstrafe: Im ersten Buch der Utopia begründet Hythlodaeus seine Ablehnung, selbst Diebe zum Tode zu verurteilen, mit so grundsätzlichen, christlich-humanistischen Argumenten, dass eine Revision seines Standpunkts nicht mehr möglich scheint: „Gott hat verboten zu töten, und wir töten so leicht wegen eines entwendeten Groschens (…). Nun hat uns Gott aber nicht nur die Verfügung über das fremde, sondern auch über das eigene Leben entzogen.“ 46 Nur kurz darauf lobt Raphael allerdings beim Volk der Polyleriten, und später dann auch bei den Utopiern selbst, die dort praktizierte Todesstrafe.47 Überdies kennen die Utopier sogar die staatlich erlaubte, ja geförderte Euthanasie.
Die gesamte Utopia würde man indes kräftig missverstehen, wollte man Hythlodaeus nur als eine literarische Karikatur interpretieren. Trotz all der unübersehbaren Widersprüche, weisen ihn seine Argumentationen bisweilen als höchst kompetenten Beobachter und Kritiker aus. Seine Kenntnisse der englischen Verhältnisse um 1500 und die unterbreiteten Lösungsvorschläge sind zum Teil von solcher Ernsthaftigkeit und so hohem Realitätssinn, dass man in Raphael nicht einfach die Parodie eines selbstgerechten Menschentyps sehen darf. „Schafft diese verderblichen Seuchen aus der Welt!“, so fordert Hythlodaeus: „Schränkt diese Ankäufe der Reichen ein und die Möglichkeit, sie wie ein Monopol zu handhaben! Laßt nicht so viele vom Müßiggang leben! Stellt die Landwirtschaft wieder her! Belebt die Wollspinnerei! Somit hättet ihr ein ehrliches Gewerbe, in dem sich diese müßige Schar nützlich betätigen könnte: einmal die Leute, die die Not bisher zu Dieben machte, dann auch die, die jetzt als Landstreicher oder faulenzende Dienstleute herumlungern, beides zweifellos künftige Diebe.“ 48 Anflüge von Ironie sind dabei nicht erkennbar. Zudem hatte Raphael bereits im ersten Buch eine Theorie des guten Herrschers entwickelt, die sich vollkommen und nachweislich mit Morus’ persönlichen Ansichten deckt.49 Raphael mag phasenweise wie ein verbohrter und wirklichkeitsfremder Idealist erscheinen; bisweilen fungiert er jedoch unzweifelhaft als das Sprachrohr des Morus. In der Figur des Hythlodaeus liegt im Grunde der gesamte Reiz des Utopia-Projekts verborgen. Der gleiche Raphael, der sich in so viele Widersprüche verfängt, trägt auch die harsche Sozialkritik sowie alle in der Utopia entwickelten Reformperspektiven vor. Hieraus leitet sich seine zentrale Funktion für das gesamte Werk ab, weil der Leser jederzeit zur Vorsicht und zur Prüfung des Vorgetragenen aufgerufen bleibt.
Eine ähnliche Stellung kommt auch der Morus-Figur der Erzählung zu. Diese formuliert über weite Strecken Positionen des Autors, etwa wenn Morus im Streit um die Fürstenberatung Vorbehalte gegenüber der weltfremden „Schulphilosophie“ des Hythlodaeus erhebt oder wenn er bezweifelt, dass die Abschaffung von Geld und Privateigentum zu öffentlichem Reichtum führt.50 Der fiktive Morus wendet sich gegen zentrale Einrichtungen des utopischen Staates und ist damit als Korrektiv zu Hythlodaeus’ Erzählung von nicht unwesentlicher Bedeutung. Trotzdem bleibt Vorsicht geboten. Die Dialogfigur ist beispielsweise nicht in der Lage, die sprechenden Namen der Personen und Orte zu deuten. Ferner wird in der Schlussszene zu Bedenken gegeben, dass durch die Einrichtung des Kollektiveigentums doch „aller Adel, alle Erhabenheit, aller Glanz, alle Würde, alles, was nach allgemeiner Ansicht den wahren Schmuck und die wahre Zierde eines Staatswesens ausmacht, vollständig ausgeschaltet“ werde.51 Wenn Morus seine Zweifel allerdings nicht mit der „eigenen“, sondern mit der „allgemeinen Ansicht“ begründet, dann mag die Satire durchaus erkennbar sein, vor allem, wenn man halbwegs mit Morus’ Haltung gegenüber der Prunksucht an den europäischen Fürstenhöfen vertraut ist. An dieser Stelle spricht nicht der Autor, er hat vielmehr seiner Dialogfigur die Maske der „öffentlichen Meinung“ aufgesetzt und diese wird ganz offensichtlich selbst das Opfer einer Täuschung. Man kann Morus hier ein ähnliches Vorgehen unterstellen, wie es die von ihm geschätzten römischen Satiriker Horaz und Juvenal praktizierten. Auch diese werden in den eigenen Werken bisweilen zu Reingefallenen und machten sich selbst zur Zielscheibe des Spotts.52
Zusammengefasst heißt das: Keine der Figuren der Utopia ist eine eindeutige und geschlossene Gestalt. Im Laufe des Dialogs widersprechen sich die Figuren nicht nur gegenseitig, sondern mitunter sogar sich selbst. Auch trägt die formale Struktur dazu bei, dass keine Person eine argumentative Überlegenheit gewinnt. Bereits Hubertus Schulte Herbrüggen hat daher mit Recht darauf verwiesen, dass die Frage, welche der beiden Figuren die Ansicht des Verfassers repräsentiert, falsch gestellt ist. Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Ansicht spricht aus dem Zusammen- und Gegenspiel der beiden Erzähler?53 Die spielerische Komplexität der Utopia erschließt sich also keineswegs auf Anhieb. Was beim ersten Lesen für leicht verständlich, eindeutig und unmittelbar einsehbar erscheint, das beginnt seine Wirkung oft erst zu entfalten, wenn man die Einzelteile des Werkes in Beziehung setzt und als Leser in einen „infiniten Prozeß des Auslegens, des Kombinierens und Abwägens hineingezogen wird.“ 54 Dieses diskursive Anliegen kennt gleichwohl einen roten Faden, der im Folgenden näher verdeutlicht werden soll.
2.3Das Experiment: Vernunft als Staatsprinzip
Man kann die Utopia als ein höchst ambivalentes „Lob der Vernunft“ auffassen. In enger und wohl auch durchaus gewollter Analogie zum Lob der Torheit seines Freundes Erasmus55 ist das Werk in gewisser Weise sogar eine Art Komplementärschrift. Sie lobt aber nicht wie Erasmus’ „Torheit“ – mal ernst, mal ironisch – die menschlichen Affekte und Leidenschaften, sondern ihren Widerpart: die Vernunft. Nichts existiert in Utopia, das nicht ausdrücklich rational erklärt wird oder sich zumindest rational erklären ließe. Bei genauerer Betrachtung wird zudem offenbar, dass es sich um eine ganz bestimmte Qualität der Vernunft handelt. Nicht weniger häufig, wie eine Einrichtung oder Sitte als vernünftig gelobt wird, ist zu hören, sie sei nützlich. Und für vernünftig halten die Utopier vor allem, was den Gesamtnutzen des Gemeinwesens maximiert. Die Utopia erprobt die utilitaristische Rationalität in allen gesellschaftlichen Bereichen – mit allen positiven, aber auch, was gerne übersehen wird, mit allen negativen Konsequenzen.
Voraussetzung für das Vernunftexperiment ist zunächst die Isolation des Gegenstandes. Gleich zu Beginn des zweiten Buches berichtet Raphael deshalb, dass der Gründungsfürst Utopos vor 1760 Jahren die Halbinsel Abraxa vom Festland durch einen 15 Meilen breiten Graben abtrennen ließ.56 Zudem ist die Insel durch natürliche Hindernisse sowie künstliche Verteidigungsanlagen bestens geschützt. Um die Möglichkeit des experimentellen Erkundens zu gewährleisten und um die wirkenden Kräfte mit ihren kausalen Folgen beschreiben zu können, bedarf es offenbar einer Versuchsanordnung, die das Funktionieren des Systems von störenden Fremdeinflüssen isoliert.
Der genaue geografische Ort der Insel bleibt ungeklärt. Man erfährt lediglich, dass Utopia jenseits der unwirtlichen Äquatorlinie und in der Nähe des neuen Kontinents liegt. Die eher begrenzten natürlichen Ressourcen sorgen bei den Utopiern für ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zur Natur, das ganz auf ihre Verwertbarkeit gerichtet ist: Es dokumentiert sich beispielsweise darin, dass ganze Wälder von Menschenhand abgeholzt und mit Blick auf Ertrag und Transportverhältnisse an anderer Stelle wieder aufgeforstet werden.57 Auch die gesamte Infrastruktur betont die Funktionalität. Die Städte liegen nie weiter als einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Die „Straßen sind zweckmäßig angelegt“, die Gehöfte auf dem Lande sind „planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt“ und das „Ackerland ist den Städten (…) zweckmäßig zugeteilt.“58 Die Hauptstadt Amaurotum heißt übersetzt so viel wie „Nebelstadt“ und ist damit eine deutliche Anspielung auf London. Doch mit den zeitgenössischen Städten hat Amaurotum nicht viel gemeinsam: Waren die historisch gewachsenen, frühneuzeitlichen Städte mit ihren verwinkelten Gassen und dicht an dicht gebauten Häusern stets ein Hort der Brandgefahr, des Schmutzes und der Epidemien, so verkörpern die utopischen Städte nachgerade das exakte Gegenteil: Die langen, ausladenden Straßen, die ausgebaute Trinkwasserversorgung und nicht zuletzt die geschilderten Glasfenster, anstelle der im 16. Jahrhundert üblichen Öl- und Wachstücher – all dies vermittelt nicht nur symbolisch ein Bild der Helligkeit und Fürsorge, sondern ist insbesondere Ausdruck eines ungebremsten Zutrauens in die Leistungsfähigkeit einer technisch-planerischen Vernunft. Es ist zudem ein deutliches Indiz für politische Modernität: Denn soziale Ordnung und politische Herrschaft gelten in Utopia ausschließlich als Menschenwerk; und wie sehr gerade die Insel Utopia ein menschliches „Kunstprodukt“ ist, das zeigt sich schon daran, dass sich ihre Existenz erst dem Abtragen gigantischer Landmassen verdankt.
Im Bereich von Bildung, Erziehung und Wissenschaft drückt sich die Betonung des Rationalen zunächst in der hohen Wertschätzung alles Geistigen aus. Unermüdlich, so erzählt Raphael, seien die Utopier auf geistigem Gebiet. Während Würfel- und Kartenspiele, Faulenzerei und Ausschweifungen verpönt oder gar unbekannt sind, erfreuen sich die morgendlichen Vorlesungen stets einer großen Zahl von Zuhörern. Das Volk verrichtet körperliche Arbeit zwar grundsätzlich mit „der nötigen Ausdauer“ 59, doch zielt letztlich alles in Utopia darauf ab, dass so viel Zeit wie möglich für die geistige Bildung verbleibt. Denn darin, so heißt es, liegt „nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.“ 60 Anders als später bei Francis Bacon, der die Wissenschaft vollständig dem Primat praktischer Verwertbarkeit unterwirft, trägt die Beschäftigung mit geistigen Dingen in Utopia Züge eines selbstzweckhaften Ideals und verlässt damit sichtlich die rein instrumentelle Perspektive. Gleichwohl bestehen die pädagogischen Institutionen nicht allein um ihrer selbst willen. Allen voran leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensprävention. „Wenn ihr nämlich zulaßt“, so hatte Raphael bereits im ersten Buch kritisiert, „daß die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anderes, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“ 61 In Utopia hat man solchen staatspolitischen Dummheiten längst Abhilfe verschafft. Raphaels Schilderung vermittelt vor allem das Bild, wonach die Menschen nicht von Natur zum Bösen bestimmt, sondern vielmehr durch schlechte Normen, schlechten Umgang und falsche Erziehung erst zu Kriminellen gemacht werden.
Einem ausgesprochen positiven Vernunftbegriff folgt auch die Ethik der Utopier. Anders als später in der modernen Naturrechtslehre stehen allerdings nicht menschliche Würde oder vorstaatliche Rechte im Mittelpunkt, sondern die Frage, worauf „das Glück des Menschen“ beruhe. Die Antwort qualifiziert das ethische Konzept als ein weitgehend eudämonistisches Modell, denn ausdrücklich ist es die „Lust“, in der die Utopier „das menschliche Glück überhaupt oder doch dessen entscheidendsten Grund sehen.“ 62 Freilich ist das Glücks- und Luststreben keine wahllose Suche nach immer neuer und möglichst häufiger Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Plakativ formuliert: Morus’ Utopier sind Eudämonisten, nicht Hedonisten. Die falschen Bedürfnisse sollen den wahren Freuden nicht im Wege stehen. Als ein solch falsches Bedürfnis gelten den Utopiern zum Beispiel die Gier, sich wegen persönlichen Reichtums mit „eitlen und sinnlosen Ehrenbezeigungen“ 63 bewundern zu lassen. Was die Mehrzahl der Menschen für gewöhnlich begehrt – Schmuck, Kleider, Edelsteine, Ehre, Adel – all das hat nach Ansicht der Utopier mit dem wahren Wert der Dinge nichts gemein. Die Orientierung an der utilitaristischen Rationalität übertragen die Utopier daher auch auf die Wertigkeit natürlicher Ressourcen. „Nur (…) die Torheit der Menschen (hat) der Seltenheit einen besonderen Wert beigemessen. Die Natur dagegen hat wie eine gütige Mutter gerade das Beste am zugänglichsten gemacht: die Luft, das Wasser, den Ackerboden“ 64. Zur Gänze unbegreiflich ist den Utopiern folglich, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“ 65. Für diese verquere Logik haben die Utopier kaum mehr als Spott und Verachtung übrig. Bezeichnenderweise machen sie aus ihren Goldbeständen Ketten für die Gefangenen und Nachtgeschirr.66
Das deutlichste Beispiel einer dezidiert utilitaristischen Ethik liefert schließlich das Institut der Euthanasie: Wenn dem menschlichen Leben keine Freude mehr abzugewinnen und die Nutzlosigkeit des Weiterexistierens für alle Beteiligten offenkundig geworden sei, dann soll der Betreffende ohne Furcht, aber voller Hoffnung aus dem Leben treten.67 Das ethische Fundament der Utopier ist folglich kein christlicher, sondern ein ausschließlich vernünftiger Moralkodex. Auffallend ist jedoch zugleich, dass die geschilderten Vernunftkonzeptionen in den Bereichen Ethik und Landesplanung nicht vorbehaltlos in ein widerspruchsfreies Bild zu fügen sind: Das Verhalten, mittels Vernunft die Natur zu kontrollieren und sie den eigenen Nützlichkeitsvorstellungen gemäß zu beherrschen, verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Auffassung, sich vollkommen in die natürliche Ordnung zu integrieren und die Stimme der Natur dabei als Weisung der Tugend und Vernunft gleichermaßen zu deuten.
Wie kaum ein anderer Lebensbereich ist schließlich die Wirtschafts- und Sozialordnung unter die Bedingung einer gemeinwohlorientierten Nutzenmaximierung gestellt. Dem weitgehenden Luxusverzicht steht ein Überfluss an notwendigen Gütern der Grundversorgung gegenüber. Es herrscht allgemeine Arbeitspflicht – für Männer wie Frauen. Essen gibt es nur gegen geleistete Arbeit und so kennen die Utopier weder Tagediebe noch Bettler, weder untätige Großgrundbesitzer noch faule Ordensbrüder. Eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden reicht aus, „um alles das bereitzustellen, was unentbehrlich oder nützlich“ ist.68 Der eklatante Gegensatz zu den von Raphael im ersten Buch geschilderten Zuständen in Europa ist kein Zufall; der Kontrast ist zweifellos gewollt. Das beständige Insistieren auf die allgemeine Nützlichkeit wird schließlich bis zur Absurdität gesteigert: Ist ein Utopier auf Reisen, so muss er spätestens am zweiten Tag bei einem Kollegen seinem Beruf nachgehen, will er etwas zu essen erhalten. Das ist eine Forderung, die sich in der Realität so wenig umsetzen lässt, dass sie beinahe unvernünftig anmutet. Auch besitzen die Utopier Brutmaschinen zum Zwecke der Hühnerzucht. Mögen dies auch hocheffiziente Mittel sein, so waren doch derartige Dinge für Morus’ Zeitgenossen noch so fremd, dass man sie als reine (nutzenmaximierende) Fantasiekonstruktionen auffassen musste. Darüber hinaus ziehen die Utopier Ochsen den Pferden vor, denn zum einen seien sie ausdauernder, zweitens weniger anfällig für Krankheiten, drittens sei ihr Unterhalt billiger, und viertens könne man sie am Ende noch verspeisen.69 Vergleichbare Ironiesignale und satirisches Spiel gibt es in der Utopia zuhauf. Sie schaffen immer wieder eine kritische, zur Reflexion auffordernde Distanz. Dieses Muster ist ferner eine häufige Quelle des Humors: Mag sich das Verhalten auch für überzogen oder absurd ausnehmen, es folgt ohne Einschränkung einer konsequenten Grundhaltung.
Neben dem Nützlichkeitsdenken ist es der Kollektivismus, der im Bereich von Ökonomie und Gesellschaft konsequent verwirklicht scheint. So praktizieren die Utopier alle zehn Jahre einen Wechsel ihrer Häuser, deren Türen sich jederzeit von jedermann öffnen lassen: „so gibt es keinerlei Privatbereich.“ 70 Auch Privateigentum ist den Utopiern fremd: Produktion, Güterverteilung und Arbeitsorganisation basieren nicht auf der Realisierung individuellen Gewinnstrebens, sondern auf kollektiver Planung. Im Gegensatz zu Platon, der die Gütergemeinschaft zum Privileg der obersten Stände erklärte, gilt der Kommunismus in Utopia für alle.71
Raphaels flammendes Plädoyer für das Gemeineigentum der Utopier war häufig Anlass zur Vermutung, Morus habe mit seiner Utopia eine dezidiert kommunistische Weltanschauung propagieren wollen. In Wahrheit hat Morus aber rechtmäßig erworbenes Eigentum nicht nur mehrfach verteidigt, sondern auch in einer Spätschrift dem Reformator und englischen Bibelübersetzer William Tyndale „schreckliche Häresien“ vorgeworfen, weil dieser behauptet habe, die von Gott gegebenen Güter und das Land müssten dem Evangelium zufolge allen Menschen gemeinsam gehören.72 Auch in der Utopia selbst widerspricht der Dialog-Morus dem Kommunismus an zwei Stellen des Textes und macht sich dabei das traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Argument gegen den platonischen Kommunismus zu eigen: Neben der Schlussszene 73 gibt er schon im ersten Buch zu bedenken: „Mir dagegen (…) scheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“ 74 Raphael begegnet diesem Einwand lediglich mit der paradoxen Bemerkung: Morus hätte mit ihm in Utopia sein sollen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Den Zweifel kontert Raphael also weder mit einer Erklärung, geschweige denn mit einem einzigen Argument. Vielmehr antwortet er mit dem Verweis auf die Existenz Utopias, von der der Leser weiß, dass sie nur im Kopf des Autors existiert. Raphaels radikale Position scheint damit weitgehend als wirklichkeitsfremd entlarvt. So wenig der konsequente Produktions- und Güterkommunismus mit Morus’ persönlichen Ansichten vereinbart scheint, so sehr fügt er sich doch in das Porträt der strikt kollektiven Lebensweise der Utopier.
Mit Blick auf die sozialen Strukturen der Utopier ist zunächst auffallend, wie sehr der Familienverband die Keimzelle des gesamten gesellschaftlichen Lebens ist. Ehepartner wegen körperlicher Gebrechen oder Krankheit zu verstoßen, zieht lebenslanges Heiratsverbot nach sich. Ehebrechern droht Zwangsarbeit, im Wiederholungsfall wartet sogar die Todesstrafe. Dennoch praktizieren die Utopier ein vergleichsweise liberales Eherecht, das dem christlichen Sakramentsgedanken stracks zuwiderläuft. Scheidung und Wiederverheiratung ist prinzipiell erlaubt, sofern beide Partner und der Senat ihr Einverständnis erklären. Satirisch überzeichnet ist dagegen eine andere Sitte: Die heiratswilligen Utopier werden vor der Hochzeit einander nackt präsentiert, um zu verhindern, dass sich später Enttäuschung breit macht, schließlich würde man selbst „beim Kauf eines elenden Gauls“ nicht anders verfahren.75 Insgesamt ist die große Bedeutung von Ehe und Familie zweifellos ein konservatives und traditionalistisches Element, das über weite Strecken mit christlich-mittelalterlichen und auch mit Morus’ eigenen Wertmaßstäben in Einklang steht. Wenn Raphael dann allerdings schildert, dass die durchschnittliche Familie in den Städten Utopias zehn bis 16 erwachsene Mitglieder zählt und dass bei Überschreiten der Höchstzahl Kinder an kleinere Familienverbände abgegeben werden,76 dann prallen zwei völlig unterschiedliche Vernunftkonzeptionen aufeinander. Die staatliche Direktive, Kinder aus ihren Familien zu reißen, nur weil die Quantitäten nicht dem staatlich verfügten Optimum entsprechen, kommt einem Generalangriff auf alle natürlich gewachsenen Sozialstrukturen gleich. Die Maßnahme mag als rigide Überzeichnung politisch-administrativer Lenkungsmethoden des Staates gelten. Und das berechtigt zu dem Schluss, dass hier offensichtlich erneut nicht eine ernst gemeinte Reformperspektive vorgetragen, sondern vielmehr die Konsequenz eines gedanklichen Prinzips ausgemalt wird.
Aus der mathematisch-geometrischen Familien- und Landesstruktur geht auch das politische System im engeren Sinn hervor: Je 30 Familien wählen sich jährlich einen Syphogranten; je zehn dieser Vorstände einen Traniboren. Alle Syphogranten, 200 an der Zahl, wählen in geheimer Abstimmung einen von vier, durch das Volk nominierten Kandidaten zum Oberhaupt einer Stadt. Dieser Wahlmonarch amtiert für gewöhnlich lebenslang; sofern er jedoch tyrannische Züge entwickelt, kann er abgesetzt werden. Die Traniboren, für jeweils ein Jahr gewählt, bilden den Senat, der zudem die höchste richterliche Instanz verkörpert. Schließlich kennen die Utopier noch einen „Rat der gesamten Insel“, über den aber kaum etwas ausgesagt wird, außer dass er sich einmal jährlich aus jeweils drei erfahrenen Bürgern der 54 Städte zusammensetzt. Auffallend ist, dass auch von anderen überregionalen Staatsorganen keine Rede ist. Es scheint, als würden die Utopier hauptsächlich von städtischen Senatsversammlungen regiert. Dass es noch einen König gibt, analog zum Verfassungsgeber Utopos, ist höchst unwahrscheinlich. Morus begnügt sich mit der Schilderung der lokalen Verwaltungspraxis. Obwohl die utopischen Städte in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollkommen übereinstimmen, basiert ihr politisches System auf einer ausgeprägten föderalen Struktur.
Hervorgegangen sind alle Institutionen aus den Prinzipien der Wahl und der Repräsentation. Die Bezeichnung „liberale Demokratie“ würde allerdings in die Irre führen, denn es gibt keine erklärte Privat-, geschweige denn eine kodifizierte Sphäre von Grund- oder Bürgerrechten. Aufgabe der politischen Institutionen ist nicht die Ausführung eines erklärten Bürgerwillens, sondern weit mehr Überwachung und Kontrolle: So ist eine zentrale Funktion der Syphogranten, dafür Sorge zu tragen, dass niemand müßig herumsitzt. Die Syphogranten sind darüber hinaus die einzige Gruppe, die nicht zwingend jener Gelehrtenkaste – den 500 von der Arbeit freigestellten Wissenschaftlern einer Stadt – angehören, aus der sich ansonsten das politische Führungspersonal rekrutiert. Die Regierungsform qualifiziert sich insofern als Mischung aus Gelehrtenaristokratie und Demokratie und es scheint, als habe hier die Idee der platonischen Philosophenherrschaft zumindest teilweise Pate gestanden. Nicht zuletzt aber ist die politische Ordnung das Konstrukt einer strikt rationalen Herrschaftspraxis. Der Politikbegriff ist kein rein politischer, sondern soziologisch universal: Wirtschaft, Arbeit, Erziehung, Kultur und Herrschaft bedingen und stabilisieren sich gegenseitig. Exemplarisch zeigt sich das am Rechtssystem: Weil die Utopier infolge ihrer vorbildlichen Erziehungseinrichtungen den moralischen Normen aus innerem Antrieb folgen, ist übermäßiger Zwang von außen nicht erforderlich. Die Utopier bedürfen nur wenig der Gesetze und Gerichte, sie hegen Abscheu gegen Regulierungswut und spitzfindige Juristerei und halten grundsätzlich die einfachste Auslegung der Rechtstexte für die richtige.77
Das alles dominierende Prinzip ist allerdings auch in der Strafrechtspraxis der Zweckrationalismus. Generell gilt der Vorrang der Zwangsarbeit vor der Todesstrafe. „Denn einmal nutzen sie durch ihre Arbeit mehr als durch ihren Tod und dann schrecken sie durch ihr warnendes Beispiel andere länger vor einer ähnlichen Missetat ab.“ Die Todesstrafe kennen die Utopier allerdings neben wiederholtem Ehebruch noch bei einem weiteren Vergehen: Wenn Häftlinge sich „widerspenstig und aufsässig verhalten, dann freilich werden sie wie wilde Tiere, die Käfig und Ketten nicht zu bändigen vermögen, totgeschlagen.“ 78 So brutal diese Praxis anmutet, sie ist nicht allein zynischer Natur. Das Vorgehen erscheint noch immer humaner als die von Raphael im ersten Buch so heftig attackierte Behandlung der Bettler und Diebe in Europa. Für die rationalen Prinzipien der Utopier markiert die Todesstrafe auch kein ethisch-systematisches Problem; für die europäischen Christen hingegen, die weitaus häufiger zu diesem Mittel greifen, müsste eigentlich schon die Überzeugung, wonach Gott allein das Leben gibt und nimmt, einer derartigen Praxis vorbeugen. Wenn die Europäer in dieser Frage aber noch deutlich unerbittlicher zu Werke gehen, dann trifft sie die Kritik zweifellos doppelt.
Kein wirklich anderes Bild zeigt sich zunächst auch in Sachen utopischer Außen- und Kriegspolitik – und doch ist in diesem Bereich die Diskussion um die Vernunft auf dramatische Weise zugespitzt. Obwohl gleich zu Beginn des Abschnitts mitgeteilt wird, dass die Utopier den Krieg als etwas Bestialisches verabscheuen, kennen sie eine erstaunlich weit gefasste Skala an Gründen, die einen Krieg rechtfertigen. Sie führen zwar niemals Angriffskriege, doch als zulässig erachten sie: den Verteidigungskrieg, sowohl in eigener Sache wie zugunsten ihrer Freunde; den Befreiungskrieg gegen Tyrannen unterdrückter Völker; den Vergeltungsfeldzug für ihre Verbündeten, der kurioserweise meist aus kapitalistischen Handelstreitigkeiten ihrer Freunde resultiert.79 Und schließlich erscheint ihnen auch noch der Krieg zum Zwecke der Bodennutzung auf fremdem Territorium für legitim. Die Parallelen sind schwerlich zu übersehen: Wie die europäischen Herrscher, so wenden sich auch die Utopier lauthals gegen den Krieg, beschwören ihre Friedensliebe und finden dann allerlei Gründe, um doch zu kämpfen.
Dieses satirische Vorgehen setzt sich in gleicher Weise bei den Praktiken der Kriegsführung fort. Als Maßnahmen bevorzugen die Utopier zum Beispiel Feinde mit Geld zu bestechen, sie zum Verrat in eigener Sache anzustiften und das feindliche Volk durch innere Zwietracht zu zermürben. Ritterliche Tugenden wird man den Utopiern dabei kaum nachsagen wollen, auch wenn ihre Methoden zumindest geeignet scheinen, das Blutvergießen in Grenzen halten. Spätestens wenn jede List versagt, endet aber auch bei den Utopiern der Rekurs auf den humanitären Zweck. Es werden dann – um den eigenen Blutzoll zu vermeiden – fremde Völker in den Kampf gehetzt und Söldner gemietet. Die Söldnertruppen entstammen vor allem dem Volk der „Zapoleten“ und die Beschreibung von Heimat und Lebensweise dieses Volkes lässt nur den Schluss zu, dass es sich um eine ziemlich unzweideutige Anspielung auf die Schweizer Söldnerheere handelt, die seinerzeit in fast allen Armeen Europas kämpften.80 Über die Motivation, sich gerade der Zapoleten zu bedienen, erklärt Raphael: „Denn so gern sich die Utopier die Dienste guter Leute zunutze machen, so gern ziehen sie diese grundschlechten heran, um sie auszunützen. (…) Es kümmert sie nämlich nicht, wie viele von ihnen sie zugrunde richten; vielmehr sind sie überzeugt, dass sie sich den größten Dank des menschlichen Geschlechtes verdienten, wenn sie den Erdball von diesem Abschaum der Menschheit, von diesem ganzen abscheulichen und verruchten Volke reinigen könnten.“ 81
Hier nun gerät man endgültig ins Staunen: Vom Geist der Humanität, von dem an anderer Stelle beschworenen, „natürlichen Band“ zwischen den Menschen, ist kein Funke mehr zu spüren.82 Die Vernunft schlägt gänzlich in ihr inhumanes Gegenteil um. Nicht blanke Unvernunft aber spricht aus den Methoden und Zielen ihrer Kriegsführung. Vielmehr dominiert eine spezielle, bis ins äußerste Extrem gesteigerte Seite der Vernunft, nämlich das allein effiziente Nutzenkalkül, das dem kollektiven Eigeninteresse alle Handlungsoptionen unterordnet. Mehr noch: Mit zynischer Rechtfertigung beweihräuchern sich die Utopier selbst, wenn sie ein ganzes Volk zum Abschaum erklären und dieses im angeblichen Dienst für die Menschheit der Vernichtung preisgeben. Man steht damit endgültig vor den Ambivalenzen der Vernunft. Diese ist – so muss man das Experiment der Utopia verstehen – ein höchst zweischneidiges Schwert: Führte die Vernunft bisher in der überwiegenden Zahl der Fälle zu gesunden und sympathischen Wertvorstellungen, zu effizienten Institutionen und ebenso menschlichen wie nützlichen Sitten, so lässt sich Gleiches über die kalte Brutalität der Kriegspolitik nicht mehr behaupten. Hier sind die Utopier sogar schlimmer als die Europäer. Wie in einem satirischen Spiegelbild können die „christlichen“ Regenten Europas am Verhalten der Utopier ihre eigene Verwerflichkeit – in deutlich zugespitzter Form – besichtigen. Der Effizienzgedanke ist in einer Weise auf die Spitze getrieben, dass ziemlich unzweideutig die Warnung vor einer Rolle der Vernunft ausgesprochen wird, die sich selbst absolut und damit ins Unrecht setzt.
Auch der letzte Abschnitt ist eine Diskussion menschlicher Vernunft. Mit dem Kapitel zur utopischen Religion werden allerdings nicht mehr Ausprägungen in einzelnen Teilbereichen erörtert, vielmehr steht die Vernunft als Ganzes auf dem Prüfstand. Indem das Verhältnis zum Glauben ausgelotet wird, geht es um Rolle und Funktion, Leistungsfähigkeit wie -grenzen menschlicher Rationalität insgesamt. Auffallend ist zunächst, wie sehr die Vernunft eine tolerante Grundhaltung gebietet. Auf der Insel gilt grundsätzlich, „daß jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren, dürfe er nur insoweit versuchen, daß er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege“ 83. Die Religionsfreiheit hat eine erstaunliche Fülle unterschiedlicher Sitten, Kulte und Traditionen zur Folge, die von der Verehrung der Sonne, des Mondes, verschiedener Planeten bis hin zur Huldigung eines bestimmten Menschen als höchste Gottheit reicht. Eine Einheitsreligion kennen die Utopier demnach nicht, und doch findet der Glaubenspluralismus in der Vernunft gewissermaßen eine Grenze; denn sie sorgt tendenziell dafür, dass die Utopier sich zunehmend von abergläubischen Vorstellungen abwenden und sich jener Religion anschließen, „die die anderen an Vernünftigkeit zu übertreffen scheint.“ 84 Diese rationale Fundierung des Glaubens hat einen einfachen Grund: „Das ist ihre Auffassung von Tugend und Lust“, so war bereits im Abschnitt über die ethischen Grundsätze zu lesen, „und sie sind der Ansicht, es lasse sich mit menschlicher Vernunft keine richtigere ergründen, es sei denn, eine himmlische Offenbarung gebe dem Menschen eine erhabenere ein.“ 85 Die Utopier entbehren also der Gnade göttlicher Offenbarung. Die Passage ist von weitreichender Bedeutung, weil sie den wohl zentralsten christlichen Glaubenssatz der damaligen Zeit berührt. Dieser wurzelt in Thomas von Aquins Lehre vom Natürlichen und Übernatürlichen, und seine Kernaussage lautet: „Ferner war es zu allem hin, was menschliche Vernunft bezüglich Gottes erkunden kann, doch notwendig, daß der Mensch auch durch göttliche Offenbarung unterrichtet wurde.“ 86 Von den beiden Wegen der Glaubenserkenntnis – menschliche Vernunft (humana ratio) und göttliche Offenbarung (caelitus immissa religio) – verfügen die Utopier aber lediglich über das erstgenannte Prinzip. Und damit sind sie eindeutig als Heiden im Sinne des genannten Glaubenssatzes gekennzeichnet.
Insofern ist interessant zu sehen, zu welch religiösen Einsichten die Utopier nun ausschließlich mit Hilfe der Vernunft gelangen. Auch hier liefert die Utopia eine klare Antwort: „Der bei weitem größte und der weitaus vernünftigste Teil (…) glaubt (…) an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die menschliche Fassungskraft übersteigt“ 87. Sowohl Monotheismus wie Unendlichkeit Gottes, seine Unfassbarkeit, Vollkommenheit und Güte ergeben sich demnach aus der reinen Vernunfterkenntnis. Das hat sogar zur Folge, dass Atheisten und Materialisten von den Utopiern nicht zu ihren Staatsbürgern gezählt werden, ja „nicht einmal unter die Menschen“ 88. Bemerkenswert ist, dass auch Thomas von Aquin zu der analogen Überzeugung gelangt war, dass das „Dasein Gottes (…) durch die natürliche Vernunft (…) bekannt sein kann“ 89 und dass jeder vernünftige Mensch guten Willens zu erkennen vermag, dass Gott eins ist, vollkommen, unendlich, ewig und gut. Klar scheint damit, dass Morus im Religionskapitel der Utopia vor allem eine zentrale theologische Grundsatzfrage seiner Zeit erörtert hat, wobei die Kernaussagen weitgehend auf dem Boden der thomistischen Lehre stehen.
Beim Blick auf die utopische Religion ist man letztlich also weit mehr geneigt, die erstaunlichen, allein rational ermittelten Übereinstimmungen zu christlichen Glaubensinhalten zu bestaunen, weniger hingegen die unvereinbaren Gegensätze. Gleichwohl sind und bleiben die Utopier – mangels Offenbarung – Heiden im streng theologischen Sinn des genannten Glaubensgrundsatzes; und natürlich hat sich der Christ Morus keinen heidnischen Staat als Ideal erträumt. Auch zahlreiche Praktiken, etwa das Frauenpriesteramt, die Euthanasie-Erlaubnis oder die Heirat der Priester sind letztlich inkompatibel mit dem Katholizismus. Der Sinn dieser Konstruktion lässt sich jedoch einigermaßen vollständig klären. Unterstellt man, dass Morus erstens den Verhältnissen im christlichen Europa einen kritischen Spiegel vorzuhalten versuchte, und dass er zweitens mit der Utopia diskutierte, wie weit die Vernunfterkenntnis selbst noch in Glaubensfragen trägt, dann ergibt sich daraus eine weitere Einsicht: Die Utopia ist ganz absichtsvoll heidnisch konzipiert, denn zum einen wäre das Vernunftexperiment angesichts vorbildlicher Christen überhaupt nicht mehr durchführbar gewesen; zum Zweiten gewinnt die Kritik fraglos an Deutlichkeit, wenn die Utopier gerade ohne die Gnade göttlicher Offenbarung in vielfacher Weise zu besseren Einrichtungen gelangen als die europäischen Christen. In diesem Sinn ist auffallend, dass auch der kritische Geist der Utopia selbst vor der zeitgenössischen Praxis der christlichen Religion nicht haltmacht. So heißt es – und dieser Schlag trifft mit Gewissheit die Geistlichen Europas: Die Priester Utopias seien allesamt frei gewählt, ausgesprochen fromm und durchweg hoch angesehen, sie besäßen außer ihrer ehrenvollen Stellung keinerlei Machtbefugnisse und daher gebe es in Utopia auch nur sehr wenige.90
Der Sinn, der aus der Beschreibung der vernünftigen Religion der Utopier hervorgeht, lässt sich daher kaum mit blanker Unernsthaftigkeit erklären, geschweige denn mit dem Ideal eines Autors in einer heidnischen Lebensphase. Das Rätsel, das späteren Rezensenten eine scheinbar unlösbare Aufgabe hinterlassen hat, dient vielmehr den zentralen Intentionen der Schrift: der Kritik, dem rationalen Experiment und dem diskursiven Anliegen.
2.4Zum Utopiebegriff der Utopia
Wenngleich der Abschnitt zur Religion der Utopier die Struktur des Gedankenexperiments hinreichend deutlich macht, so ist damit eine letzte Frage noch nicht geklärt. Das abschließende Kapitel wird deshalb versuchen, zentrale Aspekte und Konsequenzen für ein Utopieverständnis abzuleiten, wie es sich allein aus Morus’ Prototyp erschließt. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass dieser Bedeutungshorizont der einzig mögliche ist, aber es scheint doch von beträchtlichem Interesse, was „Utopie“ im Sinne ihres Namensgebers meint, oder anders formuliert: was sich aus der Schrift hierzu gerade nicht herleiten lässt.
Die erste Frage richtet sich an ein gängiges Problem üblicher Utopiedefinitionen. Die Rede ist von der verbreiteten Tendenz, die Utopie im Kern als eine Idealstaatsschilderung des Autors zu kennzeichnen. In diesem Sinn ist Morus’ Utopia kein Idealstaat. Bei der dort vorherrschenden Religion handelt es sich, wie gezeigt, um einen rein vernunftbegründeten Glauben. Der heidnische Staat bleibt unvereinbar mit der christlichen Grundüberzeugung des Autors. Das zweite Missverständnis besteht in der Fehldeutung des utopischen Kriegswesens als Muster vorbildlicher, ja imperialistischer Machtpolitik.91 In Wahrheit intendiert das Kapitel schlicht das Gegenteil: Es ist eine Satire auf geheuchelte Friedensbekenntnisse, ein bissig-ironischer Kommentar zu einer tragenden Säule zeitgenössischer Machtpolitik: dem gewerbsmäßigen Söldnerwesen, und eine vernichtende Kritik verbreiteter Kriegspraktiken, wie sie Morus unter den christlichen Völkern und Fürsten beinahe täglich um sich herum beobachten konnte. Die dritte große Missdeutung liegt darin, Morus als den Propheten des modernen Kommunismus, als ersten großen Kritiker kapitalistischer Ausbeutung und seine Utopia als erste vorwissenschaftliche Theorie sozialistischen Gemeineigentums zu interpretieren.92 Auch hier ist Morus’ Position eindeutig: In der erwähnten Spätschrift hat Morus nicht nur kommunistischen Gemeinbesitz strikt abgelehnt, sondern überdies legitim erworbenen Reichtum auch mehrfach verteidigt.93 Ausgerechnet die Grundlage der gesamten sozioökonomischen Ordnung Utopias wird demnach von ihrem Verfasser als verallgemeinerungsfähiges staatspolitisches Prinzip nicht geteilt.
Das heißt freilich nicht, Morus’ Schrift ist eine Art Dystopie, ein abschreckend gemeintes Beispiel, das Morus seinen Zeitgenossen warnend vor Augen halten will. Der Text ist auch keine großangelegte Satire auf die Vernunft. Morus’ Ironie hat nicht zu bedeuten, man müsse nur alle Aussagen ins Gegenteil verkehren, um sodann den wahren Sinn zu erhalten. Dann nämlich müsste man konsequenterweise auch unterstellen, Morus befürwortet Preistreiberei, Ämterkauf, Wucher und das Elend weiter Bevölkerungsschichten. Es ist schlechterdings unmöglich, den zuweilen vorbildhaften Charakter, vor allem aber die kritische Intention der Schrift bei der Bewertung zu übergehen. Man darf getrost unterstellen, dass sich Morus in vielen Dingen des Staates, der Gesellschaft, gar der Religion, ein Denken und Handeln wünscht, das mehr von vernünftigen und nützlichen Überlegungen und weniger von irrationaler Geltungssucht und ehrgeizigem Egoismus geleitet wird. Die utilitaristische Rationalität, das insistierende Fragen nach dem Nutzen für das Gemeinwesen, dient Morus stets als oberste Leitlinie seiner kritischen Analyse der Gegenwart. So gesehen entspricht letztlich weder die einseitige Interpretation als geistreicher Witz noch die entgegengesetzte Deutung als idealstaatliche Schilderung dem Charakter der Utopia.94
Der genannte Streit lässt sich nun aber – mit Blick auf seine Relevanz für den Utopiebegriff – auf einer neutralen Ebene überspringen: Der Idealstaat ist nur das Thema, die Idee der Erzählung, nicht aber der Gehalt der Utopia selbst. Die Schrift entwirft gewiss einen Maßstab, nämlich das fiktive Bild einer durch und durch rationalen Gesellschaftsordnung. Der Entwurf selbst ist aber nicht der wahre Maßstab des Morus. Die simple Bewertung nach Gut oder Böse, nach wünschenswert oder nicht, ist für die Utopia sogar in den seltensten Fällen das letztentscheidende Kriterium. Für den Utopiebegriff der Utopia hat das zur Folge, dass die Frage nach Wunsch- oder Furchtbild überhaupt nicht die zentrale Kategorie ist. Ob ein utopischer Entwurf als absolutes Ideal des Verfassers zu gelten hat oder nicht, das muss sich stets am jeweiligen Einzelfall erweisen. Für einen an Morus angelehnten Utopiebegriff wird man deshalb festhalten müssen: Wichtiger ist der Utopie zunächst, was sie nicht will. Die Kritik ist zentraler und dem Wesen der Utopie näher als die vermeintlich erträumte Wunschwelt.
Auch die zweite Diskussion konzentriert sich auf eine gängige Charakterisierung von Utopie. Fast immer wird unterstellt, die Utopie sei vom Verfasser als Vorbild zur praktischen Umsetzung intendiert; der Glaube an ihre Realisierbarkeit, wenigstens aber der Wunsch nach Verwirklichung sei gerade das, was den Autor zum Utopisten macht.95 Auch in diesem Punkt fällt die Diagnose bei Morus gegenteilig aus. Die Antwort ergibt sich im Grunde schon aus dem Vorhergesagten: Wo kein Ideal geschildert wird, erübrigt sich der Verwirklichungswille fast von selbst. Gleichwohl beinhaltet die Utopia mancherlei bedenkenswerte und praktische Vorschläge. An einigen Stellen kommt sie dem Charakter einer Reformschrift sogar verdächtig nahe. Was die Realisierungsdimension des Gesamtentwurfs betrifft, so ist die Antwort der Schrift allerdings eindeutig: Ein fast untrügliches Indiz ist die Tatsache, dass Morus ausgerechnet Raphael die Beschreibung des Gemeinwesens überlässt, denn dieser hatte sich in der vorausgehenden Auseinandersetzung gerade für den Rückzug des Philosophen aus der Politik ausgesprochen. Das Utopische steht somit ausdrücklich nicht auf Seiten unmittelbarer Handlungspraxis, sehr wohl aber ist es mit der Aufforderung verbunden, die bestehenden Einrichtungen auf den Prüfstand zu stellen. Der Geltungsanspruch von Morus’ Utopie versteht sich nicht als Vorlage zur innerweltlichen Beseitigung aller Missstände; die Utopia formuliert kein politisches Aktionsprogramm. Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt. Gerade diese Konstruktion ist letztlich aber, was die Utopia zur Utopie im ursprünglichen Wortsinn macht: Sie ist der voraussetzungsfreie Entwurf einer Gesellschaft ohne Vermittlungsinstanz, das heißt ohne eine Realisierungsdimension aufzuzeigen und ohne diese aufzeigen zu wollen.
Dies vorausgesetzt, lassen sich abschließend nun für die Utopia anhand der vier Ebenen – Form, Inhalt, Intention und Funktion – zentrale Charakteristika festhalten, die zugleich als Orientierungsrahmen für den nachstehenden Überblick dienen können. (1.) Formal betrachtet ist die Utopia konzipiert als eine kontrafaktische Fiktion, als universelle Beschreibung eines imaginären Gemeinwesens, das in eine literarischnarrative Rahmenhandlung gekleidet ist. Sie verknüpft dabei zahlreiche literarische Formtypen und Stilelemente wie die politische Reformschrift mit der Reiseerzählung, den philosophischen Traktat mit der Satire, die Ironie mit der Dialogstruktur. (2.) Auf inhaltlicher Ebene lassen sich dem Entwurf als zentrale Strukturprinzipien entnehmen: Isolation, Statik, soziale Harmonie und Gemeineigentum, Kollektivismus, Rationalität und Nützlichkeitsdenken. Die Elemente repräsentieren freilich nicht den Forderungskatalog des Autors, sondern verdichten sich lediglich zum materialen Bild seiner Utopie. Gleichwohl können diese Merkmale als eine Art Abfrageraster bei der Analyse späterer Utopieentwürfe dienen. (3.) Morus’ Intention verbindet schließlich Sozialkritik mit dem Anliegen, einen Anstoß zur Diskussion über die Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens zu leisten und qualifiziert sich damit zugleich als normatives Politikanliegen. (4.) Methodisch umgesetzt ist dieses Vorhaben auf dem Wege eines gedankenexperimentellen Erkundens der Vernunft. Daraus resultiert funktional betrachtet eine prinzipielle Relativierung des Bestehenden, weil die existente Wirklichkeit zu einer möglichen unter vielen herabgestuft wird. Diese Funktion deckt sich, zumindest in ihrem Ursprungskontext, auch vollkommen mit der intendierten Wirkung. Darüber hinaus – und das lag nicht mehr in Morus’ Hand – hätte die Utopia in kaum größerem Maße Wirkung entfalten können, als mit der Begründung einer neuzeitlichen Denktradition, die diese Motivation und Funktion in vielfacher Weise weiter trägt.
Von den Besonderheiten der Utopia, die im zurückliegenden Kapitel beschrieben worden sind, müssen aber zumindest zwei Elemente als derart strukturbildend gelten, dass an ihnen keine Begriffsbestimmung vorbei kommt, ohne in Widerspruch mit Morus’ Urtypus zu geraten: zum einen das soziopolitische Gegenbild, also die Notwendigkeit einer ausgemalten gesellschaftlichen Alternative; zum anderen die kritische Intention. Und von hier aus, so die Vermutung, gewinnen letztlich alle Utopien ein zentrales, sie verbindendes Moment.