Читать книгу Das Vollkommene Leben. Ein hermeneutischer– amerikanischer Gesellschaftskrimi für Germanisten. - Thomas Taylor - Страница 5

Kapitel 2 – „Himmelshafen“

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Um zum Flughafen zu gelangen mußte ich zum Stadtkern hin fahren. Was die Stadtplaner dazu bewogen haben mochte, den Flughafen ausgerechnet dort anzusiedeln, wo die Bevölkerungsballung und Bautendichte am ausgeprägtesten sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich nehme an, daß der Ort des Flughafens, Sky Harbor, zu Deutsch “Himmelshafen” einstmals gleich am Stadtrand oder ein bißchen außerhalb des alten Phoenix gelegen haben muß, und daß der rasante Bevölkerungszuwachs, der Phoenix in allen Himmelsrichtungen in die Wüste hinein ausweiten ließ, das Flughafenareal einfach eingekreiste und verschluckte. Auf jeden Fall fuhr ich zuerst gemächlich in dünnem Verkehr, der jedoch je weiter in die Stadt hinein mit zunehmendem Betrieb eine entsprechende Geschwindigkeitserhöhung hinlegte. Bald war nichts mehr von der Wüste zu spüren und die Innenstadt glich jeder anderen bis auf die Tatsache, daß in Phoenix nicht so hoch gebaut wird, wie es in den meisten Großstädten in den USA der Fall ist. Und da hat man noch das Empfinden einer noch vorhandenen Weite.

Am Flughafen angekommen stellte ich meinen Wagen in der zum Terminal nächsten Parkgarage und schloß ab, und mit noch fast zwei Stunden bis zum Abflug ließ ich mir Zeit, die Strecke zum Flughafengebäude hinter mich zu bringen. Die normale Geschäftigkeit prägte das Geschehen um mich herum und halb ziellos daher bummelnd ließ ich Eindrücke des Flughafenbetriebes auf mich einströmen. Phoenix ist eine künstliche Stadt, das ist, sie ist auf künstliche Versorgungswege angewiesen. Die Lebensader Wasser zum Beispiel muß von weit her im Norden durch eine Serie von Staudämmen geholt werden, zweitens, die einzige, wirklich übriggebliebene Existenzgrundlage ist die günstige Winterwitterung, denn die frische und blütenstaubfreie Luft von einstmals, die man zur Stadtwerbung anpries, ist indes trotz aller umweltschützenden Anstrengungen so arg verschmutzt, daß die Berge, die die Stadt, the Valley of the Sun, das Sonnental, großenteils umgeben, oft nur noch als diesige, gelblich schimmernde Umrisse auszumachen sind. Es gibt eigentlich keinen Grund, keine wirtschaftliche Notwendigkeit, daß gerade dort, wo sich Phoenix befindet, eine Siedlung weiterbestehen soll. Aber sie tut es trotzdem.

Was zu meiner Neigung zum Minimalen gehört, ist mein Verzicht soweit es heutzutage geht auf Fernsehen. Dies aus mehreren Gründen, darunter zählt das möglichst breit anzusprechende Publikum. Ich bin einmal einem Germanisten begegnet, der auf “Pop Kultur” sich spezialisierte und dessen Tätigkeitsfeld zu nahezu neunzig Prozent aus Glotzebeschauung bestand. Mir ist nicht klar, wie er überhaupt einen anständigen Aufsatz, einen Vortrag oder ein Buch zustande bringen konnte. Wie sollte einem z.B. scharfsinnige Gedanken zu der allgemeinen Volksverhohnepipelung, wie das Fernsehen nicht ohne Grund tituliert wird, einfallen? Ist es tatsächlich möglich, eine geschmackvolle Arbeit über Geschmacklosigkeit zu verfassen? Wie kann man eine informierte und aufschlußreiche Studie über das tiefeingewurzelte Unwissen der breiten Öffentlichkeit zuwege bringen? Brauche ich mehr zu sagen? Es gibt, liebe Kollegen, Ergiebigeres in der Germanistik zu tun, als mit Vollgas in eine Sackgasse hineinzubrausen. Wie dem auch sei, ich sollte es später bereuen, zumindest an diesem einen Tag nicht ferngesehen zu haben, denn dann hätte ich meine für den heutigen Morgen vorgesehenen Reisepläne umgehend geändert.

Das Flughafengebäude betretend tat ich mich bei der Beibehaltung der seit langem ausgeübten Entbehrung schwer, denn in der Halle waren einige Fernsehapparate aufgestellt, vor denen jeweils ein kleines Menschenknäuel stand. Ich ließ mich am Schalter abfertigen und durch das Bedürfnis, die Zeit totzuschlagen und von Neugier aufgestachelt stiefelte ich doch auf eins der Geräte los. Zunächst einmal begriff ich nicht, was da an Aktualität die Aufmerksamkeit der Anwesenden hätte fesseln können. Denn, abgesehen von den lebenstreuen Farben des Bildes, das im Fernsehen gerade übertragen wurde, schien das Fernsehbild eine sonst genaue Wiedergabe der Schwarzweißfilme der Bombardierungen deutscher Städte im zweiten Weltkrieg. Es waren nämlich Luftaufnahmen eines Stadtviertels, das gerade in Schutt und Asche gelegt wurde, die typischen brennenden und ausgebrannten Gebäude Rauchsäulen von sich speiend beherrschten das Bild. Aber hier hatten wir mit einer direkten Übertragung zu tun. Die Aufnahmen, von einem Hubschrauber genommen waren nahe genug, um gerade noch Menschen auszumachen, wie sie randalierend durch die Straßen zogen und dabei entweder mit Benzinbomben Gebäude in Brand legten oder sich mit geplündertem Gut davon machten.

Ich wandte mich an einen Herrn, der wie gebannt oder vielleicht nur gedankenversunken, aber nichtsdestoweniger unentwegt hinschaute, und wagte es, ihn zu stören.

“Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wo das ist und was dort los ist.”

Mein Gesprächspartner beäugte mich leicht ungläubig, als wäre ich sozusagen von Gestern. Es war mir schon ein bißchen peinlich gleich auf Anhieb als etwa ungewöhnlich oder gar verschroben ausgewiesen zu werden, denn anscheinend, was los war, war für die meisten natürlich schon lange keine Neuigkeit. Leicht seufzend erklärte er: “Selbstverständlich kann ich es Ihnen sagen, es ist schon wieder Los Angeles. Eine Wiederholung von Watts vierundsechzig. Wissen Sie, als das Schwarze Viertel in Flammen aufging? Auch die Ursache diesmal war nicht unähnlich, wegen diesem Schwarzen, schon wieder wegen einem Nichtsnutz, wissen Sie, der von einigen Polizisten verprügelt wurde. Die sind gestern freigesprochen worden. Die Unruhen haben gestern Abend angefangen und dauern, wie Sie sehen, noch an”.

Verwundert sah ich mir den Mann näher an. Er war selber schwarz, etwa Ende dreißig oder Anfang vierzig, leicht graumeliert, dezent gekleidet und obwohl er recht gesund und gut in Form aussah, wirkte er etwas gebeugt und müde.

“Warum wird noch nach Los Angeles geflogen? Es kann nicht so schlimm sein, wenn es noch erlaubt ist, in die Stadt einzufliegen.”

Er wandte sich von mir wieder dem Fernsehapparat zu.

“Da haben Sie wohl recht”, meinte er leise, “die Fluglinien und die Behörden sind beide bestimmt nicht bereit irgendwelche Risiken einzugehen. Alleine daher, daß sie durch eine Fehlentscheidung, womöglich verklagt werden können. Sie haften, wenn sie wissentlich in ein Kriegsgebiet fliegen.” Er sah hinunter auf seine Fußspitzen, blickte wieder zu mir auf, sah danach aus, als wollte er mir noch etwas sagen, besann sich eines anderen und sagte nur “Entschuldigung, ich muß gehen... guten Flug noch.” Er verließ den Halbkreis der Zuschauenden und überließ mir meine Gedanken.

Der Fall, auf den er sich bezogen hatte, handelte sich um einen nicht mehr so jungen Schwarzen, den die Polizei des Nachts wegen eines Verkehrsdeliktes oder seines schadhaften Autos anhalten und kontrollieren wollte. Statt sich zu fügen lieferte der Schwarze den Straßenverkehrsordnungshütern guten Grund für seine Festnahme. Eine wilde Jagd auf der Autobahn und durch Wohngebiete erfolgte, bevor er im wahrsten Sinne des Wortes zur Strecke gebracht wurde. Nachdem der Fahrer aus seinem Wagen herausgezerrt wurde, wollte er wegen bekifftem oder alkoholisiertem Geisteszustand immer noch nicht wahrhaben, daß es wohl an die Zeit gekommen war, doch einzulenken, leistete Widerstand, worauf mehrere weiße Polizisten über ihn herfielen, zu Boden knüppelten und auf den wehrlos auf dem Boden Liegenden weiter eindroschen. Das wäre das Ende der Episode gewesen, wenn nicht ein interessierter Bürger die polizeiliche Verfahrensweise beziehungsweise methodische Entgleisung von seinem Balkon filmisch aufgezeichnet und anschließend gegen ein bescheidenes Entgelt an die Presse geliefert hätte. Die Verbreitung der Nachricht schlug natürlich hohe Wogen, die nun ein Jahr später auf akut zugespitzte Weise zu spüren waren.

Die Stimmung, die in der Halle herrschte erstreckte sich von Gleichgültigkeit, über mildes Interesse bis hin vereinzelterweise zur hellen Aufregung. Eine Frau am Schalter stritt heftig mit einem Angestellten laut verkündend, sie denke nicht daran, nach Los Angeles zu fliegen und wolle ihr Geld zurückerstattet. Mit Ausnahme von ein paar ähnlichen Vorfällen unterlag alledem ein gewohnter oder gar blasierter Verlauf der Dinge, der in den Rahmen einer in Granit eingemeißelten, seit Menschengedenken vorgeschriebenen Tagesordnung fiel. Ich habe mich immer darüber gewundert, wie Leute nach Pest und Krieg, Naturkatastrophen und unsäglichen Tragödien in der Lage waren, einfach weiterzumachen und sich angesichts des geschehenen oder noch geschehenden Unheils unwahrscheinlich unbekümmert um nichtig anmutende Dinge kümmerten. Ich konnte nie entscheiden, ob es selige Stumpfheit und mangelndes Einbildungsvermögen oder doch Heldenkraft und überlegter Mut gewesen sein mag, die die das Leben erhaltende Einstellung zuließ. Die Gewährleistung für die Fortführung des Lebens war wohl immer und ist noch das Ergebnis eines verblüffend unaufhaltsamen Lebensdrangs, der sich offenkundig außerhalb des Bereiches des Sinnvollen bewegte und geltend machte und anscheinend nie sonderlich einer Rechtfertigung bedurfte. Das Leben und seine Grundfeste bloß als Gewohnheitssache anzusehen ist keine inspirierende oder trostspendende Betrachtungsweise der Dinge. Wenn man es bedenkt, ist es eigentlich schon eine ebenso beunruhigende Vorstellung, von derlei blinden Kräften unwillentlich ratlos getragen zu werden, genauso wie auch die Erkenntnis, etwa einer höheren nun einmal nicht blinder Macht ausgeliefert zu sein, die das Leiden zu einer dem Menschen verborgenen Sinngestaltung erfunden haben soll. Es ist alles sehr schlimm, aber kein Anlaß zur Sorge, denn die Dinge sind viel schlimmer, als sie zunächst scheinen. Und die allerschlimmsten sind unsichtbar, sich dort befinden und zutragen, wo sich nichts machen läßt, also eben ein starker Anlaß zur Gelassenheit.

Was die Endfragen anbetrifft, ich habe einen Freund in der Philosophieabteilung, der meint, man sei von drei Möglichkeiten umzingelt, und die seien alle drei gleich unerträglich: Gott existiert, Gott existiert nicht, man weiß nicht, ob Gott existiert oder nicht. Ich für mein Teil denke, man soll sich am liebsten nicht, obwohl es wohl unvermeidlich ist, mit solchen Fragen überheben. Aber es ist meines Erachtens auch nicht wahr, daß alle drei Möglichkeiten gleich ins Gewicht fallen. Das endgültige Für oder Wider beruht auf einem vermeintlich abgeschlossenen Wissen. Das Nichtwissen andererseits läßt ungleich viel mehr Bewegung, ja Spiel durch das ganze Register der Unwissenheit hindurch zu. Zweifel und Unschlüssigkeit engen nicht ein. Hinzu: In der allgemeinen Ungewißheit der dritten Möglichkeit nehmen die kleineren Dinge, mit denen wir uns sowieso beschäftigen müssen, einen unmittelbareren handfesteren Wert ein. Damit kann man etwas anfangen. Das sind aber alle Fragen und Überlegungen, die man zumal frühmorgens lieber bleiben läßt.

Ich überlegte mir, ob ich den Flug stornieren sollte. Meine Entscheidung hing nicht davon ab, was die Behörden oder die Fluglinien dachten, die Lage schätzten und demnach handelten. Ich wußte, daß ich ein Risiko einginge, wenn ich hinflöge. Mit der Aussicht aber, die vielen Ungelegenheiten von neuem auf mich nehmen zu müssen, konnte ich mich durchaus nicht anfreunden, und das war am Ende das Entscheidende. Aber daß noch nach Los Angeles geflogen wurde, beruhigte mich nicht sonderlich. Ich würde mich immerhin von anderer Entscheidung mitreißen lassen.

Wie dem auch sei, da waren gleichwohl überlegenswerte Dinge im Spiel, die einen stutzen und wissen ließ, daß einer, der aus privilegiertem zurückgezogenem Abstand den Menschen nie gut kennt, mit dem merkwürdigen Ergebnis, daß man andauernd von anderen geführt wird durch Beispiele, die aufzeigen, wo es lang geht. Dies läßt die Schlußfolgerung zu, daß es zwei Arten von Menschen geben muß. Für meinesgleichen sieht man vor die Notwendigkeit gestellt, sich zu schätzen nach der eigenen Belastbarkeit gemessen an den Anforderungen der Welt. Bewußter, grundsätzlicher Mut ist immer im Wandel, weil Sinn, von dem er abhängt ebenfalls nicht gleichbleibend, sondern selber gebrechlich und ausweichend, schwindend und sich erneuernd in einem stets fließenden Umwandlungsverfahren begriffen ist. Man ist sich seines Mutes nie gewiß, da ist man versucht zu gucken, was andere können, was ihre Grenzen sind, und sich etwa davon inspirieren zu lassen (oder auch nicht), da wenigstens Maß nehmen und aus Stolz oder Hartnäckigkeit sich der Herausforderung stellend dem gegebenen Beispiel gewachsen zu sein, dem Ruf seiner Vorbildlichkeit nachzukommen. Wenn man sich mit der Geschichte eines jeden Landes in jedem Zeitalter näher beschäftigt, muß man früher oder später zu der Einsicht gelangen, daß das endgültige Ereignis in seiner Grausamkeit und umfassenden Sinnlosigkeit nicht gibt, das die Menschheit – zumindest durch die Bank nicht – dazu veranlassen oder zwingen kann, gleichsam die Waffen ein für alle Mal endgültig zu strecken, für alle Zeiten Schluß zu machen, die Einschätzung ihrer Lage zu revidieren, und sich zu sagen, wir machen nicht mehr mit. Man kann offensichtlich fast immer mit einem ununterdrückbaren Lebensquell rechnen, der irgendwo hervorbricht und besagte Sache, die Fortsetzung des Lebens in seiner reinsten Form in die Hand nimmt. Aber wie Sie bereits wissen, lieber Leser, ist diese Weisheit bestimmt nichts Neues unter der Sonne: “Das Menschengeschlecht ist aber ein zähes und beharrliches Ding”.

Es hat gar Völker gegeben, die trotz bewußter wüster Mißstände ihr Höchstes geleistet haben, oder besser gesagt, die ausgerechnet ihre andauernd mißliche Lage für sich arbeiten und wirken zu lassen, fertig gebracht haben. Siehe mal Perikles’ Athen. Da könnte man sogar auf die Idee verfallen, daß vortreffliche Leistungen und das durch unbeugsame eiserne Kurzsichtigkeit im Einhergang mit unverschämter, hemmungsloser Geltungsgier entstandene Leiden und Chaos nicht im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen, sondern deren Ausdruckskraft sich einander direkt bedingen muß. Es kann sein, daß man erst von dem Chaos ergriffen, von allen guten Geistern verlassen werden muß, um sich blindlings und sorgenlos, mit vollem Einsatz auf eine Aufgabe stürzen zu können, um in ihr völlig und vorzüglich aufzugehen. Ich glaube nicht, daß die von mir getroffene Entscheidung, nicht abzusagen, unter diese heroische Rubrik fällt, aber was mich zu meinem Entschluß bewog, dem lag schon eine gewisse kühne, der breiten Menschheit eigene, unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesunde Dosis Unbesonnenheit gar Dummheit zugrunde. Da war zumindest Bewegung. Wie mir einmal von einem Kollegen ausgiebig erläutert worden ist: Die Realität sei einzig und allein für gewiefte böse Kindsköpfe erschaffen, die nun mal auf die Durchsetzung waghalsiger unempfindlicher, sich selbst nicht ahnender Unwissenheit geeicht und getrimmt worden sind. Alles andere an Umsicht oder Bedenken zähle nun mal nichts, falle allenfalls ins Abseits.

Das Vollkommene Leben. Ein hermeneutischer– amerikanischer Gesellschaftskrimi für Germanisten.

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