Читать книгу Du hast mich nie gewollt - Liebesroman - Thomas Tippner - Страница 5
ОглавлениеNancy war eine von vielen.
Eine, die Sebastian schnell wieder vergessen hatte. Eine der Frauen, die ihn sein ganzes Leben lang schon begleiteten. Sie tauchten auf, ähnlich einem Sonnenstrahl, der es schaffte, dunkle Wolken für einen kurzen Augenblick zu vertreiben. Dafür da, um einem das Gefühl zu geben, Wärme genießen zu können. Eine Abwechslung, die man wohlwollend in Kauf nahm.
Sebastian tat es … immer wieder.
Er liebte es, sich mit jungen attraktiven Frauen zu treffen, sie zu umgarnen und ihnen einen kurzen Blick in das Leben zu gönnen, das sie allein nicht erreichen würden. Ein Leben, das für sie alle Träume in sich trug, die aber sofort drohten zu zerplatzen, wenn sie nicht anfingen, selbst an sich zu arbeiten.
Das taten die wenigsten.
Zu Sebastians Glück.
Sie waren viel zu schnell von seinen charmanten Worten beeindruckt und von dem nach außen getragenen Wohlstand. Er wollte ihnen einen Blick in seine Welt gewähren und sie so hoffen lassen, selbst Teil seines Universums sein zu können.
Sie waren so blöd, so leichtgläubig und naiv.
Nancy hatte Glück gehabt, dass sie das ganze Pfingstwochenende mit ihm hatte verbringen dürfen. Auch wenn sie ihn bereits nach dem zweiten Abend massiv gelangweilt hatte, hatte er sie trotzdem nicht mit einem fadenscheinigen Argument wieder nach Hause geschickt.
Nancy war zu so viel mehr fähig als die anderen Frauen. Sie setzte, zu Sebastians Freude, eigene Ideen im Bett um. Sie hatte sich von ihm nicht den Schneid abkaufen lassen.
Jetzt, wo er müden Schrittes in das geräumige Wohnzimmer trat, an dessen Wand ein überdimensionaler Flachbildfernseher hing, sah er sie auf der Couch sitzen. Nichts weiter als ein weißes, langes Hemd über ihrer üppigen Oberweite, das bis hinunter zu ihrem Po reichte und den Ansatz ihrer langen Beine dadurch unterstrich.
Sie war äußerst nett anzusehen. Selbst am frühen Morgen umspielten ihre blonden Locken beinahe zärtlich ihr zart geschnittenes und weiches Gesicht, in dem Sebastian ohne philosophisch klingen zu wollen, immer etwas Kindliches erkannte. Sie war ausgesprochen schön, sie hatte weiche, porzellanweiße Haut und dazu einen roten, liebreizenden Mund, dessen Lippen schmal, aber nicht verkniffen waren. Wenn sie lachte, offenbarte sich ihre ganze Schönheit uneingeschränkt.
Das Einzige, was ihn an ihr störte, war der oft ins Leere gerichtete Blick.
Lukas, sein bester Freund, der gestern Abend kurz vorbeigekommen war, um mit ihm dem sonntäglichen Angelausflug zu besprechen, hatte spaßeshalber gesagt: „Licht ist an! Aber niemand ist zu Hause.“
Beide hatten über den Scherz lange gelacht. Laut und ausgiebig. So gehässig und hinterhältig, dass Sebastian seinem besten Freund irgendwann auf die Schulter klopfen und sagte: „Der war gut. Der war wirklich richtig gut!“
„So bin ich halt“, hatte Lukas abwinkend gesagt und dann der freundlich lächelnden Nancy zu gewinkt, die seinen Gruß freudestrahlend erwiderte. Beinahe so, als freue sie sich darüber, dass man sie wahrnahm.
Eben die Naivität war es, die Sebastian – zu seiner Verwunderung - an ihr faszinierte. Nancy wurde dadurch unberechenbar. Er, der immer alles ganz genau plante, sich alles stets zurechtlegte und das Talent besaß, seine ausgedachten Pläne wie Inspirationen aussehen zu lassen, war begeistert und erschrocken zugleich, wenn er Nancy reden hörte.
Begeistert deshalb, weil er genau wusste, was sie sich in ihrer beschränkten Denkweise ausmalte. Sie redete von banalen Dingen, als habe sie sich darüber ernsthafte und tiefgehende Gedanken gemacht. Besonders dann, wenn sie mit Frau Hartmann zusammen war, um ihr bei der Dekoration der Räume zu helfen.
Erschrocken war Sebastian aus dem gleichen Grund. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nancy das meinte, was sie sagte. Zum Beispiel, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, nach Florida reisen zu wollen, weil es dort keine Insekten gab.
„Keine Insekten?“, hatte Sebastian verwirrt gefragt, während sie zusammen auf der schwarzen Ledercouch lagen und auf dem Bildschirm die Komödie „Wir sind die Millers“ anschauten.
„Die werden doch sofort von den Krokodilen gefressen“, behauptete sie steif und fest und hatte dann nach einem weiteren Stück vegetarischer Pizza gegriffen. Sie ertrug es nicht, wie sie sagte, wenn Tiere ihretwegen geschlachtet werden mussten.
„Äh … ja“, war Sebastians ganze Antwort dazu gewesen.
Er hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, sie nach der hirnrissigen Bemerkung abzuschieben. Ein kurzer Anruf bei Lukas, und alles wäre geritzt gewesen. Aber dann, als er sie ungläubig anstarrte und sich fragte, was wohl noch für verrückte Vorstellungen in dem schönen Köpfchen wohnen könnten, hatte sie angefangen, ihm Welten zu zeigen, in denen er noch niemals zuvor gewesen war.
Ausgelaugt und ausgepumpt hatten sie auf der Couch gelegen, während Sebastian mit einer ins Fleisch und Blut übergegangenen Handbewegung unter den Tisch griff und eine Flasche Sagrotan hervorholte. Ihm schwirrte noch immer der Kopf von den Wogen des Glücks, der Geilheit und des in ihm kurz aufklingenden Gefühl der Scham. Nicht, weil er prüde war, sondern deshalb, weil er niemals damit gerechnet hätte, dass er es einmal sein würde, der schrie: „Weiter! Mach weiter! So will ich es!“
Das hatte er immer aus den Mündern der Frauen gehört. Er war darüber so verwundert, dass ihm der Griff zum Desinfektionsmittel wieder in seine gewohnten, seine ihn wohlbekannten Bahnen lenkte, in denen er der Herr war. Nancy hingegen war wieder sie selbst. Sie lächelte ihn an, beugte sich vor, während er sich die Hände abwischte, und fragte ihn, während er noch immer die Wogen der Lust genoss, die durch seine Lenden tobten: „Was ist denn das für ein Brief?“
Sebastian zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung.“
„Briefe sind doch zum Lesen da“, meinte Nancy und störte sich nicht daran, dass Sebastian um sie herum die Ledercouch putzte.
Allein der Gedanke daran, dass das gute, teure Leder von Körperflüssigkeiten beschmutzt, beziehungsweise beschädigt werden könnte, ließ Ekel und Abscheu in ihm emporsteigen.
Alles musste seine Ordnung haben.
„Liest du ihn nicht?“, hatte sie am Abend wissen wollen.
„Nein!“, sagte er. „Aber du könntest schon einmal nach oben gehen und das Wasser einlaufen lassen. Wenn du verstehst, was ich meine!“
„Ich verstehe!“, sagte sie und nickte ihm verschwörerisch zu, während sie den Brief auf den Glastisch fallen ließ, der ebenso einsam in der Gegend herumstand wie die in der Ecke auf einem kleinen Sekretär stehende Vase, die völlig leer war. Sie ging an der silbern glänzenden Vitrine vorbei, die von innen heraus leuchtete und nur sechs Gläsern Platz bot.
„Dann hoch mit dir!“
Sie kreischte, als er ihr in den Hintern kniff und so tat, als wolle er ihr hinterherlaufen.
Sebastian aber hatte den Brief betrachtet, während Nancy lachend nach oben verschwand. Der Brief, der ihn schon seit Tagen immer wieder ins Auge fiel. Der Brief, den er nicht wie die übliche Post einfach wegwarf.
Etwas hinderte ihn daran, das eng beschriebene Stück Papier zu entsorgen.
Warum auch immer.
Bisher hatte er keine besonderen Skrupel gekannt, Briefe in den Müll zu befördern.
Im Büro tat er das am Tag Dutzende Male. Es war ein Leichtes für ihn, das Papier zu einer Kugel zusammenzuknüllen und in den Papierkorb zu werfen, als wäre er ein NBA-Profi. Zu Hause ebenfalls. Den Großteil seiner Post machte er gar nicht erst auf.
Das da, was da vor ihm lag, konnte er nicht wegwerfen. Dafür gab es kein routiniertes Manöver, keine einstudierte Wurftechnik, die das Papierknäuel sicher in den Abfall beförderte.
Der Brief war anders.
Er war gestern Abend in Nancys Händen gewesen, und er war es auch heute Morgen, als sie bezaubernd aussehend auf der Couch saß und das auseinandergefaltete Stück Papier aufmerksam las, während ihre Lippen jedes einzelne Wort zu buchstabieren schienen.
Sebastian hatte seit der achten Klasse zu so gut wie gar nichts mehr eine Beziehung aufgebaut.
Weder zu seinem Haus, das für ihn nichts weiter war als ein Prestigeobjekt, noch zu seinen BMW oder zu dem Porsche, die beide in der Garage standen. Sie waren dafür da, um kurz im aufflackernden Lichtkegel der Garage aufzutauchen und bestaunt zu werden.
Ein weiterer Beweis seines Erfolges.
Ein Beweis dafür, was er erreicht und geschafft hatte.
Dinge waren dafür da, um besessen zu werden. Gegenstände waren dafür da, dass man sie benutzte. Reichtum war für jene bestimmt, die wussten, wie man ihn mehrte.
Selbst die im Aquarium schwimmenden Fische waren als Blickfang gedacht. Als kurze Impression seiner inneren Ruhe, um zu zeigen, wie liebevoll er war.
In Wirklichkeit war das blöde Ding nicht mehr und nicht weniger als ein Raumteiler, der dazu diente, die geräumige und nie benutzte Küche vom Wohnzimmer zu trennen.
Die Fische waren teuer gewesen, das Aquarium sah stylish aus, und der Innenausstatter war so begeistert von seiner Arbeit, dass Sebastian ihm bereitwillig zugestand, eine kleine Klippenlandschaft in das riesige Wasserbecken zu bauen.
Wenn es geil aussah, war es gerade gut genug für ihn.
Aber der Brief … der hatte eine eigene, fremde Dynamik angenommen, die er nicht begreifen konnte.
Sebastian erinnerte sich, wie er ihn damals aus der Post gezogen hatte. Er wäre beinahe achtlos mit den anderen Postwerfsendungen in den Papiermüll gewandert. Aber als wäre der Brief dazu bestimmt gewesen, seinem Empfänger ausgehändigt zu werden, hatte er zwischen den ganzen anderen Umschlägen herausgeragt.
Die abgeknickte, obere linke Ecke hatte wie ein kleiner Haken gewirkt, der verhinderte, dass der Brief unter die anderen rutschen konnte. Und so hatte er ihn schließlich hervorgezogen und die jugendliche, geschwungene Handschrift darauf gesehen, die den Brief an ihn adressiert hatte. Eine Handschrift, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.
Bewerbungen, die er damals in der Personalabteilung bei Lother & Gabriel Investment Company gelesen hatte, als er seinen ersten Schritt auf der Karriereleiter gemacht hatte, waren allesamt maschinell erstellt worden. Nur die Unterschriften hatten allesamt ähnlich ausgehen wie die feinsäuberlich auf den Umschlag prangenden Buchstaben.
Es hatte ihn verwirrt, einen solchen Brief überhaupt zu bekommen. Noch dazu in so einem kitschigen und lächerlich wirkenden Briefumschlag.
Noch nie hatte er sich etwas aus Naturszenen gemacht. Er fand nichts langweiliger als einen Blick auf eine sich vor ihm ausbreitende und bis zum Horizont erstreckende Wiese. Allein schon der Gedanke daran, dass er über eine solche gehen sollte, ließ ein Gähnen in ihm aufsteigen.
Der Umschlag zeigte ihm genau das.
Eine im Sonnenlicht liegende Wiese, die auf einen sich als angedeutete Silhouette abzeichnenden Wald zulief. Am linken Rand sah man noch die wallende, vom Wind verwehte Mähne eines Pferdes.
Ein Fuchs, wenn er sich recht erinnerte, da die Mähne, der Körper wie auch der Schweif des Tieres ganz braun waren. Ein bildschönes und in all seiner Eleganz eingefangenes Tier. Man erkannte die Kraft, den Willen und die ungebremste Gier nach Leben, wenn man in das Gesicht des Tieres schaute.
Schade war nur, dass so ein Pferd dafür herhalten musste, auf einen Briefumschlag gebannt zu werden, enthaltenen Briefe ansehen konnte. Ein Kummer, der nur von vierzehnjährigen naiven Mädchen geschrieben werden konnte und so albern und aufgesetzt klang, dass es einen unwillkürlich dazu verleitete, die Augen zu verdrehen.
Himmel, der Briefumschlag war so kitschig, dass er nicht einen müden Cent für ihn ausgegeben hätte.
Was ihm als Nächstes aufgefallen war, als er den Umschlag aufriss, war das billige, nach penetranten Rosen riechende rosa Papier gewesen, und … weiter war er nicht gekommen.
Warum auch immer, irgendetwas hatte ihn daran gehindert, den Brief aus dem Umschlag zu nehmen und ihn zu lesen. Etwas, das ihm Magenschmerzen bereitete und seine spöttischen Gedanken negativ werden zu lassen drohte.
Solch einen Abfall seiner inneren Zufriedenheit hatte er noch nicht erlebt. Niemals.
Er war immer auf einer Welle der Euphorie und der ausgelassenen Selbstverliebtheit geschwommen. Es hatte für ihn keine andere Möglichkeit gegeben, als sich selbst zu lieben. Ob es seinen Mitmenschen gefiel oder nicht.
Der Brief hatte das geschafft, was er für unmöglich gehalten hatte.
Er musste seufzen, wenn er nur an das in ihm aufsteigende Gefühl der Unsicherheit dachte. Eine Unsicherheit, wie er sie nur einmal in sich hatte spüren müssen. Und das lag schon so lange zurück, dass er meinte, es gar nicht erlebt zu haben.
Es ist gar nicht echt, dachte er und blinzelte, als er begriff, dass die auf der Couch sitzende Nancy gerade damit begonnen hatte, in seinem Brief zu lesen, oder habe ich tatsächlich einmal zitternd und von Selbstzweifeln geplagt vor meinem Abteilungsleiter gestanden und Angst davor gehabt, meinen ersten Ausbildungstag in der Lother & Gabriel Investment Company zu beginnen?
Das Gefühl gab es nie wieder.
Und doch war es da.
Es hatte in ihm geruht und geschlummert, still und heimlich darauf gewartet, um sein explodierendes und überschäumendes Selbstbewusstsein in die Schranken zu weisen.
Seine Unsicherheit war vergessen – wie er angenommen hatte -, genauso wie die vielen Frauen, mit denen er im Bett gewesen war. Es hatte gar nicht mehr in ihm existiert und war jetzt plötzlich mit so einer Wucht zu ihm zurückgeschleudert worden, dass es ihn beinahe von den Füßen riss.
Und jetzt las Nancy auch noch in dem Brief.
Scheiße, Mann, sie saß einfach da auf der Couch, mit ihren langen Beinen, ihrem blonden Wuschelkopf, den sich bewegenden Lippen, wenn sie die Buchstaben aneinanderreihte, und las den verschissenen Brief.
Seinen Brief!
„Was machst du da?“, fragte er kurz angebunden und griff, als er nahe genug an sie herangetreten war, nach dem Brief.
„Der ist ja toll“, sagte Nancy, machte aber keinerlei Anstalten, das handschriftlich beschriebene Stück Papier festzuhalten.
„Das geht dich aber nichts an.“
„Voll schön geschrieben. Wer ist sie?“
„Pack deine Sachen“, sagte er kalt und war froh, dass er seine Bürostimme wiedergefunden hatte.
„Wir wollten doch noch zum Strand!“, hielt sie ihm wie ein Kleinkind vor, das nicht verstehen wollte, dass es eine plötzliche Planänderung im Tagesablauf gegeben hatte. „Das hast du mir versprochen. Und was man versprochen hat, das bricht man nicht.“
„Ich bezahl dir auch das Taxi!“
„Ich soll wirklich gehen?“, fragte Nancy verwundert und schob die Unterlippe vor, in der Absicht, niedlich wirken zu wollen.
„Da ist die Tür.“
„Rufst du mich denn an?“
„Vielleicht.“
„Der Brief lag da einfach so herum, und ich dachte mir …“
„Ich ruf dir das Taxi schon!“, unterbrach er sie, weil er es nicht ertragen konnte, sie so dasitzen zu sehen. Er begriff, dass ihre Dummheit, wie er es abfällig nannte, es geschafft hatte, einen Zusammenhang zwischen den in ihren Händen liegenden Brief und seinem Verhalten herzustellen. Ihre Augen weiteten sich plötzlich, ihre Lippen zeigten ein überraschtes O, und ihr Zeigefinger richtete sich, langsam auf und ab wippend, auf ihn.
Ein Kompliment an das Gehirn, dachte Sebastian gehässig und faltete den Brief zusammen, um ihn in den auf dem Tisch liegenden Umschlag zu schieben.
Sie hatte nicht an seine Sachen zu gehen …
An keine einzigen.
Das, was ihn verärgerte, war, dass der Brief ihn nervös machte. So nervös, dass er schroff wurde und einer Frau den Laufpass gab, deren sexuellen Energien noch nicht erloschen waren.
Was würde sie noch alles mit ihm anstellen?
Die Aktion unter der Dusche war der Hammer gewesen, die Liebe auf der Couch berauschend. Was würde sie erst draußen am Strand mit ihm anstellen?
Ich Idiot werfe den Brief ja auch nicht weg, rissen seine Gedanken ihn zurück in die Wirklichkeit. Warum tue ich das nicht? Es wäre so einfach gewesen. Einmal zusammenknüllen, so tun, als wäre ich Michael Jordan, und schwupps, weg ist er, im Mülleimer.
Aber mit schwupps war es nicht getan.
Scheiße, Mann, warum kann ich den gottverdammten Brief nicht einfach wegwerfen?
Während ihm der Gedanke durch den Kopf raste, ärgerte er sich über sich selbst und rief das Taxi. Er gab Nancy zu verstehen, dass er keine Lust mehr auf sie hatte, indem er in die Küche ging und sich ein Müsli zusammenstellte.
Nancy, verunsichert und unschlüssig, versuchte ein Gespräch in Gang zu setzen, als er mit der bis zum Rand gefüllten Schüssel an ihr vorbei ging. Sie verstummte wieder, als er an hinaus auf die Terrasse trat und sich dort in einen seiner teuren und von einem stadtbekannten Designer hergestellten Liegestühle fallen ließ.
Erst als er das Klingeln an der Tür hörte und wahrnahm, dass Nancy auf ihren Stöckelschuhen über den Flur tippelte, ebbte seine Unsicherheit wieder ab.
Nicht, weil Nancy weg war, sondern deshalb, weil nur noch er den Brief lesen konnte. Ein Brief, der ihm die Kehle zuschnürte und mit den niederschmetternden Worten begann: Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.
„Schau dir mal die Möpse an, Alter“, sagte Lukas lachend, während er mit Sebastian in der Mittagssonne in einem Café saß, um die kurze Pause zu genießen, die sie sich vom Büroalltag gönnten. „Die würde ich auch gern mal kneten.“
„Die hat `nen Macker“, erinnerte Sebastian seinen Kumpel, während er den vor Kraft kaum laufen könnenden Kerl beobachtete, der lässig und unglaublich cool neben der attraktiven Frau herschlenderte.
„Als ob dich das stören würde“, antwortete Lukas grinsend.
Sebastian musste lachen.
Natürlich störte ihn das nicht. So etwas hatte ihn noch nie gekümmert. Jede Frau war dafür da, einmal von Sebastian Freis beglückt zu werden. Das hatte er sich damals geschworen, als er betrunken auf einer Party beglückt worden war.
Er hatte sich an dem Abend ernsthaft eingebildet, dass er jede Frau bekommen könnte.
Frauen wie Nancy, meldete sich eine Stimme bei ihm, die er immer wieder mal hörte. Eine Stimme, die ihm nur in solchen Momenten heimsuchte wie diesem. Wenn er mit Lukas zusammen einen Espresso trank, wenn sie ihre Blicke kurz schweifen ließen und Frauen entdeckten. Frauen, die vor knisternder Erotik zu brennen schienen. Frauen, die sie besitzen und flachlegen wollten. Frauen, die in ihm eine Stimme hervorriefen, die ihn verwirrte.
Dabei wussten sie, wer sie waren.
Sie brauchten sich nicht zu verunsichern lassen.
Von niemandem.
Beide hatten sie eine schnelle Karriere gemacht. Sebastian noch schneller als Lukas. Was daran lag, dass Lukas bei Lother&Gabriel Investment Company angefangen hatte, als Sebastian ins dritte Lehrjahr wechselte.
Lukas aber war ebenso ehrgeizig, zielgerichtet und egoistisch, dass er ohne mit der Wimper zu zucken Schicksale ignorierte und bestehende Hierarchien aushöhlte und vernichtete. Ihm war es egal, ob jemand seit mehr als zwei Jahren auf eine Beförderung wartete. Ihm war es wichtig, so viel Geld wie möglich zu verdienen. Sprangen dabei noch Dividenden dabei heraus, umso besser.
Wie Sebastian liebte Lukas es, sich mit Frauen und schnellen Autos zu schmücken. Da war es ihm egal, ob die Frau einen Mann hatte oder nicht. Wenn er seine Beute ausgemacht hatte, dann stieß er auf sie zu, um sie in einem überraschenden Moment reißen zu können.
Gerade in solchen Momenten, wenn Sebastian mit allem zufrieden sein sollte, was er erreicht hatte, meldete sich in ihm eine Stimme, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Eine Stimme, die erschreckenderweise wie die seiner Mutter klang.
Frauen wie Nancy …
Ja, mit ihnen geben wir uns am liebsten ab. Schnell zu beeindrucken und ebenso schnell wieder zu entsorgen.
Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.
„Ich sprech sie an“, sagte Lukas und stieß Sebastian gegen die Schulter, trank seinen Espresso und stand dann von seinem Platz auf, um der jungen Frau nachzueilen, die nun allein vor einem Schaufester stand. Lukas, der den Moment passgenau abgewartet hatte, war so schnell an die Frau herangetreten, dass sie sich gegen seine freundliche Kontaktaufnahme gar nicht wehren konnte.
Er stand plötzlich neben ihr, zeigte auf etwas, das Sebastian nicht sah, und verwickelte sie dann in ein freundliches, zwangloses Gespräch. Dass sich ihr Freund nur zwei Häuser weiter befand und vor einem EC-Bankautomaten stand, kümmerte Lukas nicht.
Es ist wie immer, dachte Sebastian und konnte den kalten Schauer nicht unterdrücken, der ihm nun über den Rücken jagte.
Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.
Frauen wie Nancy …
Was sollte das jetzt plötzlich?
Mit solchen Gedanken hatte er sich bisher nicht beschäftigt, geschweige denn, sich mit ihnen auseinandergesetzt. Alles war so gekommen, wie er es wollte.
Herr Walter und Frau Tram sei Dank, dachte er belustigt und wusste, was er den beiden Lehrern zu verdanken hatte.
Alles.
Sie hatten Sebastian Freis erst geboren.
Sie hatten ihm zum Regisseur seines Lebens gemacht und ihn ein Drehbuch schreiben lassen, in dem er die Hauptrolle spielte. Er war der Mittelpunkt, alle anderen waren Statisten.
Er musste lächeln, als er seinem Freund dabei zusah, wie er die junge Frau umgarnte, sie zum Lachen brachte und in ihr den ersten Zweifel emporsteigen ließ, ob das Leben, dass sie zurzeit lebte, erstrebenswert war.
Sebastian wusste, dass Lukas nun scherzeshalber über etwas redete. Dass er ungezwungen lächelte und erklärte, dass er sie gesehen hatte und sich dachte, er müsse sie ansprechen. Tat er es nicht, wäre es eine vertane Chance, der er nicht hinterher trauern wollte.
Dabei zeigte er, natürlich rein zufällig, dass er eine teure Uhr am Handgelenk trug. Sein Anzug war von Armani, was ihm nicht wichtig war, weil die Frau ja zählte. Seine in Italien gefertigten Schuhe? Egal, nur die Augen der jungen Dame waren für ihn interessant.
Er machte das gut. Dabei ließ er sie die ganze Zeit nicht aus den Augen, schaute weder auf ihre voluminösen Brüste noch auf die nackten Schultern, über die nur die Träger ihres Tops verliefen.
Alles im allem war sie ausgesprochen zierlich, sodass die großen Brüste so gar nicht zu ihr passen wollten. Sie wirkten fehl am Platz und ließen Sebastian nach einer unechten Form des Busens schauen, da er vermutete, dass sie künstlich gemacht worden waren.
Aber dann, als sie sich umdrehte und ihre rot–blonden Haare mit einer spielerischen Handbewegung über die Schulter zurückwarf, sah er, dass ihre ganze Statur so angelegt war, dass sie schwer tragen konnte.
Sie war durchtrainiert, ohne Frage. Dabei hatte sie das geschafft, was nur wenigen sportlichen Frauen gelang: Sie hatte die Weiblichkeit ihres Körpers erhalten können, ohne dass er sehnig geworden war oder in reinen Muskelmassen unterzugehen drohte.
Lukas hatte einen guten Geschmack …
Er hat eben beim Besten gelernt, lobte Sebastian sich selbst und erinnerte sich daran, wie er Lukas damals das erste Mal wahrgenommen hatte. Als er vor ihm gestanden hatte, in dem viel zu großen, von der Stange bei C&A gekauften Anzug. Wie er nervös mit seinen Händen gespielt hatte und sich fragte, warum Sebastian ihn so offen musterte.
Er hatte ihn angeschaut, ihn betrachtet und sich dann dazu entschieden, Lukas in seine Geheimnisse einzuweihen. Und so waren sie nach gut einem halben Jahr eng befreundet, arbeiteten seitdem immer an den gleichen Projekten und stiegen nach und nach in der Firma auf.
Lukas, der zuerst gar nicht so gewirkt hatte, als würde er Karriere machen wollen, hatte sich schnell an den Erfolg gewöhnt. Er war an ihm gewachsen und er hatte seine Scheu abgelegt, als würde er aus einer Hose schlüpfen, die ihm zu eng geworden war.
Zusammen hatten sie alles erreicht.
Sie waren unzertrennlich.
Lukas war der Einzige, auf den Sebastian sich blind verlassen konnte.
Er war es auch, dem Sebastian es gönnte, eine heiße Frau abzuschleppen, die so bezaubernd aussah wie die, die er gerade am Schaufenster angesprochen hatte. Lukas durfte bei ihm alles.
In dem Moment, als Sebastian sich den vor ihm liegenden Akten zuwenden wollte, die er bis zum Nachmittag in Reinschrift gebracht haben wollte, um sie morgen einem Kunden vorlegen zu können, geschah es. Erst dachte er, sich getäuscht zu haben. Dass ihm seine Augen nur einen Streich spielten und seine in Aufruhr geratenen Gedanken ihm vorgaukelten, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.
Aber als er blinzelte und über den Rand seiner randlosen Sonnenbrille hinunter zu dem Hafenbecken schaute, an dem sich gerade unzählige Menschen niedergelassen hatten, um den beginnenden Sommer zu genießen, hatte er die blonde, drahtige Frau in der Menschenmasse auftauchen sehen. Einer Meeresschaumkrone gleich, die auf der obersten Wellenspitze tanzte und das Sonnenlicht in sich brechen ließ. Es kam ihm so vor, als würde sie ihm geradewegs präsentiert werden. So, als würde die Menschenmenge sich vor ihm teilen, um ihm einen ungehinderten Blick auf die hochgewachsene Frau werfen zu lassen, dessen erneute Begegnung er stets gescheut hatte.
Sie war der Stachel in seinem Fleisch.
Sie war das, was er einen seelischen Schatten nannte. Eine Niederlage, die er nur schwer verdauen konnte.
Sie jetzt dort entlangschlendern zu sehen, an der Hand zwei Kinder, die vielleicht sechs oder sieben Jahre alt waren, versetzte ihm einen Stich. Nicht, weil sie zwei Kinder hatte, sondern deshalb, weil sie ein offenes Kapitel in seinem Leben war.
Er erschauderte, als er mitbekam, wie sich eines der Kinder losriss und zu einem der Schaufenster rannte, in dem die neusten Star Wars-Spielzeuge zu sehen waren. Es war Sebastian unmöglich, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es wohl gewesen wäre, wenn das da … Nein, das konnte und wollte er nicht.
Hatte er ihr nicht den Tipp gegeben? War er es nicht, der sagte, sie wäre ohne das alles da besser dran?
Kinder waren nie sein Ziel gewesen.
Sie behinderten einen dabei, die selbstgesteckten Pläne zu verwirklichen. Kinder hinderten einen daran, sich im Leben zu positionieren. Wäre er Vater geworden – Himmel – er hätte weder einen BMW oder Porsche. Er würde einen Skoda Octavia fahren, Kindersitze kutschieren und Anzüge tragen, die er bei C&A hätte kaufen müssen.
Das konnte und wollte er nicht. Allein der Gedanke daran ließ ihn einen kalten Schauer des Entsetzens spüren, der ihm vom Magen aus weit bis in den Brustkorb drang.
Was ihm nun aber einen Stich versetzte, war nicht das Kind, das sich von ihrer Hand losriss, sondern der Mann, der plötzlich aus der Menschenmenge geschossen kam, den Kleinen unter den Armen kitzelte und lachend rief: „Sollst du einfach weglaufen, Pirat?“
Sebastian lief es kalt den Rücken herunter.
Das hatte er nicht erwartet.
Sebastian war mit sich plötzlich uneins. Es dauerte etwas, bis er begriff, dass es auch nicht der Mann, der plötzlich im Szenario auftauchte, war, der ihn störte. Es war ein Gedanke, ähnlich jenem, den er gehabt hatte, als Nancy den Brief las und er meinte, seine Schüchternheit wieder zu spüren. Jetzt, da er Denise dort stehen sah, ihren Mann neben sich, den Ruf auf den Lippen, dass der Kleine zu ihr kommen sollte, kam der Gedanke wieder. Heftiger, durchdringender, als er ihn bisher je gespürt hatte.
Sebastian versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Er wollte seine Blicke von Denise und ihren Mann losreißen. Wollte das: „Sollst du einfach weglaufen, Pirat?“, aus seinem Verstande bannen. Er schauderte.
Das da hätte er sein …
Frauen wie Nancy …
Er versuchte, die Stimme seiner Mutter zu ignorieren. Er zwang sich dazu, den Blick wieder zu senken.
Die Papiere waren wichtig. Ungeheuer wichtig.
Wenn er den Deal über die Bühne brachte, winkte nicht nur eine saftige Provision, sondern auch die Chance, ins höhere Management aufsteigen zu können. Das, was er immer gewollt hatte. Das, was er brauchte, um sich selbst besser zu fühlen.
Der Erfolg gab ihm recht.
Alles andere war nur bitterer Beigeschmack.
Und doch erwischte er sich dabei, wie er zu Denise hinüberschaute, die ihr zweites Kind noch immer an der Hand hielt. Die wiederum zu ihrem Mann schaute, der dem Jungen am Schaufenster zurief: „Kommt schon. Wir wollten doch ein Eis essen gehen!“
„Yeah!“, rief der Junge mit den haselnussbraunen Haaren und streckte wie ein Sieger die Faust in die Höhe. „Eis essen!“
„Dann mal los, Pirat. Dort entlang!“
„Yeah!“, rief der Bengel noch einmal und war dann, wie sein Vater und sein Geschwisterchen in der Menschenmenge verschwunden.
Nur sie blieb noch einen Augenblick deutlich sichtbar für ihn auf der Promenade stehen. Beinahe so, als merkte sie, dass die Blicke der Vergangenheit auf sie gerichtet waren.
Ich habe ihr den besten Rat ihres Lebens gegeben, sagte er sich selbst. Ich habe ihr den am besten ausgehandelten Vertrag ihres Lebens vor die Nase gehalten. Ich habe ihr Leben bereichert. Es geradliniger gemacht.
Ich …
… war derjenige, der maßlos und egoistisch gewesen war. Ich habe mich über alles und jeden gestellt. Ich meinte, der wichtigste Mensch auf Erden zu sein.
Sebastian verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln.
Er versuchte sich einzureden, dass er damals richtig gehandelt hatte. Dass all seine Entscheidungen fehlerlose gewesen waren. Jetzt, da er dasaß und sie noch immer wie angewurzelt dort stehen sah, beschlichen ihn Zweifel, ob damals wirklich alles korrekt gewesen war.
War es, nickte er sich zu und schob die Sonnenbrille wieder die Nase hinauf. Wo würde ich denn sonst heute stehen?
Ich wäre ein Niemand! Ein kleiner Angestellter, der froh darüber sein konnte, unbefristet angestellt zu sein, damit er die laufenden Kosten gerade so gedeckt bekam, um nicht den Dispokredit in Anspruch nehmen zu müssen.
So einer wäre ich gewesen.
So einer wollte ich niemals sein.
Gewinnen, ja, das war mein Ziel. Dort gehörte ich hin. Auf die Gewinnerstraße.
Und wer war sie schon, dass sie mich jetzt zum Zweifeln bringen konnte?
„Denise“, murmelte er … und fügte in Gedanken hinzu: ist es, die mich zum Zweifeln bringt.
„Hey!“, begrüßte Nancy Sebastian mit einer schüchtern wirkenden Geste. Er gestattete sich ein Lächeln. Es war klar gewesen, dass er sie noch einmal treffen würde. Frau Hartmann hatte ihr Kommen ein weiteres Mal angekündigt, um ihn die neusten Entwürfe des Umbaus zu zeigen, den sie für ihn geplant hatte.
Nancy, Frau Hartmanns persönliche Assistenz, hob die Hand und schien nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Das frivole, das lebensbejahende Lächeln, das sie das Wochenende über zur Schau getragen hatte, war gänzlich verschwunden. Sie wirkte plötzlich wie ein in die Ecke getriebener Hund, der nicht wusste, ob er bellen oder winseln sollte.
Sebastian genoss ihre Unsicherheit.
Bot sich ihm so doch die Chance, das Heft in die Hand zu nehmen und Nancy das machen zu lassen, was er wollte.
Platz! Sitz! Aus!
Er liebte es, wenn unsichere Menschen in seiner Nähe waren.
Er fühlte sich bei ihnen so lebendig.
Zu Lukas hatte er einmal gesagt: „Sei kalt und abweisend, damit die dummen Kühe lernen, wo ihr Platz ist!“
Ein Spruch, auf den er bis vor Kurzem noch stolz gewesen war.
Ein Spruch, der ihm so viel Sicherheit gegeben hatte, dass er sich sicher gewesen war, dass er über allen anderen Dingen stand, die er sonst noch als Rat verteilen konnte. Jetzt aber, da er Nancy sah und sie mit einem Hund verglich, setzte in ihm etwas ein, das er nicht spüren wollte.
Etwas, das ihm erst gestern so unangenehm aufgefallen war.
Er kämpfte mit sich, um die Unsicherheit nicht allzu groß werden zu lassen, und sagte sich selbst, dass er mit seiner Meinung noch nie hinter dem Berg gehalten hatte. Dass er auf seinen Satz stolz sein konnte.
Er war Sebastian Freis!
DER Sebastian Freis.
Die Einzige, die ihm was sagen durfte, was Frau Hartmann.
Sie machte sein Haus wohnlich.
Nicht, dass es das nicht schon vorher gewesen wäre. Aber als Sebastian eines Abends nach Hause gekommen war, sich auf die Couch fallen ließ, den Fernseher anschaltete und die Luftpumpe des Aquariums hörte, war ihm ein eisiger Schauer der Einsamkeit über den Rücken gelaufen.
Nicht, dass er ihn als solchen erkannt hätte. Aber als er so dasaß, gelangweilt von einem Programm zum nächsten zappte, war es ihm klar zu Bewusstsein gekommen, dass er ganz allein in dem großen Haus war.
Allein!
Es war keine Frau bei ihm und auch kein Freund. Er hatte nicht einmal einen verzweifelt klingenden Anruf seiner strenggläubigen Mutter auf dem Anrufbeantworter gehabt, den er mit einem genervten Kopfschütteln ungehört löschen konnte.
Niemand war da gewesen.
Er war …
… allein …
In dem Moment hatte er sich ein Bier genommen, es auf ex geleert und sich dann erleichtert gefühlt. Beinahe so, als habe das kaltgestellte Bier ihm die Leere wegspülen können, die er für einen kurzen Augenblick gespürt hatte.
„Wie geht es dir?“, wollte Nancy wissen.
Sie sah bezaubernd aus in ihrem schwarzen Blazer und dem dunklen Minirock. Sie hatte etwas versteckt Elegantes, das Sebastian mit einem inneren Wohlwollen an die Nächte zurückdenken ließ, die er mit ihr verbracht hatte. Ihre blonde Lockenmähne hatte sie zu einem äußerst unordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Ihr standen die Haare vom Kopf ab, und trotzdem sah sie adrett aus. Verführerisch. Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Warum auch? Er hatte keinerlei Interesse an ihr.
Das war letzte Woche so gewesen.
Da hatte er es genossen, in ihrer Nähe zu sein, und sich die Farben zeigen lassen, in denen das Wohnzimmer gestrichen werden sollte. Dazu war das erotische, dass sinnliche Knistern gekommen. Die ersten verstohlenen Blicke, die sie sich über den Rand des Aktenordners zugeworfen hatten. Hochgezogene Augenbrauen, ein anerkennendes Nicken oder zufriedenes Lächeln, während Frau Hartmann – langweilig, wie sie nun einmal war – ihm erklärte, in welchem Terrakottaton sie das Wohnzimmer einrichten würde.
Das hatte ihn nicht interessiert.
Sollte sie machen. Alles kein Problem. Hauptsache, es kostete viel Geld.
Und, war ihm der Gedanke gekommen, ich kann es meinen Freunden zeigen und etwas angeben. Konnte ihnen wieder einmal beweisen, wie weit ich es gebracht hatte.
Vergiss die Frauen nicht, erinnerte er sich selbst, die du hierherbringen kannst, um ihnen eine Welt zu zeigen, in der sie nie leben können.
Alles war besser gewesen als Frau Hartmann. Jedes Lächeln, jede flüchtige Bewegung am Po oder den Beinen, wenn man an einander vorbei ging. Das Kribbeln, wenn sie sich an ihm vorbei zwängte und ihre aufregend großen Brüste seinen Oberarm streiften; das Knistern ihrer Bluse und das verspielte: „Oh, Entschuldigung, so nahe wollte ich Ihnen gar nicht kommen!“
Das alles war …
… weg.
Sie stand nun da, die Knie aneinandergelegt, den Aktenordner in den Händen, und wirkte wie ein Schulmädchen. Ein unerfahrenes, unsicheres Kind, das nicht wusste, ob es von allein in die neue Klasse gehen oder auf den Zuruf der Lehrerin warten sollte.
So kalt er ihr gegenüber auch war, so sehr genoss er ihre Unsicherheit.
Alles war besser als Frau Hartmann.
Sie war hässlich. Was sie schon immer gewesen war. Sie hatte keinerlei Ausdruck in ihrem runden, faltigen Gesicht. Ihre Augen wirkten zwar lebendig, hatten aber etwas Kaltes, etwas Unnahbares. Der harte Zug um ihre faltigen, mit viel zu viel Lippenstift beschmierten Lippen ließ sie wie eine Lehrerin aus dem letzten Jahrhundert wirken. Hochaufgeschossen, bis zum Hals zugeknöpft, alles über den Rand ihrer rahmenlosen Brille beobachtend –, niemals das Zepter der Macht aus der Hand gebend. Auf totale Autorität gepolt. Ihre Haare, aufgetürmt zu einem Dutt, wirkten kraft- und saftlos.
Alles an ihr war unangenehm.
Sie ist herrisch, bemerkte Sebastian, während er daran dachte, wie sie redete. Jedes Wort wurde herausgeschossen, als müsste es unweigerlich ins Schwarze treffen. All ihre Gesten hatten etwas erhaben Unangenehmes. So, als wollte sie jeden und alles nach ihren Spielregeln spielen lassen.
Widerspruch unerwünscht!
Sie hatte vor ihm auf dem Esszimmertisch eine Bauzeichnung ausgebreitet, zeigte auf Räume und Flure und erklärte ihm, wie sie alles umdekorieren würden.
Er lächelte wieder. Wäre er anderer Meinung gewesen, sie hätte ihn nicht eine Sekunde zu Wort kommen lassen.
Niederbrüllen würde sie mich, dachte er scherzhaft und beobachtete, wie sie in einem vermeintlich unbeobachteten Moment Nancy gegen den Oberscharm schlug und ihr zuzischte: „Wir sind hier bei einem Kunden, vergiss das nicht!“
„Schon gut“, sagte Sebastian ihr und wollte der noch immer unsicheren Nancy etwas Würde zukommen lassen. Würde, die er ihr wieder nehmen würde, wenn ihm danach war. Aber allein die Tatsache, dass die Despotin Nancy grob behandelte, weil sie einen Kugelschreiber fallen ließ, störte ihn.
Nicht, weil Nancy eine Rüge nicht verdient hatte. Das hatte sie. So wäre er mit seiner Assistentin, Claudia, ebenfalls umgesprungen, wenn ein Kunde zugegen gewesen wäre. Das, was ihn störte, war Frau Hartmann an sich. Der Macho in ihm schüttelte sich bei ihrem Anblick und konnte es nicht ertragen, dass die unangenehme Frau eine solch liebreizende und schöne Dame, wie Nancy eine war, terrorisierte.
Es hätte anders herum sein müssen.
Schönheit besiegte das Hässliche.
Schließlich, als das Handy von Frau Hartmann klingelte, sie sich mit einem: „Entschuldigen Sie bitte“, auf die Terrasse zurückzog, erinnerte er sich an ihre erste Begegnung. Da hatte Frau Hartmann ebenfalls den Raum verlassen, weil sie im Auto Farbton-Muster hatte liegen lassen. Muster, die nur sie holen konnte, weil sie in ihrem Reisekoffer lagen.
„Weil ich noch nach Amsterdam muss, zu einem Kunden“, hatte sie wichtig erklärt und Nancy und Sebastian allein gelassen. Das war der Moment gewesen, in dem Nancy Sebastian das erste Mal absichtlich zwischen die Beine gegriffen, sich vorgebeugt und ihm ins Ohr geflüstert hatte: „Du kleines, hübsches Stück!“
Das hatte ihm gefallen.
Sehr sogar.
Es hatte ihm so sehr gefallen, dass er nicht anders konnte, als selbst zuzugreifen und ihre runden Brüste anzufassen. Das leise Stöhnen, das nun aus ihrem Mund gedrungen war, hatte ihn so sehr erregt, dass er Frau Hartmann mit ihrem militärischen Gehabe am liebsten nach Hause geschickt hätte, damit er mit Nancy allein sein konnte.
Aber als er siegessicher lächelte und Nancy gerade erklären wollte, wie er sie heute Nacht verwöhnen würde, war Frau Hartmann wieder hereingekommen, hatte Nancy die Farbmuster in die Hand gedrückt und gesagt: „Suche die Farben heraus, die wir für das Zimmer ausgewählt haben!“
Er hatte Nancy sehnsüchtig angeschaut und sich ernsthaft gefragt, warum der liebe Gott ihn mit einer Frau wie der Hartmann strafen musste. Sie hatte so gar nichts von dem, was er sich unter einer attraktiven Frau vorstellte. Die weiße, leblos wirkende Bluse, unter der sich viel zu kleine und viel zu alte Brüste abzeichneten, und ein Bauchansatz, der über den Gürtelbund heraushing.
Sie war … unangenehm.
Das war sie auch jetzt noch.
Nur mit dem Unterschied, dass er sich besser auf sie konzentrieren konnte als damals, als er Nancy kennenlernte.
Diese war ihm egal. Hatte er ihr eben noch einen Hauch Würde zugestanden, so zeigte er ihr jetzt, was er wirklich von ihr hielt. Dass er auf ihr Lächeln nicht reagieren würde. Damit sie merkte, dass sie nicht mehr gewesen war als seine Gespielin.
In dem Moment, in dem er sich selbst sagte: „Sebastian wird immer Sebastian bleiben“, spürte er, wie sich etwas in ihm veränderte. Dass er sich unwohl zu fühlen begann.
Aus den dunkelsten Kammern seiner Seele schien etwas empor zu kriechen, das er mit aller ihm zur Verfügung stehender Macht niederkämpfen wollte. Hatte er eben noch geglaubt, Herr jeder Situation zu sein, so fühlte er sich jetzt plötzlich klein und hilflos.
Er hasste seine Ambivalenz.
Er wusste nicht, was das sollte.
Warum interessierte ihn plötzlich, was Nancy fühlen konnte?
Bis vor Kurzem war sie für ihn nicht mehr und nicht weniger als ein aufregender Fick gewesen. Und jetzt, da er sie so dastehen sah und ein Kopfschütteln andeutete, als sie ihm zulächelte, änderte sich alles in ihm. Da war kein Hochgefühl der Überlegenheit mehr, als er sah, wie sie die Augen niederschlug und ihr Lächeln erstarb. Da war kein Podest mehr, auf das er steigen und auf sie herabschauen konnte.
Da war nur noch die ihn in den Schwitzkasten nehmende Erinnerung.
Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, als er begriff, dass er sich genauso fühlte wie gestern Nacht. Dass ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf schossen, wie jene, die er sich um Denise gemacht hatte.
Das hatte ihn nie interessiert.
Das war ihm egal gewesen.
Er hatte damals mit ihr geschlafen, hatte sie dann weggeschickt und ihr ein schönes Leben gewünscht. So, wie er es immer tat, ohne dass ihn dabei eine seltsame Panik ergriff und ihn glauben ließ, einen großen Fehler begangen zu haben.
Sebastian Freis machte keine Fehler.
„Ich würde Wohnküche und Wohnzimmer miteinander kombinieren und das wirklich schreckliche, entschuldigen Sie bitte …“, sie redete weiter, ohne Sebastians: „Müssen Sie nicht“, wahrzunehmen, „Aquarium komplett entfernen. Es passt einfach nicht in den neuen, modernen Lebensstil hinein, den Sie nach den Umbaumaßnahmen führen werden.“
„Ich freue mich schon darauf“, versicherte ihr Sebastian, während er versuchte, seine an Denise gewandten Gedanken komplett zu unterdrücken.
Bisher hatte er solche Umbaumaßnahmen immer als aufregend empfunden. Als belebend, als Neuerschaffung seiner selbst. In den Momenten war er der Mittelpunkt des Geschehens. Er war da, um andere leben zu lassen.
Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen.
Besonders dann, wenn es sich dabei um das Interesse einer jungen, schlanken Frau handelte, die mit ihrer Begeisterung nicht woanders hin wusste, als in sein Schlafzimmer.
Aber jetzt, als er anfing, einen erneuten Umbau zu planen, fühlte er sich leer und ausgebrannt.
So, als versuchte er, eine ihm unbekannte Leere zu füllen. So, als war da etwas in ihm umgestoßen worden, von dem er nicht gewusst hatte, dass es in ihm existierte.
„Hast du den Brief schon gelesen?“, fragte Nancy, nachdem Frau Hartmann in die Küche gegangen war, eine ausschweifende Handbewegung machte und erzählte: „Das hier wird eine Hängevorrichtung werden, an die Sie all Ihre Bestecke, Töpfe und anderen Küchenutensilien hängen können. Es wird fantastisch aussehen. Die Wandschränke verschwinden natürlich. Vollkommen überflüssig, die ganzen Platzverschwender. Wir werden die Schränke einfach in der Wand integrieren. Via Daumendruck können Sie die Schränke dann herausgleiten lassen. Sehr kostspielig, aber auch ausgesprochen praktisch. Ich verspreche Ihnen, bei mir wird Ihnen etwas für Ihr Geld geboten!“
„Super Frage“, sagte Sebastian, machte eine übertriebene Daumen-nach-oben-Geste und schaute genervt zu Nancy, die ihn anlächelte.
„Hast du?“
„Sollst du mir nicht die Farbmuster zeigen?“
„Weißt du“, erwiderte sie, während sie seinen bissigen Kommentar ignorierte, „meine Mama und mein Papa haben sich immer geliebt. Das ist echte, wahre Liebe“, plapperte sie und erntete von Sebastian einen verwirrten und von Frau Hartmann einen verärgerten Blick. „Und ich bin das Ergebnis daraus!“
„Deine Eltern haben sich offenbar fürchterlich viel Mühe mit dir gegeben!“, konnte Sebastian sich nicht verkneifen zu sagen und schaute hilfesuchend zu Frau Hartmann, die ihre rot geschminkten, viel zu schmalen Lippen zu einem zornigen Strich hatte werden lassen.
„Nancy!“, rief sie nun herrisch.
„Frau Hartmann?“
„Ich glaube nicht, dass Herr Freis sich für deine Eltern interessiert.“
„Doch, doch“, erwiderte sie, nickte der Innenausstatterin zu und zeigte mit dem Finger auf Sebastian. „Er hat doch auch eine Tochter!“
„Was soll das?“, platzte es aus Sebastian heraus, der sich plötzlich wie an die Wand gestellt fühlte.
Es kam ihm so vor, als hätte Nancy ihm mit dem bloßen Finger durch die Brust mitten ins Herz gestochen. Er verkrampfte sich, atmete gepresst und war der Meinung, dass ihr imaginärer Finger versuchte, die einzelnen Herzklappen zu durchstoßen. Sie hatte ihm so einen Schlag versetzt und solch eine seelische Wunde gerissen, dass er den Zorn nicht kontrollieren konnte, der nun in ihm emporstieg und alles in ihm zum Kochen brachte. „Woher willst du das wissen?“
„Das steht doch in dem Brief, der unter dem Tisch liegt!“
„Nancy!“, kreischte Frau Hartmann, von der Dreistigkeit ihrer Mitarbeiterin so erschrocken, dass sie unter der Schminke, die sie trug, blass wurde. Sie stammelte etwas, das Sebastian nicht verstand, und warf Nancy aus dem Haus. Die verstand nicht, was die Aufregung sollte. Sie blinzelte verwirrt, als Frau Hartmann schrie: „In den Wagen mit dir, und zwar sofort!“, um dann erschrocken die Luft einzuziehen, als Sebastian sagte: „Der Brief geht dich gar nichts an.“
Nancy schaute so sinnentleert zu ihm, dass es Sebastian leid tat, dass er so grob zu ihr gewesen war, aber in dem Augenblick, als sie noch einmal die Stimme erhob und sagte: „Sie hat dich wirklich lieb!“, glaubte er, platzen zu müssen.
Er zischte: „Ich hoffe, Sie ergreifen die nötigen Maßnahmen, um unsere weitere Zusammenarbeit nicht zu gefährden, Frau Hartmann!“
„Natürlich nicht“, erwiderte die Innenausstatterin, schnappte nach Luft und zeigte auf die Tür, um sich dann in Bewegung zu setzen, um die noch immer wie starr dastehende Nancy am Arm zu packen und hinaus zu schieben.
Von Frau Hartmanns Beteuerungen gänzlich unbeeindruckt, hatte Sebastian kühl gesagt: „Wir werden schon sehen, wie sich alles Weitere entwickelt“ und mit einer inneren Genugtuung bemerkt, wie die Innenausstatterin zusammenzuckte und einige Sekunden gebraucht hatte, um den Sinn seiner Aussage zu verstehen.
Als sie sich wieder gefasst hatte, hatte sie ihm zugenickt und gesagt: „Sie werden sich bei mir melden?“
„Ganz gewiss.“
„Ich kann mich wirklich nur bei Ihnen für das Verhalten von Nancy entschuldigen“, setzte Frau Hartmann noch einmal an, um sich bei ihm zu rechtfertigen. Sebastian aber, der keine Lust hatte, noch einmal an Nancy erinnert zu werden, hob nur die Hand, schüttelte den Kopf und zeigte dann auf die noch immer offenstehende Tür.
„Ich habe noch zu tun.“
„Natürlich haben Sie das!“, brachte Frau Hartmann schnell hervor.
Als sie sich daran gemacht hatte, das Haus zu verlassen, hatte sie noch gesagt: „Nancy ist keine wirkliche Assistentin von mir. Ich habe sie aus Pflichtbewusstsein eingestellt, um Freunden einen Gefallen zu tun.“
„Schon gut!“
„Sie müssen wissen …“
„Schon gut!“
Mit den Worten hatte er die Tür zugeworfen und dann, als er hörte, wie Frau Hartmann die Wagentür zuschlug und das blaue Cabrio startete, auf die Ledercouch fallen lassen und angefangen, unbewusst den Kopf zu schütteln.
Was hatte Nancy nur dazu getrieben, so blöd und bescheuert nach dem Brief zu fragen?
Hätte sie denn nicht wissen müssen, was das für Konsequenzen nach sich ziehen würde?
Nein, dachte er, das hat sie nicht. Wie auch? Sie ist dumm. Gefühle sind ihr wichtig. Emotionen. Eine logische Lösung für ein Problem finden – nicht ihr Ding. Situationen beobachten – sie zu analysieren, Entscheidung treffen - niemals.
Sie ist kein Investmentbanker.
Sie ist ein kleines, verwöhntes Töchterlein, das in ihrem ganzen Leben noch nie eine richtungsweisende Entscheidung treffen musste.
Himmel, sie ist eine verzogene, dumme Göre, die gut im Bett ist. Mehr nicht.
Mehr ist sie nicht …
Während ihm die Gedanken durch den Kopf zogen und er versuchte, das verlorengegangene Selbstvertrauen zurückzugewinnen, schlich ihm noch ein weiterer beunruhigender Gedanke durch den Kopf, den er so niemals in sich vermutet hätte. Aber während er versuchte, ihn zu unterdrücken und ihn nicht in seinem Bewusstsein emporsteigen zu lassen, merkte er, dass er ihn nicht zurückhalten konnte.
Der Gedanke, der in ihm schlummerte, immer in ihm, ergriff nun, da die Gelegenheit günstig war, seine Chance.
Sebastian musste spüren, wie er sich in ihm ausbreitete und ihm zurief: Sie ist mehr. So viel mehr als alles andere, was du bisher in deinem Leben erreicht hast. Begreifst du denn nicht, dass sie dir das gezeigt hat, was du seit dem Erhalt des Briefes zu verstecken versuchst? Sie hat dir gesagt, was du doch schon immer gewusst hast.
Ihre Mutter und ihr Vater lieben sie!
Sie wird geliebt.
Sie ist das Ergebnis der Liebe!
Sebastian, der in sich zusammengesunken war, wollte anfangen, dem alles aus dem Weg räumenden Gedanken zu glauben, als sich sein Egoismus bei ihm meldete und ihn wie beiläufig fragte: Hast du Denise denn geliebt?
Nein!
Das hatte er nicht!
Warum auch?
Sie war genau das Beuteschema gewesen, auf das sein nach Bestätigung und Bewunderung ausgelegtes Ego ansprang. Sie hatte alles gehabt, um eine schnelle und berauschende Nacht mit ihr genießen zu können.
Sie war so liebreizend und unsicher gewesen, dass sie für schnell hervorgebrachte Komplimente äußerst empfänglich gewesen war.
Sie hatte keinerlei Rückgrat besessen und war für den auf Bezirzen und Verführung ausgelegten Sebastian eine leichte Beute gewesen.
Die beiden Abende, die sie zusammen verbracht hatten, hatten eine verwirrende Facette bei Denise zutage gefördert, mit der Sebastian anfangs überfordert gewesen war. Mit Verwunderung hatte er festgestellt, dass Denise sich gar nicht aufgeben wollte, nicht darauf aus war, einen Mann zu finden, der ihr alles bezahlte.
Sie hatte beim Abendessen in einem Steak-House gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, sich später selbstständig zu machen, um mit unterschiedlichen Investmentgruppen zusammen zu arbeiten und sich so mit der Zeit einen eigenen, loyalen Kundenstamm aufzubauen.
Verrückt …
Das hatte so ernst geklungen, dass Sebastian zu zweifeln begann, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte, mit Denise essen zu gehen. Er hatte mit seinem Reichtum, seiner Impulsivität und seinem guten Aussehen eine junge und unbeholfene Frau verführen wollen.
Dass er es schaffte, ihren Redefluss zu stoppen, hatte nur daran gelegen, dass er den Ober angewiesen hatte, den etwas stärkeren und schneller in den Kopf steigenden Rotwein auszuschenken. Der hatte dazu beigetragen, dass Denise angefangen hatte, glasig zu schauen und über ihre eigene Ungeschicktheit zu lachen. Sie hatte aus Versehen Pommes über den Tisch geschossen, als sie mit der Gabel zustach. Fleischsaft, Kräuterbutter, Ketchup und Pommes waren über den Tisch geflogen.
Sie hatte an dem Abend bezaubernd ausgesehen.
Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Zwei Spangen hatten ihren wild wirkenden Pony zurückgehalten, ihr immer wieder ins Gesicht zu fallen. Die Ohrringe in ihren kleinen zarten Ohren hatten die Unschuld ihres Äußeren zusätzlich unterstrichen.
Das, was Sebastian heute noch wusste, war, dass er es genossen hatte, ihr Lachen zu hören. Dass er sich wohlfühlte, wenn sie eine seiner hintergründigen Bemerkungen begriff und mit dem Zeigefinger auf ihn zeigte und ihn dabei einmal: „Du Schlingel“ nannte. Während sie das sagte, hatte sie das Weinglas in der rechten Hand gehalten und es leicht kreisen lassen.
Die Bewegungen des Weines, ihr Lächeln, der angetrunkene Schimmer der Sorglosigkeit in ihren Augen hatten etwas Hypnotisches gehabt. Er war damals noch unerfahren gewesen. Hatte nicht gewusst, auf was für ein Spiel er sich wirklich einließ, als er sie fragte, ob sie zusammen essen gehen wollten. Das, was für ihn heute Routine war, war damals das Erforschen unbekannter Felder gewesen.
Das war der Wendepunkt, dachte er jetzt, während weitere Gewissenssalven auf ihm niedergingen und in seinem Kopf explodierten.
Er schluckte, als er sich auf ihr „Du Schlingel“ sagen hörte: „Ich bin schon einer.“
„Und was für einer“, war ihre angetrunkene Zustimmung gewesen, ohne dass sie dabei den einen, alles entscheidenden Blick in seine Richtung auf Reisen schickte. Sie hatte ihm nicht deutlich gezeigt, dass sie sich auf eine gemeinsame Nacht mit ihm freuen würde. Sie hatte ihm nicht einmal Avancen gemacht, dass sie überhaupt etwas von ihm wollte. Sie war nur angetrunken gewesen und hatte es genossen, dass sie jemanden zum Reden hatte. Jemand, der ihre Ideen verstand und nachvollziehen konnte.
Schade war, dass ihn das alles gar nicht interessierte.
Die meiste Zeit über hatte er sich nur vorgestellt, wie sie nackt aussah. Ob ihre Brustwarzen kleine, runde Perlen waren, die man mit der Zunge liebkosen konnte, ohne sich zu ekeln, weil sie von einem viel zu großen Warzenvorhof umgeben waren.
Denise hatte gar nichts gehabt, das ihn störte.
Sie war von einer ihm unbekannten Faszination umgeben, sodass er für einen kurzen Moment mit dem Gedanken spielte, sie an dem Abend gar nicht zu verführen. Dass er sie noch einmal treffen wollte, nur um mit ihr zu reden.
So schnell ihm der Gedanke gekommen war, so schnell war er mit einer zynischen Bemerkung seiner inneren Stimme wieder verschwunden. Er hatte sich innerlich ausgelacht und sich gefragt, was für eine bescheuerte Idee ihm denn da durch den Kopf gegangen war.
Sich mit einer kleinen Maus noch einmal zu treffen, um mit ihr zu reden?
Alter, Mann, hör dir doch einmal selbst zu. Bullshit. Zum Ficken sind sie da. Reden kannst du, wenn dein Schwanz seinen Saft verliert!
Er musste sie ins Bett bekommen! Er musste eine weitere Kerbe in den Bettpfosten ritzen! Er musste sich beweisen, was für ein Frauenverschlinger er war.
Also hatte er ihr das halbleere Glas noch einmal nachgefüllt, sie trinken lassen und ihr dabei erzählt, was er in den nächsten Jahren noch alles erreichen würde.
Hatte über seinen Vorgesetzten gelästert und offen und ehrlich gesagt, dass dieser nicht den Mut hatte, auch mal richtig zu investieren. Einmal alle Bedenken fallen zu lassen und sich an den großen Fleischtöpfen in Übersee zu bedienen.
Das Prinzip der Fonds war doch ganz einfach. Außerdem konnte man ohne Weiteres in dem gerade wachsenden Immobilienmarkt investieren, um so noch mehr Gelder zu generieren, wenn man sie nur schlau genug investierte und rechtzeitig ausstieg, bevor die gewaltig aufgepumpte Blase platzte.
„Den Mut hast du?“, war ihre spöttische Frage gewesen, die ihn mitten ins vor Stolz geschwellte Herz traf.
„Noch viel mehr“, hatte er ihr über die Blumen, die zwischen ihnen auf dem Tisch standen, zugeraunt. Zum ersten Mal hatte er bemerkt, wie sich in ihrem Verhalten etwas änderte. Dass sie ihn nicht verspielt, über den Rand des Glases hinweg anschaute, sondern ernst. So, als nehme sie ihn wahr.
Du hast sie da, wo du sie haben willst!
„Das will ich sehen.“
„Lies die Financial Times“, hatte er ihr geraten, während seine Hand nach ihrer griff. „Da wirst du bald lesen können, dass die Lother&Gabriel Investment Company sich daran macht, neue Ufer anzusteuern.“
„Da bin ich mal gespannt!“
Endlich war er dazu gekommen, worauf er sehnsüchtig hingearbeitet hatte.
Sie hatten sich das Bett geteilt. Wild und hemmungslos hatten sie sich in der Nacht gleich drei Mal geliebt, und am nächsten Morgen unter der Dusche noch einmal.
Ihre Brustwarzen waren perfekt, dachte er jetzt auf dem Sofa sitzend, und erinnerte sich an etwas, das er längst vergessen geglaubt hatte. Bei so vielen Frauen, die er schon gehabt hatte, kam das mal vor.
Aber Denise war anders gewesen …
Nicht auf den ersten Blick.
Sie hatte ihm das gegeben, was er wollte, und wäre bestimmt eine weitere Trophäe in seinem Schrank geworden, die er nicht mehr abstaubte.
Aber … sie war anders.
Sie hätte sein Leben komplett auf den Kopf stellen können.
Was sie im Nachhinein tat.
Er wollte nicht an die Wochen danach denken … Nicht an seine Erfolge, wie er sie herausposaunt hatte und es schaffte, bei Lother&Gabriel Investment Company weiter aufzusteigen.
Er wollte an gar nichts mehr denken und schon gar nicht an ihr unerwartetes Wiedersehen damals.
Mit Mühe verabschiedete er sich von seinen in ihm aufkommenden düsteren Gedanken, griff nach dem blöden, unter seinem Tisch liegenden Brief und starrte ihn finster an.
Was sollte er jetzt machen?
Ihn lesen?
Ihn wegwerfen?
So, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte?
Aber warum, wollte er von sich wissen, kann ich es nicht?
Warum hielt er den Brief in der Hand, starrte ihn an und fragte sich, ob Nancy mit ihren Worten doch recht gehabt hatte?
Eine Frau wie Nancy …
Plötzlich bekam die Aussage einen anderen, schwereren Beigeschmack, der Sebastian nicht gefiel. Lieber sah er sie als naives, blondes Dummchen, das durch ihre geringe Intelligenz schnell davon zu überzeugen war, im Bett Dinge mit ihm anzustellen, für die sich andere Frauen zu schade waren.
Ihr nicht vorhandenes Schamgefühl sollte bei ihm im Vordergrund stehen! Nicht ihre Worte!
Trotzdem bohrte es in ihm. Etwas, das er nicht beschreiben konnte, grub in ihm, sodass er Magenschmerzen zu bekommen drohte. Am liebsten wäre er aufgestanden, um ein weiteres Bier zu trinken. Besoffen, ja, das musste er sein. Jetzt! Sofort! Er musste die verräterischen, ihn von seinem Ziel abbringenden Gedanken hinter sich lassen und dafür sorgen, dass er sich wieder justierte.
Als er sein Handy in die Hand nahm und die Nummer von Lukas suchte, fragte er sich, ob er davonlief.
Warum er sich nicht daran machte, dem zu begegnen, dem er seit mehr als vierzehn Jahren auswich.
Er trug einen Schandfleck, der sich wie ein Krebsgeschwür in ihm ausgebreitet hatte und ihn innerlich aufzufressen drohte.
Wäre Denise damals nicht verheult zu ihm gekommen, wäre ihm das seelische Dilemma, in dem er sich jetzt befand, gar nicht widerfahren.
Sie war schuld daran!
Wie an allem anderen auch.
„Mann, ich liege gerade unter einer Alten“, keuchte Lukas durch das Telefon und sagte zu jemand anderem: „Geht ganz schnell“, nachdem er gefragt worden war, ob das mit dem Telefonieren jetzt wirklich sein müsse.
„Ich will mir den Kopf ausblasen. Treffen wir uns gleich in der City bei Alfredo?“
„Keine Zeit, Alter“, schnaufte Lukas. „Ich werde gerade wie ein Tier geritten. Du müsstest die Möpse sehen, Alter. Die Möpse!“
Sebastian legte auf.
Was hatte er auch anderes erwartet?
Wäre er gerade mit einer Frau im Bett gewesen, wäre Lukas ihm auch scheißegal gewesen …
Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.
Allein der Anfang reizte Sebastian so sehr, dass er den Brief am liebsten weggeworfen hätte.
Was sollte die Scheiße?
Was sollte der verdammte Vorwurf, er habe sie nicht gewollt?
Konnte sie denn nicht verstehen, dass es für ihn keine Möglichkeit gegeben hatte, ein Vater zu sein?
Er hatte nie ein Vater sein wollen.
Der Gedanke daran, seine kostbare Zeit damit zu verschwenden, mit einem jammernden, stinkenden und immer unzufriedenen Balg an seiner Hand durch die City zu laufen, ließ ihm graue Haare wachsen. Davon hatte er schon genug, wie er vor Kurzem bei einem Blick in den Spiegel entsetzt hatte feststellen müssen. Aber Kinder, nein, die wollte und konnte er nicht ertragen.
Allein schon, wie viel Geld man für sie ausgeben musste. Für sich selbst, klar, da gab man gern Geld aus. Kaufte sich einen Wagen – oder auch zwei –, ließ sein Haus komplett umbauen, damit man sich in der zu eng gewordenen Haut wohler fühlte.
Aber für ein Kind etwas ausgeben?
Nein, das ging zu weit. Die blöden Gören hatten keinen Anstand. Er musste sich nur an die Betriebsfeiern erinnern. Da hatten viele seiner Kollegen ihre Kinder mitgebracht. Stolz hatten sie sie vorgeführt, wie kleine Äffchen im Zirkus, die Zuckerwatte verkauften.
Das konnte er nicht.
Das wollte er nicht.
Allein die Tatsache, dass einige der Kinder die ganze Zeit liefen, liefen und noch mal liefen, machte ihn wahnsinnig. Dazu dann die hektischen Eltern, die ihren Blagen hinterher eilten, damit diese nichts herunterrissen.
Das aber, was ihm am meisten störte, war der mangelnde Respekt. Sein Vorgesetzter hatte zu Sebastian gesagt, er sollte Geschenke machen. Er sollte seinen Untergebenen zeigen, wie sehr er sie wertschätzte und deren Kindern kleine Aufmerksamkeiten zukommen lassen.
Hatte er gemacht.
Für Mädchen kleine Puppen, für Jungen rot eingefärbte Ferraris –, handgroß, edel designt, nicht gerade billig.
Ein: „Danke schön“ hatte er nur gehört, wenn die Mütter die Plagen anstießen und fragend zischten: „Wie sagt man?“
Das Schlimmste aber war, wie er fand, dass er am nächsten Tag, als er ins Büro kam, noch zwei Puppen und einen Ferrari achtlos auf den Boden geworfen vorfand. Die Kinder hatten seine Geschenke nicht mitgenommen.
Sie hatten sie liegen lassen.
Seine Geschenke!
Und das sollte er sich selbst antun?
Nur geben und nichts zurückbekommen? Abgesehen von einer vollgeschissenen Windel oder einem vollgesabberten Lätzchen?
Nein, danke. Das brauchte er nicht.
Nasse, klebrige Küsse, die nach einen Dickmann schmeckten, waren ebenso wenig sein Ding wie klebrige Hände und sabbernde Mäuler.
Was war das schon?
Nichts!
Von einem Kuss, einer lässigen Umarmung oder einem geringschätzig dahin gerotzten: „Danke“, hatte er so viel wie von einem Tag, wenn er selbst Staub wischen musste. Nein, Kinder zogen einen seelisch aus und ließen einen Ziele und Träume aus den Augen verlieren.
Was ihn noch mehr in Rage brachte, war der Satz, der dem ersten angehängt worden war: Mama hat mir immer wieder erzählt, wie du sie behandelt hast, als sie dir gesagt hat, dass sie schwanger mit mir ist.
Wie hatte er Denise damals behandelt?
So, wie er es für richtig gehalten hatte. Der Gedanke daran, wie sie damals vor seiner Tür gestanden hatte, die Augen verquollen, und die Lippen vom ganzen Weinen ganz rissig und trocken geworden … sie hatte sich flüchtig in eine Hose und ein T-Shirt gehüllt, um den Anstand zu wahren, um adrett auszusehen, wenn man auf Besuch war.
Sie hatte vor seiner Tür gestanden, den Mund verzogen, die Augen weit aufgerissen, und ein Beben der Unsicherheit auf den Lippen, sodass Sebastian gleich gewusst hatte, dass sie mit schlechten Nachrichten zu ihm gekommen war. Dass sie ihm etwas mitteilen wollte, das er niemals im Leben hören wollte.
Er wusste noch heute, so, als wäre es gestern gewesen, dass er gerade dabei gewesen war, eine Verabredung zu vereinbaren, die ihm am Abend zu einem erotischen und hemmungslosen Abenteuer verhelfen würde.
Okay, was er in der Nacht genau getan hatte, wusste er nicht mehr, aber dass er sich mit Carola hatte treffen wollen, um ihr seinen neuen Porsche zu zeigen, und mit ihr über die Deiche zu fahren, war ihm bruchstückhaft in Erinnerung geblieben. Er hatte sie bei einem Spaziergang an der Bille kennengelernt. Als er mit einem Geschäftspartner, der immer gern schlendern ging, in Richtung Abenteuerspielplatz unterwegs gewesen war, war sie ihm mit ihrem Golden Retriever entgegengekommen. Ihre blasse, vornehm wirkende Haut hatte ihn fasziniert und ihn sich vorstellen lassen, wie er sie nach und nach aus dem gelben Top schälte und ihr die kurze Hose über den Hintern streifte, während seine Küsschen ihren langen, schlanken Beine bedeckten.
Die Vorstellung, was sie für Unterwäsche trug, hatte ihn so in Erregung versetzt, dass er am liebsten hier auf dem Wanderweg über sie hergefallen wäre.
So aber, wie Denise vor ihm stand und ihn verheult Gedanken an ein erotisches Abenteuer aus dem Gehirn gepustet wurden.
„Was willst du hier?“, hatte er sie gefragt und verhindert, dass sie sich an ihm vorbei ins Haus drängen konnte.
„Ich muss mit dir reden“, sagte sie schluchzend, während sie ihren Versuch unterbrach, sich an ihm vorbeizuzwängen.
„Warum?“
Er hatte keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten.
Was kümmerte es ihn, dass sie sich in ihn verliebt hatte?
Das war Hunderten von anderen Frauen auch schon passiert. Und wie er ihr deutlich gemacht hatte, war er an keiner Beziehung interessiert.
Was sollte das jetzt?
Verdammt noch mal, sie sollte auf der Fußmatte wieder kehrtmachen und sich davonstehlen.
Denise aber hatte sich von seiner schroffen und unnahbaren Art nicht beeindrucken lassen. Sie hatte sogar versucht, sich zu straffen und sich zu beruhigen. Sie hatte sich mit den Händen über das Gesicht gewischt, einmal schwer geschluckt, und ihrer Stimme dann eine Festigkeit verliehen, die ihn verwunderte. Er hatte damit gerechnet, dass sie heulen und zetern würde. Dass sie ihm ins Gewissen reden würde, damit er sich ihr öffnete. Dass sie ihm sagte, er sollte in sich gehen, seinem Herz lauschen und begreifen, dass er sie ebenso liebte, wie sie es tat.
Sie lieben, dachte er, während er sich noch immer über die Zeilen ärgerte, mit denen der Brief begonnen hatte, wäre bestimmt leichter gewesen, als zu hören, was sie mir damals gesagt hatte. Wäre sie nur etwas hartnäckiger gewesen, hätte ich für zwei oder drei Wochen zu einer Beziehung nicht nein gesagt. Aber was hat sie zu mir gesagt? Scheiße, ich will gar nicht mehr daran denken, dass sie mir gesagt hat, dass sie schwanger ist.
„Schwanger?“
Sie hatte ihm zugenickt, sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht gewischt und die nun wieder zu beben beginnenden Lippen aufeinandergepresst.
„Wie ist das denn passiert?“
„Soll ich dir das wirklich erklären?“, fragte sie schroff und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
„Das Kind ist nicht von mir“, behauptete er und glaubte ehrlich daran, dass sie ein Komplott geschmiedet hatte, um ihn an sich zu binden. Oder wenigstens, um an sein Geld zu kommen, wenn sie es nicht schaffte, dass er sich auf eine Beziehung mit ihr einließ. Er hatte ihr gesagt, dass er kurz davor stand, einen Deal abzuschließen, der die Lother&Gabriel Investment Company zu neuen Ufern führen würde.
Hatte sie deshalb Lunte gerochen und wollte ihn nun ausnehmen?
Ganz bestimmt wollte sie das.
Alle Weiber waren so!
Alle Weiber?
Es schauderte ihn, als er die beiden Worte durch seinen Verstand wabern hörte. Wie sie erst leise in ihm nachzuhallen begannen, dann immer lauter wurden. Immer intensiver nach seinem Verstand griffen und ihn schüttelten.
Denise war nicht so, erklärte er sich selbst, sie hatte von Anfang an etwas Eigenes besessen. Etwas Ehrliches, etwas Authentisches. Sie war nicht eine von den Mädchen, die du abschleppst, die du flachlegst und dann nach Hause schickst. Sie hatte gewusst, auf was sie sich einließ. Sie hatte dich durchschaut und war das Abenteuer ihretwegen eingegangen. Nicht, weil sie sich von dir beeindrucken ließ.
Sie hatte etwas Selbstständiges, das unter der ersten, unsicher erscheinenden Fassade schnell zum Vorschein kam.
Schon als sie ihm damals im Büro begegnet war, hatte er sich für sie interessiert.
Im Steak-House hatte er angefangen, sie wertzuschätzen, auch wenn die Wertschätzung eher dahinging, dass sie eine ausgesprochen gute Mitarbeiterin war, der man ohne große Bedenken delikate Aufgaben anvertrauen konnte.
„Ich hatte mit niemand anderem Sex, nur mit dir!“, hielt sie ihm entgegen und wiegte dann den Kopf hin und her, um dann eine ausladende Armbewegung zu machen, die das ganze Haus einschloss. „Wollen wir das wirklich hier draußen diskutieren? Oder wollen wir uns rein setzen?“
„Da gibt es nichts zu diskutieren!“, hielt er ihr entgegen. „Ich bin nicht der Vater. Und Tschüss. Mach´s gut!“
Er wollte ihr gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, als sie ihn fragte: „Willst du denn gar nicht wissen, wann der Stichtag ist?“
Er zuckte mit den Schultern und antwortete: „Nein, wieso?“
„Hätte ja sein können“, sagte sie mit einem bitteren Unterton in der Stimme, der etwas Unbekanntes in sich trug. Der Trotz und die Wut, die ihm bei anderen Frauen begegneten, fehlten hier und hatten dafür etwas anderem Platz gemacht.
Einer vorausgeahnten Gewissheit?
Das fragte er sich noch heute, gut fünfzehn Jahre später. Damals aber war es ihm nicht bewusst gewesen, dass Denise ihn durchschaut und deshalb mit seiner Reaktion gerechnet hatte.
Sebastian seufzte, als er einen weiteren Satz las, der seine bis eben in der Vergangenheit weilenden Gedanken wieder zurück in die Gegenwart holte. Hatte sein Blick eben noch alles verschwommen wahrgenommen, so wurden die feinsäuberlich auf das Papier geschriebenen Buchstaben nun wieder zu ganzen Wörtern, die ihm einen weiteren unerwartet heftigen Stich versetzten.
Finde ich schade, aber es ist nicht zu ändern, oder?
Oder?
Was sollte das schon wieder?
Wollte sie denn wirklich, dass er auf die Frage antwortete? Dass er ihr sagte, dass er sich damals falsch verhalten hatte?
Nein, das konnte und wollte er nicht. Der Gedanke daran, einem Kind auf die Frage zu antworten, war ihm zuwider und unheimlich zu gleich gewesen. Zuwider deshalb, weil er sich nicht damit auseinandersetzen wollte, was seine Antwort für eine Gegenreaktion auslösen könnte.
Unheimlich war ihm zumute, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie es war, in das Gesicht einer fast Fünfzehnjährigen zu schauen, die ihn gefragt hatte, warum er sie nicht haben wollte.
Was für eine verrückte Vorstellung.
Einem Kunden zu sagen, dass er seine Einlagen verloren hatte, um ihm dann im nächsten Atemzug eine Rechnung für die geleisteten Dienste vorzulegen, das kümmerte ihn nicht weiter. Nein, das gehörte dazu. Genauso wie die Empörung des Kunden. Sie war ein Ausdruck menschlicher Naivität. Ein Eingeständnis an die Gier.
Einer Jugendlichen aber, die nach seiner gegebenen Antwort auf ihn losging; nein, das war unmöglich. Das konnte er nicht ertragen.
Die Situation war nicht zu überschauen.
Deshalb wollte er den Brief beiseitelegen, den Fernseher anschalten und seine Gedanken unter Tausenden und Abertausenden von flimmernden Bildern begraben, hoffend, dass der Anfall von Selbstzweifeln an ihm vorüberzog. Als er den Entschluss gefasst hatte, nicht weiter zu lesen, beschlich ihn ein merkwürdiges, ihm Angst machendes Gefühl.
War das ein schlechtes Gewissen?
Nein, sagte er sich selbst, das kenne ich nicht.
Freis! Schon vergessen? Sebastian Freis!
Warum sollte er einem Menschen gegenüber, den er nicht kannte, ein schlechtes Gewissen haben?
Das ging gar nicht.
Das Mädchen, das ihm den Brief hatte zukommen lassen, war für ihn eine Fremde. Sie hatten nichts gemeinsam. Abgesehen von der Zeugung.
Was ihn zur nächsten Frage brachte –, hatte er Denise wirklich geschwängert?
Allein die Frage, die er sich jetzt stellte, ließ ihm bewusst werden, in was für einem Dilemma er steckte.
Niemand konnte sagen, ob die Briefeschreiberin seine Tochter war.
Was, überlegte er, wenn sie sich nur bei mir gemeldet hatte, um von mir Geld zu bekommen? Was, wenn sie nichts anderes will, als dass ich ihr jeden Monat einen hübschen Batzen überweise, damit sie aus dem Loch, in dem sie wohnt, ohne Weiteres ausziehen kann?
Wofür würde sie das Geld wohl benutzen? Dafür, um Drogen und Alkohol zu kaufen. Erst neulich habe ich davon gelesen, wie zügellos die jungen Leute von heute sind. Dass sie sich auf Partys besaufen und sich so abschießen, dass sie in der Notaufnahme eines Krankenhauses aufwachen. Ja, so wird es sein. Nichts anderes. Sie will nur mein hart verdientes Geld, damit sie mit ihren hässlichen und viel zu grell geschminkten Freundinnen eine richtig geile Party feiern kann.
Während ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, begann er sich wohler zu fühlen.
So nickte er sich selbst zu, während er den Brief noch einmal anhob, die Wörter zu weiteren Sätzen zusammensetzte und nur darauf wartete, dass die Verfasserin ihm die Kontonummer nannte, auf der er die Alimente zahlen sollte, die ihr seit fünfzehn Jahren zustanden ...
Hast du dich schon einmal auf eine Wiese gelegt und dir überlegt, was man alles versäumt, wenn man nicht mehr träumt?
„Was liest du denn da überhaupt für eine Scheiße?“, fragte Lukas ihn, während sie zusammen am Billeufer saßen, einen Starbucks-Kaffee in der Hand und die Sonnenbrillen bis zur Nasenspitze heruntergeschoben, um die an ihnen vorbeigehenden Frauen mit anzüglichen Blicken zu verfolgen.
Obwohl sie freundlich und höflich taten, hatten ihre Blicke nur eines zu bedeuten: Noten verteilen.
Lukas und Sebastian waren darin wahre Meister geworden.
Sie hatten sich, ohne Worte, darauf verständigt, was ein Rümpfen der Nase bedeutete, ein Hochziehen der Augenbrauen oder ein vor Ekel verzogener Mund. Nickten sie sich zu oder spitzten sie die Lippen, hatte eine Frau es geschafft, in ihrem Raster eine gute Note zu erlangen.
Sebastian, der das Spiel nicht aufmerksam verfolgte, hatte nur den einen Satz im Kopf.
Hast du dich schon einmal auf eine Wiese gelegt und dir überlegt, was man alles versäumt, wenn man nicht mehr träumt?
Wollte Sarah ihn provozieren?
Der Brief, den er bisher gelesen hatte, klang wie eine von einem Staatsanwalt verfasste Anklageschrift. Jedes Wort, das er zu lesen bekam, war wie ein von einer Sehne abgeschossener Pfeil, der unweigerlich sein Ziel treffen sollte.
Am liebsten hätte er den Brief zerknü…
Nein, das hätte er nicht. Warum auch immer. So schwer es ihm auch fiel, er musste ihn Zeile für Zeile durchgehen und sich fragen, was Sarah damit bezwecke. Was sie ihm sagen wollte.
Sarah …
Bisher hatte Sebastian sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, was ein bestimmter Name bedeuten, geschweige denn aussagen sollte. Bisher hatte er sich Namen gemerkt, um die vor ihm stehenden Menschen nicht zu verwechseln. Jetzt aber, da er den Brief wieder und wieder las, hatte ihr Name einen anderen Klang angenommen. Es war wie ein in ihm waberndes Schwingen gewesen. Einer unvergleichbaren, unverwechselbaren, ihm aber völlig unbekannten Melodie gleich.
Auch jetzt noch, während er auf dem wackeligen weißen Klappstuhl saß, seinen Blick über das träge dahin fließende Wasser der Bille schweifen ließ und die Enten dabei beobachtete, wie sie nach Algen tauchten, fiel ihm auf, wie ausgesprochen gut ihm der Name gefiel.
Er hatte einen angenehmen, ausgesprochen wohlklingenden Sound, den er mit einem Mädchen in Verbindung brachte, das sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ.
Der Name klang ähnlich wie seiner.
Erst gestern hatte er sich dabei erwischt, wie seine Gedanken ihretwegen abschweiften. Wie er angefangen hatte, sich vorzustellen, wie sie aussehen konnte. Was sie tat und was für Freunde sie hatte. Wie ihr Name klang, wenn er von einer ins Wasser springenden Freundin gerufen wurde. Sebastian schauderte, als ihm bewusst wurde, auf was er sich einließ.
So wie gestern, als er den aberwitzigsten Vorstellungen nachhing, fühlte er sich auch jetzt merkwürdig beschwingt. So, als habe er zu viel getrunken.
„Hey, hörst du mir überhaupt zu?“, wollte Lukas wissen und stieß den in Gedanken versunkenen Freund mit dem Ellenbogen an.
„Was?“, fragte Sebastian verwirrt.
„Ob du mir zuhörst, Mann?“
„Klar.“
„Tust du nicht“, stellte Lukas klar und wischte sich eine in die Stirn gefallene Haarlocke hinters Ohr.
„Erwischt.“
„Worüber machst du dir überhaupt so viele Gedanken, Alter? Wegen so eines bescheuerten Kinderbriefs? Wie kommst du eigentlich an den Mist da?“
„Ist mir zugeschickt worden“, erzählte Sebastian.
„Von einem Kind?“ Lukas zog die Augenbrauen kraus und nickte dann einer an ihnen vorbei gehenden Rothaarigen zu, die vom Gesicht her zwar nicht ihren Ansprüchen genügte, aber vom Körper her gespitzte Lippen und ein anerkennendes Nicken wert war. „Seit wann lässt du dich denn mit beschissenen Gören ein?“
„Mach ich nicht.“
Warum er sich verteidigte, wusste Sebastian nicht. Als er Lukas` abfällige Worte hörte, konnte er nicht anders, als in die Defensive zu gehen und den Schild zu heben, um den verbalen Schlag abzuwehren.
„Und warum liest du dann den beknackten Brief?“
„Das macht man mit Briefen.“
„Wenn sie einen nicht interessieren, dann wirft man sie weg. Merk dir das. Und jetzt schau der Roten doch mal hinter her. Alter, was für ein Arsch. Den würde ich gern mal packen und richtig kneten!“
Sebastian, der Sarahs Brief in der Innentasche seines Jacketts mit sich trug, schaute pflichtbewusst der jungen Frau hinterher, die vor dem hässlichsten aller Denkmäler stehen geblieben war, die man in Bergedorf finden konnte. Interessiert hatte sie ihre Sonnenbrille in das von Sommersprossen dominierte Gesicht geschoben, um die auf einer kupferfarbenen Tafel eingelassene Information lesen zu können, die erklärte, warum und wieso das Denkmal dort stand.
Sie hatte etwas Interessantes an sich, auch wenn Sebastian ihr Gesicht zu kantig war. Da lief nichts weich ineinander über. Selbst die Lippen, die von Sommersprossen bedeckt waren, hatten etwas Hartes.
Der Rest des Körpers war – zugegeben - eine Wucht. Von den Brüsten angefangen bis hin zum Hintern und den langen, nackten Beinen. Da passte alles 1a ineinander. Seltsam war nur, dass es ihn gar nicht interessierte, ob die Brüste groß waren und beinahe aus dem grünen Top herausfielen, als die Rothaarige sich zur Informationstafel vorbeugte. Auch kümmerte es ihn nur wenig bis gar nicht, dass ihr runder Hintern sich unter dem Stoff ihrer Hotpants malerisch abzeichnete und dazu einlud, mit der flachen Hand auf ihn zu schlagen.
Es interessierte ihn nicht?
Was war nur los mit ihm?
Was sollte das?
Allein wegen der langen, durch die Lackschuhe noch mehr betonten Beine hätte er vorgestern mit Lukas noch eine Diskussionsstunde abgehalten, wo man als Erstes anfangen sollte, die weiche Haut mit Küssen zu bedecken.
Jetzt aber … nichts.
„Was würdest du denn machen, wenn du plötzlich Vater wärst?“
„Bist du bekloppt? Alter, ich schau mir da gerade die heißeste Frau des jungen Tages an, und du kommst mit so einer selten dämlichen Frage an, die mir die ganze Lust am Gaffen nimmt.“
„Was würdest du denn tun?“, ließ Sebastian nicht locker und hatte plötzlich das Gefühl, als würde der Brief in der Innentasche seines Jacketts tonnenschwer werden.
„Ich würde der blöden Tussi eins in die Fresse hauen, weil sie nicht anständig verhütet hat!“, sagte Lukas ungerührt.
Er nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher, verzog den Mund und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um schließlich mit dem ausgestreckten Finger wieder auf die Rothaarige zu zeigen, die sich daran gemacht hatte, das Denkmal zu umrunden, um es ganz genau zu inspizieren.
„Jetzt konzentrier dich mal bitte“, verlangte Lukas, als er sah, dass Sebastian zu einer weiteren Frage ansetzte.
Er will darüber nicht reden, dachte Sebastian niedergeschlagen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Warum auch? Er ist ja kein Vater eines Mädchens, das ihm einen Brief geschrieben hat.
Einen verdammten, beschissenen Brief, den ich nicht in bester Michael-Jordan-Manier in den Papierkorb werfen kann.
Kacke, Mann. Ich kann den Brief doch nicht einfach wegwerfen.
Warum kann ich das nicht?
Bitte, Sebastian, wirf ihn doch einfach weg. Zünde ihn an. Schmier ihn mit Nutella voll und wirf ihn irgendeiner Fetten zu, damit sie ihn für dich auffrisst. Mach irgendetwas, damit die bescheuerten Gedanken in deinem Kopf endlich aufhören, unerhört zu kreisen und dich fertigzumachen.
Hast du dich schon einmal auf eine Wiese gelegt und dir überlegt, was man alles versäumt, wenn man nicht mehr träumt?
Ich habe das in letzter Zeit sehr oft getan. Immer wieder.
Genau das war es, was ihn so fertigmachte.
Genau das!
Warum dachte sie überhaupt an ihn?
Das ergab alles keinen Sinn.
Sie kannten sich nicht einmal.
Er seufzte, als er die Frage stellte: „Wäre dir dein eigenes Kind denn egal?“, weil er die Antwort schon kannte.
„Ich hätte gar keine Kinder!“
Natürlich nicht. Er passte auf. Lukas legte sich nicht einfach auf eine Frau und schwängerte sie. Er überzeugte sich vorher, dass auch alles seine Richtigkeit hatte. Er …
Was für ein Blödsinn. Ich weiß genau, dass Lukas es immer ohne Kondom tut. Er will das echte, richtige Gefühl spüren, wenn es um Sex geht. Er braucht es, um zu merken, wie schön es im Schoß einer Frau ist.
Er braucht es, weil ich es ihm damals so gesagt habe!
Ich habe ihm dazu geraten, alles ohne Gummi zu tun. Immer der Erste an der Spitze sein zu wollen.
Ich habe ihn … erschaffen!
„Das kannst du doch gar nicht wissen.“
„Deshalb schlage ich keine fremden Kinder“, sagte Lukas grinsend, der seinen Blick nicht von der Rothaarigen abwenden konnte.
„Ja, ja“, winkte Sebastian ab. „Es könnten ja deine eigenen sein.“
„Was wäre ich denn dann für ein schlechter Vater, wenn ich sie verprügeln würde? Apropos Prügel, Sebastian. Du fängst dir gleich ein paar, wenn du nicht sofort der Roten richtig schön auf die Titten glotzt und mir sagst, dass du ihre Nippel siehst. Alter, sag mir, dass du ihre Nippel siehst!“
„Ich sehe ihre Nippel.“
„Danke, lieber Gott“, jubelte Lukas, indem er beide Fäuste gen Himmel streckte und die Knie zur Brust zog. „Es ist so geil, ein Kerl zu sein!“
Dabei habe ich viel an dich gedacht. An die Dinge, die wir gemeinsam hätten erleben können, hatte in dem Brief gestanden, was Sebastian auf eine unangenehme und erschreckende Art und Weise bewusst machte, mit was er sich die Zeit vertrieb.
Dass er eine Frau anstarrte, die sich für das hässlichste Denkmal Bergedorfs interessierte und dabei das Pech hatte, von zwei dummen Kerlen angeglotzt zu werden, die sich nichts Besseres vorstellen konnten, als mit ihr ins Bett zu gehen.
Sebastian schüttelte den Kopf.
Das war nicht er.
Das war er nie gewesen.
Er hatte immer und überall schöne Frauen gesehen und nichts anderes in ihnen erkannt als eine Chance, sie zu verführen.
Warum machte er sich also plötzlich darüber Gedanken, ob es richtig war, was er tat?
Er hätte doch auch träumen können, oder?
Nicht die Träume, die ich sonst immer träume. Vielleicht mal davon, wie es wäre, mit Denise auf der Terrasse zu sitzen, einen Sex on the Beach zu trinken und dabei zuzusehen, wie Sarah auf der Wiese vor uns sitzt und in einem Buch liest. Das wären doch mal Vorstellungen, oder? Ich meine, das hätte etwas. Das ist mehr, als einer Frau nur auf die Möpse zu glotzen, oder?
„Du guckst ja schon wieder nicht“, bemerkte Lukas genervt und starrte den in Gedanken versunkenen Sebastian vorwurfsvoll an. „Du bekommst gleich eins in die Fresse, das verspreche ich dir.“
„Lass es gut sein“, winkte Sebastian ab.
„Lass es gut sein? Lass es gut sein? Spinnst du, oder was? Alter, das kann doch nicht dein Ernst sein. Wir machen das immer in der Mittagspause. Immer. Wann hast du denn das letzte Mal eine Frau geknallt?“
„Was?“ Sebastian musste lachen.
„Wann du das letzte Mal eine Frau geknallt hast?“
„Das weißt du!“
„Das war vor vier Tagen“, sagte Lukas. „Viel zu lange her. Dein Schwanz muss wieder justiert werden. Der ist außer Betrieb!“
„Da ist gar nichts außer Betrieb.“
„Oh doch, da läuft etwas ganz und gar verkehrt. Ganz ehrlich!“
„Komm, lass es.“
„Nein!“ Lukas schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich hatte gestern erst Sex. Richtigen Sex. Mit der Kleinen vom Schaufenster. Alter, die hat mich echt fertiggemacht. Kleine Drecksau, sag ich nur. Ich hatte Finger in Körperöffnungen, da wusste ich gar nicht, dass man da Finger reinstecken kann.“
„Lukas …“
Sebastian wollte die Unterhaltung unterbrechen … wollte, dass sie sich über etwas anderes unterhielten.
Lukas ließ es nicht zu, dass sein bester Freund auch nur ein Wort des Protestes laut werden ließ. Er zeigte mit dem Finger auf Sebastian und sagte im feierlichen Tonfall: „Ich mach die Rothaarige für dich klar. Ganz ehrlich. Ich schenk sie dir. Von mir für dich.“
Lukas erhob sich nun von seinem Platz, blieb dann aber abrupt stehen, nachdem er sich sein Jackett glattgezogen hatte und die Sonnenbrille auf der Nase nach oben geschoben hatte.
„Alter, wo ist sie?“
„Richtung City Center“, erwiderte Sebastian kopfschüttelnd.
„Das ist nur deine Schuld.“
„Ist es nicht!“
„Oh doch, ist es“, schnaufte Lukas beleidigt. „Hättest du nicht die ganze Zeit von beschissenen Kindern erzählt und mich gefragt, was ich tun würde, wenn ich Vater wäre, wäre uns der heiße Feger nicht durch die Lappen gegangen. Sebastian, alter Scheißhaufen, du hast uns eine Steilvorlage nicht versenken lassen. Du bist ein Idiot!“