Читать книгу JEDER - Thomas Seidl - Страница 4
Gut geschlafen?
ОглавлениеDer nächste Morgen brach an. John hörte ein lautes Poltern an seiner Zimmertür. „Ja, ich komme ja schon!“ Im Halbschlaf setzte er sich auf die Bettkante und rieb sich seine Augen, um munter zu werden. Langsam schlich er zur Tür und öffnete diese.
„Haben Sie … Ach! Sie sind ja nackt! Haben Sie verschlafen?“
Ein weiblicher Police Officer in voller Montur stand vor ihm. „Ja, kann sein! Wie spät haben wir es denn?“
„Es ist kurz nach acht, und Sie sollten sich etwas anziehen!“
Jetzt erkannte auch John, dass er noch splitternackt war, so wie Gott ihn schuf. „Entschuldigung, ich war irgendwie noch nicht ganz wach. Außerdem sollte mich ein Police Officer abholen. Wer sind Sie denn?“
„Ich bin Sergeant Sarah Brown, und mir wurde aufgetragen, Sie in den nächsten Wochen zu unterstützen, denn mein Kollege wurde krank. Darum wurde ich Ihnen zugeteilt. Haben Sie etwa Vorurteile gegenüber Frauen im Polizeidienst?“, fragte sie spitz.
„Nein, nein, ich war nur nicht darauf vorbereitet.“ John grinste. „Ich werde mich noch schnell anziehen, wenn es Ihnen recht ist.“
„Natürlich, Mr. Down.“
John schlenderte von der Tür wieder zurück ins Zimmer. Dort zog er sich seine Kleidung, die er gestern über den Fernsehsessel gelegt hatte, wieder an. Als er wieder zur Tür schritt, die noch offen stand, musterte er Sergeant Sarah Brown sehr genau von Kopf bis Fuß. Ihre blonden Haare waren hinten zu einem Mob aufgesteckt. Das sah man auch unter ihrer Police Officer-Kappe. Ihr Alter? Wohl Mitte zwanzig. Ihre Hände zitterten leicht, so als wäre sie nervös. Dieser Eindruck verstärkte sich durch ihre Mimik, die sowohl Verlegenheit als auch Unsicherheit bedeuten konnte. Entweder ist ihr der Anblick von meinem nackten Körper unangenehm, dachte John belustigt, oder sie ist noch nicht sonderlich lange bei der Polizei. Es könnte natürlich auch beides zutreffen. John trat nahe an Sarah heran. „Ich brauche dringend einen Kaffee und ein oder zwei Zigaretten, sonst bin ich heute zu nichts fähig. Kennen Sie hier in der Nähe ein nettes Lokal? Dort können wir auch gleich die ersten Fakten besprechen. Ist das in Ordnung für Sie?“
Sarah nickte. „Im Dorfzentrum gibt es ein kleines Café. Es ist das einzige hier in der Nähe und heißt ‚De Luga‘, was immer auch das bedeuten soll, aber es ist ganz nett.“
„Sehr gut, dann machen wir uns auf den Weg. Ist es okay, wenn ich Sie Sarah nenne? Sie können mich auch John nennen, ich habe die Einfachheit lieber als das förmliche Geschwafel.“
„Einverstanden!“
John merkte ihr an, dass es ihr nicht ganz recht war, denn man verliert schnell seine Autorität, wenn es zu persönlich wird, doch er hätte sich so oder so nicht daran gehalten, er wollte nur den Schein der Höflichkeit wahren. Dann stiegen beide in den Streifenwagen, den Sarah direkt neben Johns Auto geparkt hatte.
„Sind Sie hier geboren?“, fragte John, während Sarah das Fahrzeug zurücksetzte.
„Ja, das bin ich, aber hier in dieser Gegend hat man als junger Mensch nur die Möglichkeit wegzuziehen oder sich den Gegebenheiten anzupassen. Als Frau heißt das Kinderkriegen und Hausfrau werden oder eben sein Glück in einer Großstadt suchen.“ Sarah lenkte das Auto auf die Straße und fuhr in Richtung Dorfkern.
John grinste. „Oder man wird Police Officer, habe ich recht?“
„Ja, Mr. Down. Oder man wird Police Officer.“
„Wir haben uns doch darauf geeinigt, dass Sie mich John nennen, also bleiben wir auch dabei. Und, Sarah, bereitet Ihnen die Arbeit als Police Officer Freude?“
„Freude ist vielleicht das falsche Wort, aber ich habe mich mit meiner Arbeit arrangiert. Es passiert einfach viel zu wenig hier in dieser Gegend, als dass man ausgelastet wäre, und darum wird man hier einfach nicht gefordert. Und ich bin ein Mensch, der die Herausforderung sucht. Sie verstehen hoffentlich, was ich meine.“
„Natürlich, darum könnte der Fall hier genau das sein, was Sie suchen.“
Sarah parkte den Streifenwagen auf dem Dorfplatz. Dieser war nicht sonderlich groß; genau genommen war es eine längliche Straße von rund 200 Metern, die als Fußgängerzone ausgewiesen war. Trotzdem konnte man diese einspurig in eine Richtung befahren. Fast alle Geschäfte des Dorfes befanden sich hier: ein Lebensmittelmarkt, eine Trafik, ein Kleidergeschäft. Auch einen Handwerkerladen und noch ein paar andere kleinere Läden fand man dort sowie das Café De Luga.
Nachdem Sarah und John ausgestiegen waren und langsam in Richtung Café trotteten, hörten sie ein lautes blechernes Geräusch. Hastig drehten sie sich um.
Eine alte Dame schlug mit ihrem Gehstock aus Holz gegen den Streifenwagen und krächzte und fluchte vor sich hin. „Verdammte Polizei! Die kriegen doch nichts auf die Reihe. Wir zahlen Steuern und für was? Damit sie hier im Dorf herumlungern und nichts tun. Gerade gestern hat jemand meine Hausmauer besprüht, und was bekommt man zu hören? Es tut uns leid, da können wir Ihnen nicht helfen. Ja, die wollen gar nicht helfen, das ist die Wahrheit!“
Sarah marschierte zu der alten Dame, die aussah, als wäre sie auf den Gehstock angewiesen. Sie hatte einen krummen Buckel und grau-braune Haare. Sie musste schon weit über 80 Jahre alt sein, und John hoffte nur, sie würde durch ihren Wutanfall nicht gleich aus den Latschen kippen.
Sarah versuchte, sie zu beruhigen. „Miss Nilgerst, beruhigen Sie sich. Wir haben Ihnen doch gestern schon auf der Wache gesagt, dass wir dem nachgehen werden. Es tut mir leid wegen Ihrer Hausmauer, aber ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun, um diejenigen zu finden, die sie besprüht haben. Und jetzt unterlassen Sie bitte das Schlagen auf meinen Streifenwagen, sonst muss ich noch eine Anzeige gegen Sie aufnehmen. Haben Sie mich jetzt verstanden? Ich werde das nicht noch einmal wiederholen.“
„Ja, ja, wie Sie meinen!“ Wütend zog die alte Dame von dannen.
„Wer oder was war das denn?“, fragte John stirnrunzelnd.
„Das war Miss Nilgerst! Sie ist erst vor Kurzem in die Stadt gezogen. Gut fünf Minuten von hier hat sie ein kleines Häuschen gekauft und seitdem hält sie uns ständig auf Trab. Jeden zweiten, dritten Tag hat sie eine Beschwerde oder ein Anliegen. Mal ist es ihre verschwundene Katze, ein anderes Mal will sie beobachtet haben, wie der Müllmann ihre Mülltonnen durchwühlt oder der Postbote schon geöffnete Briefe, die an sie adressiert sind, zustellt. Sie verstehen, sie sieht überall etwas, wo nichts ist, außer gestern, denn die Jugendlichen hier in der Gegend bezeichnen sie als alte Hexe und genau das haben sie auf ihre Hausmauer gesprüht. Ein jugendlicher Streich, mehr nicht. In meinen Augen hat diese Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Sarah begutachtete den Streifenwagen, und da dieser keine Beule abbekommen hatte, schlenderten beide wieder in Richtung Café.
Dort angelangt, öffnete John die Eingangstür, betrat als Erster das Lokal und hielt ihr die Türe auf.
„Ein Gentleman der alten Schule!“ Sarah lächelte ihn an. „Das gefällt mir. Danke.“
„Keine Ursache.“
Der Raum war sehr rustikal eingerichtet. Dunkles Eichenholz prägte das Gesamtbild. Eine kleine Theke mit wenigen Barhockern war der erste Blickfang, und rechts daneben standen einige Tische mit Stühlen, die jeweils auf vier Personen ausgelegt waren.
Gleich nachdem sich beide gesetzt hatten, kam der Kellner zu ihnen. „Was darf es denn heute sein, Sarah? Das Übliche?“
„Hallo, Edgar. Ja, genau, das Übliche, danke.“
„Und für Sie, Sir? Was darf ich Ihnen bringen?“
„Bitte einen Kaffee ohne Milch!“
Der Kellner verschwand hinter dem Tresen und bereitete das Bestellte zu.
„Sie sind also öfter hier, wie ich vermute?“, fragte John. „Was ist denn dem Kellner passiert?“
„Sie meinen Edgar? Ja, ich bin fast jeden Tag hier. Vor drei Jahren hatte er einen schweren Autounfall, dabei verlor er seinen rechten Arm. Es war schlimm für ihn, doch er gab seinen Job nicht auf und so serviert er jetzt alles mit einem Arm. Das dauert natürlich manchmal länger, doch alle Leute hier im Dorf mögen Edgar und darum nimmt ihm das fast keiner übel. Natürlich gibt es immer mal wieder den einen oder anderen, der sich darüber amüsiert, doch ich bewundere seinen Willen, denn es ist nicht leicht, alles nur mit einem Arm herzurichten und zu servieren. Vor allem Pete, der Besitzer des Lokals, steht voll und ganz hinter Edgar.“
John sah ihm vom Tisch aus beim Zubereiten zu. Edgar hatte eine leicht bräunliche Haut, die aber nicht von einem Solarium stammte, sondern angeboren sein musste. Wahrscheinlich war er südlicher Abstammung, denn der Hautton war gleichmäßig und passte zu seiner gesamten äußerlichen Erscheinung. Da John ihn nicht älter als 45 schätzte, musste es ein herber Rückschlag gewesen sein, seinen Arm zu verlieren. Immerhin steckte er doch erst in der Blüte seines Lebens. Das dachte John jedenfalls, denn er selbst war letztes Jahr 50 geworden und wusste, wovon er sprach. Edgar hatte jeden seiner Handgriffe für diese Arbeit perfektioniert. John war von der Art und Weise, wie dieser Kellner mit seiner Behinderung umging, sichtlich angetan. „Bemerkenswert!“
„Wie, bemerkenswert?“
„Entschuldigung, ich war in Gedanken! Ich habe kurz über Edgar nachgedacht und finde es einfach bemerkenswert, wie er das alles meistert. Aber nun kommen wir zu unserem Fall. Was haben die Ermittlungen bis jetzt ergeben?“
Sarah dachte kurz nach. „Wir stehen in diesem Fall ganz am Anfang, wenn man es denn als einen Fall bezeichnen will. Erstens gibt es einen Abschiedsbrief, zweitens gibt es keine Anzeichen dafür, dass Susan Sterling etwas zugestoßen ist, und drittens sind schon öfter junge Mädchen weggelaufen. Das ist nicht das erste Mal, und davon kann ich ein Lied singen, denn obwohl wir hier in einem Dorf leben, verschwinden immer wieder junge Leute und tauchen Wochen später wie aus dem Nichts wieder auf. Also, glauben Sie mir, das hier ist kein Fall, und es geschah kein Verbrechen.“
John hob seine Hand zum Mund und drückte mit dem Daumen und dem Zeigefinger seine Lippen zusammen. „Wie Sie meinen, Sarah! Aber ich zweifle daran, dass Susan einfach so gegangen ist. Um aber mein endgültiges Urteil zu fällen, ob es ein Fall ist oder nicht, bräuchte ich Ihre Hilfe.“ Edgar brachte in diesem Moment gerade den Kaffee für John. „Danke.“
„Bitte, Sir.“
John holte seine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine davon an. „Das habe ich gebraucht! Eine Zigarette und einen Kaffee. Ich bin wohl der einzige Engländer, der Kaffee einem Tee vorzieht. Aber zurück zu dem, wo wir waren. Ich habe mir Susans Zimmer genau angesehen. Dabei fiel mir ein Foto auf, das ihren Vater und sie als kleines Kind beim Angeln zeigt. Auf die Rückseite schrieb sie ‚Dis la vérité‘. Was das heißt, müssen Sie bitte herausfinden. Aber es war nicht die gleiche Handschrift wie die des Abschiedsbriefes, das konnte ich mit einem Auge erkennen. Die Handschrift des Briefes war gewollt ähnlich geschrieben, das fiel mir sofort auf, doch sie war auch leicht zittrig. Ob das etwas zu bedeuten hat, weiß ich noch nicht so genau, aber da kommen wir zu Ihrem dritten Punkt. Ja, Teenager laufen häufig weg, doch Susan ist keine vierzehn oder sechzehn Jahre mehr alt. Sie ist mittlerweile einundzwanzig und kam erst vor Kurzem in das Dorf zurück. Warum also sollte sie, ohne etwas zu sagen, davonlaufen? Das ergibt doch gar keinen Sinn!“
Sarah hatte währenddessen ihr Smartphone aus der Hosentasche geholt und nach dem französischen Ausdruck gegoogelt. „John, diese Worte bedeuten so viel wie ‚sag die Wahrheit‘. Vielleicht haben Sie recht. Vor allem ist uns aufgefallen, dass sie ihr Schauspielstudium in London abgebrochen hatte, nur um nach Steakbeaver zurückzukehren und in der Firma ihres Vaters zu arbeiten. Das hatte mich schon leicht stutzig gemacht und diese Worte jetzt … Ich weiß nicht so recht.“
„Wie gut, dass Sie so ein neuartiges Smartphone benutzen! Ich habe noch so ein altertümliches, darum wollte ich Sie erst fragen, ob Sie mir in der Polizeizentrale danach googeln könnten. Das hat sich ja jetzt erledigt, und ich hatte mir fast schon gedacht, dass sie ihr Studium abgebrochen hat. Das wäre meine zweite Frage gewesen. Dritte Frage – besitzt Susan eine Kredit- oder Bankomatkarte?“
In diesem Moment brachte Edgar gerade das Frühstücksei für Sarah. „Wie immer, weichgekocht, genau vier Minuten. Für mich noch immer zu wenig, aber für dich anscheinend genau richtig.“
„Danke, Edgar, vier Minuten für ein weichgekochtes Ei sind perfekt, das weißt du ja.“ Sarah griff nach dem Messer, das auf dem kleinen Teller neben dem Frühstücksei lag, und schnitt damit den oberen Teil des Eies ab. Dann nahm sie ein wenig Salz und schüttete es darüber. Mit dem kleinen Löffel, der sich ebenfalls auf dem Teller befand, löffelte sie langsam das Ei aus. „Also, wo waren wir gerade? Genau, Bankomatkarte und oder Kreditkarte. Sie hat beides, doch seit sie abgängig ist, hat sie keine von beiden benutzt.“
„Und das hat Sie nicht stutzig gemacht?“
„Nein, denn Mrs. Sterling erzählte uns, dass Susan über eine größere Menge an Bargeld verfügt, denn sie liebt ihre Kredit- oder Bankomatkarte nicht so sehr, und wenn sie im Moment bei Freunden untergekommen ist, würde sie wahrscheinlich ziemlich lange mit ihren Reserven auskommen. Natürlich war es ein Punkt, der zum Nachdenken anregte, aber einer meiner Kollegen kannte Susan ziemlich gut, denn er ist mit ihr in die Schule gegangen. Er beschrieb sie als sprunghaft und eigensinnig und meinte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt habe, dann zöge sie das auch durch. So schien es uns schon glaubhaft, dass sie nach kurzer Zeit und obwohl sie ihre Ausbildung abgebrochen hatte einfach so wegging.“
„Ich verstehe, Sarah. Eines beschäftigt mich aber noch. Sie haben mir vorher erzählt, dass schon mehrere Teenager weggelaufen sind. Von wie vielen sprechen wir da?“
„Also, das weiß ich jetzt auch nicht auswendig, aber ich könnte in den nächsten Tagen in den Akten nachsehen.“
„Das wäre wirklich gut.“
Sarah rief nach dem Kellner. „Edgar, wir würden gerne zahlen.“
Der Kellner kam zu ihnen. John holte seine Geldbörse hervor. „Das geht auf meine Rechnung, danke.“
„Nein, ich zahle meine Rechnungen noch immer selbst, ich lasse mich nicht einladen, trotzdem danke.“
Nachdem John und Susan bezahlt hatten, verließen sie das Café.
Fragend sah Sarah John an. „Und was machen wir jetzt?“
„Das ist eine sehr gute Frage. Gibt es noch weitere Verwandte der Sterlings hier in der Gegend, die Susan kennen?“
„Ja, den Onkel und Susans Tante. Sie wohnen ungefähr zwei Kilometer von der Villa der Sterlings entfernt und besitzen ein größeres Herrenhaus. Sie müssen am Anwesen der Sterlings vorbeifahren und dem Verlauf der Straße folgen, dann sehen Sie es auf der rechten Seite. Das Haus hat einen hässlichen blauen Anstrich, den man gar nicht übersehen kann.“
„Sehr gut, dann werde ich den beiden einen Besuch abstatten, und Sie fahren währenddessen zum Polizeiposten zurück und suchen mir die Akten der weggelaufenen Jugendlichen heraus.“
Sarah fuhr John zurück zum Motel und ließ ihn dort aussteigen.
„Ich komme dann so gegen 16 Uhr auf dem Polizeiposten vorbei. Denken Sie, dass Sie bis dahin die Akten gefunden haben?“
Sarah nickte. „Ja, ich denke schon. Bis später dann.“
John begab sich in sein Motelzimmer und setzte sich auf das Bett. Er holte seinen Notizblock aus der Manteltasche und kritzelte einige Zeilen in das Büchlein. Er wirkte dabei etwas fahrig, doch nachdem er fertig war und den Notizblock beiseitegelegt hatte, schien es so, als würde er sich besser fühlen. Dann stand er auf, verließ das Zimmer, stieg in sein Auto und machte sich auf den Weg zum Onkel und zur Tante von Susan. Einen kleinen Umweg nahm er aber noch in Kauf, denn er wollte das Haar, das er auf Susans Bett gefunden hatte, überprüfen lassen. Er schickte es einem alten Freund, der noch immer bei Scotland Yard arbeitete, für eine DNA-Analyse. Nachdem er beim Postamt den Brief aufgegeben hatte, fuhr er in die Richtung des Anwesens der Sterlings, denn das Haus des Onkels lag nur wenige Kilometer davon entfernt. Gerade hatte er das Anwesen der Sterlings passiert, als er auch schon das blaue Herrenhaus, so wie es ihm Sarah geschildert hatte, sah. Und die Farbe war wirklich hässlich! John nahm an, dass es wohl das einzige blaue Herrenhaus in ganz England war, denn diese Farbe stach ins Auge. Wer das verbrochen hatte, gehörte hinter Gitter! Da war sich John sicher. Er bog in die Einfahrt ein und fuhr auf das große Anwesen zu. Das Herrenhaus war im Historismusstil gebaut, ein zweistöckiges Haus, dessen Säulen am Eingang nur zur Zierde dienten. Die Fensterläden waren weiß gestrichen, und das hässliche Blau der Mauerfarbe musste man nicht mehr erwähnen. Im Grunde war es ein rechteckiger Kasten mit schön verzierten Säulen vor dem Eingang, aber John gefiel es sonst sehr gut, denn er mochte diesen alten Stil. Ein wirkliches Prunkstück! – Dies war seine Meinung.
Vor der Tür des Hauses stand eine Frau mittleren Alters mit langen dunklen Haaren, einem kurzen Minirock und Stöckelschuhen, und winkte John zu, so als würde sie ihn schon erwarten. Doch John hatte sich gar nicht angemeldet und wunderte sich, aber er blieb kurz vor der Frau mit dem Auto stehen und stieg aus.
„Sie müssen John Down sein. Meine Schwiegermutter hat mich angerufen und gesagt, dass Sie wohl in den nächsten Tagen bei uns vorbeikommen würden.“
John hatte Mrs. Sterling gegenüber zwar nicht erwähnt, dass er den Onkel oder die Tante aufsuchen würde, aber sie konnte es sich wohl denken, dass er alle näheren Verwandten unter die Lupe nehmen würde. „Ja, ich bin John Down. Und Sie sind?“
„Ach, ich Dummerchen! Ich bin Marie, die Tante von Susan. Ich hoffe, das arme Mädchen kommt bald zurück! Hier hat sie doch alles! Ich verstehe nicht, warum sie gegangen ist, ohne etwas zu sagen.“
„Sie glauben also auch, dass sie einfach von zu Hause weggelaufen ist?“
„Ja, was denn sonst? Wir leben hier in einem beschaulichen kleinen Dorf, wer soll ihr denn hier etwas angetan haben? Nein, nein, Susan war schon immer sehr sprunghaft und ein bisschen merkwürdig. Sie erzählte oft Dinge, die nicht wahr waren.“
„Von welchen Dingen sprechen Sie?“
„Ach, sie erfand einfach Sachen über ihren Bruder oder ihre Mutter, und nachdem diese gestorben war, wurde das alles noch schlimmer. Sie war ein bisschen verrückt, müssen Sie verstehen. Vielleicht wollte sie einfach wieder mehr Aufmerksamkeit, nachdem sie die Schauspielschule nicht geschafft hatte.“
„Sie hat sie nicht geschafft? Ich habe erfahren, dass sie sie abgebrochen hat! Stimmt denn das nicht?“
„Abgebrochen, nicht geschafft, pah!“ Marie winkte mit der Hand ab. „Das ist doch dasselbe. Sie bekam ihr Leben einfach nicht auf die Reihe. Sie wollte Schauspielerin werden! Hätte sie doch lieber einen richtigen Job begonnen, als so einem Hirngespinst hinterherzujagen. Sie war eine Träumerin.“
John merkte, dass Susans Tante nicht das Beste in ihrer Nichte sah. Sie wirkte aufgedreht und ein bisschen weltfremd, denn John wusste, dass vor allem auch ein so verschlafenes Dorf wie dieses Steakbeaver seine dunklen Seiten hatte, doch Marie sah nur die traute, schöne Welt. Für sie war es unmöglich zu begreifen, dass Susan auch etwas zugestoßen sein konnte. Doch es gab weder Beweise dafür noch dagegen. „Welche Dinge hat sie denn über ihren Bruder Chris oder ihre Mutter erzählt?“
„Ach, ich möchte darüber nicht sprechen. Schlimme Sachen, aber alle waren sie nicht wahr, und darum ist das auch nicht weiter wichtig. Ich meine, Chris war ein liebenswerter junger Mann, und darum ist es umso trauriger, was damals geschah, ein Mord hier in unserem Dorf, das war wirklich eine harte Zeit für uns alle.“
John bemerkte die Stimmungsschwankung bei Marie, als er ihr diese Frage gestellt hatte. Vielleicht steckte doch noch mehr dahinter, als sie sich eingestehen mochte, doch er wusste, dass sie ihm jetzt gleich keine Auskunft geben würde. „Wie war Ihr Verhältnis zu Susan?“, fragte er deshalb ausweichend.
„Ach, wir hatten uns im Grunde nie viel zu sagen. Sie behielt ihre Meinung meistens für sich und wenn sie dann mal etwas sprach, war es nur Unsinn in meinen Augen, aber trotzdem wäre es schön, wenn sie wieder zurückkäme, denn unsere Familie hat schon genug gelitten, da braucht es nicht auch noch so etwas. Eine verschwundene Sterling ist doch ein gefundenes Fressen für die Presse, und es wird nicht mehr lange dauern, dann stehen wir wieder in allen Zeitungen dieses Landes. Sie müsste das doch wissen und mehr auf die Familie achten.“
„Danke, Marie, für Ihre Ehrlichkeit! Dürfte ich vielleicht auch noch mit Ihrem Mann sprechen?“
„Aber natürlich! Er ist hinter dem Haus im Garten und ruht sich ein wenig aus.“
John schlenderte um das Haus herum und war immer noch verblüfft über die ehrlichen Antworten von Marie. Aber es stellte sich auch Unbehagen ein, denn er bekam immer mehr das Gefühl, dass er mit der Annahme richtig lag, dass hinter dieser netten, schönen, ländlichen Idylle ein Abgrund lag, den es erst zu erforschen galt. Doch wenn dem so war, warum hatte ihn dann Mrs. Sterling angeheuert? Als eines der Oberhäupter der Familie musste sie doch über alles Bescheid wissen! Und sie müsste annehmen, dass er unangenehme Dinge aufdecken würde! Oder wollte sie genau das? Vielleicht, vielleicht auch nicht, und vielleicht lag er mit allem daneben, und diese nette Idylle war wirklich ein so schöner Ort, wie er zu sein schien, und die liebe Susan war einfach nur von zu Hause weggegangen. Es konnte alles eine einfache Erklärung haben. Es könnte!
Als John hinter dem Haus angelangt war, sah er einen Mann in einer Hängematte liegen, die zwischen zwei Bäumen befestigt war. „Hallo!“, rief er in Richtung des Mannes.
Dieser ließ sich mit einer Bewegung langsam aus der Matte gleiten und drehte sich zu John um. „John Down, nehme ich an!“
„Ja, richtig! Hier scheinen schon alle meinen Namen zu kennen, da wäre es nur fair, wenn ich den Ihren auch erfahren würde.“
„Mein Name ist Stan. Stan Sterling, aber den Nachnamen konnten Sie sich wahrscheinlich schon denken. Sie sind wegen Susan hier? Eine wirklich unschöne Angelegenheit.“
„Unschön inwiefern?“
„Ja, dass sie einfach so gegangen ist, ohne jemandem davon etwas zu sagen. Jetzt machen sich doch alle Sorgen.“
John musterte den Mann genau, wie er es bei jedem tat, den er kennenlernte. Stan Sterling war knapp 1,85 groß; das konnte er schätzen, denn er selbst war knapp über 1,80, und Stan war nur geringfügig größer. Er hatte eine Kurzhaarfrisur, und seine Haarspitzen waren schon leicht angegraut. Darum schätzte John ihn auf 50, vielleicht um ein oder zwei Jahre jünger. Eine sportliche, schlanke Figur und ein charismatisches Gesicht verliehen ihm sowohl ein wenig Respekt als auch einen Hauch von Wahnsinn. Seine Gesichtsform war etwas kantig, was John glauben ließ, dass er etwas dazu neigte aggressiv zu werden. Doch das war eher eine Annahme aus persönlichen Erfahrungen als unter fundierten wissenschaftlichen Gesichtspunkten gesehen. „Und was wäre, wenn sie nicht einfach so gegangen ist? Wenn ihr etwas zugestoßen ist?“
„Das glauben Sie doch nicht wirklich, oder?“
„Was ich glaube, spielt im Moment noch keine Rolle. Ich sammle Fakten und mehr nicht.“
„Und was haben Sie bis jetzt?“
„Noch nicht viel. Ich bin heute erst den zweiten Tag hier, also suche ich noch. Mrs. Sterling glaubt jedenfalls nicht daran, dass sie einfach so gegangen ist.“
„Ach, Julia!“ Stan schnaufte abfällig. „Sie ist doch ähnlich wie ihre Enkelin. Sie glaubt, hinter jedem Busch eine Verschwörung zu sehen. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Susan bald wieder auftauchen wird? Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“
„Sie haben also nichts Auffälliges bemerkt, sei es am Verhalten oder an irgendetwas anderem?“
„Nein, oder ja, doch. Eine Kleinigkeit, aber diese ist sicher nicht wichtig. Sie hat die Tage, bevor sie gegangen ist, sehr oft telefoniert, das habe ich in der Firma mitbekommen. Und wenn sie telefonierte, verließ sie den Raum, so als wollte sie nicht, dass es jemand hört. Wahrscheinlich hat sie dort schon Freunde angerufen, um alles für ihre Aktion zu planen.“
„Aber warum sollte sie das denn tun? Ich meine, sie hätte doch allen sagen können, dass sie nicht weiter in der Firma arbeiten und Steakbeaver verlassen möchte?“
„Ja sicher, aber so war Susan eben. Unberechenbar und eine kleine Geheimniskrämerin. Es würde genau zu ihr passen, und darum glaube ich nicht daran, dass ihr etwas zugestoßen ist.“
„Danke Stan, wenn ich Sie so nennen darf.“
„Machen Sie ruhig, ich bin auch nicht der förmliche Typ, Mr. Down.“
„Dann nennen Sie mich auch einfach John. Ich werde Sie jetzt nicht weiter belästigen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Nachdem sich John verabschiedet hatte, zündete er sich erst einmal eine Zigarette an. Dies half ihm beim Nachdenken, und außerdem brauchte er jetzt dringend eine, denn die Sucht rief. Er spazierte zu seinem Auto zurück und verließ das Anwesen. Sein Ziel war die Polizeistation; dort hoffte er, mehr über die anderen Vermissten zu erfahren, denn bis jetzt hatte er noch keine heiße Spur. Alle schienen sehr gefasst, doch sein Gefühl sagte ihm, dass dem nicht so war. Er kam sich vor wie in einem Theaterstück, in dem er die Hauptrolle spielte. Der erste Akt würde bald enden, und das Publikum wartete nur darauf, mehr zu erfahren. Doch wenn er keine Spur fände, dann würde es keinen zweiten Akt geben. Dann war es nur ein lauer erster Akt, nach dem keiner wissen wollte, wie es weiterging. John war sich voll und ganz bewusst, dass er tiefer graben musste, um die Leichen im Keller zu finden, denn sein Gefühl sagte ihm, dass dies kein einfacher Fall sein würde und Susan vielleicht nur ein Bauernopfer auf einem Schachbrett war, auf dem das Spiel schon lange begonnen hatte und schon einige Züge getätigt worden waren. Vielleicht war er selbst auch nur einer der Bauern, doch auf welcher Seite stand er nun? Schwarz oder weiß?