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2. Das stille Leuchten

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Immer die gleichen Bilder sind auf den Monitoren im Schneideraum des Fernsehstudios zu sehen: Vor einem alten Bauernhof mit üppiger Geranienbestückung auf drei Holzbalkonen steht ein kleines, überaus schmächtiges Mädchen mit dem Rücken zur Filmkamera. Der Wind spielt mit ihren langen glatten Haarsträhnen. Das Kind blickt einem davonfahrenden Pferdefuhrwerk nach. Langsam, sehnsüchtig, hebt die Kleine die mageren Arme. Ein tränenloser, rührender Abschied. Echt zum Heulen.

Leider ist zu den Bildern kein Ton zu hören, was die Betrachter der Szene am elektronischen Schneidetisch auch gleich monieren. Wichtige Leute sind es, die hier zu den sogenannten ´Mustern` zusammen gekommen sind. Als erstes wäre der Produzent der Schmonzette, Wolf-Günther Gerok zu nennen, er ist für das Geld zuständig und dass die Mitarbeiter sich wohlfühlen bei den Dreharbeiten und deshalb bereitwillig so viel wie möglich und so lange wie möglich Tag und Nacht für das Projekt arbeiten, ohne allerdings mehr Gage zu bekommen als im Vertrag zugesichert.

Eine weitere wichtige Person vor dem Monitor ist der Drehbuchautor. Hilmar Neumacher achtet penibel darauf, dass jedes von ihm geschriebene Wort im Film auch gesprochen wird. Egal ob es sinnvoll, gut oder schlecht ist und im schlimmsten Fall gar nicht das ausdrückt was gesagt werden soll. Rausschneiden kann man am Ende immer, Hauptsache die Sache ist erst mal gedreht, oder wie der Fachmann sagt: im Kasten.

Die dritte in der Runde heißt Susanne Hofmann, ist von Beruf Cutterin. In dieser Phase der trockenen Musterschau hält sie sich noch zurück, nach ihrer unausgesprochenen Meinung ist der Film aber auch im Schnitt nicht zu retten. Das darf sie natürlich nicht laut sagen, denn eine Cutterin die sich wichtigmacht und deshalb anschließend nicht weiterbeschäftigt wird hat in diesem Beruf nichts zu suchen.

Aber ganz offensichtlich ist sie kein Fan von diesem Format, das die meisten Fernsehzuschauer als ´Scripted Reality` kennen, teilweise lieben und auf jeden Fall in Masse konsumieren.

Der Produzent, an eventuell neu anfallende Kosten denkend, meldet sich als erster zu Wort.

„Kein Ton? Wieso?“

„Wegen der Autobahn hinter dem Haus“, flüstert der Drehbuchautor.

Er flüstert um damit deutlich zu machen, wie sehr ihm die gezeigte Szene unter die Haut geht. Verständlich, er hat schließlich das Drehbuch geschrieben.

Auf dem Monitor ist jetzt zu sehen, dass sich die Kamera im davonfahrenden Fuhrwerk befindet. Weit hinten das Kind mit ausgestreckten Ärmchen. Trotzdem ist deutlich zu erkennen, dass es sich um eine längst dem Kindesalter entwachsene Schauspielerin handelt. Wolf-Günther Gerok ist stinksauer.

„Die soll zwölf sein?“ herrscht er den Buchautor an.

„Von hinten schon“, gibt der Achsel zuckend zur Antwort.

„Seid ihr bekloppt? Wer hat die engagiert?“ regt sich Gerok weiter auf, während Hilmar Neumacher nach einer Entschuldigung sucht, die beim Produzenten allerdings keine Gnade findet.

„Ich hab dem Melzer gleich gesagt, Wolf-Günther …“

„Der Melzer w a r mal der Regisseur, ist abgelöst, kannst du vergessen. Und die Szene wird nochmal gedreht, verdammt. Das muss doch ein richtiges Kind sein. Keine Schauspielerin!“

„Mittwoch sind wir noch mal am Motiv. Bis dahin ein echt begabtes Kind kriegen? Schwierig. Die Rolle ist ´ne Schlüsselfigur!“

„Weiß ich, hab zufällig dein Script gelesen: ein Mädchen, rührend, armselig, unschuldig!“ Er wendet sich an die Cutterin.

„Haben Sie nicht so was kleines langhaariges, Frau Mahnke?“

„Ja, heißt allerdings Manfred!“

Gerok ist genervt. Von seinen Mitarbeitern und wegen der Aussicht auf eventuelle Mehrkosten. Sowas geht auf die eigene Tasche. Nachschlag vom Sender gibt´s nicht. Im eigenen Interesse muss ein Produzent sowas in den Griff kriegen, will er die Hoffnung auf spätere, größere Aufträge nicht begraben. Das muss detailliert besprochen werden. Am besten gleich und am allerbesten in der Kantine.

„Abmarsch ins Casino!“ pfeift Gerok seinem Autor ins Ohr und schon ist er draußen. Neumacher folgt ihm achselzuckend und holt den dicklichen und daher etwas unbeweglichen Produktionschef nach wenigen Schritten ein.

„Ich hab´ mir nämlich was beim Schreiben gedacht, Wolf-Günther.“ Neumacher passt sich dem Gewatschl Geroks an.

„Für so ein Script brauchst du ja nicht gerade außerirdische Qualitäten, mein Allesdichter!“ Gerok hat Hunger und legt an Tempo zu.

„Formate wie ´Bauer, Liebe und das Vieh` sind ja auch irgendwie außerirdisch, oder?“

„Verehrter, wir sind absolut zeitgemäß, das beweist allein schon die Quote“.

„Die Quote beweist alles, echt wahr.“ Neumacher stimmt dem Boss zu. So richtig überzeugt klingt es allerdings nicht.

Die Kantine ist deshalb wichtig für Film- und Fernsehmacher, weil man nirgendwo besser sieht oder gesehen wird, nirgendwo besser neue Kontakte knüpfen kann, nirgendwo besser intrigieren, charmieren, lästern oder lügen kann als an diesem für jedermann und jede Frau zugänglichen Ort.

Gelegentlich gibt es auch was zu essen, in jedem Fall aber reichlich zu trinken, wovon viele der Medienschaffenden oft und reichlich Gebrauch machen. Manche bis zum Abwinken. Vereinzelt sickert dann schon mal durch, dass in der Kantine künftig tagsüber kein Alkohol ausgeschenkt werden darf und die Besucher sich nach spätesten zwei Stunden Mittagspause wieder an ihrem Arbeitsplatz zurückmelden müssen damit freie Mitarbeiter, die dringend einen Gesprächspartner suchen, nicht stundenlang am Telefon sitzen ohne dass eine Verbindung zustande kommt.

Die Gespräche um die es geht sind inhaltlich meist belanglos, drehen sich aber immer um den Nabel der Welt: das Programm, das Format, das Fernsehen und die Medien insgesamt und überhaupt.

Die Diskussion verläuft fast immer in großer intellektueller Anspannung, selten konfrontativ, dafür aber lautstark, so auch dieses Mal, wo Autor Neumacher dem Produzenten ein für alle Mal klarmachen will, an was für einem qualitativ hochwertigen Format hier derzeit gearbeitet wird.

„Ich hab mir nämlich beim Schreiben was gedacht, Chef!“

„Davon geh ich aus!“

Gerok bleibt cool, alles andere könnte vielleicht Geld kosten.

„Dieses Kind hat doch keine Ahnung von den wirklichen Zusammenhängen“,

setzt Neumacher neu an und genau so was muss das Mädchen ausstrahlen. Eine echte Profischauspielerin bringt das nicht, das kann man nicht erspielen. Nur der Melzer glaubt an diese Märchen. Der hat aber keine Ahnung von den wirklichen Zusammenhängen …“

„Sollte er aber, als Regisseur, weshalb glaubst du, ist er gefeuert!“, wirft der Produzent ein; aber der von sich äußerst überzeugte und daher verzweifelt um Qualität kämpfende Autor ist nicht zu bremsen.

„Hier geht’s um die Reinheit. Die klare saubere Reinheit eines relativ jungen unverdorbenen Kindes. Reinheit gibt’s nämlich auch noch in diesem unserem Lande. Nicht überall, stimmt, aber es gibt noch schöne saubere nicht versaute Ecken und Enden. Natürlich weiß ich, dass bei Scripted erst mal der Müll, also vor allem der seelische, erst mal gezeigt werden muss, bevor er anschließend entsorgt wird. Aber genau das ist das Besondere an dieser Folge: Der ständige, unausgesprochene Vorwurf an das Gewissen der Mutter, die ja die wirklichen Zusammenhänge nicht kennt …“

„Genau wie der Melzer“, schiebt der Produzent seufzend dazwischen und Neumacher fährt ohne Luft zu holen fort,

„Weshalb gerade in der Szene mit dem Fuhrwerk, in der die Frau Kind, Mann und Hof verlässt, die wirklichen Zusammenhänge zum ersten Mal deutlich werden …“

„So ist es!“

„ …weil dieses kleine reine Wesen der entschwindenden, also der davon fahrenden Mutter tränenlos nach sieht, die mageren Ärmchen sehnsüchtig ausgestreckt …“

Neumacher ist jetzt stehen geblieben und greift zum letzten Mittel, um den auf seinem Geldsack sitzende Produzenten von der Dringlichkeit des aufwändigen Nachdrehens, koste es was es wolle, zu überzeugen. Unsäglich leidend streckt er seine dicken Arme nach dem weitergehenden Gerok aus.

„Die schmächtige Gestalt wie von Licht umflossen muss absolut echt sein, dieses Rührende, Armselige, Unschuldige.“

Jetzt hat der Produzent genug gehört, er dreht sich zu Neumacher um, sein Gesicht drückt aus was er denkt.

„Das Casino macht gleich zu, Neumacher! Rührend, armselig, unschuldig!

Wo sollen wir das hernehmen heutzutage?“

Aber Neumacher ist zu überzeugt von seiner Mission, davon will er sich nicht abbringen lassen, obwohl er in der Kantine Gast des Produzenten sein wird, also eingeladen ist. Das gehört sich so.

Die bescheiden gehaltene Räumlichkeit, das sieht man schon von außen durch die trüben Fenster, ist gut belegt mit hart arbeitenden Mitarbeitern, die sich auch am Vormittag keine Ruhe gönnen. Kaum einer von ihnen, der nicht gerade sein Handy benutzt oder sonst irgendwas twittert. Da macht auch so mancher ´Entscheider` keine Ausnahme, obwohl er eigentlich was anderes zu tun haben sollte, zum Beispiel über den großen Medien Wurf nachdenken, über das gänzlich neue, noch nie dagewesene Format, die innovative Sensation im spießigen Fernsehbetrieb, die den Sender hinauf katapultiert in eine Spitzenposition, auf Augenhöhe mit den großen, gebührenfinanzierten und täglich durch hohe Quoten ihre Existenzberechtigung nachweisenden Öffentlich/Rechtlichen. Solche Überlegungen gehen an den echten Kreativen natürlich vorbei. Und Neumacher ist so einer, wie er jetzt da steht, mit diesem echt glücklichen Ausdruck in seinem Dichter Gesicht.

„Ein Leuchten muss um diese Gestalt sein. Ja, das ist es: E i n s t i l l e s L e u c h t e n!“

Er bleibt mit einem völlig entrückten, verklärten Gesichtsausdruck stehen und breitet demonstrativ beschwörend die Arme aus. Ein Donnergrollen, nein, eher ein Gläserklirren ist die Folge. Neumacher scheint magische Kräfte zu haben, die möglicherweise Umweltkatastrophen auslösen.

Aber nur möglicherweise, denn um die Ecke, beim Eingang zur Kantinenküche, ist einer von den großen grauen Mülleimern umgefallen. Ein Kind, ein kleines Mädchen, hat das Geschepper und Geklirre offenbar ausgelöst, weil sie auf die Tonne gestiegen war um nach leeren Flaschen zu suchen. Jetzt sitzt die Kleine inmitten des Scherbenhaufens, aber anscheinend unverletzt.

Um die Ecke kommt neugierig Neumacher, will helfen, retten, bleibt stehen wie vom Donner gerührt und starrt das Mädchen an.

„Das ist sie!“

Ein einziger theatralischer Aufschrei. Gerok, schon halb drin in der Kantine, dreht sich Neumacher suchend noch einmal mal um und weil der verschwunden ist brüllt er einigermaßen verärgert.

„Wer?“

„Nicht zu jung! Nicht zu alt!“ ertönt es um die Ecke nahe beim Kücheneingang. „Nicht zu groß! Nicht zu klein! Und ein richtiges Kind! Keine Frage. Absolut Zeitgemäß! Sie i s t es!“ Wie von einem Magneten angezogen geht Neumacher auf das Mädchen zu.

Der Kleinen wird richtig unheimlich, das sieht man an ihren entsetzten Jungmädchen Augen. Immer wieder gibt es diese grausigen Geschichten, wo pädophile Männer sich an Kindern vergreifen und sie nach der abscheulichen Tat meist umbringen.

Was tut so ein Kind in höchster Gefahr: es klettert so rasch es kann aus dem Müllhaufen, lässt dabei ihre Plastiktüte fallen und versucht wegzulaufen. Neumacher spurtet hinterher.

„Bleib stehen! Ich will dich nur was fragen!“ schreit er atemlos, aber das Kind will nicht hören. Rennt zick-zack zwischen geparkten Autos hin und her und um sie herum. Neumacher folgt keuchend. Um einen besseren Überblick zu haben, klettert er auf ein Praktikabel. Das Mädchen geht, für Neumacher unsichtbar, hinter einem von zwei Arbeitern getragenen Versatzstück und steht plötzlich vor Gerok, dem allmächtigen TV-Produzenten.

„Du brauchst vor dem keine Angst zu haben“, sagt Gerok , „der hat selber Schiss in der Hose!“

Das Mädchen atmet schwer, antwortet nicht.

„Vor mir nämlich!“ lacht Gerok, ich bin sein Brötchengeber. „Darf ich dich was fragen?“

Das Mädchen starrt ihn an.

„Wie heißt du?“

Jetzt hat Neumacher die Kurve gekriegt und gesellt sich zu den beiden. Und beginnt sogleich sein Problem mitzuteilen.

„Hey, Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich heiße Neumacher und bin gerade dabei ...“

„Er ist Drehbuchautor und sucht für seinen Film, den ich bezahle, eine Hauptdarstellerin die genauso aussieht wie du! Jetzt ist es raus, Neumacher, sie braucht nur noch ja zu sagen und dann gleich ab zu einem Casting, okay?!“

„Zu einem Casting, richtig!“ sagt Neumacher.

Das Mädchen runzelt fragend die Stirn, antwortet aber nicht.

„Casting, so wie bei Heidi Klum, kennst du sicher, ja?“

„Kennt sie nicht, schöne Scheiße!“

„Stimmt!“ sagt Neumacher. „Ich meine nur ein Casting als solches, verstehst du?“

„Er meint ´ne Art Probeaufnahme, damit wir sehen wie du optisch rüberkommst. So sagen wir beim Fernsehen.“

„Aber doch nicht wie Heidi! Die ist hundert oder älter, hähähähä!“

„War nur so ein Vergleich, verstehst du?“

„Und - was läuft ...?“, fragt Neumacher und ist ganz hin und weg von der natürlichen Ausstrahlung des schweigenden Mädchens.

Eine Erinnerung kommt hoch, erdrückt ihn fast, obwohl die Geschichte schon länger der Vergangenheit angehört. Seine große Liebe ´Honey`, wie sie im Sender genannte wurde, die auf dem Schirm stets gewissenhaft fröhliche Blondine mit dem endlos langen Haar, auf Live-Ansage-Sendung schicklich frisiert, die Sauerkrautlocken schmeichelhaft um das mit dicker Schminke zugekleisterte Mädchen Gesicht drapiert. Das erste, was sie machen muss, dachte er damals, ist diesen Zopf abschneiden noch am selben Tag ihrer Bekanntschaft.

Und Teufel noch mal, sie tat es tatsächlich, ihm zu liebe und damit zugleich den wütenden Protest von tausenden Zuschauern in Kauf nehmend. War das ein Gefühl...

„Hey, großer Dichter!“ Der Produzent, unsensibel wie immer, unterbricht seine Erinnerungen. „Vielleicht erzählst du ihr mal, was in Deinem Film abgeht, Neumacher!“

„Yes, Sir! Was in meinem Drehbuch abgeht.“

„Für´ s richtige Fernsehen. Nicht Internet oder so ein Kram.“

„Nee, ist richtig Fernsehen!“

„Kein Porno, wie du vielleicht denkst!“

„Porno geht gar nicht!“

„Superseriös. Die Geschichte spielt auf dem Land!“ Gerok im Brustton der Überzeugung.

„Da gibt´s keine Sünd`!“ lacht Neumacher und findet sich witzig.

„Ähh, wie war gleich dein Name? Ich heiße Neumacher, Hilmar. Und er hier ist der Produzent.“

„Wolf-Günter. Von mir kommt das Geld, hahahaha!“

„Okay, und jetzt kommt die Geschichte, um die es geht.“

Gerok hat jetzt genug Charme versprüht. Er ist der Produzent. Er hat Hunger.

„Ich geh‘ schon mal rein, Leute. Die Story kenn´ ich. Gib ihr unsere Telefonnummer, ich bestell´ dir Tages ...“

„Tagesmenü, meint er“, sagt Neumacher zum Mädchen. „Okay, Boss, gebongt.“

Und weil er das Vertrauen des Mädchens gewinnen muss, fängt Neumacher an die leeren Flaschen einzusammeln, die den Sturz aus der Mülltonne überlebt haben. Die Kleine sieht ihm zu, stumm, verängstigt, eindeutig mit der Situation überfordert.

„Die Rolle, die du spielen sollst in meinem Film, heißt Klara und wohnt mit ihren Eltern auf einem kleinen Bauernhof. Drum herum sind grüne Wiesen und Wälder und ein Bach plätschert am Haus vorbei. Und natürlich gibt es auf dem Hof jede Menge Haustiere, also Hühner, Kühe, ein Pferd, süße kleine Kaninchen, ein Schwein ... „

Das Mädchen schluckt, hustet ein bisschen, aber Neumacher lässt sich bei der Beschreibung seines Werkes nicht unterbrechen.

„Dieses besondere Schwein ist ganz allein meine Erfindung. Ich bin nämlich der Autor von dem Film. Also, schön weiter zuhören, meine Dame.“

Das tut das Mädchen, nimmt den Erzähler aber nicht so richtig ernst, weil sich ein vorsichtig leichtes Grinsen auf ihrem Gesicht einstellt. Neumacher übersieht das, oder er tut so. Denn bei der Weiterentwicklung von kreativen Ideen lassen sich deutsche Fernsehautoren von nichts und niemand gern aufhalten.

„Klara kennt jedes Tier genau, sozusagen persönlich“, fährt der TV-Dichter fort. „Zum Beispiel heißen die beiden kleinen Perlhühner Pitti und Putti …“

Jetzt muss das Mädchen aber doch lachen. Neumacher ignoriert es und quatscht sozusagen darüber hinweg.

„Pitti und Putti heißen so, weil sie in zwei verschiedenen Tonlagen gackern: Pittpittpittpittpittpitt und das andere Puttputtputtputtputt. Und wenn diese beiden so fröhlich herumgackern kommt gewöhnlich Philomena, das schon vorhin erwähnte Schwein dazu, das sehr klug ist und schon mal Trüffel gefunden hat…“

„Grunz, grunz!“ macht das Mädchen und Neumacher bestätigt das ganz ernsthaft.

„Richtig, Philomena grunzt und sabbert herum, ob es hier was zu fressen gibt? Aber sofort erscheint Räuber, der große zottige Hirtenhund, und bedeutet Philomena bellend sich wieder in ihren eigenen Wohnbereich zu begeben. Räuber steht dann auf den Hinterbeinen, das hat er gelernt um seine Schafherde besser überblicken zu können. Dabei wedelt er energisch mit seinem großen buschigen Schwanz.“

„Iiiiihh!“ macht das Mädchen und versucht Neumacher auszuweichen, der mit seinen Händen den wedelnden Schwanz eines Hundes nachzuahmen versucht.

Neumacher tut als kriege er die Abwehrhaltung nicht mit. Er fantasiert ungebremst weiter.

„Klara liebt alle ihre Tiere und deshalb hat sie auch keine Ahnung von den wirklichen Zusammenhängen, als ihre Mutter eines Tages mit dem Fuhrwerk den Hof verlässt …“

„Hab dir´ n Sandwich mitgebracht, großer Dichter!“ ruft Gerok. „Die machen die Kantine dicht jetzt.“

Das Mädchen blickt aufmerksam von Neumacher zu Gerock.

„Hast du Hunger? Da, nimm!“ Neumacher gibt ihr das Sandwich.

„Warum sagt sie nichts?“ Gerok ist irritiert.

„Vielleicht kann sie nur lachen, hm? Hab´ ihr gerade den Film erzählt. Gefällt´s dir?“

Das Mädchen nickt sehr ernst, sehr bedächtig.

„Willst du da mitspielen?“ Der Produzent übt sich tapfer in Geduld und Freundlichkeit.

„Die Klara, das Mädchen mit den Tieren, willst du das spielen?“

Die Kleine denkt angestrengt nach, so sieht es jedenfalls aus, nickt dann langsam. Neumacher ist begeistert.

„Der Gesichtsausdruck! Die Ausstrahlung! Sie isses. Wie gespuckt!“

„Lass uns rüber gehen in den Schneidraum. Frauen können da besser ...“

Neumacher gibt dem Mädchen die vollen Plastiktüten.

„Was is´n da drin?“ Gerok ist nicht neugierig, will nur alles wissen.

„Leere Flaschen! Pfandgeld“, sagt Neumacher und streicht der Kleinen über das Haar. „Habt ihr Telefon? Handy?“

Die Kleine schüttelt den Kopf.

„Das hier ist meine Nummer, da bin ich immer zu erreichen, okay?!“

„Und jetzt gehen wir mal ein Stückchen vom Film angucken. Was schon gedreht ist. Kommst du?“

Das Mädchen sieht die beiden an, nickt, offenbar hat sie Vertrauen gefasst.

„Weißt du was“, sagt Neumacher, „ ich sag einfach Klara zu dir, wie das Mädchen im Film. Irgendwann, wenn du Lust hast, sagst du mir sicher deinen richtigen Namen, okay?!“

Er streckt seine große Hand aus. Das Mädchen ergreift sie zögernd.

„A-a-amelie“. Die Aussprache klingt nicht sehr flüssig.

*

Die kleine Wohnung der Familie Kabunke liegt im Souterrain, also unten, aber es ist purer Zufall, dass die Kabunkes Kabunke heißen und ihre Wohnung einem alten Schutzbunker aus dem 2. Weltkrieg nicht unähnlich ist. ´Kabunkes Bunker` ist deshalb ein bei Freundinnen und Klassenkameraden beliebtes weil so richtig kränkendes Schimpfwort, häufig gebraucht um Amelie und ihrer älteren Schwester Lilo klar zu machen, welcher Bevölkerungsgruppe die Kabunkes zuzuordnen sind. Gebildete Zeitgenossen nennen es das Prekariat.

Die Küche in der Kabunke Wohnung scheint für familieninterne Diskussionen am besten geeignet. Das muss an der Akustik liegen. Da das Mietshaus schon älter um nicht zu sagen sehr alt ist, ist die Küche auch alt und wie es früher üblich war bis kurz unter die Decke gefliest. Aber vermutlich nicht wegen Kabunkes bescheidenen Kochkünsten, sondern weil es zur Gründerzeit der meistfrequentierte Arbeitsraum war für fleißige Hausmädchen, die hier feine Damenunterwäsche und Herrenhemden mit steifen Kragen der oben wohnenden Herrschaften wuschen und bügelten. Der Platz wo einmal der mit Holz beheizte mächtige Waschzuber stand ist an den Abdrücken auf dem grau gefliesten Boden noch heute gut auszumachen. Ein hervorragender Raumklang aber ist erhalten geblieben; hier lässt es sich gut und intensiv streiten, reden oder auch lachen über alles was gerade so anliegt im Leben der drei Kabunke Mädchen, wie sich freundliche Nachbarn über Mutter und Töchter gelegentlich äußern.

Mutter Kabunke hat hier schon mit ihrem verstorbenen Mann, einem Herrn Knickhauer, diskutiert und gestritten. Ersatzweise tut sie es heute mit Tochter Lilo. Streitpunkt ist meist das monatlich zu knappe Haushaltsgeld aus der Witwenrente des früh verstorbenen Vaters und über den zu geringen Beitrag zur Wohnungsmiete aus dem kleinen Gehalt von Lilo. Nun war Gottfried Knickhauer kein Vater, den seine Kinder schmerzlich vermissen würden. Aber merkwürdig, seit er der Familie für immer Adieu gesagt hat, einfach ´gegangen` ist wie manche tröstend zu sagen pflegen, seit dieser Zeit hat sich der Eindruck den er hinterließ verändert, man könnte auch sagen verbessert, denn gelegentlich bedauert seine Witwe, dass sie nach seinem Abgang ihren alten Mädchen Namen Kabunke wieder angenommen hat um die Zeit mit dem Unmenschen schneller vergessen zu können, vor allem aber um den Kindern Erinnerungen und Fragen zu ersparen. Die menschliche Natur aber spielte nicht mit, das Gegenteil geschah. Vergessen die Wutausbrüche des Mannes, der ständige Alkoholgenuss, vergessen die Ohrfeigen, vergessen die unter Krokodils Tränen nachfolgenden Entschuldigungen bei gleichzeitig zärtlichem Betatschen der Mädchen. Amelie hat das verdrängt und darüber ihre Sprache verloren. Lilo, die Ältere, die Robustere, hat sich lange selbst die Schuld am Verhalten des Vaters gegeben und verarbeitet die Erlebnisse in dem sie den Frust unkontrolliert an Kevin auslässt, ihrem Motorradfreund. Der nimmt es gelassen, denn erstens ist er verliebt in Lilo und zweitens wird er demnächst studieren, was genau weiß er noch nicht. Vermutlich aber Medizin oder Psychiatrie oder vielleicht auch beides. Lilos Problem hat er ohnehin schon erkannt und mehrfach analysiert. Als Stammgucker von Fernsehserien mit herausragenden Ärzte Teams (vom Zuschauer Alter her ist Kevin da eine Ausnahme), die wöchentlich auf allen Gebieten des menschlichen Leids fantastische, fast immer lebensrettende Leistungen erbringen, fühlt sich der junge Mann schon jetzt medizinisch fit genug um die Probleme von Lilo in fernsehgerechter Fachsprache zu kommentieren. Viel Verständnis dafür kann er von seiner ´Privatpatientin` Lilo allerdings nicht erwarten. Im Gegenteil, das Mädchen reagiert oftmals heftig und droht dem Arschloch die sofortige Trennung an, wenn er nicht aufhört mit dem verlogenen TV- Gesülze.

Was Krankheiten angeht haben die Kabunkes nämlich ganz andere, ernsthafte Sorgen. Häufig sind alle drei geplagt von Erkältungen und verstopften Nasen auf Grund von sanierungsbedürftigen feuchten Wänden in der Souterrain Wohnung. Das hat Schimmelbildung zur Folge, schwere und schwerste Krankheiten können aus so einem chronischen Schnupfen erwachsen. Das lehrt die Praxis, dazu braucht es keinen Kevin und auch kein Fernsehen. Weiteren Diskussionsstoff bietet den Kabunkes die weltweit zunehmende Verderbtheit, die tägliche unerträgliche Leichtsinnigkeit des Seins zum Beispiel im Straßenverkehr, der Voyeurismus und die Manie vieler Leute alles und jedes mit einem Selfie zu dokumentieren.

Ungerechtigkeiten gegen Menschen mit Behinderungen oder Opfern von Naturkatastrophen und Gewalttätern sind zu beklagen und ganz allgemein die Probleme, die sich aus diesen Problemen ergeben. Besonders aber für Familie Kabunke, die sich dann gerne auch untereinander lautstark verständlich macht.

Spätestens dann aber, nach einer kleinen Verschnaufpause und der gewonnenen Einsicht, dass man nun alle Themen wieder mal durch hat, löst sich der entstandene Frust auf in fröhlichem Gelächter, führt manchmal sogar zu mehrstimmig gesungenen treudeutschen Heimatliedern, abgelauscht aus Sendungen wie dem beliebten, gerade neu formatierten Musikantenstadel oder ähnlich unterhaltsamen Events aus längst überholten Zeiten. Das ist der Moment, wo auch Amelie ihre Sprache wieder findet und mit klarer fröhlicher Kinderstimme einsteigt:

´Tanderadei, Tanderadei, schön ist die Jugend, schön ist der Mai, doch noch viel schöner, Tanderadei, ist so ein Leben, in Liebe und Treu!` Und dann können alle drei nicht mehr vor Lachen, wegen diesen unerträglich schnulzig-klebrigen Kitschmelodien. Die Tatsache, dass Lilo sich jetzt mit Lachtränen in den Augen als Küchenhilfe anbietet ändert an diesen Abläufen nichts.

Das Schnippeln von Gemüse ist keine Spezialität von ihr, denkt Mutter Kabunke mit einem Seitenblick auf die farbenfroh lackierten Fingernägel der Ältesten und achtet dadurch weniger auf die eigenen Finger.

„Wieder mal ´ne Kochsendung gesehen, Mama?“

„Gibt´s noch was anderes im Fernsehen?“, kontert Mutter Kabunke.

„Scripted Reality zum Beispiel. Lebensnah und leicht verständlich für jedermann!“

„Stimmt. Da kochen sie auch.“

„Meistens wird gestritten.“

„Bei uns Gottseidank nie“, gibt sich Mutter Kabunke gelassen um gleich darauf weniger gelassen aufzuschreien. Beim Zerkleinern der gelben Rüben war offensichtlich ihr Daumen (der schüttelt die Pflaumen) dazwischen. Lilo gibt das Muttertier und wickelt ihr tröstend ein Papier Küchentuch um den leicht blutenden Finger.

„Nicht den Mut verlieren, Mamma. Das kann dem besten Koch passieren.“

„Hab´ ich aber noch nie gesehen“, lacht Mutter Kabunke. „Jedenfalls nicht in unserem Fernsehen.“

„I-I-Ick soll da hin!“

Amelie stottert nicht, sie hat eine kleine Sprachhemmung. Die ist ihr geblieben nach der väterlichen Fürsorge in der Vergangenheit. Für Lilo und die Mutter überraschend, dass sie sich ungefragt zu Wort meldet.

„Wie da hin? Zum Fernsehen?!“ Was meint sie, die kleine Schwester.

„Zum Fernsehen!“

Amelie wiederholt sich, fast sieht es so aus, als wäre das Angebot ein Grund sich zu schämen.

„Als was, also wieso, wofür denn?“

„Doch nicht als Schauspielerin?“ Mutter Kabunke ist vorsichtig, auch mit der Schnippelei von den Möhren.

„A-a-als Schauspielerin.“

„Ick werd´ verrückt, wieso das denn?“

„Du warst heute inne Kantine Leergut holen, stimmt´s?“ Lilo erinnert sich.

„S-s-stimmt.“

„Ja und dann, wat weiter?“

A-auf dem Gelände hat einer, da hat einer mich enga...giert. Du sollst ihm anrufen, Mamma. Hier ist die Nummer.“

„Ausgerechnet du!“, kann sich Lilo nicht zurückhalten. „Du mit deinem Lispler!“

„Und wann soll det sein? Du hast jeden Tag Schule!“

„Mittwoch, den g-g-anzen Tag und vielleicht ooch Donnerstag.“

„Siehste, kannst du gleich vergessen!“

„Mittwoch ist Feiertag, Mamma!“

„Mittwoch ist übermorgen!“

Immer noch hält Amelie ihrer Mutter den Zettel mit der Telefonnummer hin.

„Die a-a-ndere Zahl ist det Geld. Für jeden T-t-tag krieg ich das!“

Lilo schielt jetzt über die Schulter der Mutter nach dem Papier. Ein wenig ärgert sie sich, dass nicht sie auserwählt ist, bei ihrer prima Figur und den sauberen, nein, den gepflegt bunten Fingernägeln. Aber dann siegt ihr praktischer Sinn über die Eitelkeit.

„Ey, Mamma, sei bloß nicht doof. Wenn Amelie Karriere macht fällt für die janze Familie wat ab.“

„Was sind das für Leute, Kind? Wat is´ n det überhaupt für´ n Film?“

„Doch kein Porno, hä? Bloß so wat nich!“ Obwohl sie grinsen muss macht Lilo sich Sorgen.

„Ein Film mit T-t-tieren und einer Mut-t-ter wie Mamma.“

„Okay, wird schon okay sein“, sagt Lilo, denn heutzutage gibt´s ja mehr Laien als echte Schauspieler im Fernsehen.

„Gib her, ick ruf da mal an und dann sehen wir zu, dass Amelie ihre große Chance nicht verpasst, okay?!“

Sie wirft einen flüchtigen Blick auf den Zettel.

„Handy müsste man haben! Allerhöchste Zeit!“

„Dein K-K-Kevin hat Handy!“ flüstert Amelie und erlaubt sich ein Lächeln.

„Genau, du Spionin! Genau da geh´ ick jetzt hin. Aber vorher noch zur Telefonzelle. Der Kerl muss ja nich alles wissen von uns, okay!?“

„Ein Herr Gerok, musst du v-v-verlangen. Oder Herr Neumacher, egal.“

„Mach ick, mach ich, mein Superstar! Warte.“ Sie kramt in ihrem modischen Rucksack und fördert ein paar übertrieben große Ohrringe zu Tage.

„Für dein Glück ist mir nichts zu viel. Kriegst meine neuen Affenschaukeln für die Aufnahme, okay!“

Sie steckt sie der Schwester an und betrachtet sie skeptisch. Mutter Kabunke schüttelt den Kopf. Irgendwie will Amelies Kindergesicht nicht zu den aufdringlichen Ohrklunkern passen.

„Sieht Scheiße aus!“ Lilo ist ehrlich. „Nee, Mäuschen, mit den Ringen allein kannste kein Blumentopf gewinnen und schon gar nicht den ollen ´Bambi`. Ein funky Fetzen muss her. Galaktisch, da darf nicht gespart werden, Mamma!“

„Und woher soll ick det Geld nehmen, bitte? Kann sie nicht wat von dir anziehen?“

„Ja, geht´s noch! Sie hat nich mal Titten, sorry Kleine, noch keinen Busen. Wow, det muss schrill aussehen, wie Lady Gaga oder die blonde Tussi vom Hilton. Echt stylen müssen wir dich! Mega in muss sie aussehen! Vielleicht ´n geilen Stoff kaufen und du nähst ihr wat, Mamma?! Ich geb´ Knete dazu!“

„Ein Kleid bis Mittwoch! Sonst noch was? Das sind ein Tag und zwei Nächte!“

„Mamma, biiiiiitte! Du schaffst das. Ick übernehm´ die Kocherei, Mamma!“ Lilo ist fasziniert von der gewaltigen Aufgabe, die da anscheinend auf die Familie zukommt.

„Und Staub wischen und die Küche hinterher wieder blitzeblank, ooookayyy!“ sagt Mutter Kabunke und zieht das amerikanische Wort lang wie einen Bubble-Gum Kaugummi.

Draußen ist jetzt die dünne Hupe eines Leichtmotorrads zu hören. Lilo reißt das Fenster auf und schreit durch die Gitterstäbe.

„Oky-Doky! Bin gleich soweit, Kevin!“ Und zu Amelie und der Mutter sagt sie.

„Siehste ey, schon wieder wat eingespart. Ganzes Abendessen!“ Und knallt das Fenster wieder zu um noch schnell ein Timing zu entwickeln.

„Also, morgen früh punkt neun, wenn´s Kaufhaus aufmacht, besorg ich mit Amelie den Stoff. Kevin schafft ihn umgehend hierher mit seiner Maschine. Ick mach´ meinen Job, Amelie Schule, und Mamma näht wie verrückt bis die Finger bluten. In der Mittagspause, wenn unser Kind Schule aus hat, besorgen wir beide noch´ n paar Asses ...“

„Accessoires“ korrigiert Mutter Kabunke.

„Meinetwegen, also allet wat sonne Glamour Tussi halt brauch. Wat die verkackten Hungerhaken so tragen.“

Von draußen ist wieder die dünne Hupe zu hören. Lilo rafft ihre Sachen zusammen, gibt Amelie und ihrer Mutter den obligatorischen Abschiedskuss.

„Und nach dem Essen gleich inne Kiste. Mamma, guck drauf, dass sie nicht wieder ewig lang liest. Det macht Falten. Ist nich jut für ´n Fernsehstar!“

Und schon knallt sie die Wohnungstür zu.

Zeit vergeht, leise wird eine andere Tür geöffnet. Mutter Kabunke steckt den Kopf herein und sieht nach Amelie.

Die liegt in ihrem Bett und schläft tief. Aber sie scheint zu träumen, sieht das freundlich eindringliche Gesicht des Drehbuchautors Neumacher vor sich, der ihr zuflüstert.

„Ich wollte dich fragen ob du sie spielen willst, die Rolle? Meine Klara auf dem Bauernhof. Sag einfach ja. Bitte. Wir brauchen dich, Amelie. Sag ja, sag ja.“

Blühende Wiesen, Felder, das Bauernhaus. Quer über den Hof kommt ´Räuber`, der Hirtenhund gelaufen. Amelie streichelt ihn, spricht lachend auf den Hund ein, fehlerfrei, ohne zu lispeln.

„Was ist denn? Was ist denn bloß los? Hörst du das? Hört ihr mich!“

Gemeinsam machen sie einen Rundgang zur Pferdekoppel, zum Schwein Philomena, begrüßen die Kühe auf der Weide, die beiden Perlhühner ´Pitti` und ´Putti`.

Amelie lacht, wirkt gelöst und glücklich, redet in einem fort, ganz dialektfrei.

„Ich kann s p r e c h e n! Ich kann ganz normal s p r e c h e n! Wie alle Kinder. Wie alle Menschen. Mamma, Lilo, ich kann alles reden was ich will. Hört doch, hört mich doch...“

Laut ratternd wird der alte hölzerne Rollladen hochgezogen. Das grelle Licht der Morgensonne blendet Amelie, die sich blinzelnd im Bett aufrichtet.

„Guten Morgen, großer Fernsehstar!“ sagt Lilo und gibt ihr einen liebevoll schwesterlichen Kuss.

„Sieben Uhr! Du übst wohl schon für deine Rolle, wat? Denn mal raus ausse Kiste, hier ist harte Realität, det wirkliche Leben! Mamma hat schon Frühstück fertig!“

Gnadenlos reißt sie das Fenster auf, Sonnenstrahlen kitzeln, kühle Morgenluft strömt herein.

Würde die Geschichte verfilmt werden, wären jetzt Schnittbilder im Zeitraffer angesagt, lesen tut es sich so: Im Kaufhaus wühlt Lilo in Bergen von Stoffen. Rollt die Ballen auf, schlingt ein paar Meter davon um die still daneben stehende Schwester, greift zum nächsten Ballen, schwätzt begeistert, ohne Punkt und Komma, auf Amelie ein. Ein Motorradfahrer saust durch die Innenstadt. Es ist Kevin, auf dem Gepäckträger hat er das Paket mit dem Stoff. In der Kosmetik Abteilung probiert Lilo Lippenstifte aus. Sie fühlt sich inzwischen selbst als Fernsehstar. Amelie steht bescheiden daneben, nimmt mit großen Augen teil am Geschehen und Lilo redet und redet.In der Souterrain Wohnung schneidet Mutter Kabunke den Stoff zu. Schüttelt hin und wieder den Kopf. Irgendwie kommt ihr die Sache merkwürdig vor, unrealistisch halt, so wie fast alles im Fernsehen.Eine Verkäuferin setzt Lilo Perücken auf, hält ihr verschieden farbige Haarteile an den Kopf. Es dauert einige Zeit bis Lilo sich erinnert, dass nicht sie es ist die beim Fernsehen mitspielen wird. Die Fachfrau Verkäuferin soll sich mal um Amelie kümmern. Die kleine Schwester ist der kommende Star!Beine mit Stöckelschuhen staksen durchs Bild. Ein Berg mit Schuhkartons liegt bereits auf einem Haufen. Amelie sitzt geduldig dabei.Mutter Kabunke lässt ihre Nähmaschine rattern. Es ist Nacht. Immer wieder schüttelt sie den Kopf, sie ist müde.

In ihrem Bett Amelie. Sie hat ein Frotteetuch um den Kopf gewickelt. Ruhig schläft sie, trotz der feuchten Haare. Auf dem Nachttisch tickt laut ein altmodischer Wecker. Jäh wird das friedliche Bild durch lautes Klingeln unterbrochen.

Amelie grapscht nach dem Wecker und stopft ihn unter die Bettdecke. Aber das Klingeln will nicht aufhören - weil an der Wohnungstür geklingelt wird. Der Fahrer von Gerok-Film hat es eilig. Er klingelt wieder und wieder. Ein Fenster im Souterrain öffnet sich, Lilo schaut raus und brüllt.

„Yo Mann! Sie kommt gleich!“

Der Fahrer nickt gleichmütig, er macht nur seinen Job und der heißt immer pünktlich sein, egal welchen Star er gerade zum Set fährt.

Im Hof sind jetzt Trippelschritte zu hören: Klack, klack, klack, klack! Zuvorkommend öffnet der Fahrer die Schiebetür vom Kleinbus mit der unübersehbar gut lesbaren Aufschrift: Gerok-Film GmbH.

Nachbarn, hinter Vorhängen verborgen, schauen neugierig hinaus. Auch Lilo und Mutter Kabunke sehen Amelie nach, die bereits im Wagen sitzt, der jetzt anfährt und aus dem Innenhof verschwindet. Eine mickrige Staubwolke bleibt zurück.

Das Bauernhaus hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hof aus Amelies Traum. Auch fehlen die Tiere, von denen Neumacher so viel erzählt hat. Dafür herrscht hektisches Treiben, die Fernsehleute richten das Motiv ein. Es werden Schienen gelegt, Lampen und Sonnenblenden herangeschleppt, verkabelt, abgekabelt, umgekabelt, alles nach Anweisungen des Oberbeleuchters, der wiederum seine Orders vom Kameramann erhält und der hat mit dem Regisseur schon gestern besprochen, wie die Szene gedreht werden soll.

Im Maskenmobil korrigiert die Maskenbildnerin das Make-up der älteren Schauspielerin, die die Mutter im Film darstellt. Gleichzeitig redet der Regisseur auf die Frau ein. Erzählt ihr worum es ihm in dieser Szene geht; zum wievielten Mal er das erzählt, weiß er vermutlich selber nicht. Der Regisseur ist nervös, das merkt jeder. Es ist seine erste Regie.

Denn bisher hat Neumacher lediglich als freier Drehbuchautor für´ s Fernsehen gearbeitet. Für den heutigen Drehtag aber, auf ausdrücklichen Wunsch des Produzenten, musste er die Verantwortung für alles was am Set geschieht übernehmen. Entsprechend aufgeregt ist er, der Regisseur Hilmar Neumacher. Das überträgt sich auf sämtliche Mitarbeiter, die kleinen Rädchen im Getriebe ganz unten, und die großen Macher weit oben. Deshalb also Hektik, Ärger, und schlechte Stimmung.

Einige Leute vom Team versuchen jetzt das Pferdefuhrwerk in die filmgerecht richtige Stellung zu bringen. Aber der Gaul will nicht so wie der Regieassistent es gern hätte.

„Probleme?“

Es ist Gerok, der Produzent, der aus dem Bauernhaus kommt und über den Hof schreit. Der Besitzer des Anwesens kann über das Durcheinander das die Filmleute anrichten nur den Kopf schütteln. Gerok klopft ihm beruhigend auf die Schulter. Alles geht seinen Gang und Freundlichkeit im Chaos vermeidet höhere Kosten.

Jetzt verlässt Neumacher das Maskenmobil, sieht sich suchend, ratlos auf dem Hof um. Der Produzent geht hinüber und ruft ihm laut und für alle vom Team verständlich zu.

„Langsam wird`s Zeit! Wo bleibt denn ´Das stille Leuchten`?“

Neumacher zuckt die Achseln, er ist für die Disposition nicht zuständig, das weiß Gerok natürlich, trotzdem wird möglichst der Regisseur für Verzögerungen verantwortlich gemacht, auch wenn er schuldlos ist weil die Aufnahmeleitung versagt hat, was schon mal vorkommt, denn die Damen und Herren dort sind hin und wieder von Drehbuch und Umsetzung überfordert.

Das sollte auch der Bauer vom Bauernhof als unbedarfter Zuschauer wissen, aber ihm hat vorsichtshalber keiner was erklärt, weshalb er auch keine Ahnung hat warum es bei Film- und Fernsehaufnahmen zugeht wie´s zugeht.

Endlich! Endlich kommt ein Auto den holprigen Feldweg zum Hof herauf gefahren. Aber es ist nicht der sehnlichst erwartete Kleinbus der Filmproduktion, sondern ein alter Opel.

Der Mann am Steuer hat sich offensichtlich verfahren, darauf macht ihn der aufgeregte Set-Aufnahmeleiter durch lautes Geschrei aufmerksam.

„Hey, weg! Fahren Sie weiter! Weiter, weiter! Sie sind mitten Bild, Mann!“ schreit er mit überschnappender Stimme obwohl noch gar nicht gedreht wird. Das scheint den Mann am Steuer sowieso nicht zu interessieren.

Jo Walder wendet, dreht eine Kurve, fährt so unaufgeregt von Hof wie er gekommen ist und macht Platz für den Kleinbus der Gerok-Film GmbH. Der Fahrer scheint die richtige Zufahrt verpasst zu haben, die ist ja vom feinsten geteert, aber egal jetzt. Auf ein Zeichen des Set-Aufnahmeleiters hält der Bus in einiger Entfernung vom Pferdefuhrwerk.

´Ein Engel geht durchs Zimmer` heißt es bei Film und Fernsehen, wenn urplötzlich und ohne sichtbaren Anlass alle Mitarbeiter stehen bleiben, die Arbeit liegen lassen, sich nicht mehr bewegen, wenn im hektischen Betrieb für eine Minute die totale Stille eintritt.

Ein Engel ist Amelie Karbunke sicher nicht, als sie zögerlich, ganz vorsichtig aus dem Auto steigt und über den mit holprigen Steinen gepflasterten Hof stöckelt.

„Das darf ja nicht wahr sein!“ stöhnt der Regisseur und Drehbuchautor Hilmar Neumacher und die Leute von Fernsehteam tun es ihm nach, wenn auch lautlos und hinter vorgehaltener Hand.

Amelie ist kaum wiederzuerkennen.

Auf den platinblonden steifen Dauerwellen wippt ein kokett modisches In-Schleierhütchen, galaktisch, der letzte Schrei heute; Rüschen und Spitzen umfließen den mageren Kinderkörper, die Füße stecken in hochhackigen Lackstiefelchen, ebenfalls ausgesprochen funky! Den künstlichen ´Fuchs` muss Amelie alle paar Sekunden zurechtrücken, weil er auf den schmalen Schultern keinen Halt findet. Wow, echt schrill, genau wie die dürren Modelmädchen im Privat Fernsehen.

Vor Gerok und Neumacher bleibt die Kleine stehen und wirft einen langen Blick durch maximal getuschte Wimpern auf die beiden Herren, die hier das Sagen haben.

Produzent und Regisseur sind völlig überwältigt von Amelies Metamorphose. Gerok findet als erster die Sprache wieder. Er klatscht sich, beinahe grunzend vor Vergnügen, auf die Schenkel. Auch im Team erholen sie sich, der Bann ist gebrochen, sie kichern, pfeifen, applaudieren kräftig.

„Rührend, unschuldig, armselig!“ Der Produzent kann sich kaum halten vor Lachen. „Genau wie die Stories von unserem Neumacher!“

Amelie versteht gar nichts. Nur, dass etwas Furchtbares passiert sein muss fühlt sie unklar. Tonlos bewegt sie die knallrot lackierten Lippen. Neumacher ist zutiefst berührt, beschämt. Unendlich behutsam streicht er der Kleinen über die Wange.

Das Schleierhütchen auf Amelies blonden Dauerlocken beginnt leicht zu zittern.

Irgendwo kräht ein Hahn.

*

Jo tuckert mit seinem Uralt-Opel in eine Tankstelle, der Motor stirbt ab. Die letzten Meter zur Zapfsäule muss er das kleine Auto schieben. Der Tankwart denkt nicht daran ihm zu helfen, er fummelt an einem Motorrad herum, das leider nicht anspringen will. Jo sieht ihm zu, scheint darüber nachzudenken weshalb er hier eigentlich rumsteht. Im Radio in der Tankstelle singt Helene Fischer „Atemlos“. Das neue Motorrad des Tankwarts ist ähnlich wie seines war, brabbelt Jo plötzlich. Deshalb kann er dem Mann auch zeigen, warum es nicht anspringt. Die Diebstahlsicherung! Und tatsächlich, nach kurzer Zeit läuft die Maschine wieder. Trotz dieser Hilfe ist der Tankwart zunehmend genervt über Jos wirre Sprüche. Um ihn loszuwerden, fängt er an den Opel zu betanken. Jo rastet aus, so viel Sprit braucht er nicht, er wohnt ja gleich um die Ecke in der Körnerstraße. Wenn nur die Scheiß Kopfschmerzen nicht wären. Er fummelt in seinen Hosentaschen herum. Schlüssel, Feuerzeug und Zigaretten fallen auf den Boden. Ein paar Münzen. „Bin gleich zu Hause.“ „In der Körnerstraße“, sagt der Tankwart und verdreht seine Augen. Jo nickt, sieht sich um, in seinem Kopf hämmert es. „Hier is´ Potsdam, Meister, kannste mir ruhig glauben, Mann!“ „Verarschen kann ich mich selber“, knurrt Jo, steigt in den Opel und fährt ab ohne zu bezahlen. Der Tankwart sieht ihm fassungslos nach. Er betrachtet das von Jo reparierte Motorrad, zieht dann aber sein Handy heraus und tippt den Notruf, die 110 ein. Jo brettert über die Landstraße. Die Bäume rechts und links stehen wie eine Mauer. Aber dann bewegen sie sich plötzlich, wollen nach ihm greifen. Jo zwingt sich sehr viel genauer hinsehen. Das sind keine sich bewegenden Bäume. Es sind Bulldozer, Schaufelbagger mit grellgelb blinkenden Warnleuchten die ihn fassen wollen, riesige Ungeheuer mit monströsen Armen sind hinter ihm her mit schrill klingelnden Tönen.

*

In der Wohnung Körnerstraße, im Radio, singt Helene Fischer immer noch ´Atemlos`. Das Lied hat anscheinend kein Ende, weshalb von der Familie Walder auch keiner zuhört. Frühstück. Jens (6) und Alicia (10) unzufrieden, meckern geräuschvoll, sind lebhaft, nerven ihre Mutter. „Das schmeckt Scheiße!“ Jens spricht trotz seiner Jugend aus was er denkt. „Wegen der Rosinen“, ergänzt Alicia. „Ihr mögt doch sonst immer Rosinen.“ Mutter Angela will jeden Streit vermeiden. Sohn Jens, rücksichtlos, man könnte aber auch sagen ´Kindermund`, belehrt sie. „Mama, Rosinen sind nur gut im Kuchen.“ „Kuchen gibt´s nicht zum Frühstück.“ Die vernünftige Mutter wieder. „Doch“. Der unvernünftige Sohn. “Der Opa macht Rosinen in den Kuchen“, weiß Alicia. “Der Opa schläft noch. Und ihr seid jetzt leise.“ „Der Opa schläft nicht“. Jens nun wieder. “Der Opa arbeitet nachts, deshalb muss er am Tag schlafen.“ „Der Opa schläft nicht.“ „Der Opa ist gar nicht da! Also schläft er auch nicht, Mama.“ „Woher wollt ihr das wissen?“ „Weil das Bett leer ist!“ Die Kinder im Gleichklang. Beide springen wie von der Tarantel gestochen auf und rennen hinüber in Jos Zimmer. Angela hinterher. Das Zimmer ist leer, das Bett unbenutzt. „Und seine Tabletten hat er auch nicht genommen. Der Dummkopf wird nie erwachsen!“ Das Telefon klingelt schrill. Angela in der Wohnung nimmt ab und erstarrt förmlich. Die Polizei fragt nach einem Jonathan Walder. Mein Schwiegervater ist nicht von der Arbeit nach Hause gekommen, sagt sie, sehr ungewöhnlich. Was?! Das würde er niemals tun, tanken und nicht bezahlen. Wir sind anständige Leute, schreit Angela. Ja, okay, sie wird sich bei der Polizei melden, wenn er hier auftaucht. Keine Ahnung, wo er sich wieder mal rumtreibt!

Der Linksabbieger

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