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2 | Das Werk von Nerds

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Kehren wir noch einmal zurück zu der bemerkenswerten Transformation von Muybridges Bewegungsbildern in eine digitale Datei, wie sie im Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia zu seinen Motion Studies zu beobachten ist. Aus der Gegenüberstellung der beiden verschiedenen Medienversionen desselben Vorgangs ergeben sich erste Beobachtungen über die spezielle Natur der GIF-Animation.

Vergleichen wir zunächst die technischen Ausgangsbedingungen, unter denen die beiden medialen Formate entstanden sind: Beide sind Produkte der avanciertesten Technologie, die zur jeweiligen Zeit zur Verfügung stand. Muybridges Bilder waren zu ihrer Zeit Ausdruck des aktuellen Stands der visuellen Darstellungstechnik. Der durch den Bau der Central Pacific Railroad reich gewordene Stanford hatte Eadweard Muybridge für seine Aufnahmen ein großzügiges Budget zur Verfügung gestellt. Der nutzte dafür nicht nur nagelneue stereoskopische Objektive, die sich durch eine besondere Tiefenschärfe empfahlen,16 sondern auch Relaisschaltungen, »die bemerkenswerterweise die San Francisco Telegraph Supply Company, also eine […] Medienindustriefirma, geliefert hatte«, um die Kameras auszulösen.17

Das Gelände der Stock Farm in Palo Alto, auf der Muybridge seine High-Tech-Experimente durchführte, gehörte seinem Gönner Stanford und ist heute Teil des Campus der Universität, die Leland und seine Frau Jane Stanford 1891 gründeten. Die Stanford University ist heute eine der Spitzenuniversitäten der USA, die besonders im Fach Informatik zu den weltweit führenden Ausbildungsinstitutionen zählt. 1969 wurde im Stanford Research Institute (SRI), unweit des Orts, an dem Muybridge seine Fotoexperimente mit Bewegtbildern durchführte, einer der ersten vier Knoten des Advanced Research Projects Agency Network (ARPANET) eingerichtet, aus dem später das Internet hervorging. Absolventen der Stanford University gründeten die Unternehmen, derentwegen Palo Alto und die umliegende Gegend heute als »Silicon Valley« bekannt sind.

Muybridges Fotoserien mögen noch keine Medienangebote aus dem Silicon Valley à la Facebook, Twitter oder Netflix gewesen sein. Aber sie waren auf jeden Fall das Produkt technischer Höchstleistungen ihrer Zeit, für die dem Fotografen ein Team versierter Spezialisten zur Seite stand. Seine Aufnahmen des galoppierenden Araberhengstes wurden 1878 im Scientific American und in anderen angesehenen Blättern veröffentlicht. (# 2) Als Muybridge – dessen Landschaftsaufnahmen des Yosemite Valley in den USA dazu beitrugen, die Fotografie als eine eigene Kunstform zu etablieren – seine gesammelten chronofotografischen Aufnahmen 1887 in einer elfbändigen Ausgabe veröffentlichte, war diese so teuer, dass sie sich nur wissenschaftliche Einrichtungen und einige berühmte Persönlichkeiten leisten konnten: In Berlin wurde die komplette Ausgabe mit 700 Bildtafeln in der Buchhandlung Mittler & Sohn für 2.000 Mark angeboten. Zu den Käufern gehörten unter anderem die Berliner Universität, die Akademie der Künste und Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke.18

# 2 Eadweard Muybridge: »The Horse in Motion« (1878)

Im Vergleich zu dieser elitären Entstehungsgeschichte hat die GIF-Animation eine wesentlich plebejischere Herkunft. Zwar wurde auch sie von einem Team gut ausgebildeter Spezialisten auf dem neuesten Stand der Wissenschaft entwickelt, war auch sie ein Triumph der Kunst der Repräsentation über die Einschränkungen technologischer Dispositive. Aber letztlich wurde das GIF erfunden, um die Dateigröße von Farbbildern zu verkleinern. Dank einer verlustfreien Kompression sollten sie online so schnell übertragbar sein wie zuvor Schwarz-Weiß-Bilder. Außerdem sollte das Format auf allen damals gebräuchlichen Computern dargestellt werden können. Das GIF war also eine technische Lösung für ein technisches Problem, mehr nicht. Es sollte keine wissenschaftlichen Hypothesen beweisen, und dass sich daraus eine eigene Kunstform entwickeln würde, hat niemand beabsichtigt.

Die Schöpfer dieser technischen Innovation waren keine legendären, schillernden Figuren wie der rauschbärtige Muybridge, der 1874 den Liebhaber seiner Frau erschoss. Das GIF war das Werk einer Gruppe von Nerds. Bis heute ist es niemandem gelungen, Steve Wilhite und den Programmierern, die 1987 das »Graphics Interchange Format« entwickelten, eine detaillierte Geschichte ihrer Erfindung zu entlocken – auch wenn das zu den diversen Jubiläen des GIFs, die in den letzten Jahren begangen wurden, immer wieder versucht wurde. Abgesehen von seiner abwegigen Forderung, dass man den Namen des Dateiformats »Dschif« aussprechen müsse (also mit einem weichen englischen G, als würde das Wort »Jif« geschrieben), hat es selbst die New York Times nicht geschafft, historisch Relevantes aus Wilhite herauszuholen.19

Die Mitglieder von Wilhites Arbeitsgruppe sind genauso unbekannt wie die Techniker, die Muybridge bei seinen Aufnahmen geholfen haben. Es gibt kaum Bilder von ihrem Wirkungsort und außer den beiden technischen Spezifikationen 1987 und 1989 auch keine Dokumente ihrer Arbeit. Die Bilder des Gebäudes von CompuServe am Arlington Centre Boulevard, einer Ausfallstraße in Columbus, Ohio, zeigen einen gesichtslosen Bürokomplex, und man liegt sicher nicht falsch, wenn man sich den Ort, an dem das GIF entstand, als ein Großraumbüro vorstellt, in dem Dilbert-artige Programmierer in ihren Cubicles an klobigen Computern hockten. CompuServe hat sich das Dateiformat nicht einmal patentieren lassen.20

Der Unterschied zwischen diesem öden Unort und der Weide an einem von Zedern gesäumten Weg in Palo Alto, wo Muybridge seine Bilder aufnahm, ist also genauso groß wie die Technikkultur, innerhalb derer ihre jeweiligen Erfinder operierten. Muybridges Erfindung war Teil der zweiten industriellen Revolution. Hatte die erste dank der Dampfmaschine die körperliche Arbeit automatisiert, mechanisierte die zweite mit Hilfe der Elektrizität die Wahrnehmung: Der Hörsinn wurde durch Telefon und Grammofon technisch erweitert, das Sehen durch Glühbirne, Fotografie und Film.

GIF gehört zur dritten industriellen Revolution, in der Arbeitsprozesse und Dienstleistungen digitalisiert wurden. Es ist zunächst nicht mehr als eine Marginalie, ein winziger Baustein im Prozess der Entmaterialisierung und Mobilisierung von Informationen, der mit der Durchsetzung des Internets ganze Branchen im Sinne eines postfordistischen kognitiven Kapitalismus umformte und den viele Unternehmen nicht überlebten – ironischerweise auch CompuServe, das wenige Jahre später Opfer seines eigenen Erfolgs werden sollte.

Das Unternehmen war ein US-amerikanischer Konzern, der ähnlich wie IBM in der Nachkriegszeit den Fortschritt der Computertechnik für die sich entwickelnde Dienstleistungsgesellschaft nutzte. Die Firma war 1969 als Tochterunternehmen der Golden United Life Insurance gegründet worden, um einen Zentralcomputer zu betreiben, von dem aus die Büros der Versicherungsfirma in den gesamten USA Zugriff auf die Verträge ihrer Kunden hatten. Weil der PDP-10-Computer, der hierfür angeschafft worden war, mit dieser Aufgabe nicht ausgelastet war, verkaufte man bald Rechenzeit auf der Maschine an andere Unternehmen – ein Verfahren, das zu dieser Zeit als »Time Sharing« bekannt war und das man heute als »Cloud Computing« bezeichnen würde. 1979 öffnete sich CompuServe für Privatkunden, um seine Infrastruktur auch in der Nacht auszulasten, wenn die Geschäftskunden den Dienst nicht benutzten.21

Frühe Personal Computer (PC) wie der Apple II oder der Commodore PET konnten ab 18 Uhr für neun Dollar pro Stunde mit den Rechnern der Firma verbunden werden. So entstand in den achtziger Jahren das größte Online-Portal für Privatkunden in den USA. Schon 1981 bot man Online-Versionen von Zeitungen wie der New York Times oder der Washington Post an. Es gab E-Mail, Börsenkurse, Spiele, Online-Shopping, Reisebuchungen und Diskussionsforen sowie Bild- und Software-Sammlungen, die von den Usern mit Inhalt gefüllt wurden.22 CompuServe war fast wie das Internet von heute, bloß mit einem Geschäftsmodell, das anders als bei Firmen des gegenwärtigen Überwachungskapitalismus wie Google oder Facebook nicht vorsah, das Geld mit Online-Werbung und Kundendurchleuchtung zu verdienen. Ab 1994 bot CompuServe seinen Kunden Zugang zum Internet an.

Dieses nicht-kommerzielle Netz, in dem alles kostenlos war, zerstörte in der Folge die Einnahmequellen der Firma. Das Internet war von Akademikern und Hackern entwickelt worden, die nicht an Gewinnmargen dachten, sondern ein neues Instrument zur Verbreitung von Informationen bauen wollten. Eine Firma, die mit der Verwaltung einer knappen Ressource – dem Zugang zu Rechnerzeit auf teuren Computern – Geld verdient hatte, konnte in diesem neuen Umfeld mit seiner Geschenkökonomie und seinem nutzergenerierten Überfluss nicht überleben. 1997 wurde CompuServe an AOL verkauft, wo man den Dienst nach und nach ins eigene Angebot einordnete. 2009 wurde die Firma, die zu dieser Zeit nur noch ein Markenname war, aufgelöst.

Das GIF war wie eine Laborratte, die rechtzeitig aus der Forschungsabteilung einer behäbigen big corporation entkommen konnte, bevor die New Economy der schlanken, datengetriebenen Unternehmen der Firma den Garaus machte.

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