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SHERLOCK HOLMES UND DIE PROLETARISCHE REVOLUTION

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Am 16. März 1883 waren wir zu einer vertraulichen Unterredung in die Regent’s Park Road 122 in Primrose Hill geladen. Es ging um einen potenziellen Auftrag, dessen Tragweite wir zwar noch nicht erahnen konnten, der jedoch bald Holmes’ Interesse wecken sollte.

Wir fanden uns im Büro eines Angehörigen einer deutschen Unternehmerfamilie aus Barmen, Rheinpreußen, wieder, die zwischenzeitlich ihre Geschäftstätigkeit auch auf England ausgedehnt hatte. Der ältere Herr mit langem Philosophenbart, der uns nun gegenübersaß, war mir jedoch nicht als Vertreter der Textilindustrie bekannt, sondern – ganz im Gegenteil – als prominenter Kritiker unseres Wirtschaftssystems. Seine frühe Studie zur »Lage der arbeitenden Klasse in England«, obwohl nur teilweise in unserer Sprache vorliegend, war mir während meiner Ausbildung begegnet, lieferte sie doch erste Ansätze zu sozialmedizinischen Überlegungen. Holmes hingegen machte mir bei der Begrüßung nicht gerade den Eindruck, als wüsste er, mit wem er es zu tun hatte.

»Sie müssen wissen«, erklärte ich, an Holmes gewandt, »Mr. Frederick oder eigentlich Friedrich Engels ist ein bekannter Proponent des so genannten wissenschaftlichen Sozialismus, ein Theoretiker des Kommunismus. Sein Werk hat große politische Bedeutung, weit über England hinaus.«

Holmes verzog keine Miene. »Mhm«, brummte er und quittierte meine Darlegung mit einem schlichten Kopfnicken.

»Zu viel der Ehre«, begann nun Engels in professionellem, aber in der Aussprache immer noch recht deutschem Englisch. »Es war vielmehr mein guter Freund Karl Marx, der die Zusammenhänge von Ökonomie und Gesellschaft, von Klassenkampf und Revolution entdeckte und wissenschaftlich begründete. Da habe ich zeitlebens nur die zweite Geige gespielt. Und dies mit aller Demut und Dankbarkeit.«

Mir war freilich nicht entgangen, dass besagter Herr Marx eben erst vor zwei Tagen in seiner Wohnung in der Maitland Park Road verstorben war. Bevor Holmes: »Bitte wer?«, fragen konnte, versicherte ich rasch: »Unsere aufrichtige Anteilnahme zum Tod Ihres Kollegen und Freundes.«

Nun begannen Holmes’ graue Zellen sofort zu arbeiten: »Hegen Sie etwa den Verdacht«, fragte er, »dass Mr. Marx keines natürlichen Todes gestorben ist? Sind wir hier, um ein mögliches Kapitalverbrechen zu untersuchen?«

»Ein Verbrechen liegt wohl vor«, antwortete Engels, »doch bezieht es sich keineswegs auf das unmittelbare Ableben von Herrn Marx. Er war fast die ganze Zeit über hier im Londoner Exil krank, äußerlich und innerlich. Zigarren, Alkohol und rücksichtslose Nachtarbeit, Raubbau an der eigenen Gesundheit taten das Ihrige – nein, es ist äußerst bedauerlich und ein schwerer Schlag für das Proletariat der ganzen Welt, dass Marxens Schaffen allzu früh beendet wurde, aber keine große Überraschung.«

»Die Todesursache gibt also keinerlei Anlass zur Hinterfragung?«, warf ich ein.

Engels schüttelte den Kopf. »Keinesfalls, Dr. Watson«, sagte er. »Magen, Leber, Haut und Lunge waren angegriffen. Diverse Kuraufenthalte – von Karlsbad bis Algier – brachten nur begrenzte oder vorübergehende Linderung. Schlussendlich erlag Marx einer entschiedenen Bronchitis. Dies ist auch im Totenschein vermerkt.«

»Nun, wenn dem so ist«, entgegnete ich, »dann verstehe ich noch nicht so ganz, worin unsere Aufgabe besteht. Welcher Art ist denn das Verbrechen, das Sie unsererseits zu untersuchen wünschen?«

Engels zögerte einige Sekunden und strich sich über den Bart, ehe er antwortete: »Diebstahl. Es handelt sich um einen Diebstahl.«

Es war schon damals ein offenes Geheimnis, dass Karl Marx durchgängig in prekären finanziellen Verhältnissen gelebt hatte, weswegen ihn Engels immer wieder mit erheblichen Geldbeträgen unterstützen musste. Daher erschloss sich mir nicht unmittelbar, welch wertvollen Gegenstand man denn aus seinem Besitz hätte entwenden können. Dementsprechend hakte ich nach:

»Meines Wissens, Herr Engels, beschränkte sich das Eigentum von Herrn Marx auf eher wenige Güter«, meinte ich.

»Ganz recht«, antwortete Engels und tippte sich an die Schläfe. »Sein Reichtum befand sich in seinem Kopf. Seine Gedanken, seine Erkenntnisse sind unbezahlbar. Seine Arbeiten verfügen über mehr Wert als die königlichen Kronjuwelen, die schlussendlich lediglich einen Preis haben.«

Holmes war mit seiner Geduld langsam am Ende: »Werter Herr Engels! Hätten Sie nun endlich die Güte, uns mitzuteilen, was denn in Gottes Namen gestohlen wurde? Es wird ja nicht gerade das Gehirn von Herrn Marx sein, das nun ein Hehler feilbietet…«

Engels legte seine betagte Stirn in Falten. »Verzeihen Sie, Mr. Holmes«, erklärte er, »wenn ich Sie ein wenig auf die Folter gespannt habe und diese Ihre Annahme abermals nicht deutlich verneinen kann. Wie die menschliche Arbeitskraft im Kapitalismus zur Ware wird, so wird es letztendlich auch der menschliche Körper selbst. Und sei es: zur Diebesware. In der Tat ist es der gesamte Leichnam von Karl Marx, der gestohlen wurde.«

Es folgte einer der wenigen Momente, in denen Holmes mit offenem Mund seinem Erstaunen freien Lauf ließ. Ich amüsierte mich innerlich kurz über seine Sprachlosigkeit, durchbrach dann aber das Schweigen.

»Sie wollen also sagen«, fragte ich, »dass der Leichnam verschwunden ist?«

»Ganz recht«, bestätigte Engels. »Er wurde, offenbar in der Nacht auf heute, aus dem Beerdigungsinstitut entwendet.«

»Bemerkenswert«, murmelte Holmes, der sich langsam wieder sammeln konnte. »Wer macht so etwas? Und warum?«

»Nun, meine Herren«, setzte Engels fort, »ich hege die Hoffnung, dass Sie es sein werden, die genau dies herausfinden. Geld spielt keine Rolle – Sie können Ihr Honorar selbst festlegen. Dies zum einen. Zum anderen ist schon für morgen das Begräbnis am Highgate Friedhof angesetzt. Gäste vom Kontinent sind bereits angereist. Es wäre doch einigermaßen unwürdig, wenn wir uns von einem leeren Sarg verabschieden müssten. Insofern gebührt meines Erachtens der Wiederbeschaffung der sterblichen Überreste eine gewisse Priorität.«

»Selbstverständlich«, antwortete ich. »Wenn wir allerdings den Leichnam finden, so führt uns das ohnehin gewiss auch zum Täter.«

Holmes nickte zur Bestätigung, machte dabei aber immer noch ein leicht verträumtes Gesicht, denn der Diebstahl einer prominenten Leiche war ein Fall ganz nach seinem Geschmack: bizarr, mysteriös und mutmaßlich kompliziert.

»Bevor Sie jedoch zur Tat schreiten«, sagte Engels nachdrücklich, wofür er sich auch von seinem Stuhl erhob, »hätte ich noch ein wichtige Bitte. Das Begräbnis von Karl Marx und sein Andenken sind von immenser Bedeutung für die proletarische und sozialistische Bewegung auf der ganzen Welt. Ich möchte Sie daher ersuchen, in dieser Angelegenheit so diskret wie möglich vorzugehen. Die Presse darf davon nichts erfahren.«

»Gewiss, das versteht sich von selbst«, bestätigte Holmes.

Engels hob nun sogar mahnend seinen rechten Zeigefinger: »Da ist noch mehr! Auch die Töchter von Marx, Laura und Eleanor, wissen nichts vom Verschwinden des Leichnams – und so soll es auch bleiben. Die beiden haben binnen kürzester Zeit nicht nur ihren Vater, sondern davor auch schon ihre Mutter und ihre älteste Schwester verloren. Sie sind am Ende ihrer Kräfte. Selbiges gilt für Marxens Haushälterin, Fräulein Helena Demuth.«

»Ich verstehe«, antwortete Holmes. »Da der Leichnam nicht zu Hause verschwunden ist, benötigen wir ohnedies keine Zeugenaussagen. Und als Täterinnen scheiden die drei Damen wohl aus.«

Die letzte, analytisch zweifellos korrekte, aber doch ein wenig unpassende Bemerkung rasch übergehend, brachte ich die Sprache auf den Ausgangspunkt der Ermittlungen: »Wir werden zunächst das Bestattungsinstitut unter die Lupe nehmen, nicht wahr?«

Engels nickte mir zu, nahm eine Visitenkarte vom Schreibtisch und überreichte sie mir: »Bestattung Seelenfried« stand darauf – und eine Adresse in unmittelbarer Nähe des Highgate Friedhofs.

***

Auf der Fahrt nach Camden, wo sich der geradezu monumentale Friedhof auf dem Highgate Hill befand, schwieg Holmes zunächst eine Weile, bis er sich einige Gedanken zurechtgelegt hatte.

Als er endlich aufblickte, fragte ich ihn ungeduldig: »Nun, Holmes, was halten Sie von der Angelegenheit?«

»Offenkundig handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Entführung«, antwortete er. »Eine solche zielt üblicherweise auf die Erpressung eines Lösegeldes ab, weswegen das Opfer hierfür tunlichst lebendig zu sein hat. Ich denke nicht, dass wir es mit einem Erpressungsversuch zu tun haben. Ein entsprechendes Schreiben hätte Herrn Engels ja auch bereits vorliegen müssen…«

Ich wartete einige Sekunden darauf, dass Holmes weitere und vor allem zweckmäßigere Überlegungen mit mir teilen würde, doch dies geschah nicht. Unwillkürlich klatschte ich in die Hände und rief: »Und das ist alles? Holmes, wenn Sie mich zum Narren halten wollen…«

»Keineswegs, mein guter Watson«, unterbrach mich Holmes sofort. »Wir wollen lediglich das Unmögliche ausschließen, so offensichtlich es auch sei.«

Ich war noch nicht besänftigt. »Ja, wenn das so ist«, begann ich, »dann können wir wohl noch weitere Szenarien verbannen. Herr Marx wird wohl auch nicht als proletarischer Messias am dritten Tage auferstanden sein, um in den Himmel, an den er nicht glaubt, aufzusteigen. Ebenso wenig wird er als reanimierter jamaikanischer Voodoo-Zombie durch die Straßen Londons trotten.«

Doch Holmes ließ sich nicht provozieren. »Das wollen wir hoffen – um seiner selbst und seiner hinterbliebenen Töchter Willen«, antwortete er trocken. »Und dennoch hat es jemand für zweckmäßig erachtet, den Körper zu stehlen. Wir können jedenfalls festhalten, dass wir mehrere Täter suchen – ein Mensch alleine hätte die Tat nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchführen können, was im Zuge eines nächtlichen Diebstahls, der rasch, unbemerkt und gut organisiert vonstattengehen muss, wenig hilfreich gewesen wäre.«

Zweifellos ein Punkt für Holmes. Damit lagen in der Tat erste Einschätzungen zu den Umständen des Diebstahls vor. Auch konnten wir davon ausgehen, dass die Tätergruppe planmäßig vorging, womit wiederum feststand, dass wir es tendenziell mit Profis zu tun haben würden – und nicht mit einem unüberlegten, impulsiven Akt, der vielleicht nur auf einem makabren Scherz oder dergleichen beruhte.

Unsere Kutsche erreichte schließlich das Bestattungsinstitut Seelenfried, das sich am südlichen Ende der Swain’s Lane befand, die, teilweise steil bergauf führend, den Friedhof in weiterer Folge in eine ältere West- und jüngere Osthälfte teilt, die lediglich durch einen Tunnel verbunden sind.

***

Das Institut war von überschaubarer Größe. Trotz der zahlreichen Beerdigungen, die täglich am benachbarten Friedhof stattfanden, dürfte das Geschäft eher im bescheidenen Ausmaß erfolgreich sein. Daher empfing uns der Inhaber auch persönlich – weitere Angestellte gab es nicht.

Er stellte sich als Jakob Seelenfried vor, ein schon etwas älterer, aus Prag stammender Jude, der hier in London vornehmlich Immigranten, diese jedoch jeder erdenklichen Religion zugehörig, zu seinen »Kunden« zählte.

»Es ist eine Katastrophe!«, stöhnte er, faltete die Hände und blickte gen Himmel respektive Zimmerdecke. »Da hat man einmal im Leben ein Glück mit einer berühmten Leiche, ich meine: mit einer Kundschaft. Man richtet’s schön her, dass sie fesch ist fürs Begräbnis, bettet sie in einen Sarg mit samtener Innenverkleidung, und dann verschwind’s einfach, dir nix – mir nix. Ein so ein Jammer!«

Um Herrn Seelenfrieds innere Ruhe war es offenkundig geschehen. Den Verlust – im wortwörtlichen Sinn – einer Kundschaft, zumal einer sehr wertvollen, schien er nur schwer verwinden zu können.

»Herr Seelenfried«, begann Holmes, »leider müssen wir Ihnen einige Fragen zum bedauerlichen Verlust der Kundschaft Karl Marx stellen.«

»Ja, wenn’s denn sein muss«, antwortete er schicksalsergeben. »Es hilft ja doch nichts.«

»Ist Ihnen denn früher schon mal ein Leichnam abhanden gekommen?«, fragte Holmes.

Der Bestatter reagierte ein wenig empört. »Wo denken Sie hin? In 37 Jahren nicht! Jedermann weiß: Bei Seelenfried können Sie sich beruhigt zur Ruhe betten. Zur ewigen Ruhe. Amen.«

Holmes nickte verständnisvoll und sah sich ein wenig in den Geschäftsräumlichkeiten um. Offensichtlich gab es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen gegen Einbruch. Die Täter hatten nur das Glasfenster beim Eingang einschlagen müssen, hindurchgreifen und die Tür von innen öffnen. Innerhalb der Lokalität gab es keine weiteren Türen.

»Wie ich sehe«, bemerkte Holmes daher, »schützen Sie Ihr Geschäft nicht besonders gegen unbefugtes Eindringen. Nur ein simples Riegelschloss befindet sich an der Tür.«

Seelenfrieds Miene blieb verdunkelt. »Ja, selbstverständlich nicht!«, entgegnete er. »Wer rechnet denn mit so etwas? Was für minderbemittelte Dummköpfe brechen denn in ein Bestattungsunternehmen ein und stehlen einen wehrlosen Leichnam? Das ist doch idiotisch!«

Ich konnte mir das Schmunzeln nicht versagen. »Eigentlich«, warf ich ein, »gehen wir nicht unbedingt davon aus, dass es sich um das Werk von Idioten handelt. Vielmehr dürfte es sich um ein professionelles Team mit wohlüberlegter Vorgehensweise handeln.«

Seelenfried sah mich verständnislos an und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Professionell worin?«, fragte er. »In akkurater Verblödung vielleicht! Es ist ein menschlicher Kadaver – freilich meinerseits sehr hübsch drapiert –, aber doch nur ein Kadaver, den sie erbeutet haben. Und ich bin ruiniert! Stellen Sie sich nur vor, das spricht sich herum! Leichenschwund bei Seelenfried – das ist keine geschäftsförderliche Werbung. Eine Katastrophe ist das!«

Mir schien, auch Holmes hätte sich nun ein kurzes Lächeln nicht verkneifen können. Doch gleich darauf bemühte er sich, den armen Mann zu beruhigen.

»Keine Sorge«, sagte er in sachlichem Ton. »Ihr Auftraggeber, Herr Engels, hat kein Interesse daran, dass die Sache an die Öffentlichkeit gelangt. Deshalb wurde auch nicht die Polizei verständigt, sondern Dr. Watson und ich mit der Ermittlung betraut. Und die Presse wird natürlich auch nichts erfahren. Aber Sie müssen uns helfen.«

Seelenfried seufzte laut. »Wie soll ich Ihnen denn helfen?«, fragte er. »Die Tür wurde gewaltsam geöffnet, die Kundschaft ist weg. Das war’s. Punkt.«

Holmes überlegte einige Sekunden, dann bat er den Bestatter: »Würden Sie uns vielleicht den leeren Sarg zeigen, aus dem der Körper von Herrn Marx entwendet wurde?«

Wir vernahmen ein zustimmendes Murren, dann ging Seelenfried voran in die hinteren Räumlichkeiten, wo auf mehreren Tischen Särge standen. Mit einer Winkbewegung bedeutete er uns, dass wir ihm folgen mögen, doch dann hielt er inne.

»Wieso leer?«, fragte er plötzlich. »Hat Ihnen Herr Engels das nicht gesagt? Der Sarg ist keineswegs leer zurückgeblieben.«

Holmes legte seine Denkerstirn in Falten: »Wie meinen Sie das?«

Seelenfried schüttelte den Kopf und meinte nur: »Kommen Sie, sehen Sie selbst!« Er ging zu einem der Särge – offenbar derjenige von Marx –, öffnete den Deckel und sah uns missmutig an: »Wie ich schon sagte: Das waren Idioten!«

Wir traten näher an den Sarg heran. Was wir sahen, war doch einigermaßen verblüffend: Der Sarg war bis beinahe oben hin gefüllt – mit Büchern.

Holmes nahm eines der Bücher in die Hand und las vom Einband: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Von Karl Marx.« Er öffnete den Band, blätterte eine Seite vor und setzte fort: »2. Auflage, Hamburg 1872.«

Auch ich nahm nun ein Buch zur Hand – und es war dieselbe deutschsprachige Ausgabe des Hauptwerks von Marx. Insgesamt befanden sich in dem Sarg gewiss an die 50 identische Exemplare.

Seelenfried hob verzweifelt die Arme: »Was soll denn das?«, jammerte er. »Können Sie mir sagen, was das soll?«

Holmes schüttelte langsam den Kopf. »Tut mir leid, das kann ich nicht«, antwortete er.

»Vielleicht ist das nur ein Scherz?«, vermutete ich, war jedoch selbst nicht so recht davon überzeugt.

Folgerichtig entgegnete Holmes: »Wohl kaum. Für einen Scherz erscheint mir dies doch ein wenig zu aufwendig.« Dann wandte er sich an Seelenfried: »Das wäre alles. Sie gestatten es gewiss, wenn ich mir ein Exemplar mitnehme, nicht wahr?«

»Nur eines?«, fragte der Bestatter empört. »Nehmen Sie alle! Was soll ich damit?«

Holmes lächelte. »Danke, aber ein Buch wird mir genügen. Ich ersuche Sie, die restlichen einstweilen im Sarg zu lassen.«

»Darauf können Sie Gift nehmen!«, rief Seelenfried. »Es fiele mir im Traum nicht ein, diesen Unfug aufzuräumen. Und der Sarg ist ohnedies schon bezahlt.«

Während Holmes sich mit einem einfachen Kopfnicken bereits verabschiedete und Richtung Ausgang marschierte, legte ich mein Exemplar des »Kapitals« zurück in den Sarg und verschloss ihn gemeinsam mit Herrn Seelenfried. Dabei wurde dieser schlagartig geschäftstüchtig.

»Dr. Watson«, begann er, »es ist die Tätigkeit des Detektivs gewiss ein überaus gefährlicher Beruf. Sie haben mit allerlei ruchlosen und brutalen Kriminellen zu tun. Haben Sie schon daran gedacht, Vorkehrungen zu treffen, sollten Sie – Gott behüte – in Ausübung ihres Dienstes ums Leben kommen? Ich kann Ihnen ein gutes Angebot machen: Volles Programm, Waschen, Rasieren, Kämmen, Einbalsamierung, Bekleidung, Sarg, Begräbnis mit Blumen und Kränzen. Zum besten Preis in ganz Nordlondon!«

Mochte Seelenfried auch nicht gänzlich Unrecht haben, so sträubte sich in mir doch alles dagegen, mein vorzeitiges Ableben zu organisieren.

»Danke für das Angebot«, antwortete ich höflich, »doch ich habe aktuell nicht vor, aus dem Leben zu scheiden. Vielleicht ein andermal. Guten Tag!«

Ich machte mich auf den Weg, um Holmes zu folgen. Als ich fast bei der Tür war, rief mir der Bestatter noch nach: »Denken Sie darüber nach! Wenn Sie tot sind, ist es zu spät!«

***

Die lange Rückfahrt in die Regent’s Park Road zu Herrn Engels verlief einsilbig. Holmes blätterte geistesabwesend und mitunter etwas hektisch in den über 600 Seiten des »Kapitals«. Hin und wieder sprach er ein deutsches Wort laut aus, das sich wohl im Text befand, mehrmals musste er heftig nicken, seltener den Kopf schütteln, zweimal lachen. Dann schlug er unvermittelt das Buch zu, blickte auf und verkündete: »Verstehe.«

Ich versuchte gar nicht, meine Verwunderung zu verbergen. »Was verstehen Sie, Holmes?«, fragte ich pflichtbewusst.

»Die Relevanz, mein lieber Watson«, erklärte er. »Es handelt sich um eine äußerst scharfsinnige Analyse. Wenn das stimmt, was da drinnen steht, dann verfügt unser gegenwärtiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in der Tat über keinerlei weitere Legitimation. Kein Wunder, wenn die Gegner von Marx dieses Buch gleich mit seinem Verfasser begraben wollen.«

Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, zumal sich gleich mehrere Fragen aufdrängten, wobei ich zunächst nur eine stellen wollte: »Holmes! Sie haben doch nicht jetzt während der Fahrt das ganze Buch gelesen?«

»Weitgehend«, antwortete Holmes. »Sie sind offenbar nicht mit der Technik des Diagonallesens vertraut. Ich habe mir einen Überblick verschafft über die ökonomischen Vorstellungen von Herrn Marx. Und eines dürfte feststehen: Dieser Kapitalismus, von dem er schreibt, stellt wohl den intelligentesten und bestorganisierten Raubzug der Menschheitsgeschichte dar – und das im Rahmen der Gesetze. Äußerst bemerkenswert!«

Kurz musste ich lachen. »Um Himmels Willen, Holmes«, rief ich, »sind Sie jetzt etwa Sozialist?«

Ich erntete nur ein nüchternes Kopfschütteln. »Über den Sozialismus steht da nichts drinnen«, erklärte Holmes und legte das Buch beiseite. »Und überhaupt: Wenn dieses allzu komplexe, überlange und für den gemeinen Leser schwer nachvollziehbare Traktat das zentrale Propagandamittel der Herren Marx und Engels ist, dann sehe ich schwarz für diese so genannte proletarische Revolution. Kein Arbeiter wird das jemals verstehen.«

»Da kann ich Sie beruhigen«, versicherte ich Holmes. »Sozialistische Literatur, auch in trivialer, allgemeinverständlicher Form, gibt es heute wie Sand am Meer. Herr Engels ist sicherlich bereit, Ihnen ein etwas griffigeres Pamphlet zu überlassen.«

Holmes schüttelte den Kopf. »Ich persönlich habe dafür keinen Bedarf, denn ich habe Herrn Marx schon verstanden. Seine Betrachtungen sind wissenschaftlich korrekt. Ich frage mich nur, ob der große Philosoph auch bedacht hat, dass es eine Sache ist, die Welt zu analysieren, aber eine wesentlich andere – und darauf kommt es an –, sie zu verändern.«

Bevor ich Holmes diesbezüglich abermals an Engels verweisen konnte, hielt unsere Kutsche am Bestimmungsort.

***

Wieder im Büro des deutschen Industriellen und Kommunisten angelangt, stellte uns Engels einen Gast vor, der in der Zwischenzeit eingetroffen war: Ein Mann ähnlichen Alters, mit ähnlichem Bart und Blick.

»Mr. Holmes, Dr. Watson«, sagte Engels, »darf ich Ihnen meinen langjährigen Freund vorstellen, Herrn Wilhelm Liebknecht, seines Zeichens Abgeordneter zum deutschen Reichstag für die Sozialistische Arbeiterpartei.«

Liebknecht erhob sich von seinem Stuhl und schüttelte uns die Hände. Auch sein Englisch war gut verständlich, da er, wie wir später erfuhren, einige Jahre in London im Exil verbracht hatte, wo er auch Marx und Engels vor über 30 Jahren kennen gelernt hatte.

»Herr Liebknecht«, erklärte Engels, »ist, so schnell es ging, aus Leipzig angereist. Er soll morgen beim Begräbnis eine Rede in Repräsentanz der deutschen Arbeiterklasse halten.«

»Ist es nicht so«, fragte ich, an Liebknecht gewandt, »dass im Deutschen Reich antisozialistische Ausnahmegesetze herrschen? Können Sie sich überhaupt in der Legalität bewegen?«

»Ganz recht«, antwortete Liebknecht, »Bismarcks .Sozialistengesetze’ unterbinden jede offizielle organisierte politische Tätigkeit. Doch mein Mandat als Abgeordneter beruht auf der Persönlichkeitswahl. Solange ich nicht im Namen der Partei auftrete, ist es formell legal.«

»Sie müssen wissen«, ergänzte Engels, »Herr Liebknecht und sein Genosse August Bebel sind trotz der staatlichen Repression äußerst erfolgreich in Deutschland. Ein Vorbild für die sozialistische Bewegung auf der ganzen Welt.«

»Trotzdem«, setzte Liebknecht wiederum fort, »Verhaftungen, Ausweisungen, Razzien und Gefängnisaufenthalte gehören zu meinem täglich Brot. Wir werden ständig überwacht. Vermutlich hat mir Bismarck auch hierher ein paar Aufpasser von der Geheimpolizei hinterhergeschickt. Preußen ist überall.«

Holmes hatte bisher geschwiegen, machte sich nun aber mittels Räuspern bemerkbar: »Meine Herren«, sagte er in entschiedenem Ton, »die Zeit drängt etwas. Ist Herr Liebknecht in unser Problem eingeweiht?«

»Das ist er«, bestätigte Engels. »Wir können offen sprechen.«

»Dann will ich dies sogleich in Anspruch nehmen«, setzte Holmes fort. »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich die Angelegenheit bislang als schwer begreiflich erweist. Von welcher Seite man es auch betrachtet: Das Ganze ergibt wenig Sinn.«

»Nun, eines erscheint mir dennoch klar«, entgegnete Engels. »Ein fehlender Leichnam deutet doch auf eine gezielte Sabotage einer geplanten Beerdigung hin. Offenbar fürchten seine Gegner Marx sogar noch nach seinem Tod.«

»Gewiss«, bestätigte Holmes, »dies ist ein naheliegender Gedanke.«

»Und hierfür kämen allerlei Täterkreise in Betracht«, warf Liebknecht ein. »Viele hätten daran Interesse, dieses wichtige Ereignis zu be- oder verhindern. Anarchistische Querulanten zum Beispiel. Aber viel mehr noch diverse Staatskanzleien. Es würde mich nicht wundern, wenn ein kontinentaler Geheimdienst dahintersteckt – sei es die russische Ochrana oder die deutsche Geheimpolizei.«

Holmes antwortete nicht, sondern begann damit, einmal im Kreis durch das Zimmer zu schreiten, bis er seine Gedanken geordnet hatte. »Nun gut«, verkündete er. »Wenn das Ziel also die Verhinderung des Begräbnisses war, so werden wir diesem Ansinnen einen Strich durch die Rechnung machen, die Beerdigung wie geplant durchführen und sehen, was passiert.«

»Sie wollen einen leeren Sarg begraben?«, fragte Liebknecht erstaunt.

Holmes lächelte. »Aber nein. Der Sarg ist keineswegs leer«, antwortete er und legte sein Exemplar des »Kapitals« auf den Schreibtisch.

***

Trotz gewisser Bedenken von Engels und Liebknecht hatten wir uns entschlossen, den Plan durchzuführen – schließlich, so ehrlich muss man sein, hatten wir auch nichts Besseres. Am nächsten Morgen begab sich Holmes zum Friedhof, wo er mit der Trauergemeinschaft, die bewusst nur aus Familienangehörigen und engeren Freunden bestand, zusammentraf. Neben den beiden eingeweihten deutschen Sozialisten befanden sich unter diesen Marx’ Tochter Eleanor mit ihrem Verlobten, dem englischen Sozialisten Edward Aveling, Marx’ Schwiegersöhne Paul Lafargue und Charles Longuet, beide aus Frankreich, seine Haushälterin Helena Demuth sowie weitere Freunde, die Marx zeitlebens begleitet hatten.

Meine Aufgabe war es in der Zwischenzeit, für den sicheren Transport des Sarges zum Friedhof zu sorgen. Als ich gemeinsam mit Herrn Seelenfried in dessen Institut hierfür die letzten Vorkehrungen traf, beschlich mich ein seltsames Gefühl: Wir hatten nie überprüft, ob sich im Sarg tatsächlich nur Bücher befanden. Und die Tatsache, dass er nicht leer war, könnte auch geradezu eine hinterlistige Aufforderung gewesen sein, die Beerdigung trotzdem durchzuführen – ganz wie wir beschlossen hatten. Vielleicht wollten die Täter genau das und wir waren in eine Falle getappt?

Seelenfried war wenig erfreut, als ich begann, den Sarg Buch für Buch auszuräumen. Erst auf meine explizite, leicht gereizte Bitte, ging er mir zur Hand. Und tatsächlich: Als wir alle Bücher entnommen hatten, fanden wir am Boden des Sarges eine einigermaßen beunruhigende Überraschung: Nicht weniger als zehn Stangen Dynamit.

Ich ärgerte mich über unsere vorherige Nachlässigkeit, denn der im Sarg zurückgebliebene Sprengstoff diente gewiss einem weiterführenden Plan. Ohne Initialzündung bestand jedoch keine Gefahr, wie ich Seelenfried mehrmals versichern musste. Man müsste die kurzen Zündschnüre schon per Hand, das heißt etwa mittels eines Streichholzes entzünden, um eine – entsprechend leicht verzögerte – Explosion herbeizuführen. Unter den Büchern wäre dies freilich unmöglich gewesen, weswegen sich mir der eigentliche Zweck dieser Installation vorläufig noch nicht erschloss.

»Das ist kein sehr praktischer Tod«, meinte Seelenfried, »wenn man von Sprengstoff zerfetzt wird. Da bleibt ja nichts übrig! Was soll man da beerdigen? Ich sage Ihnen, Dr. Watson, in solchen Fällen stehen die besten Bestatter – und da darf ich mich in aller Bescheidenheit hinzuzählen – vor einer immensen Herausforderung. Einmal hatte ich nur einen linken Fuß zur Verfügung…«

Seelenfrieds angebrochene Anekdote ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Im nächsten Moment spürte ich einen heftigen Schlag am Hinterkopf, sank zu Boden und verlor das Bewusstsein.

***

Als ich wieder zu mir kam, war es völlig dunkel. Sofort bemerkte ich, dass ich geknebelt und an Armen und Beinen gefesselt war. Mein Kopf schmerzte erheblich. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch stieß ich mit der Stirn sofort auf eine Begrenzung. Nach links und nach rechts rollend musste ich feststellen, dass auf beiden Seiten ebenfalls unmittelbar Wände folgten. Und da wurde mir klar: Ich befand mich in einem Sarg.

Da ich nichts weiter sehen konnte, bemühte ich mich, meine anderen Sinne zu schärfen. Obwohl der Sarg mit Stoff ausgekleidet war, verspürte ich am Rücken eine unangenehme Unebenheit – es waren die Dynamitstangen. Ich befand mich also im Sarg von Karl Marx. Und er bewegte sich.

Langsam kam meine Erinnerung zurück. Der Ablauf der Ereignisse seit meinem Niederschlag musste sich wohl folgendermaßen gestaltet haben: Die Täter, die in Seelenfrieds Institut zurückgekehrt waren, hatten uns außer Gefecht gesetzt und mich in den Sarg gelegt. Was mag mit dem armen Herrn Seelenfried geschehen sein? Den verschlossenen Sarg hatten sie, verkleidet als Transporteure oder Institutsmitarbeiter, am Haupteingang des Friedhofs wie vereinbart übergeben. Für meine scheinbare Abwesenheit hatten sie vermutlich eine kleine Ausrede parat. Daraufhin musste sich der Trauerzug in Bewegung gesetzt haben, wobei der Sarg gewiss auf einem Handwagen lag.

Dann aber wurde mir die gesamte Tragweite des Plans bewusst: Es handelte sich um ein Sprengstoffattentat auf den Trauerzug! Mit einem Schlag hätte man die nunmehr höchste Autorität der internationalen sozialistischen Bewegung, Herrn Engels, sowie die führenden Köpfe der deutschen und internationalen Sozialdemokratie beseitigt. Wie aber konnte der Sprengstoff unter mir zur Detonation gebracht werden? Nur durch eine zweite, kleinere Explosion, die sodann für die Dynamitstangen als unmittelbare Initialzündung dienen würde. Das Ergebnis wäre ein Inferno, das kaum einer der Trauergäste, darunter auch Holmes, wie mir nun bewusst wurde, überleben würde. Ich war dabei lediglich ein Kollateralschaden.

Doch wo würde diese Explosion erfolgen? Mein Gehirn arbeitete intensiv. Es musste ein Ort sein, an dem der Trauerzug eng zusammenrückt, an dem aber auch die Möglichkeit einer unbeobachteten Zündung bestand. Dafür gab es auf dem Friedhof nur eine geeignete Stelle: Auf dem Weg vom Haupttor zur Grabstelle auf der Ostseite musste der Zug durch den Tunnel unter der Swain’s Lane. An seinem Ende würde die auslösende Detonation erfolgen, woraufhin auch das Dynamit im Sarg explodieren würde. Die dahinter gehende Gruppe hätte keine Chance. Immerhin – ich würde wenigstens nicht lebendig begraben werden.

Der Wagen mit meinem Sarg rollte unaufhaltsam weiter über den holprigen Friedhofsweg. Als ich bemerkte, dass sich bei mir langsam defätistische Gleichgültigkeit breitmachte, wurde mir klar, dass der Sauerstoff zur Neige ging. Offenbar waren Seelenfrieds hochwertige Särge sogar luftdicht.

Ich mobilisierte nochmals alle verfügbaren Kräfte und stieß mit den Schuhspitzen meiner zusammengebundenen Füße gegen den Sargdeckel. Einmal, zweimal, dreimal. Ich warf mich verzweifelt hin und her, um gegen die Seitenwände zu prallen. Ich klopfte mit den Kniescheiben gegen die Abdeckung, schließlich sogar mit meiner Stirn.

Und endlich blieb der Wagen stehen. Stimmen waren zu vernehmen, dann wurde von außen an den Sargdeckel geklopft. Ich antwortete mit letzter Kraft und einem heftigen Stoß mit meinen Füßen. Die Stimmen wurden lauter und aufgeregter, dann wurde am Sarg geschraubt. Schließlich, nach einer weiteren halben Minute, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, öffnete endlich jemand den Deckel – ich war niemals zuvor so froh gewesen, das Gesicht von Holmes zu sehen.

Er nahm mir sofort den Knebel ab, woraufhin ich wieder durchatmen konnte. Mit Holmes Hilfe richtete ich den Oberkörper auf, drehte mich um und sah, dass wir keine 20 Yards mehr vom Tunnel entfernt waren. Es war höchste Zeit gewesen.

»Holmes«, keuchte ich, »am hinteren Ende des Tunnels verbergen sich Attentäter, mindestens zwei.«

Dann sank ich wieder auf die samtene Liegefläche des Sarges zurück und verlor abermals das Bewusstsein.

***

Was unmittelbar danach geschah, erfuhr ich nur aus Erzählungen: Während Herr Engels für meinen Transport ins Spital sorgte, kletterten Holmes, Liebknecht und die drei Schwiegersöhne von Marx über die Mauern in den Ostteil des Friedhofes. So umgingen sie den Tunnel und überraschten die lauernden Attentäter, die tatsächlich nur zu zweit waren, von hinten. Angesichts der Übermacht und Holmes’ Revolver leisteten sie keinen Widerstand. Als sie sich als Angehörige der deutschen Geheimpolizei zu erkennen gaben, ließ es sich Liebknecht nicht nehmen, beiden eine pädagogische Ohrfeige zu erteilen – mit konspirativrevolutionären Grüßen an Kaiser und Kanzler in Berlin.

Dass sie diese auch überbringen können würden, stand außer Frage. Zwar übergab Holmes die beiden der Londoner Polizei, doch wie es im internationalen Spionagegeschäft üblich war, wurden sie wenig später gegen zwei britische Geheimagenten, die in Deutschland aufgeflogen waren, ausgetauscht und kehrten unbeschadet in ihre Heimat zurück.

Der Leichnam von Karl Marx hatte indessen das Bestattungsinstitut nie verlassen. Er war von den Tätern in einem unbenutzten Sarg im kalten Keller des Geschäftslokals versteckt und zwischengelagert worden – mehr noch: Als Holmes und Engels ihn mittels Hinweis der überführten Geheimpolizisten bargen, fanden sie darin auch den bedauernswerten Seelenfried, der im bewusstlosen Zustand ebenfalls hineingesteckt worden war. Eine Erfahrung, auf die der gute Mann gerne verzichtet hätte. Zu einem späteren Zeitpunkt hätten die Täter den Körper von Marx nach Deutschland bringen sollen, wo insbesondere sein Gehirn seziert und genau untersucht worden wäre, um Erkenntnisse über die menschliche Intelligenz und den revolutionären Geist zu gewinnen. Selbstredend ein aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht grober Unfug, den man sich nur in Deutschland ausdenken konnte. Aber dazu kam es nun ohnedies nicht.

Vielmehr wurde auch das Begräbnis zwar mit einiger Verspätung, aber doch noch in aller Würde und in Anwesenheit des Verstorbenen durchgeführt. Engels und Liebknecht sollen wunderbare Grabreden gehalten haben. Über die schwierigen Umstände der Zeremonie wurde die Öffentlichkeit nicht informiert.

***

Ich selbst erholte mich nur schleppend von den Ereignissen auf dem Friedhof. Die Erinnerung daran – an den Einschluss im Sarg und den bevorstehenden Tod – hatte traumatischen Charakter. Längere Zeit plagten mich Ängste, extreme Stimmungsschwankungen und Schlaflosigkeit. Erst jetzt, seit ich mich in psychologischer Behandlung bei Dr. Kurzmann befinde, ist mir eine schrittweise Aufarbeitung möglich. Ein Teil davon besteht darin, dass ich mich nun endlich durchgerungen habe, diesen Fall zu Papier zu bringen.

***

Wenige Monate nach den Ereignissen rund um den verschwundenen Leichnam von Karl Marx suchte uns Friedrich Engels eines Vormittags in der Baker Street auf. Er erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden und bedankte sich nochmals für unsere Tätigkeiten.

»Ich hoffe doch sehr«, scherzte ich, »Ihnen ist nicht wieder ein Freund abhanden gekommen, sei es tot oder lebendig.«

»Kein Sorge, Dr. Watson«, antwortete Engels, »in meinem Alter hat man den Großteil seiner Freunde ohnedies bereits überlebt. Nein, ich bin nur hier, um Ihnen persönlich unser neuestes, gerade druckfrisches Machwerk zu überreichen.«

Er nahm ein dickes Buch aus der Tasche und händigte es Holmes aus.

»Es ist die dritte Auflage des ‚Kapitals’, an der ich in den vergangenen Wochen sehr intensiv gearbeitet habe«, erklärte Engels. »Mit einer Vielzahl an Erweiterungen, Ergänzungen und Präzisierungen, die gewiss ganz im Sinne von Marx wären. Vielen Dank nochmals, Mr. Holmes, für Ihre diesbezüglichen Hinweise. Sie waren sehr wertvoll für die Überarbeitung.«

Holmes nickte bescheiden. »Ich bedanke mich, dass ich helfen durfte. Aber: Sie haben mich doch nicht etwa im Vorwort erwähnt?«

Engels winkte ab. »Nein, nein«, versicherte er, »alles, wie von Ihnen gewünscht.«

Ich war doch einigermaßen überrascht, denn über einen inhaltlichen Schriftverkehr mit Herrn Engels über das »Kapital« hatte mir Holmes nichts gesagt.

»Gegenwärtig bin ich übrigens dabei«, setzte Engels fort, »den Nachlass von Marx zu sichten. Sie müssen wissen, er hatte zumindest noch einen zweiten, vielleicht einen dritten Band des ‚Kapitals’ geplant und eine Unmenge an handschriftlichem Material hinterlassen. Trotzdem hoffe ich, mit dem Redigieren des nächsten Bandes binnen eines Jahres fertig zu sein. Sie würden doch auch vorab einen Blick auf das Manuskript werfen, wenn es so weit ist, nicht wahr?«

»Es wäre mir eine Ehre«, bestätigte Holmes.

Engels seufzte. »Danke. Es ist sehr schade, dass Sie und Marx einander nicht mehr persönlich kennen lernen konnten. Sie verfügen über ähnliche Charaktereigenschaften – die Akribie, der Überblick, die scharfsinnigen Schlussfolgerungen, die genaue Beobachtungsgabe. Marx hätte eine Freude mit Ihnen gehabt – und Sie gewiss auch mit ihm. Nun denn, ich darf mich verabschieden. Fräulein Demuth schätzt es nicht, wenn ich zu spät zum Lunch erscheine.«

Ich stand von meinem Stuhl auf und reichte Engels die Hand: »Auf Wiedersehen!«

Holmes geleitete unseren Gast noch zur Tür, einstweilen nahm ich die Neuauflage des »Kapitals« zur Hand. Auf der dritten Seite befand sich eine handschriftliche Widmung: »Für den brillanten Detektiv Sherlock Holmes und seinen überaus tapferen Kompagnon John Watson. In Bewunderung und Freundschaft: Frederick Engels.«

Als Holmes wieder zum Tisch zurückkam, legte ich das Buch beiseite und sah ihn fragend an: »Und? Bedauern Sie, Herrn Marx nicht gekannt zu haben?«

Holmes setzte einen düsteren Blick auf. »Keineswegs«, behauptete er. »Nach all dem, was ich über ihn weiß, dürfte Herr Marx zwar sehr intelligent gewesen sein, aber ansonsten ein notorischer Besserwisser, der es liebte, seine Freunde zu korrigieren und zu übertrumpfen. Mitunter überheblich, etwas weltfremd und unnahbar.«

Ich musste mir ob der exzellenten Selbstbeschreibung das Lachen verkneifen und antwortete nur: »In der Tat, Holmes! Mit solch einer Person wären Sie gewiss nicht gut ausgekommen. Nun die andere Frage: Wann wollten Sie mir denn mitteilen, dass Sie unter die Theoretiker des wissenschaftlichen Sozialismus gegangen sind?«

Holmes schüttelte den Kopf, nahm Platz und begann, seine Pfeife zu stopfen. »Davon kann keine Rede sein«, erklärte er, »nur ein paar Anmerkungen. Ich kann Ihnen versichern, mein guter Watson, dass ich ein entschiedener Befürworter des Kapitalismus bleibe.«

»Ich dachte, Sie halten den Kapitalismus für einen einzigen gigantischen Raubzug?«, erinnerte ich Holmes an seine eigenen Worte.

»Ganz recht«, entgegnete Holmes, »eben deshalb. Stellen Sie sich eine sozialistische Utopie vor, wie sie sich die Herren Marx und Engels ausmalen: Keine sozialen Unterschiede, kein nennenswertes Privateigentum, keine Armut und kein Reichtum, Wohlstand für alle, kein Neid, keine Laster, keine Ausbeutung und keine Unterdrückung, keine Banken, keine Grundeigentümer und keine Aristokratie, ja letzten Endes nicht einmal Geld im eigentlichen Sinn. All das würde auch eine massiv reduzierte Verbrechensrate implizieren. Mein lieber Watson, ich versichere Ihnen, in einer solchen Welt wären wir als Detektive arbeitslos. Mögen wir zeitlebens von der proletarischen Revolution verschont bleiben!«

Dann setzte er sein markantes spitzbübisches Lächeln auf und entzündete zufrieden seine Pfeife.

Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie

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