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Abend in Jerusalem
Оглавление»Schon war es Abend geworden, und das ganze Land veränderte sein Aussehen. Die Gassen hielten ihren Lärm zurück, die Straßen wurden teils weißer, teils grauer, und die der Erde nahen Lüfte wurden schwarzdunkel und die dem Himmel nahen rosafarben und die Lüfte dazwischen vorläufig noch unterscheidbar, ohne jeden Farbton. Die Bäume in der Maimonallee und die Männer und Frauen auf der Gasse hüllten sich in eine Art Geheimnis und wußten es selber nicht. Mehr als dies: die einen wie die anderen gaben zu verstehen: ihr wißt nicht, wer wir sind.«
S. J. AGNON, »Schira«
Rechavia an einem späten Sonnabendnachmittag Anfang der 1960er Jahre. Schabbatstille liegt über der Weide, der Weite Gottes. Am Schabbatnachmittag sind die stillen Straßen noch ruhiger. Erst am Abend, an Moza’e Schabbat, fließt das Leben zurück in die Adern der Stadt, und es wird auch in Rechavia lebhafter, lauter. Busse und Autos fahren, man hört Musik aus den Radios, Nachrichten, Kinos und Theater öffnen ihre Pforten, Konzerte beginnen abends gegen halb neun. Mit seinem Bauhausstil, dem unverkennbaren sandfarbenen Jerusalemer Stein, den kleinen Straßen, dem Klavierspiel, das häufiger zu hören ist, mit seinen Eukalyptusbäumen, Pinien, Palmen und Jacaranda, den akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken nimmt sich Rechavia wie ein Vorort aus.
»Dahlemisch« erscheint es seinen Bewohnern aus Berlin, und doch ist Rechavia kein Vorort, sondern liegt nahe am Zentrum des westlichen Jerusalem, nicht weit von der Jaffa- und der Ben-Jehuda-Straße, dem Zionsplatz, dem Machane Jehuda, dem Jüdischen Markt. Bis zur Altstadt sind es nur wenige Kilometer; aber die ist Anfang der sechziger Jahre noch durch Zäune, Mauern und Stacheldraht abgetrennt. Jerusalems historische Altstadt gehört zu Jordanien. Eine Grenze trennt seit 1948 West- und Ostjerusalem. Immer wieder kommt es an dieser Grenze zu Schießereien. Am Rand von Rechavia kann man die Schüsse hören und Leuchtfeuer sehen.
Die deutschsprachige Zeitung »Jedioth Chadaschoth« hat ein Klavierkonzert »am Schabbatausgang um 8.30« angekündigt. Die Mozartsonaten spielt Daniel Barenboim. Man bietet »volkstümliche Ausflüge von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem nach Ejlath« an, der neuen Stadt am Roten Meer, »zwei Tage – Mittwoch und Freitag« oder »Sodom ein Tag – Donnerstag«, und verspricht: »Volkstümliche Preise/Erklärungen in den üblichen Sprachen.« Das heißt gewiss auch auf Deutsch. In einer anderen Anzeige wendet man sich an »Restitutionsempfänger«: »Wir liefern Ihnen für Ihre 33 % aus Entschädigungsgeldern erstklassige weltbekannte Markenartikel, darunter Grundig Tongeräte … Zeiss Ikon Optische Geräte. Lassen Sie sich nicht irreführen. Achten Sie genau auf unsere Firmennamen.« Am 16. Februar 1961 wird die Menge »der diesjährigen Regensaison« mit 335,6 mm Regen beziffert. »In der Hauptstadt herrschte gestern in den frühen Morgenstunden recht erhebliche Kälte.« Und Anfang der 1960er Jahre dirigiert der über achtzigjährige Robert Stolz mit dem Israel Philharmonic Orchestra nicht weit von unserem Stadtteil entfernt, im Binjanej ha’uma, dem groß angelegten Volkshaus, »Eine Nacht in Wien«.
Gershom Scholem verlässt an diesem Schabbatabend seine Wohnung in der Abarbanelstraße und geht bis zur Ecke King George, um dort links abzubiegen. Er ist in Gedanken versunken, kein Caféhausgänger, seinem preußischen Temperament widerstreben Cafés mit allem, was dazugehört, ausgedehnte Zeitungslektüre, stundenlanges Verweilen, zufällige Tischgespräche, vertane Zeit. Heute macht er eine Ausnahme und kommt Martin Buber entgegen, der aus Österreich-Ungarn stammt und Jahre seines Lebens und Lernens in Wien verbracht hat. Gemeinhin empfängt der alte Herr, dreiundachtzig Jahre, bei sich zu Hause. Aber ebendieses Haus in Talbi’e, dem Nachbarviertel von Rechavia, wäre kein guter Ort für die Verabredung an diesem Sonnabend. Dort, in jenem Haus, überreichten wenige Wochen zuvor Freunde und Weggefährten, Professoren, Verleger Martin Buber den letzten Band seiner Bibelübersetzung, die er fast vierzig Jahre zuvor zusammen mit Franz Rosenzweig begonnen hatte.
»Lieber Herr Buber«, so hatte Gershom Scholem gesprochen, »wenn wir uns heute in Ihrem Hause zusammengefunden haben, um den denkwürdigen Tag des Abschlusses Ihrer Bibelübersetzung ins Deutsche zu feiern, ein bißchen nach der Art eines alten jüdischen ›Ssijum‹ beim Abschluß des Studiums, so ist das für uns eine bedeutsame Gelegenheit, auf dies, Ihr Werk, seine Absicht und seine Leistung zurückzublicken.« Und gerade diese Ansprache, die eine Lobrede hätte sein sollen, hatte einen Dissens zwischen Gershom Scholem und Martin Buber hervortreten lassen, der nicht neu war, hier aber mit Macht aufbrach. Der Streit betraf alles, die überlieferte jüdische Tradition, die Art und Weise, sie zu lesen, die Schlüsse, die beide daraus zogen. Auf den ersten Blick eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gelehrten unter sich. Aber das war sie nicht. Im Kern betraf sie das Verhältnis von Deutschen und Juden, die historische Bürde, den Umgang damit, eine mögliche Annäherung der beiden Völker, das Verhältnis zweier Staaten, Deutschland und Israel. Es ist kein Zufall, sondern bezeugt einen ganzen historischen Zusammenhang, dass sich diese Kontroverse an der Bibelübersetzung entzündete. Und dass sie Anfang der sechziger Jahre einen Ort in der Welt hat: Rechavia.
Im Café Atara sitzt an diesem Abend neben Martin Buber Anna Maria Jokl, aus Berlin zu Besuch in Jerusalem. Sie trägt sich mit dem Gedanken, ganz nach Israel überzusiedeln, mit über fünfzig noch einmal den Lebenswechsel zu wagen, den Wechsel der Wohnung, im Beruf, sie will eine neue Sprache erlernen, sich an eine neue Umgebung gewöhnen, die ihr gleich bei ihrer ersten Reise nach Israel 1957 zusagte und doch eine tiefgreifende Veränderung in allem bedeutet, das Wagnis des sechsten Lebens, nach dem Geburtsort Wien, der Heimatstadt Berlin, der Wanderstadt Prag, nach London, wohin sie 1939 vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit dem Schiff von Danzig aus gelangte, nach Ostberlin und Westberlin, wo sie zu dieser Zeit noch in der Sächsischen Straße lebt. Sie hatte Martin Buber bei ihrer ersten Reise in Jerusalem besucht und steht seitdem mit ihm in Verbindung. Er hat ihr, wie so vielen, die Welt des Chassidismus nahegebracht, mit seinen Erzählungen und Geschichten des Ostjudentums der österreichisch-ungarischen Kronländer, dem Anna Maria Jokl entstammte. Martin Buber war der Ziehvater ihres Wechsels von Berlin nach Jerusalem.
Das Café Atara, 1938 von der Familie Grinspan in der Ben-Jehuda-Straße als »Esslokal« eröffnet, wurde rasch zu einem Treffpunkt der Jeckes, in dem neben der englischsprachigen »Jerusalem Post« und den »Jedioth Chadaschoth«, das »MB«, das »Pariser Tageblatt« oder die »Jüdische Rundschau« aus Berlin, die »Weltwoche« aus Zürich auslagen, die immer bedrückendere Nachrichten aus dem Heimatland ihrer Leser brachten. Äußerlich sieht das Atara, zu Deutsch: die Krone, 1961 noch so ähnlich aus wie bei seiner Gründung über zwei Jahrzehnte zuvor: die grüne Markise, die braune Kaffeebohne als Logo, die einfachen Tische und Stühle, der »Kaffee hafuch«, »Kaffee verkehrt«, wenig Kaffee in viel Milch, wahrscheinlich eine Wiener Erfindung aus jener Zeit, als die Türken nach der Belagerung der Stadt einige Säcke mit Kaffebohnen zurückgelassen hatten. Oder den »Jeruschalmi«, bei dem man einfach Kaffeepulver in die Kanne schüttet und heißes Wasser darübergießt.
»Für die Jeckes war das Atara ein Stück Heimat«, berichtet Gad Granach: »Man ging ins Café, um zu sehen und gesehen zu werden. Jeder kannte jeden. Oben, im ersten Stock des alten Atara, saßen die Jüngeren. Die Älteren, die die Treppen nicht mehr schafften, saßen unten. Und jeder hatte ›seine‹ Kellnerin. Das waren keine kleinen Aushilfsmädchen, sondern gestandene Frauen, die oft jahrelang dort gearbeitet haben. Ich erinnere mich an Stella und Zima, die wussten nicht nur genau, was ihre Stammkunden immer bestellten, die waren auch Beichtmütter. Mit denen haben manche Gäste wahrscheinlich mehr geredet als mit den eigenen Ehefrauen.«
Gershom Scholem ist im Café Atara angelangt, öffnet die Glastür, erblickt Buber und die unbekannte Begleiterin. Buber stellt sie ihm vor, Anna Maria Jokl aus Berlin, aufmerksam, freundlich schaut sie den hochgewachsenen Mann an, reicht ihm die Hand: »Schalom«. Scholem setzt sich, bestellt Kaffee und Schokoladenkuchen in dem Café, in dem man ihn nur selten sieht.
»Lassen Sie es mich gleich freiheraus sagen, Herr Scholem, Ihr Wort vom ›Grabmal‹ für meine Bibelübersetzung liegt schwer auf meinem Herzen«, hebt Buber sogleich an. »Ich erahne, was Sie damit ausdrücken wollten an dem Winterabend bei mir zu Hause, aber dies harte, scharfe, steinschwere Wort ist meiner jahrelangen, jahrzehntelangen Arbeit nicht angemessen, es ziemt sich nicht, so darüber zu sprechen.« Er holt Luft, lässt Scholem aber noch nicht zu Wort kommen. »Das Vorhaben, die Bibel aus dem alten Hebräisch ins Deutsche zu übersetzen, reicht Jahrzehnte zurück, als ich in Frankfurt zusammen mit Franz Rosenzweig damit begann. Es war die Geburtsstunde einer lebendigen Arbeit, nicht das Grabmal, als das es Ihnen nun erscheint.«
»Sie tun mir Unrecht, Herr Buber, das Wort vom Grabmal bezieht sich nicht auf Ihre Absicht, die ich hoch achte, genau wie die Rosenzweigs, nicht auf Ihre Arbeit als solche, sondern auf deren Wirkung heute, fünfunddreißig Jahre später«, lenkt Scholem ein und hebt einen Zeigefinger. »Ich war mir der Gefahr, an dem Abend im Februar missverstanden zu werden, bewusst. Ich muss fürchten (oder hoffen?), sagte ich in Ihrem Haus, Ihren Widerspruch herauszufordern, und doch drängt sich meinem Gefühl die Frage auf: Für wen wird diese Übersetzung nun bestimmt sein, in welchem Medium wird sie wirken? Historisch gesehen ist sie nicht mehr ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern – und es fällt mir nicht leicht, das zu sagen – das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung.« Er lässt die Hand mit dem erhobenen Finger sinken. »Die Juden, für die Sie übersetzt haben, gibt es nicht mehr. Die Kinder derer, die diesem Grauen entronnen sind, werden nicht mehr Deutsch lesen. Die deutsche Sprache selber hat sich in dieser Generation tief verwandelt, wie alle wissen, die in den letzten Jahren mit der neuen deutschen Sprache zu tun hatten – und nicht in der Richtung jener Sprachutopie, von der Ihr Unternehmen so eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Der Abstand zwischen der realen Sprache von 1925 und Ihrer Übersetzung ist nun, 35 Jahre später, nicht kleiner, sondern größer geworden.« Tatsächlich hatte Scholem schon in den zwanziger Jahren Bubers Übersetzung heftig kritisiert.
Martin Buber schaut entschuldigend zu seiner Begleiterin hinüber, doch das kann er so nicht stehenlassen. Anna Maria Jokl nickt ihm zu. Sie ist neugierig auf die Erwiderung. Und so sagt Buber: »Aber Sie wissen, Herr Scholem, dass mir der Dialog das eigentliche Anliegen ist, das Gespräch, der Austausch, die Kontroverse, auch über den Abgrund hinweg, zum Gespräch gehört sein Scheitern wie sein Gelingen, zur Begegnung die Vergegnung, der Dialog ist ein treibendes, durchdringendes Prinzip, nicht nur ein punktuelles Ereignis. Darum bin ich schon recht bald nach 1945 wieder nach Deutschland gefahren, gegen manchen heftigen Widerstand, auch den Ihren, habe zu Deutschen gesprochen, mit Politikern wie Theodor Heuss geredet, Auszeichnungen wie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels empfangen. Leben ist Begegnung.«
»Darum, lieber Herr Buber, nannte ich Ihre Übersetzung ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen im Augenblick des Scheidens, vor 1933, ein Gastgeschenk freilich, das die Gastgeber ausgeschlagen haben.«
Beide Herren, der ältere wie der jüngere, sprechen ein Deutsch, der eine Wienerisch, der andere Berlinisch gefärbt, das man heute gar nicht mehr vernimmt und damals in Deutschland selten vernahm, gewählt, gelehrt, erhaben, ernsthaft und ohne Ironie, mit einem Pathos der Distanz, das beide in ihrer Ferne belässt und doch in der Form verbindet.
Der Disput zieht sich noch hin, Anna Maria Jokl folgt ihm, und doch gebietet die Höflichkeit letztendlich, ihm Einhalt zu gebieten. Anna Maria Jokl erzählt nun von ihrem Leben in Berlin, ihrer Arbeit als Psychotherapeutin. Unterdessen hat sich das Café gefüllt. Hannah Arendt hat sich an einen anderen Tisch gesetzt. Sie ist gerade aus New York gekommen, hat Quartier in Rechavia genommen, um über den Prozess gegen Adolf Eichmann zu berichten, der am 11. April 1961 vor dem Bezirksgericht in Jerusalem beginnt, ein Prozess, der die israelische Gesellschaft aufwühlen und lange beschäftigen wird; bis heute dauert diese Beschäftigung an. Adolf Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen der Shoah, wurde im Mai 1960 vom Mossad, dem israelischen Geheimdienst, in Argentinien festgesetzt und verhaftet. Der »New Yorker« hat Hannah Arendt nach Israel geschickt, um in fünf Folgen über den Prozess zu berichten. »Eichmann in Jerusalem« heißt ihr Report, den sie 1963 auf Englisch, bald danach auf Deutsch veröffentlichen wird. Dieses Buch wird zu einer erbitterten Kontroverse zwischen der Autorin und ihren israelischen, auch amerikanischen Kollegen führen, erst recht zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt, deren Verbindung im Schweigen enden wird, einem beredten Schweigen mit einem Schlusspunkt deutlicher Briefe von beiden. Aber das ist an diesem Schabbatabend für beide Zukunft, für uns Vergangenheit.
Mascha Kaléko betritt das Café mit schnellen Schritten. Sie weiß, wer Hannah Arendt ist, kennt sie flüchtig aus New York, aber die beiden Damen trennen Welten in ihrer jeweiligen Weltwahrnehmung, in Schreiben und Herkunft. So geht Mascha Kaléko nicht auf sie zu. Ein Café in Jerusalem, schrieb sie einem Freund in Amerika, sei ein leichter Euphemismus. Heimisch ist sie nie dort geworden, seit sie 1959, zusammen mit ihrem Mann, dem Komponisten chassidischer Musik Chemjo Vinaver, nach Rechavia zog, weil sie von dem milden Klima Linderung für sein Asthmaleiden erhoffte. In Wirklichkeit setzte beiden das Klima zu, vor allem der Chamsin, ein föhnartiger Wüstenwind, der – wie die arabische Bezeichnung lautet – Fünfzig, das heißt fünfzig Tage im Jahr, vor allem im Frühsommer und im Herbst, mit einem Gluthauch über die Stadt streicht. Mascha Kaléko wird in Jerusalem eine Fremde bleiben, wie ihr Berlin, ihre Heimatstadt, nach dem Krieg nicht wieder vertraut wird. Nur: Der Grunewald im Orient liegt noch weiter weg von New York, wo der geliebte einzige Sohn lebt. Jeden Tag wartet sie auf einen Brief von Steven, der höchst selten schreibt. Und Telefonanrufe über den Kontinent hinweg kosten ein Vermögen. So lebt Mascha Kaléko in Rechavia mit tausend Gedanken an New York und Erinnerungen an die Bleibtreustraße und das Karree um den Savignyplatz. Einer Freundin schreibt sie um diese Zeit aus Jerusalem: »Hörte am Radio ein Lied aus den Spätzwanzigern in Berlin, das war wie ein Blitz, der in mein schlummerndes Empfinden einbrach, auf einmal war mein Herz wieder wie damals, so jung, so rauschend, so liebend – Das war ich einst, dachte ich, fast erstaunt.«
Mascha Kaléko bemüht sich um eine Neuauflage ihrer einst so populären Bücher und neuer Titel im Rowohlt Verlag. In Berlin, Hamburg oder München findet sie Leser; in Israel kennt sie niemand. Im Café in der Ben-Jehuda-Straße geht sie zum Tisch von Scholem, Buber und Anna Maria Jokl. Der Berliner Tonfall des einen geht ihr zu Herzen, Martin Buber ist ihr vertraut, die beiden haben Briefe gewechselt. Anna Maria Jokl dürfte Kalékos Gedichte gekannt haben. Man wechselt einige Worte.
Der Abend schreitet voran, die verstreut sitzenden Gäste, die einander kennen, beschließen zusammenzurücken. Die Kellnerinnen stellen Tische und Stühle zusammen, Hannah Arendt sitzt zwischen Gershom – den sie nur Gerhard nennt, er sagt Hannah, beide bleiben beim Sie – und Martin Buber. Ihnen gegenüber Anna Maria Jokl und Mascha Kaléko. Werner Kraft gesellt sich zur Runde und setzt sich neben sie, auch wenn deren Gedichte ihm zu leichtfüßig, heutig, zu lebensnah daherkommen. Kraft beschäftigt sich mit Stefan George, Rudolf Borchardt, mit den Klassikern aus Weimar. Aber nun sitzen sie eben nebeneinander.
Um sie gruppieren sich, auf mehrere Tische verteilt, andere Abendgäste. Lea Goldberg hat das Café betreten. Sie unterrichtet vergleichende Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität. In Jerusalem ist es ein herausgehobenes Fach; denn die meisten Studenten haben neben Hebräisch eine andere Muttersprache, Polnisch, Russisch, Deutsch. Lea Goldbergs erste Sprache war Russisch, aber sie ist in den Weltsprachen zu Hause, übersetzt aus dem Russischen, Italienischen, schreibt und illustriert Kinderbücher, verfasst Gedichte, Essays. Sie setzt sich zu Jehuda Amichai, dem aus Würzburg stammenden Dichter, gerade 37 Jahre, der später zur poetischen Stimme des Landes werden wird. Gad Granach, der Sohn von Alexander Granach und temperamentvoller Chronist seiner Generation, der in den 1930er Jahren nach Palästina Eingewanderten, trinkt einen Kaffee. Und etwas abseits sitzt ein schüchterner Student allein an einem Tisch. Sein Kibbuz hat ihn in seine Heimatstadt zum Studium geschickt, ein Privileg, das nur selten besonders begabten Kibbuzniks zuteilwird. Als Amos Klausner ist er geboren. Als Amos Oz wird er vierzig Jahre später den bedeutendsten Roman über Jerusalem verfassen, »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis«.
Der Zufall hat die Menschen im Café zusammengeführt, die auf ganz unterschiedlichen Wegen hierhergekommen sind, von weit her, für einige Zeit, für immer, aus Überzeugung, zionistisch gesinnt, aus Not.
Die Kuchenteller sind abgeräumt, man trinkt Kaffee oder Tee, die weltläufige Hannah Arendt hat einen Whisky bestellt, den es nicht gibt, man bringt ihr stattdessen israelischen Brandy der Marke Carmel, Sandwichs stehen auf dem Tisch, belegt mit den beiden Käsesorten, die damals in Israel erhältlich sind, dem gelben und dem weißen, es gibt Salat; Hummus und Techina, der Kichererbsenbrei und die Sesampaste stammen aus der arabischen Küche.
Die sechs Personen tauschen sich aus, sprechen über ihr Herkommen, ihr Ankommen und Leben in Rechavia, über Deutschland, die israelisch-arabischen Spannungen, die Politik des Landes, das ewige Thema, die geteilte Stadt. Scholem hört anfangs zu, spricht dann viel, »wat hier jeredt wird, red ick«, sagt man dem Berliner nach. Werner Kraft, mit dem ernsten Gespür für Literatur, berichtet von einer Lesung, wohl Anfang der vierziger Jahre, bei der das heute vergessene Gedicht »Allerseelen« von Hermann von Gilm zur Sprache kommt: »Ich erinnere mich aber, wie Else Lasker-Schüler am Schluss ihrer Ansprache vor einer Vorlesung in Jerusalem die erste Strophe gesprochen hat: ›Stell’ auf den Tisch die duftenden Reseden, / Die letzten roten Astern trag’ herbei / Und lass uns wieder von der Liebe reden / Wie einst im Mai‹ – und das ganze zerstörte Deutschland wurde in den Versen wach.« Wie nebenher wird hier die Bedeutung des Deutschen für Rechavia lebendig, eine zitierte Vergangenheit, weithin abgeschnitten von der Gegenwart des damals gesprochenen wie geschriebenen Deutsch.
Else Lasker-Schüler hat den Ort literarisch mitbegründet, erfunden; ihr imaginäres Jerusalem war das reale Rechavia, der Kraal. Mit Adon, also Herrn Scholem war sie so bekannt wie mit Adon Buber. »Eine große Dichterin. Wissen Sie, dass sie um die Ecke herumgeisterte?«, weiß Mascha Kaléko zu berichten. »Die Abendlandschaften sind wirklich – wenn sie sie schon vorher erahnte, ohne sie zu kennen – wie von der L[asker]-S[chüler] erfunden. In den ›Abendfarben Jerusalems‹, ich glaube, sie schrieb das, lange ehe sie sie (es sei denn aus Bibel und Malerei) kannte. Außerdem was ist schon ein Dichter wenn nicht ein Ahner, nicht Ahmer, sondern Ahner, mit n bitte.«
All diese Personen hätten einander an diesem Schabbatabend im Café begegnen können. Sie sind es nicht. Gershom Scholem etwa reist im Frühjahr 1961 für mehrere Monate nach London und versäumt Hannah Arendt in Jerusalem, er erfährt aus der Ferne vom Auftakt und dem Fortgang des Eichmann-Prozesses. Anna Maria Jokl war einige Jahre zuvor und wieder später da, ehe sie 1965 ganz nach Jerusalem zieht.
Sie waren zufällig abwesend und gehören doch notwendig zu einem Bild von Rechavia Anfang der sechziger Jahre.
Es ist spät geworden, die Kellnerinnen beginnen, die Stühle hochzustellen, das Café leert sich, die Gesellschaft verlässt das Atara. Man begleitet Buber zu seinem Taxi, der Fußweg zu seinem Haus wäre zu weit für ihn. Die übrigen fünf aber legen den Weg ins still schlafende Rechavia zu Fuß zurück. Zuerst gemeinsam, dann getrennt. Scholem biegt nach rechts in die Abarbanelstraße ein, Hannah Arendt verabschiedet sich auf der King-George-Straße und geht in ihr Hotel. In der Nummer 33 lebt Mascha Kaléko, »Um die Ecke wohnt Buber und sone Leute«, Werner Kraft, der Scholem noch ein Stück Weges begleitet hat, biegt in die Alfasistraße ein, wo er wohnt. Anna Maria Jokl hat ein Quartier nahe der Balfourstraße gefunden, wo sie später, gegenüber der Schockenbibliothek, direkt neben der Residenz des israelischen Ministerpräsidenten, viele Jahre leben wird.
Die Schockenbibliothek als Modell.
Der Architekt Erich Mendelsohn schreibt 1936: »Gestern bei Schocken […] Die Bibliothek ist im Rohbau fertig. Sehr gut. Räume innen herrlich. Außen schlicht u. feierlich. Haus bis zum ersten Stock im Rohbau. Herrlich. Steht schon 1000 Jahre so. Frau Schocken sagt zu ihm – als wir heute Sabbath Vormittag gemeinsam die Bauten besuchten – da gibt es wirklich nichts zu meckern.«