Читать книгу Als sich Gott das Leben nahm - Thorsten Nesch - Страница 2

Eins

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Herr Zimmermann suchte eine ganz bestimmte Sinfonie, die sich den gegebenen Umständen als angemessen erweisen würde. Sein Zeigefinger strich über die ausgefransten Rücken der Schallplattenhüllen.

Erschwert wurde seine Suche dadurch, dass Tiger, seine Katze, die vor einem halben Jahr gestorben war, ihre Krallen gerne an seiner Sammlung gewetzt hatte. Vierzehn Jahre lang. Das hatte er ihr nie abgewöhnen können. Sobald er nicht hinschaute, nutzte sie ihre Chance, als ob sie immer nur auf die nächste Gelegenheit lauern würde. Sie stellte sich dann auf ihre Hinterbeine, krümmte den Rücken, und die Krallen der Vorderbeine zogen über die im Regal sortierten Platten. Es gab kein nichtzerfetztes Cover. Bei der Hälfte konnte man in der Rückenmitte das Schwarz der Schallplatte durch die Hülle schimmern sehen.

Während der Suche musste sich Herr Zimmermann auf die verbliebene Farbe am oberen Ende der Schallplattenhülle verlassen, manchmal half ihm seine Erinnerung an den Grad der Zerstörung eines bestimmten Covers. Auch diesmal hatte er Glück, gleich bei dem ersten Versuch zog er die Richtige aus den eng gesteckten 436 Tonträgern: Beethovens 5. Sinfonie in c-Moll. Zufrieden ließ er die Schallplatte aus der Hülle rutschen und lehnte das Cover gegen das Regal.

Früh hatte er begonnen, die Öffnungen der Innentaschen in Richtung der Coverschlitze zu drehen, so dass er die Schallplatten nicht herausziehen brauchte, sie rollten einfach in seine Hand. Wenn man das wusste, war es ein Vorteil. Probleme hatten damit nur Besucher. Deswegen durfte kein Fremder an seine Plattensammlung. Noch heute kniff er jedes Mal die Augen zu, wenn er sich daran erinnerte, wie Bachs Orchestersuite seiner Gabriele aus den Fingern geglitten, vom Schrank abgeprallt und gegen den Stuhl geflogen war. Als könnte er irgendwann allein durch wiederholtes Zwinkern das Bild aus seinem Gedächtnis tilgen.

Sein Mittelfinger ruhte in der Nabe der runden Scheibe, der Daumen hielt den Rand. So bugsierte er Beethoven zum Schallplattenspieler, legte ihn auf und führte den Tonarm auf die Außenrille. Rauschen, Zischen, Knacken, und dann das wohlbekannte Anfangsmotiv mit seinen drei markanten Achteln auf G.

Herr Zimmermann atmete ein, als stünde er nach dem Aufwachen an einem offenen Fenster, und es war ihm, als könnte er den Zimt gebackener Äpfel zu Weihnachten riechen. Diese Musik war vielleicht seine früheste Kindheitserinnerung. Im Winter blieb sein Vater am Wochenende öfter zuhause, und pünktlich nach der Mittagsruhe begleiteten die Sinfonien berühmter Komponisten ihre Tage, während seine Mutter in der kalten Jahreszeit alle zwei Wochen Backäpfel in den Ofen schob.

Er räusperte sich und ging zum Fenster. Der Stoff seines Anzuges raschelte bei jedem Schritt. Herr Zimmermann warf einen Blick hinaus in den Hof, wo zwei Teenager, ein Junge und ein Mädchen, Tischtennis spielten und lachten. Er wunderte sich darüber, wie man bei dieser Hitze darauf kommen konnte, sich sportlich zu betätigen. Und er erinnerte sich nicht daran, dass dort unten jemals Tischtennis gespielt wurde. Beinahe wollte er ihnen zurufen, sie sollten aufpassen, genug trinken, aber wahrscheinlich würde er nur einen dummen Spruch ernten. Die wüssten schon, was sie da machten.

Quietschend schloss er das Fenster und war mit Beethoven alleine. Nichts war mehr von ihrem Gejohle und dem Klacken des Tischtennisballs zu hören. Stumm alberten die Jugendlichen herum und lachten sich gegenseitig an. Ihre Gesichter wellten sich in der Unebenheit des alten Fensterglases.

Einen Sommerurlaub lang auf dem Campingplatz am See hatte er damals mit Gabriele auch Tischtennis gespielt. Waren sie so albern gewesen? Wohl kaum, da war sie bereits schwanger. Das waren Teenager da unten.

Mit seinen Armen die ausholenden Bewegungen eines Dirigenten nachahmend, durchquerte er sein Wohnzimmer, als handele es sich um den gesamten Orchestergraben der Mailänder Oper. Vor dem Stuhl in der Küche blieb er stehen und blickte zur Decke.

* * *

Sandra träumte in den blauen Himmel. Sie hatte sich eben ihre Klappliege geschnappt, das selbst ausgedruckte Drehbuch unter den Arm geklemmt und war die steile Holztreppe hoch durch die Luke auf das Dach geklettert.

Sie schaute sich um, vorbei an den sinnlos gewordenen Antennen, den Satellitenschüsseln, Schornsteinen und Abzugsrohren, und wie erwartet war sie die Einzige, die sich vor Sonnenuntergang auf das Dach traute. Die Menschen hatten die Hitze satt. Seit Anfang Juli kochte Berlin bei über 40 Grad im Schatten, und jetzt war es Ende August.

Die Luft über den Flachdächern der Hinterhöfe flimmerte wie eine einzige große moderne Herdplatte. Das unruhige Bild gaukelte ihr einen kleinen Windzug vor, den es so nirgends gab.

Krankenwagen und Feuerwehren jaulten durch die Seitenstraßen, und ihre Martinshörner verschmolzen zu einem finalen Warnsignal, das Sandra zu umkreisen schien. Selbst durch ihre Sandalen, bunte Flipflops vom polnischen Flohmarkt, spürte sie die heiße Dachpappe glühen. Rasch klappte sie die Liege auf.

Jedes Mal, wenn sie den ausgewaschenen Stoffbezug mit dem Blumenmuster und den braunen Rändern aus getrocknetem Schweiß und Sonnencreme sah, dachte sie daran, sich bald eine neue Liege zu besorgen.

Erst als sie sich hingelegt hatte, streifte sie ihre Flipflops von den Füßen und rieb mit ihren Sohlen über den Stoff des Bezuges. Dann schob sie ihren hellgelben Sommerrock hoch, die Träger ihres leichten Tops von den Schultern und den unteren Teil des Tops hinauf bis zum Ansatz ihrer Brüste. Sandra wollte Ränder auf ihrer gebräunten Haut vermeiden, denn sie wusste noch nicht, was sie morgen tragen würde.

Tief sog sie mit geschlossenen Augen die heiße Luft ein. Die Beine der Liege waren so kurz, dass sie den warmen Teer der Dachpappe riechen konnte, den Teer und ihre Sonnencreme.

Sie wollte morgen für das Vorsprechen makellos aussehen. Johann, ein Bekannter, hatte ihr vor drei Wochen davon erzählt und sie tatsächlich auf die Castingliste gebracht, obwohl die bereits dicht gewesen war, wie er sagte.

Es ging um neun Zeilen Dialog in einem Kinospielfilm. Das passierte ihr nicht allzu oft, und es glückte fast nie. Zweimal hatte sie eine solche Rolle bekommen, leider schaffte es keiner der beiden Filme ins Kino, der eine lief auf einem kleinen Filmfestival in Tschechien.

Für gewöhnlich landete sie bei Richtershows und Dokusoaps, selten bei einer Fernsehserie. Ein paar Zeilen Dialog, das war schon Luxus.

Beim Lesen Ihres Parts kämpfte sie gegen den Drang an, ihre Augen gegen das grelle Licht zukneifen zu müssen. Auf eine Sonnenbrille hatte sie verzichtet, schließlich wollte sie morgen nicht mit weißen Augenringen vor dem Regisseur und den Produzenten erscheinen.

Das Drehbuch hieß „Wir überfallen die Polizei“, eine Komödie. Sandra bewarb sich um die Rolle der Exfreundin einer der Hauptfiguren, die in einem Tankstellenkiosk arbeitete. Laut dem Drehbuch war sie 28 Jahre, also gut sieben Jahre jünger als sie selbst. Das machte ihr nichts aus, sie wurde auf Ende zwanzig geschätzt. Dennoch hatte sie in der letzten Zeit gemerkt, dass die Anzahl der Rollenangebote deutlich zurückging. Immer wichtiger wurden für sie die Verbindungen zu Bekannten vom Fernsehen, die sie über die Jahre aufgebaut und gepflegt hatte. Etliche ihrer Freunde hatten, wenn auch bescheiden, Karriere gemacht, als Schauspieler, Produktionsassistenten und Regieassistenten.

Johann war einer davon, den sie regelmäßig traf, und der sie über Castings und anstehende Projekte informierte. Er arbeitete als freier Regieassistent und konnte sich vor Angeboten kaum retten. Kennen gelernt hatten sie sich, als er noch Produktionsassistent war. Sie erinnerte sich gerne daran, wie er mit seiner roten Jacke am Ende der für den Dreh abgesperrten Straße stand und auf wütende Autofahrer einredete, die nicht einsehen wollten, dass sie nicht weiterfahren durften. Er blieb freundlich, lächelte, auch wenn er angebrüllt wurde, das konnte sie stundenlang aus dem Cateringbereich verfolgen. Nach ihrem Kurzauftritt als Komparsin in der Spurensicherung einer Krimiserie ging sie zu ihm hin, nur um ihm zu sagen, wie tapfer er sich hielt.

– Beeindruckend, sagte sie.

– Was?

– Wie du die Nasen abwimmelst.

Er strahlte sie an, als hätte es die vergangenen zehn Stunden nicht gegeben, dabei mussten seine Wangen vom ganzen Lächeln schon schmerzen. Mit einer Hand lehnte er auf der Absperrung, und in seinen Augen spiegelte sich das Azurblau des Potsdamer Sommerhimmels, die Pupillen groß wie Centmünzen, nicht mal seine eigentliche Augenfarbe war zu erkennen. So breit war er. Dicht bis unter die Haarwurzeln. Typisch Film.

Genauso blau war der Himmel seit Anfang Juli dieses Jahres, dachte sich Sandra.

Nicht ein Vogel über ihr, keine Schwalbe, die pfeilartig, an ihr vorbeischoss. Es schien, als scheuten Menschen und Tiere gleichermaßen die offene Sonne. Außer, man hatte ein wichtiges Vorsprechen und wollte perfekt aussehen.

Das winzige Aufblitzen der Sonne am Rumpf eines Billigfliegers am Horizont nahm sie als Zeichen, sich wieder ihrem Dialog zu widmen.

Offensichtlich hatte die Tankstellenangestellte mit ihrem Exfreund nicht offiziell Schluss gemacht. Er stellte sie im Tankstellenkiosk zur Rede. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, habe das mit der Liebe noch anders geklungen, meint er, worauf sie sagt „Menschen leben sich auseinander“.

Sie flüsterte die Zeile mehrmals vor sich hin. Dabei betonte sie die Worte stets unterschiedlich und achtete auf ihre Wirkung.

Ein paar Häuser weiter begann jemand, Saxophon oder Trompete zu üben. Welches Instrument genau konnte sie nicht heraushören, dafür erklang die Melodie des Rosaroten Panters zu leise, entfernt und vom Echo der Hinterhöfe verzerrt.

Ein Schatten huschte über die Drehbuchseite und über ihren Körper. Sie hörte ein kurzes Flattern neben sich, ähnlich einer Flagge im Wind.

* * *

War da etwas an seinem Küchenfenster vorbeigefallen? Während das Orchester im Wohnzimmer die erste Sonate schmetterte, überlegte Herr Zimmermann, was es gewesen sein könnte. Er war sich nicht sicher: ein Kissen oder eine Decke vielleicht.

Seine Brille lag gleich neben der Küchenrolle, den Papieren und dem Brief an Leon auf dem weißen Tisch mit den abgerundeten Ecken. Alles akkurat nebeneinander, ordentlich, wie die ganze Küche, wie die Wohnung insgesamt.

Heute Vormittag hatte er in aller Ruhe seinen Frühstücksteller, das Buttermesser und die Kaffeetasse gespült, abgetrocknet und in die Schränke eingeräumt. Danach hatte er den Herd gesäubert, die braunen Fettkrusten abgekratzt, erst im Ofen, dann oben um die Kochplatten herum und schließlich poliert, bis es glänzte. Als er mit der Küche fertig war, zog er sich um. Hemd, Hose, Unterhose, alles ab in den beigefarbenen Korb mit der dreckigen Wäsche. Klatschnass war das Zeug, durchgeschwitzt vor Anstrengung.

Gestern war das nicht anders gewesen. Da hatte er die Toilette sauber gemacht und das Wohnzimmer aufgeräumt, das ihm mit der Ausziehcouch gleichzeitig als Schlafzimmer diente. Jeden Abend und jeden Morgen das gleiche Ritual: Drei Handgriffe, die bei der räumlichen Enge seiner kleinen Wohnung nötig waren, wollte er sich einigermaßen frei bewegen.

Hatte Frau Lafayette, die junge Frau, die über ihm wohnte, etwas aus dem Fenster geschmissen? Oder war ihr etwas heruntergefallen? Dafür war es eigentlich zu groß gewesen. Eine Decke konnte es gewesen sein, eine hellbraune Decke, wenn er so recht überlegte. Aber es war sehr heiß und das schon den ganzen Sommer. Wer holt bei den Temperaturen eine Decke hervor? Oder hatte Frau Lafayette sie gewaschen und zum Trocknen in das Fenster gehangen? Das konnte durchaus sein.

Beim ersten Treffen im Innenhof an ihrem Einzugstag bewunderte er ihr Haar, normal hatte er dafür gar keinen Blick, aber ihre blonden Haare wellten sich voll und lang, würdig einem Engel.

Er bereute, seine Brille gerade nicht getragen zu haben. Dann hätte er den Gegenstand erkannt. Im Grunde genommen hätte er die Brille genauso gut tragen können. Warum eigentlich nicht?

Herr Zimmermann stützte sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf der Lehne ab und stieg von dem weiß lackierten Holzstuhl herunter. Das Möbelstück ächzte unter seiner Last.

Er stöhnte auf, als der stechende Schmerz durch sein linkes Knie zuckte. Das kam von dem Unfall damals. Seitdem schmerzte das Gelenk, wenn er es belastete. Er musste an seinen Sohn denken. Wenn der ihn so sehen würde, wie er von seinem Stuhl steigt, wie ein alter Mann, sein Alter.

Leon wäre, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, einfach von dem Stuhl gesprungen. Vor einer Woche war er achtzehn geworden, volljährig. Herr Zimmermann hatte ihm eine Karte geschrieben und 100 Euro hineingelegt. Nie hatte er seinen Geburtstag vergessen, obwohl er ihn seit zehn Jahren nicht gesehen hat. Dabei wohnte er auch in Berlin. Für alle Menschen schien Patchwork zu funktionieren, nur nicht bei seiner eigenen Familie.

Er wusste, dass Leon für die Füchse in der zweiten Mannschaft Handball spielte. Das hatte ihm Gabriele gesagt, als sie vor einem Jahr das letzte Mal telefoniert hatten, wegen der Unregelmäßigkeiten bei den Unterhaltszahlungen.

Ein paar Monate zuvor war Töfte Pleite gegangen, und die Aufträge blieben aus. Als freier Mitarbeiter hatte er das Computersystem der Firma betreut. Er fragte bei über fünfzig Firmen nach, bot sich auf einschlägigen Portalen und bei Agenturen für Freelancer in seinem Berufsfeld als Systemadministrator an, doch seine Akquise blieb erfolglos. Nicht eine Antwort erhielt er, nicht mal eine Absage.

Zu alt, dachte er sich, dabei war er einer der ersten Programmierer gewesen, aber irgendwann hatte er den Anschluss verpasst. Mit den neuen Programmiersprachen kannte er sich nicht aus. Als er bei einer Agentur nachfragte, bekam er zu hören, seine Qualifikationen würden den Anforderungen des modernen Marktes nicht mehr gerecht.

Bald schwanden seine Ersparnisse für die Bewerbungsunterlagen, einen Monat doppelte Miete und den Umzug in diese kleine Wohnung mit Küche, Bad und einem Zimmer. Die Alte mit dem Home-Office und dem Balkon konnte er unmöglich halten, das hatte er erst verdrängt, und schließlich verzweifelt eine Günstige gesucht. Arbeitslos konnte er sich nicht melden, weil er als Selbstständiger nicht eingezahlt hatte. Also direkt Hartz IV.

Er strich sich seinen Anzug glatt. Auch den hatte er sich von seinen Ersparnissen geleistet, für die Bewerbungsgespräche, die dann nicht kamen. Herr Zimmermann räusperte sich, nahm die Brille an ihrem Bügel mit zwei Fingern von dem Küchentisch und setzte sie auf. Das weiße Hemd klebte an seinem Rücken, er schwitzte schon wieder, er schwitzte seit Wochen, Monaten. Mit dem Zeigefinger lockerte er seinen Schlips, riss ein Blatt von der Küchenrolle und trocknete sein Gesicht ab.

Nachdem er die Fenster vorhin geschlossen hatte, war es stickig in seiner Wohnung geworden. Keine Spur mehr von dem Zitrusduft des Reinigungsmittels von heute Morgen.

Der Mülleimer gähnte ihn an, sobald er die Türe unter der Spüle aufzog. Eine einfache Mechanik, unkompliziert, und so praktisch, dass er sich dafür begeistern konnte. Er schmiss das feuchte Papiertuch hinein. Beim Schließen glitt ihm die Türe aus der Hand, und sie knallte laut zu, wie ein Schuss.

Er rieb sich den Bauch, der den Stoff seines weißen Hemdes spannte. Die Currywurst mit den Pommes und die Cola von heute Mittag lagen ihm schwer im Magen. Sonst aß er zuhause, heute hatte er etwas Besonderes gewollt, und die Currywurstsauce bei Madame Curry war etwas Besonderes. Ein Mal im Monat gönnte er sich ein Essen bei der redseligen Berlinerin ein paar Straßen weiter, möglichst zu einem speziellen Anlass. Dann konnte er kauend, mit vollem Mund nicken und mit der Gabel bestätigend auf sie zeigen und jeder ihrer Geschichten zustimmen, sei es über ihre Exmänner, Politik, die Hertha, die Jugend oder ihre Jugend.

Die Sohlen seiner Lederschuhe quietschten auf dem Linoleumboden. Mit einem Ruck an dem alten Eisenhebel öffnete er das Fenster mit seinem Rahmen aus abblätternder Farbe. Noch bevor er herausschaute, hörte er die Schreie der jungen Frau.

Keine Decke, dachte er, das war keine hellbraune Decke gewesen.

* * *

Lydia drehte mit ihrem Fahrrad Runde um Runde auf dem Hinterhof, immer um die braune Insel, einem vier mal vier Meter großen Beet, das ursprünglich für Blumen gedacht war, aber seit Jahren nur Unkraut und ungemähtes Gras beherbergte. Die Hitzewelle hatte die Pflanzen ausgetrocknet und braun werden lassen, es sah aus wie ein zurückgelassener und aufgeplatzter Heuballen im Herbst. Der hagere Baum in der einen Ecke des Beetes hatte vor ein paar Jahren nach einigen Metern vergessen, weiter zu wachsen und im Frühling grüne Blätter zu tragen. Seine nackten Äste räkelten sich wie die gichtkranken Finger eines Weisen zu allen Seiten.

Lydia schaute nicht, wo sie hinfuhr, sie hatte sich weit heruntergebeugt und hielt den Lenker mit einer Hand. Die andere lag auf dem Schienbein, dort wo der Stutzen endete und die abgerissene Army-Cargo-Hose begann, während ihr Kopf so nah wie möglich vor der Fahrradkette schwebte, um zu prüfen, ob sie ein weiteres Glied herausnehmen sollte. Dabei kamen ihre fingerdicken Rastazöpfe sowohl der Kette als auch dem Boden gefährlich nahe.

Von den Speichen ging keine Gefahr aus, im Frühling hatte sie vorne und hinten Sportfelgen mit jeweils acht verstärkten Aluspeichen montiert, wodurch das Rad stabiler wurde und durch die verbesserte Aerodynamik weniger Luftwiderstand bot. Die unebenen, von Wurzeln angehobenen und von der eisigen Kälte harter Winter gesprengten Steinplatten des Innenhofes erschwerten Lydias Aufgabe. Schweißperlen rannen quer über ihr Gesicht.

Zweimal war ihr heute bei der Arbeit die Kette abgesprungen, und das musste einen Grund haben. Sie hatte dadurch viel Zeit verloren, Zeit, die man als Fahrradkurierin nicht hat.

Sie war mit neunzehn nach Berlin gezogen, um ihr Fachabitur zu machen, obwohl ihre Mutter zu dem Zeitpunkt sehr krank war. Aber Max, ihr älterer Bruder, blieb daheim in Schwabach und war für ihre Mutter da gewesen. Max warf ihr damals vor, nur vor der Verantwortung nach Berlin zu fliehen. Er glaubte ihr bis heute nicht, und sie sich eigentlich auch nicht. Zweifel schlichen sich ein in den letzten Jahren nach dem Tod ihrer Mutter.

Das mit dem Fachabi war nicht ihr Ding gewesen, zu sehr hatte sie sich dem aufregenden Leben der Großstadt bei Nacht hingegeben. Sie hatte in WGs gewohnt, in Kneipen gejobbt und seit drei Jahren fuhr sie als Fahrradkurierin. Sie schätzte die Unabhängigkeit, sich von Woche zu Woche die Arbeitszeiten mehr oder weniger selber aussuchen zu können und keinen Chef zu haben, der einem laufend über die Schulter guckte.

Ein Exfreund von ihr arbeitete als Fahrradkurier, durch ihn wusste sie, was auf sie zukam. Sport mochte sie schon immer, von der E-Jugend an spielte sie im Fußballverein, rechte Außenverteidigerin, bis sie nach Berlin ging. Und seit gut einem halben Jahr wohnte sie alleine in dieser Wohnung, mit Fernando, ihrem Hund, einem Border-Collie, der es ebenfalls genoss, neben ihrem Rad herzulaufen, wenn sie weite Touren durch den Treptower Park unternahm. Ihr alter Vermieter hasste Hunde, und auf Dauer stresste sie das, also zog sie aus.

Sobald sie mit ihrem Bike fertig war, würde sie Fernando holen. Er hatte gejault, weil er ihr Fahrrad durch die offenen Fenster am Klang erkannte. Ihr Zurufen hatte ihn beruhigt.

Nichts klapperte an ihrem Bike, alles überflüssige Gewicht hatte sie nach und nach abmontiert und den Rest festgeschraubt. Das Rad war bereits in einem guten Zustand, als sie es gebraucht von einem anderen Fahrradkurier gekauft hatte, aber sie wollte weiteres Gewicht sparen. Leichtigkeit zeichnete ein gutes Kurierbike aus. Dazu war ihres gesetzlich verboten, ohne jegliche Bremsen, mit nur einem Gang, ein Eingangrad, ein sogenanntes Fixie. Daher trug sie stets ihre DocMartin-Stiefel, deren linke Hacke abgebremst und mehrfach geflickt war, weil sie nicht jedes Abbremsen durch das bloße Kontern der sich mitdrehenden Pedalen schaffte.

Sie konzentrierte sich auf das Schnurren ihrer gut geölten Kette. Das Zwitschern des Kanarienvogels aus dem zweiten Stock und die Tischtennis spielenden Teens an der steinernen Platte mit dem Metallnetz traten in den Hintergrund.

Weder das Mädchen noch der Junge waren besonders gut, aber sie hatten ihren Spaß. Ihr Lachen und das Geräusch des Balles hallten von den Wänden der Gebäude wider. Ansonsten hörte man im Hinterhof nichts von Berlin. So konnte der Innenhof genauso gut mitten in Mecklenburg-Vorpommern oder in Barcelona liegen.

Tief herabgebeugt musste Lydia aus den Augenwinkeln mit ansehen, wie der Körper drei Meter entfernt von ihr auf der braunen Insel einschlug. Durch die Wucht und die Bodenbeschaffenheit sprang er von der trockenen Grasmatte hoch, bevor er endgültig liegen blieb.

Mehr konnte Lydia in dieser Sekunde nicht erkennen. Blitzschnell richtete sie sich auf, rutschte von der Pedale und verriss den Lenker. Alle Versuche, sich zu fangen, schlugen fehl, und sie prallte gegen einen der Müllcontainer, die an der Wand neben dem Hofeingang standen, und in denen die Essenreste von Fischgerichten seit Tagen gärten. Gekonnt schwang sie sich von ihrem Fahrrad und kam nach einem Ausfallschritt mit dem Rücken am Container zu stehen. Gleichzeitig hielt sie mit einer Hand den Lenker fest, damit das Bike nicht hinfiel.

Sie hörte ihren Atem und starrte auf das Beet. Die Äste des Baumes zitterten, als schüttelte er sich vor Kälte und Angst. Der Mann musste die verkrüppelte Krone gestreift haben. Es war ein Mann, für einen Moment hatte sie einen langen Bart gesehen.

Weiter konnte sie nichts erkennen, zu hoch wucherte das Unkraut, deren Spitzen höher standen als der flache Körper. Sie konnte nur erkennen, dass dort wirklich jemand lag. Er lag dort einfach auf dem Bauch, still, die Arme abgespreizt, die Beine ausgestreckt, in einer hellbraunen Kleidung, die ihn auf dem Beet beinahe unsichtbar machte. Seine langen grauen Haare wirr zerzaust.

Lydias Magen verkrampfte, ihre Lunge zog sich zusammen, Blut schoss rhythmisch durch ihren Kopf, als versuchte das Herz ihn aufzupumpen. Die Fassadenwände mit ihrem abgeplatzten Putz schoben sich auf sie zu.

Neben der Tischtennisplatte titschte der kleine weiße Ball über den Boden. Es hatte den Anschein, als würde der Ball jedes Mal zu lange in der Luft stehen, bevor er wieder sein klackendes Geräusch auf den Steinplatten hinterließ. Eine Verzögerung wie bei einer Zeitlupe.

Klack.

Die roten Flächen der Tischtennisschläger schwebten sinnlos über der Platte.

Klack.

Die Jugendlichen starrten auf das Beet.

Klack.

* * *

Keiner der beiden hatte in den letzten Jahren Tischtennis gespielt, und keiner der beiden hatte daran gedacht, es bald zu tun. Die Entscheidung dazu fällten sie spontan gemeinsam vor einer guten Stunde. Dementsprechend spielten sie schlecht aber mit mehr Spaß, als Chris es erwartet hatte, und der Nachmittag verging fast so schnell wie eine Nacht.

Es stand 164 zu 155 für ihn, und Chris meinte, er würde nur so knapp führen, weil er gegen die Sonne spielen müsse, die sich in den Fensterscheiben spiegelte, worauf Jenny protestierte, das gelte nicht, schließlich kämpfte sie mit dem gleichen Problem.

Seine Freundin stopfte sich den großen Bissen Choko Crunch in den Mund und warf die leere Packung neben die Tischtennisplatte, da zuckte sie zusammen und kniff ihre Augen zu.

Im gleichen Moment hörte Chris schräg hinter sich einen dumpfen Rumms. Aller Spaß verschwand aus Jennys Gesicht. Den letzten Ball spielte sie nicht mehr zurück, der kleine weiße Ball flog ins Leere.

Sein Kopf wirbelte herum. Jemand lag mit dem Gesicht nach unten mitten in der braunen Miniwiese.

Klack.

Auf der anderen Seite der Tischtennisplatte schnitt Jenny eine angeekelte Grimasse, während sie vorsichtig ihre Augen öffnete.

Klack.

Die Fahrradkurierin donnerte gegen den Container, sprang vom Rad und konnte sich gerade noch abfangen, um einen Sturz zu verhindern. Von dem Körper am Boden schaute sie zu ihm herüber.

Klack.

Was war passiert? Wie kam der Mann da hin?

In diesem Augenblick schrie Jenny los, einen hellen, spitzen Schrei, den er von ihr noch nicht gehört hatte, den er außer in Filmen noch nie von jemandem gehört hatte. Das war laut, zu laut. Er legte den Tischtennisschläger auf die Platte, war mit zwei großen Schritten bei ihr und schüttelte sie.

– Hey, hey, hör auf.

Sie stoppte tatsächlich, und er war froh, dass es nicht mehr bedurfte, als sie zu schütteln. Er hätte nicht gewusst, was er sonst hätte machen sollen.

Sie stammelte, – Er ist gefallen.

Der Tischtennisball rollte über den unebenen Boden zum Hofeingang.

– Was meinst du?

– Na, gefallen.

Ihr Kopf und ihre Augen beschrieben eine senkrechte Flugbahn von oben nach unten. Sie ließ den Tischtennisschläger aus ihrer Hand gleiten. Knapp vor den mit Edding bemalten Schuhspitzen ihrer roten Chucks kam er mit der Kante auf und blieb liegen.

Chris dachte nicht daran, ihn aufzuheben.

Mit der freien Hand zeigte sie Richtung Dach und von dort auf den Körper.

– Er?, fragte Chris, – Es ist ein Mann? Ich kann von hier nicht sehen, ob es ein Mann ist.

– Ich hab es gesehen.

Er war sich nicht sicher, ob er nachhaken sollte, aber er war neugierig, vom Geschehen gleichzeitig abgestoßen und fasziniert.

– Du meinst, er ist gesprungen?, fragte er.

– Nein, sagte sie, – Ich glaube nicht, nein, nicht gesprungen. Von da an habe ich ihn nur gesehen.

Ihr Arm beschrieb die Flugbahn, den senkrechten Sturz. Dann riss sie sich von ihm los, drehte sich um, stolperte zum Holunderbusch und erbrach sich.

Chris roch Räucherstäbchen und Schweiß. Die Fahrradkurierin stand neben ihm.

– Hat deine Freundin was gesehen?, fragte sie und schaute ihn eindringlich mit ihren großen braunen Augen an. Die linke Braue war gepierct, und ein kleiner Stecker im Nasenflügel. Schwer hoben sich ihre Brüste in dem grauen Tanktop.

Sofort wandte er seinen Blick ab, er fühlte sich erwischt, und das hatte sie ihn vermutlich auch, so wie sie mit ihren Augen rollte.

– Weiß nicht, sagte er.

Jenny stützte sich an der Hauswand ab und ließ den Kopf hängen, spuckte aus, schnäuzte sich die Nase.

Er strich sich mit den Fingern durch sein Haar. Seine Hände zitterten. Das sind die Nerven, dachte er, so fühlt sich das an.

Scheppernd fiel das Rad um.

– Shit, fluchte sie, unternahm aber nichts weiter, als sich umzudrehen, und wieder hüllte ein Schwall ihres Geruchs ihn ein.

Sie könnte wirklich gut aussehen, fand er. Warum lassen sich manche Frauen so gehen, sobald sie älter sind? Er schätzte sie auf Mitte 20. Konnte gut sein, dass sie älter aussah, als sie war.

– Hallo!, rief sie ohne Vorwarnung Richtung Hofmitte.

Chris erschrak, Jenny drehte sich ruckartig um.

Sie schauten gebannt zu dem Körper. Über ihnen trällerte der Kanarienvogel seine Melodie.

– Ich glaube nicht ..., begann Chris, ohne ernste Absicht, den Satz zu beenden. Er glaubte nicht, dass der Mann noch lebte.

– Nein, hauchte Jenny. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Das kannte er von den Abenden, wenn er zu viel gesoffen hatte und sich übergeben musste. Doch ihre Tränen stammten von einem anderen Gefühl, und er wünschte, ihm würden die richtigen Worte einfallen, aber sein Kopf fühlte sich seltsam leer an, und so hielt er einfach ihre Hand. Seine war so kalt wie ihre.

– Scheiße, jemand muss zu ihm hin, sprach die Kurierin laut ihre Gedanken aus und setzte sich in Bewegung, vorsichtig, als müsste sie das Gehen erst lernen.

Durch ihre Rastazöpfe schimmerte eine Inka Sonne auf ihrem Schulterblatt, angeschnitten von dem Träger des Tanktops. Auch ihre Waden, die zwischen DocMartins und Cargos herausschauten, zierten Tätowierungen, Tribals. Über die Form ihres Hinterns konnte er nur spekulieren, die weite Hose ließ kein Urteil zu.

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu, – Ihr bleibt da.

Die beiden nickten. Für gewöhnlich würde Chris bei so einem Spruch erst recht hingehen, aber er konnte auf den Anblick verzichten.

– Klar?, fragte sie.

– Klar, ich hab doch genickt. Was soll ich mehr als nicken?

Die Haustüre wurde aufgerissen. Außer Atem marschierte ein bierbäuchiger älterer Herr in einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte auf die kleine Wiese zu. Er sah aus, als hätte er sich extra für den Anlass angezogen.

* * *

Herr Zimmermann lief geradewegs auf den Körper zu. Die junge Frau mit den langen Haaren hatte offensichtlich das Gleiche vor.

Er hob die Hand, um sie davon abzuhalten, – Tun Sie sich das nicht an. Ich mach schon.

Sie schloss kurz die Augen, sichtlich erleichtert.

Herr Zimmermann bemerkte ihren Geruch nach Räucherstäbchen, der sich mit einer Böe vergammelten Fischs von den Containern vermischte.

Die beiden Teenager standen eng beisammen, das Mädchen hielt sich die Fingerspitzen ihrer freien Hand vor den Mund. Sie hatte geschrien, das hatte er noch vom Fenster gesehen.

Links von ihm klickte etwas leise auf die trockenen Blätter der Büsche und auf die aschgraue Erde, aber, als er sich umdrehte, sah er nichts und ging auf das Beet mit dem Mann zu.

Bevor er den leblosen Körper erreichte, verlangsamte er seinen Schritt. Die letzten Meter schlich er sich an, als handelte es sich bei dem Mann um ein scheues Tier, das es galt, nicht zu verscheuchen. Er stieg über das Mäuerchen, das so hoch war wie eine Stufe und doppelt so breit. Innen schloss es mit der Grasnabe ab. Ausgetrocknete Halme knisterten unter seinem Gewicht. Insekten flogen auf. Es summte, brummte und schwirrte penetrant.

Er wischte sich mit dem Ärmel über sein Gesicht, während er sich dem Toten näherte.

War das eine Frau oder ein Mann? Weder die schmächtige Figur noch die Hände oder die schmalen Beine, die zwischen dem Ende der Robe, deren grob gewebter Stoff an Jute erinnerte, und den knöchelhohen Lederschuhen hervorschauten, ließen eine klare Einschätzung zu.

Die Beine lagen aneinander, die Fußspitzen hatten sich in den Boden gebohrt, wie der ganze Körper in seiner gesamten Tiefe.

Die Robe war hellbraun, makellos, kein Fleck, kein Blut, langärmlich, ohne Gürtel. Der Kopf war vollkommen verdeckt von wirren, langen, grauen Haaren, und links davon ragte ein zotteliger Bart heraus. Ein Mann also.

Wie er so da lag, hinterließ er bei Herrn Zimmermann nicht den Eindruck, er wäre auch nur verletzt. Es hatte den Anschein, als läge er tief eingesunken in einem weichen Bett aus Stroh.

Was sollte er jetzt tun? Anfassen wollte er ihn nicht. Natürlich nicht.

– Sie?, fragte er und räusperte sich, weil er einen Frosch im Hals hatte.

Er wartete auf eine Reaktion, eine Bewegung, ein Wort. Aber nur der Kanarienvogel drängte sich mit seinem Gesang in sein Bewusstsein.

– Und?, fragte die junge Frau aus sicherer Entfernung. Sie kramte in der Seitentasche ihrer kurzen Militärhose.

– Ich weiß nicht, sagte Herr Zimmermann mehr zu sich und bückte sich herunter zu dem Körper. Augenblicklich fluchte er und musste seinen Stand korrigieren, weil der Schmerz vom Knie bis in seinen Nacken schoss.

– Ist was?, fragte sie.

– Nein ... Mein ... Nein.

Er beugte sich vor, – Hallo, hören Sie mich?

Herr Zimmermann zog in Erwägung ihn anzustupsen, entweder an der Schulter oder am Rücken, aber der Gedanke daran, dass sich unter der Haut nur ein Haufen gebrochener Knochen und geplatzter Organe befinden könnte, hielten ihn davon ab.

– Der hat es hinter sich, flüsterte Herr Zimmermann. Dann drehte er sich um und sagte, – Ich kann nicht ...

Aber er unterbrach sich selbst, weil die junge Frau ausgerechnet jetzt meinte, telefonieren zu müssen.

Durfte das wahr sein? Hatte die Jugend nichts anderes im Kopf?

– Wen rufen Sie denn jetzt an?, platzte es aus ihm heraus.

Seine Empörung schüchterte sie ein, sie brauchte eine Sekunde für ihre Antwort. Richtig so.

– Lydia, angenehm.

Hatte sie ihn nicht verstanden? Was sollte das jetzt?

– Was?, fragte er.

– Lydia, heiße ich. Sie brauchen mich nicht zu siezen.

Meinetwegen, dachte er sich, wenn ihr das wichtig war, – Wen rufen Sie denn ...?

– Den Pizzadienst, möchten sie auch eine? Wen, glauben Sie, rufe ich an? Ich rufe einen Krankenwagen!

Das Gelächter des Jungen hallte im Innenhof wider, erst versuchte er, es zu unterdrücken, doch es wurde lauter und lauter, und seine Freundin fiel mit ein.

Wenn er die beiden ansah, erkannte er die Kinder in ihnen, die sie noch waren, junge Menschen, der Situation nicht gewachsen, überfordert, und dadurch reagierten sie unangemessen. Diese Entschuldigung ließ er für sie gelten.

– Und wie heißt ihr?, fragte er sie.

– Chris, Jenny, sagte er glucksend.

– Was ist denn heute da unten los?, rief Frau Wächter vom zweiten Stock mit der brüchigen Stimme einer über Achtzigjährigen.

Alle schauten hoch zu ihr, das Gelächter verstummte.

Wie immer, wenn sie im Fenster stand, hatte sie ihre Arme verschränkt und die Ellbogen auf dem Fensterbrett gestützt. Neben ihr hing der Käfig mit dem Kanarienvogel an einem geschwungenen Ständer. Er zwitscherte ununterbrochen weiter, als wäre nichts geschehen.

Geräuschvoll sog sie die Luft ein und schlug beide Hände vor den Mund, als sie den Toten entdeckte, – Oh, mein Gott, oh Gott.

Und während eine Hand an ihrer Wange klebte, bekreuzigte sie sich mit der anderen mehrmals.

Herr Zimmermann bemerkte, wie er mit seinem Daumen auf den Toten zeigte. Er senkte seinen Arm wieder.

Gott, ja, so wie der gekleidet ist, dachte er sich und schaute in den von Dachsimsen eingerahmten hellbraunen Himmel. Ein viereckiger Horizont.

Die Haustüre wurde aufgezogen, und Frau Lafayette aus dem Stock über ihm erschien. Ihr kurzer knatschgelber Rock und das bauchfreie Oberteil betonten ihren gesunden Teint. Wie eine Blumenblüte in der Ritze einer Fabrikmauer stand sie da, außer Atem sagte sie, – Was ist los? Ich habe einen Schrei gehört.

An beide Frauen gerichtet, sagte Herr Zimmermann, – Er ist vom Dach gesprungen.

Frau Wächter verzog sich mit einem Schluchzer in ihre Wohnung.

– Nein, bestimmt nicht, sagte S. Lafayette. So stand es auf ihrem Türklingelschild, ihren Vornamen kannte er nicht. Noch nie hatten sie miteinander geredet. Welchen Grund hätten sie auch gehabt?

Sie drehte sich weg vom Beet.

– Nicht? Woher wollen Sie das wissen?, fragte Herr Zimmermann sie.

Sie sprach in das Haus hinein, aus dem Flur hallte es zurück, – Weil ... Ich war oben auf dem Dach. Da war niemand außer mir.

Sie zwang sich, nicht zu dem Toten zu schauen.

– Auf dem Dach?

– Ja.

– Was wollten Sie auf dem Dach?

Sie drehte sich um, zuckte mit den Schultern.

– Was wollten Sie auf dem Dach?, wiederholte sich Herr Zimmermann, als hätte er ihre Geste absichtlich übersehen oder ignoriert.

– Das geht Sie eigentlich nichts an, sagte sie.

– Was?

– Wie ich schon sagte ... Ach, was soll‘s. Ich habe mich gesonnt.

– Gesonnt?

– Ja.

– Wer sonnt sich denn bei 40 Grad im Schatten?

Um sich aufzurichten, verlagerte er sein ganzes Gewicht auf das gesunde Bein.

– Ich.

– Seit Wochen geht kein Mensch mehr in die Sonne, der nicht muss. Und Sie ... Haben sich da oben auf das Dach gestellt?

– Ich habe eine Liege mit hochgenommen, wie auch immer, sagte sie und deutete auf den Toten, – Gesprungen ist der nicht, jedenfalls nicht vom Dach. Ich hätte ihn gesehen.

Das brachte Herr Zimmerman aus dem Konzept.

– Kennen Sie ihn?, fragte er sie.

– Nein, Sie?

– Nein. Irgendjemand?, fragte er die Runde, – Kennt jemand diesen Mann?

Alle schüttelten die Köpfe.

– Hat den irgendwann einer irgendwo im Haus schon einmal gesehen?

Alle kamen näher. Lydia presste das Handy ans Ohr und konnte ihren Blick nicht von den Toten abwenden. Der Junge guckte abwechselnd hin und wieder weg, während das Mädchen erst kurz vor ihm aufschaute, um sofort ihre bemalten Schuhspitzen mit gesenktem Kopf zu inspizieren.

Keiner kannte den Mann.

Herr Zimmermanns Blick blieb am Handy haften, – Was ist jetzt mit dem Krankenwagen?

– Warteschleife.

– Haben Sie die 112 gewählt?

– Nee, eine 0800-Nummer.

Die beiden Teenager kicherten wieder los.

– Ist das hier so witzig? Hier liegt jemand, der sich das Leben genommen hat, Herr Zimmermanns Stimme wurde lauter, als ihm lieb war.

– Nein, sagte der Junge.

– Hat er nicht? Hat er sich nicht das Leben genommen?

– Nein, ich meine nein, das ist nicht witzig. Das hatten Sie doch gefragt.

S. Lafayette kam näher, – Gesprungen ist er nicht, auf keinen Fall.

Bevor Herr Zimmermann darauf etwas sagen konnte, fuhr sie fort, – Das sind locker acht bis neun Meter von der Hauswand, vom Ende des Daches, bis dahin. Einen alten Mann mit langen Haaren in dem Gewand hätte ich bemerkt, wenn der da oben an mir vorbeigelaufen wäre. Und so weit springt kaum ein gesunder Mann im besten Alter.

– Was ist jetzt mit dem Krankenwagen?, hakte Herr Zimmermann ungeduldig nach.

– Wir bitten Sie um etwas Geduld, die Leitungen sind zurzeit alle belegt, imitierte Lydia die Computerstimme am anderen Ende.

– Das gibt es doch nicht. Das kann ich gar nicht glauben.

– Ich schon, ein Freund von mir, auch Fahrradkurier, musste am Montag ins Krankenhaus, weil ihm ein Arsch die Vorfahrt genommen hat. Sein kleiner Finger war gebrochen, nur, da hat er noch Glück gehabt. Sechs Stunden haben die ihn warten lassen, weil dauernd Leute mit Kreislaufkollaps, Gehirnschlägen und Herzattacken eingeliefert wurden. Das Wetter, die Hitze.

– Sechs Stunden, staunte der Junge und begutachtete seinen kleinen Finger, als stünde ihm die gleiche Tortur bevor.

Sie hielt das Handy vorwurfsvoll mit dem ausgestreckten Arm vor sich, als wolle sie den anderen zeigen, dass es kaputt ist, – Das bringt nichts. Da geht keiner ran.

– Das gibt’s doch gar nicht, da muss doch einer drangehen, sagte Herr Zimmermann.

– Scheinbar nicht.

– Die müssen doch ... eine Hotline haben, mit Anrufbeantworter.

– Und was soll da zu hören sein? Wir rufen Sie zurück, sobald Sie verblutet sind.

– Sie ... du glaubst, sehr witzig zu sein.

– Das glauben andere auch.

Er verstand ihre Gedanken nicht. Als gehörte sie einer fremden Spezies an. Er überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, entschied sich dagegen und richtete seine Wut gegen die Institutionen, die mal wieder nicht auf Extremsituationen zu reagieren wussten, – Wie stellen die sich das denn vor, da im Krankenhaus, in der Notfallaufnahme?

– Was meinen Sie, wie viele Anrufe die bekommen. Die setzen nicht umsonst seit vier Wochen Militärkrankenwagen ein, das THW, das Rote Kreuz ..., sagte Lydia.

– Wozu, wenn man keinen erreicht? Da brauchen die eher weniger!

– Der war auch gut, sagte der Teenager leise und schluckte ein Lächeln hinunter, als Herr Zimmermann ihn ansah.

– Vielleicht kommen die schneller, wenn die von der Polizei gerufen werden, weil etwas Ernstes passiert ist. Sie haben doch ihren Spezialfunk, sagte die Fahrradkurierin.

– Glaube ich nicht, sagte Lafayette.

– Warum nicht?

– Also rufen wir die Polizei an, schlug Herr Zimmermann vor, und er hatte seinen Gedanken nicht ganz ausgesprochen, da wünschte er, er wäre nicht so voreilig gewesen.

Angenommen, die Polizei würde kommen, dann würden sie eine Menge Fragen stellen, wer was gesehen hatte. Würden Sie die Fragen hier im Hof stellen, oder würden Sie jeden bei sich in der Wohnung befragen? Wahrscheinlich Letzteres. In dem Fall sollte er besser noch vorher bei sich aufräumen.

Sein Vorschlag wurde verhalten mit Nicken und beinahe gleichgültigem Schulterzucken aufgenommen. Das klang wohl für jeden ganz logisch. Jegliche Art von Euphorie blieb aus. Wahrscheinlich hatten die anderen gerade die gleiche Idee gehabt, und er hatte sie nur schneller ausgesprochen.

– Da probiert jetzt aber mal wer anderes, sagte die junge Frau und steckte ihr Handy weg.

– Ich habe meines nicht dabei, sagte Lafayette, klopfte sich gegen den Rock mit der kleinen ausgebeulten Tasche, die wohl kein Handy enthielt, und zeigte entschuldigend ihre Hände, als könnte sie darin eines verstecken.

Herr Zimmermann bemerkte ihre langen, schmalen Finger.

– Du hast dein Telefon doch gerade in der Hand gehabt, sagte Herr Zimmermann zu Lydia.

– Ich hab's nicht so mit denen, antwortete sie.

– Mit denen? Mit der Polizei?, wunderte sich Herr Zimmermann.

– Genau.

– Wieso das denn?, fragte Lafayette.

– Ich mach schon, schaltete sich der Teenager ein und präsentierte ein teures Smartphone, indem er es zwischen Daumen und Mittelfinger drehte, als wäre es ein Colt und er ein Westernheld.

Herr Zimmermann entschuldigte sich, – Ich muss mal eben in meine Wohnung, ich bin gleich wieder da. Vielleicht hat ja auch die Frau Wächter schon angerufen.

Er deutete kurz auf das leere Fenster mit dem singenden Kanarienvogel, weil er wusste, dass die anderen wahrscheinlich nicht ihren Namen kannten.

– Meinen Sie?, fragte der Teenager.

– Kann sein, sag ich nur, kann sein.

* * *

Nachdem Frau Wächter den Mann im Hof hatte liegen sehen, musste sie sich erst einmal setzen. Ihr Blutdruck schnellte besonders steil nach oben, wenn sie sich aufregte, bis zum Risiko einer Ohnmacht. Dabei war die Ohnmacht selbst nicht die Gefahr, sondern der mit ihr einhergehende Sturz und die anschließenden möglichen Verletzungen.

Sie schob den hohen Blutdruck nicht auf ihr Alter, sie kannte diese Momente seit ihrer Jugend, aber in den letzten zehn Jahren war es schlimmer geworden. Sie nahm täglich eine Tablette dagegen, und wenn es sehr schlimm wurde, eine Zweite. Ganz selten griff sie zu dem Spray ihres Mannes. Das hatte ihr der Herr Dr. Kaninski nicht verschreiben wollen.

Erwin saß in seinem Fernsehsessel und schlief. Sein Hagebuttentee dürfte wieder kalt geworden sein. Kein Grund, ihn zu wecken, beschloss sie. Sie würde ihm später von dem Mann erzählen. Ihre Hände zitterten. Zeit für die kleine rote Sprühflasche.

Sie griff mit beiden Händen nach der Tischkante. Das alleine fühlte sich gut an, weil ihre Hände nicht mehr zittern konnten. Mühsam hievte sie sich von der alten Couch hoch. Sie hatten sich die Garnitur samt Sessel und Tisch zu ihrem silbernen Hochzeitstag selber geschenkt. Kinder hatten sie keine. Das hatte nicht sein sollen. Man konnte nicht alles im Leben haben.

Die Polsterung war viel zu weich, immer schon gewesen. Sie saß zu tief für ihre kranken Gelenke in den mattbraunen Kissen, und Frau Wächter murmelte einige Flüche und Verwünschungen, denn sie kam erst im zweiten Versuch hoch.

Mit kleinen Schritten ging sie an Erwin vorbei zum Wohnzimmerschrank und holte die Sprühflasche heraus. Sie zog die weiße Verschlusskappe ab und musste die Augen zusammenkneifen, um erkennen zu können, in welche Richtung die winzige Düse zeigte. Dann legte sie ihren Zeigefinger auf den Druckpunkt, öffnete den Mund und berührte mit ihrer Zunge den Gaumen. Der Sprühstoß kitzelte unter der Zunge, und die Flüssigkeit schmeckte bitter. Speichel lief in ihrem Mund zusammen, und sie musste sich zwingen, die Medizin nicht weg zuwaschen und runter zuschlucken, schließlich sollte sie im Mund über die Schleimhaut aufgenommen werden. So hatte es der Arzt ihrem Mann beschrieben, und so hatte es Erwin ihr erzählt.

Sie stellte das Fläschchen wieder an seinen Platz zurück und schloss die Schranktür. Schon spürte sie die Wirkung des Sprays, irgendetwas mit Nitro. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Das war egal, wichtig war, dass sie sich besser fühlte. Sie lächelte Karlchen an, der in seinem Käfig pfeifend von einer Sprosse auf die nächste hüpfte.

Fünf Minuten sollte das Nitro unter der Zunge einwirken. Sie konnte schon mal in die Küche gehen.

Die Wohnung schien jedes Jahr größer zu werden, das Wohnzimmer, der Flur. Aber sie wusste, es war ihr Körper, der schrumpfte, sich dem Alter beugte. Hinzu kamen die kürzer werdenden Schritte, die sie seit ihrer Kindheit von alten Leuten kannte und die gesamte, immer größer werdende Anstrengung bei jeder Bewegung.

Sie nahm einen Kaffeefilter aus dem Karton, der seit einigen Wochen neben der schwarzen Kaffeemaschine stand, anstatt im Hängeschrank darüber. Der Platz hatte sich als zu hoch erwiesen, sie kam einfach nicht mehr dran. Vier Löffel Schonkaffee auf drei Tassen Wasser.

Der Anschalter leuchtete rot, und bald dampfte und gluckerte die Maschine.

An dem kleinen Esstisch standen die beiden Küchenstühle ihr einladend zugewandt. Sie überlegte, ob sie sich setzen sollte, aber dann hätte sie irgendwann wieder aufstehen müssen. Was war sie früher herumgesprungen, als Kind, als junges Mädchen auf dem Land. Getanzt hatte sie, wie wild, sie lächelte. Ihr Gebiss drückte oben rechts.

Sie holte sich die ausgespülte und umgedrehte Kaffeetasse aus dem Abtropfsieb und stellte sie auf die Ablage. Aus dem Kühlschrank nahm sie die Flasche Frühstücksschnaps, drehte den Verschluss aus dünnem Blech auf und goss sich fingerbreit ein. Sie bemerkte, dass der Kühlschrank nach altem Kühlschrankwasser roch. Bald müsste sie ihn sauber machen. Früher war er stets voll gewesen. Damals hatten sie immer eine Flasche Weißwein kaltgestellt, für Besucher, die angemeldet oder unangemeldet abends vorbeikamen. Freunde, Nachbarn, Kollegen von Erwin von der Arbeit bei der Bahn, eine Flasche Weißwein und etliche Flaschen Bier, die oberste Ablage war ausschließlich für Alkohol reserviert.

Sie kamen schon lange nicht mehr, auch nicht zu Geburtstagen oder anderen Feierlichkeiten. Dabei hatten sie gerne gefeiert, aber ihr Mann und sie hatten alle überlebt. Sie kannte mehr Tote als Lebendige.

Dampf zischte aus der Kaffeemaschine begleitet von einem letzten Röcheln. Sie goss den Kaffee in die Tasse auf den Frühstücksschnaps. So konnte sie ihn gleich trinken, der Kaffee war nicht zu heiß und der Schnaps nicht zu scharf. Und jetzt waren auch die fünf Nitro-Minuten um.

Über den Rand der Tasse fiel ihr Blick auf den Kalenderblock neben dem Türrahmen. Sie hatte ihn seit Tagen nicht abgerissen.

Als sich Gott das Leben nahm

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