Читать книгу und plötzlich warst du weg - Thomas Tippner - Страница 4

Kapitel 2

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„Wie geht es ihm?“

Die Furcht vor der Antwort ließ ihn innerlich erfrieren. Blanke Angst packte und schüttelte ihn, brachte all seine Gedanken zum Erlahmen und ließ ihn die Blicke niederschlagen.

Er ertrug es einfach nicht.

Allein der Gedanke daran, dass Monika ihm sagen würde, wie es um ihren gemeinsamen Vater stand, ließ ihn beten, endlich aus einem langen, quälenden und erschöpfenden Schlaf zu erwachen.

„Wie soll es ihm schon gehen?“, seufzte Monika, die ihren Bruder in den Arm nahm, während er seine Reisetasche und den Koffer abstellte und den Geruch seines Zuhauses wahrnahm.

Es roch wie immer.

Es sah aus wie immer …

Es war alles anders.

Torben musste sich mit Gewalt zurück ins Leben rufen, während ihm auffiel, dass die Vase, die sein Vater damals aus einem Amerika-Urlaub mitgebracht hatte, gar nicht mehr mit Lilien befüllt war. Sie stand nun da, auf der braunen Mahagoni-Anrichte, unter dem goldgerahmten Spiegel, und wirkte so leer und verlassen, wie es in Torben selbst aussah.

Er fühlte den Druck, der ihn seit Jahren verfolgte, immer mehr in sich aufsteigen. Und wie immer, wenn er sich unwohl fühlte, drückte er seine Schwester von sich fort und konnte es ihr nicht einmal verübeln, dass sie ihm eine Antwort schuldig blieb.

Deswegen ging er auf ihre Taktik ein.

Um den heißen Brei herumreden.

Das hatten sie schon immer gut gekonnt. Schon damals, als sie noch zu Hause gewohnt hatten, wo sie noch eine Familie waren, und eigentlich gar nichts durchzustehen hatten.

Sie waren von der Schule nach Hause gekommen, hatten sich geneckt, geärgert und doch immer alles voneinander gewusst.

So wie auch jetzt.

Torben wusste einfach, wie es in seiner großen, nervigen, seiner ungeliebten und heiß verehrten Schwester aussah. Er spürte, dass sie innerlich in Aufruhr war, fühlte, dass sie seine vorgelebte Stärke hier und jetzt brauchte, um den Kummer, den sie empfand, ertragen zu können.

Jan, ihr Mann, konnte ihr den schon lange nicht mehr geben. Hatte er sich doch zurückgezogen und angefangen, sich um seine eigenen Dinge zu kümmern – der Arsch. Da, wo er einmal für seine Frau hätte da sein müssen, hatte er sein Heil in der Flucht gesucht und Monika vor einem Scherbenhaufen stehend allein gelassen.

Dafür sind sie auch zu nah dran, dachte Torben und war nicht das erste Mal in seinem Leben glücklich darüber, dass es ihn von der Ostseeküste nach Hamburg gezogen hatte.

An der Alster, wo das Leben pulsierte, die Menschen durch die Straßen strömten und ein immerwährender, in sich selbst erklingender Glockenschlag antrieb, hatte man schnell die Chance, den Kummer zu vergessen, der zu Hause auf einen wartete. Da konnte man sich ohne Weiteres zurückziehen und sich in die Arbeit oder das Vergnügen der unzähligen Kneipen, Lokale und Konzerthallen stürzen.

Hier oben, an der Küste, wo das Leben ruhiger getaktet war, wo die Menschen mehr in sich selbst ruhten, kam es Torben vor, als wäre er in ein Gefängnis gesperrt. Das Wissen, dass am Mittwoch der mobile Landwirt vor der Tür stand und einem ungefragt Eier, Käse, Schinken und die Leberwurst reinreichte, machte ihn wahnsinnig.

Er brauchte die Abwechslung.

Jeden Tag ins Büro zu kommen und von Linda, seiner Sekretärin, zu erfahren, wer heute alles mit ihm sprechen wollte, war für ihn wie ein Dauerlauf durch ein vollbesetztes Stadion. Nie zu wissen, was einen erwartete, nie zu erahnen, wohin einen der heutige Tag führen würde, war für ihn die Erfüllung, nach der er immer gesucht hatte.

Und das Nach-Hause-Kommen war für ihn, wie er mit einem erschreckend in aufsteigenden Gedanken feststellte, der reinste Horror.

Allein die Tatsache, dass Monika ihn noch immer fest gedrückt hielt und ihr Gesicht in seinen Hals vergrub, ließ ihn glauben, keine Luft mehr zu bekommen. Es war, als versuchte sie ihn hier und jetzt festzuketten, damit er niemals wieder zurück nach Hamburg in sein Bürokomplex gehen konnte.

„Du erwürgst mich“, stieß er viel zu laut, viel zu hysterisch hervor und drückte seine Schwester mit sanftem Druck von sich fort.

Ihr „Entschuldigung, ich freue mich einfach, dich endlich mal wiederzusehen“ klang dabei so ehrlich und offen, so herzergreifend und unversöhnlich, dass er ihr ein verkrampftes Lächeln schenkte.

Er merkte, dass es ihm nicht gut ging. Dass ihm das Heimkommen mehr zusetzte als schlechte Absatzzahlen.

Deswegen versuchte er sich in Floskeln und sagte: „Ich freue mich auch, wieder hier zu sein“, und hätte sich am liebsten für die Lüge geohrfeigt.

Er wäre überall auf der Welt lieber gewesen.

Himmel, nein, er wollte hier ganz bestimmt nicht sein.

Nicht an diesem Ort, wo das Leben eine solch grausame Wendung genommen hatte und nicht einmal die auf der Mahagoni-Anrichte stehende Vase noch mit Lilien gefüllt war. Selbst die in das obere Stockwerk führende Treppe hatte sich verändert. Die Treppe, die ihn immer hinauf in sein eigenes Reich, sein kleines Zimmer geführt hatte, wo er den besten Punkrock aller Zeiten hörte. Wo er das erste Mal in seinem Leben eine junge, unschuldig wirkende Eva Brand küsste, die doch nur zum Hausaufgabenmachen gekommen war.

Ja, da oben hatte es immer die heile Welt gegeben.

Waren die Momente anwesend, die Torben niemals für möglich gehalten hatte.

Da oben war alles irgendwie …

… richtig gewesen.

Auch wenn seine Schwester und sein jüngerer Bruder dort ebenfalls ihre Zimmer gehabt hatten. Ja, selbst das seinem Jugendreich gegenüberliegende Schlafzimmer seiner Eltern war irgendwie normal gewesen. So normal, dass es ihn nicht einmal gestört hatte, dass die Tür seiner Eltern niemals geschlossen war und er, wenn er aus seinen „Gemächern“ trat, einen flüchtigen Blick auf seine schlafende Mutter und seinen leise schnarchenden Vater werfen konnte.

Sie hatten da oben am Wochenende immer so lange wie möglich versucht sich zu erholen. Hatten sich die Decken und Kopfkissen übers Gesicht gezogen, um den Punk aus Torbens Zimmer ebenso wenig zu hören wie das laute Gedudel der Playstation von Mark oder die ohrenbetäubende und den Verstand entzweischneidenden Klänge der Kelly Family.

Trotzdem aber haben sie geschlafen, um dann irgendwann aus den Betten zu kriechen und müde und zerrupft, wie sie immer ausgesehen hatten, die Familie zum gemeinsamen samstägigen Frühstück zusammenzurufen.

Wie er das vermisste.

Wie er das alles gerne wiederhätte.

Alles.

Die unbekümmerte Zeit, wo man zu seinem Vater kommen konnte, um ihn zu fragen, ob er fünfzig Mark habe, weil man am Abend mit einem Freund mal kurz nach Bergedorf ins Tschako wollte, um dort eine „Cola“ zu trinken. Um dann eine grinsende Antwort zu bekommen, dass man es mit der „Cola“ nicht so sehr übertreiben solle.

Oder die kurzen, aber liebevollen Unterhaltungen in der Küche, während die eigene Mutter am Toaster stand, sich den Bademantel enger um den Körper zog und man sie fragen konnte, ob es richtig gewesen sei, Eva Brand gewähren zu lassen, wenn sie einen küsste. Ob man nicht echte, ehrliche Gefühle haben müsse, falls man sich dazu hinreißen ließ, die Küsse zu erwidern und verstohlen schüchtern nach ihren Brüsten zu greifen, die sich so verführerisch klein unter dem kanariengelben Top abzeichneten. Ja, es waren diese Momente, die das Haus am Ufer der Ostsee zu etwas ganz Besonderem machten.

Hier hatte er gelebt, gestritten und geliebt.

Und heute?

Heute war es, als würde er einen Schritt in eine schwarze, mit dem bloßen Auge nicht zu durchdringende Dunkelheit gehen, die ihm das Gefühl gab, jemand würde ihm eine Hand um den Hals legen und zudrücken.

Deswegen konnte er seine Schwester nicht länger umarmen.

Es ging einfach nicht.

Sie war jeden Tag hier. Wieder und wieder.

Torben fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und fragte mit bleiern klingender, schwerer Stimme: „Was macht Noel?“

„Der wird sich freuen, dich zu sehen!“, ging Monika auf die ausweichende Frage ihres Bruders ein und zeigte ihr zauberhaftes, menschengewinnendes Lächeln, das er früher so sehr verabscheut hatte. „Der ist heute aber mit einem Freund am Strand. Sie wollen einen Schatz finden, den Piraten hier einmal vergraben haben.“

„Der kleine Abenteurer“, lächelte Torben und konnte die in seinem Neffen überkochende Fantasie verstehen, die ihn zu den waghalsigsten Abenteuern antrieb.

Er selbst hatte sich früher immer vorgestellt, dass aus den Tiefen der Ostsee eine monumentale antike Stadt aufstieg, durch deren verlassene Gänge und Straßen er lief. Immer auf der Suche nach dem verborgenen Kristall der Sonne, mit der man die von den Dämonen verfluchten Menschen befreien und wieder zurück auf die Erde holen konnte.

Seine Fantasie war dermaßen mit ihm durchgegangen, dass er sich die einzelnen Wassertropfen, die Rinnsale allesamt vorstellen konnte, wie sie von Dachvorsprüngen tropften und rannen. Ja, er sah die Algen und Seesterne an den Fassaden und Wänden kleben. Selbst der Geruch von abgestandenem, salzigem Wasser hatte er in der Nase, während er abends, auf die Fensterbank gestützt, das im Rot der Sonne liegende Meer betrachtete.

Alles und jeden sah er da in seiner Stadt Utopia.

Selbst die Schatten, die von den Körpern der Menschen getrennt worden waren und in ihrer Panik vor den Dämonen, in grausamer Verzauberung, zum aufgehenden Mond immer noch liefen, liefen und liefen, ohne jemals ihr Ziel zu erreichen.

Ja, er konnte Noel verstehen, dass ihn die Fantasie durchdrang. Dass er sich mit Freunden in Abenteuer stürzte und dass er so wenig wie möglich hier im Haus seines Großvaters sein wollte.

„Er ist ganz verrückt nach dem ganzen Kram. Und das nur, weil du ihm ‚Die Schatzinsel‘ geschenkt hast!“

„Das beste Buch, das jemals veröffentlicht wurde.“

„Das beste Buch“, lachte Monika, die dann auf die Reisetasche und den Koffer zeigte. „Willst du die Sachen stehen lassen oder erst einmal einziehen, bevor wir zu …“, sie beendete die Sätze, wenn es um ihren gemeinsamen Vater ging, so gut wie nie. Beinah so, als wollte sie Torben nicht weiter verletzen und ihm die Qual ersparen, dass ihr Vater …

Er konnte es auch nicht.

Es war Torben nicht möglich, auch nur eine Sekunde zu glauben, dass der hochgewachsene, immer selbstbewusste, dem Leben zugeneigte Mann die Zügel seines Schicksals aus den Händen gegeben hatte. Dass er von einer unheilbaren Krankheit heimgesucht wurde und von nun an nicht mehr allein sein konnte – nicht mehr allein sein durfte –, weil er sonst …

Torben brach auch den Gedanken ab, als er in das plötzlich traurige Gesicht seiner Schwester schaute und es mit einem erneuten schiefen Lächeln versuchte. Ein Lächeln, das ihm ebenso misslang, wie seiner Stimme einen ruhigen, einen gefassten Klang zu verleihen. Als er sich sagen hörte: „Ich will Papa sehen und ihm Hallo sagen“, schwang jedes einzelne Wort, als wollte es kippen.

Ich pack das einfach nicht …

„Dann komm. Er sitzt auf der Terrasse. So wie immer.“

So wie immer, hallte es in ihm nach und ließ ihn wieder an die unzähligen Abende denken, die sie gemeinsam als Familie hier draußen gesessen und der Sonne beim Untergehen zugeschaut hatten. Wie sie sich daran erfreuten, einfach nur hier zusammenzusitzen, um den Geruch von gegrilltem Fleisch in der Nase zu tragen und dem weichen Rauschen der auf den Strand zurollenden Wellen zu lauschen.

Es war alles perfekt gewesen.

Alles war so …

… schön gewesen damals.

„Komm“, sagte Monika noch einmal und ging voraus, durch den Flur, um dann in das geräumige, große Wohnzimmer zu gelangen, das in drei Bereiche unterteilt war. An der Tür, die hinausführte, blieb sie stehen, winkte Torben herbei und zeigte hinaus auf die im Sonnenlicht liegende Terrasse, nachdem er den kleinen Absatz, der zum Kaminbereich des Wohnzimmers führte, hinabgestiegen war.

„Sieh nur“, flüsterte sie und holte tief Luft, „wie er dasitzt und die Sonne genießt. Er wirkt beinah zufrieden, oder was meinst du?“ Monika schob die Hand vor den Mund und schien die Bürde, die sie trug, jetzt gerade unendlich schwer zu spüren.

So hochgewachsen sie auch war, so schlank und robust sie auch wirkte, war sie jetzt gerade, in diesen Augenblick, wo Torben an die offen stehende Terrassentür trat, eine in sich zusammensinkende, schwache Frau, die aus eigener Kraft kaum noch auf den Beinen stehen konnte.

Und ich lasse sie allein, kam ihm der Gedanke, der ihn bis nachts, wenn er einschlafen wollte, verfolgte. Ich versuche mich rauszuhalten, so gut es geht. Bin halt nicht der Typ dafür, den Krankenpfleger zu spielen.

Ich muss das Leben spüren. Es muss pulsieren. Ich will fühlen, wie es sich mir ins Herz bohrt. Ich bin …

Ich?

Was bin ich schon?

„Wunderschön“, gab Torben pflichtbewusst seine Antwort und wandte den Blick von dem im Liegestuhl ruhenden Mann ab, der unentwegt ins Leere starrte und sich morgen nicht einmal mehr daran erinnern würde, dass er solch einen schönen Nachmittag erlebt hatte.

und plötzlich warst du weg

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