Читать книгу Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer - Страница 5

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Sharani fröstelte in der klaren, kalten Morgenluft. Du spinnst, Mädel, sagte es in ihrem Kopf immer wieder. Rennst mal wieder vor deinem Glück davon. Und dann die andere Stimme, die sie daran erinnerte, dass ihr Glück ganz woanders lag. Nicht in einem bürgerlichen, monotonen Alltag, vielleicht gar noch in einer Ehe, nein! Nicht mal mit Johnny, nicht mal mit ihm. Außerdem wollte sie dem jungen Glück mit dieser Gabi nicht im Wege stehen, fügte sie trotzig hinzu. Wie er dagelegen hatte, mit offenem Mund, ganz entspannt, so verletzlich. Sie wusste, dass sie ihm den Dolch in die Brust gestoßen hatte. Sie konnte sich genau ausrechnen, was in der schlaflosen Stunde in ihm vorgegangen war, sie kannte ihn so gut.

Aber sie hatte keine Wahl. Ihr Weg war nicht sein Weg. Sie musste nach Poona, sie musste zu Bhagwan, musste die Freiheit wählen, das Leben im Hier und Jetzt, die Spontaneität, die Hingabe ans Leben – Sharani, Surrender to existence. Sie konnte sich keinen Klotz ans Bein binden, selbst wenn der Klotz Johnny hieß. Johnny, ja. Hannes ging ihr nicht in den Kopf, geschweige denn ins Herz.

Sie hatte es nicht eilig. Kurz nach zehn fuhr der Zug nach Frankfurt, von wo aus sie den Flieger nach Bombay nehmen wollte. Vorher musste sie noch in der Kommune vorbei und ihren Rucksack holen, sich verabschieden von Harito und Nalini, Briefe für alle möglichen Sannyasins mitnehmen.

Immer noch sah sie Johnny vor dem inneren Auge, wie er da lag, halb auf der Seite, tief schlafend. Er schlief ja nicht nur in dieser Stunde. Er verschlief sein ganzes Leben, schlief den Schlaf der Unbewusstheit, aus dem sie erwacht war durch die Begegnung mit Ihrem Meister, mit Bhagwan. Hätte ich ihn ein bisschen bearbeiten sollen – ihm klar machen, dass er mit offenen Augen schlafwandelnd durchs Leben geht? Hätte ich ihn locken sollen, mitzugehen nach Poona? Sie schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken zu verscheuchen. Er wäre garantiert nicht mitgegangen. Er hatte sich in seinem spießigen Leben eingerichtet. Hatte einen Job, eine Wohnung, eine Verlobte, die er in sechs Wochen heiraten würde. Und er hatte nicht ihre Abenteuerlust, ihre Sehnsucht nach mehr, nach der Tiefe, nach dem Ganzen. Er war zufrieden mit der Aussicht, die nächsten vierzig Jahre jeden Morgen in sein Büro zu gehen, zwei oder drei Kinder großzuziehen, in den Ferien mit dem Wohnwagen nach Jugoslawien zu fahren und ab und zu seinen Stammtisch zu besuchen. Besuchen, das war der richtige Ausdruck. Er war überhaupt nur auf Besuch in diesem Leben, wie alle anderen auch.

Nein. Sie wollte sich nicht fesseln lassen von einer Liebe, die sich als Illusion herausstellen würde, die auf Sand gebaut war, auf der Unbewusstheit. Sie war erwacht, wollte immer wacher werden, musste ihren Weg gehen.

Die Straßenbahn kam, sie stieg ein.

Wenige Stunden später saß sie im Intercity nach Frankfurt, in einem Abteil mit einem Paar um die fünfzig. Während die Frau sich sichtlich Mühe gab, sie zu ignorieren, starrte der Mann sie eine Zeit lang verstohlen, aber ungehemmt neugierig und eindeutig lüstern an, bevor er sich zuerst seiner Zeitung und später dem Leberwurstbrot zuwandte, das ihm die treusorgende Gattin reichte.

Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie. Sie hatte nicht mehr als anderthalb Stunden geschlafen. Kurz nach Nürnberg schlief sie ein. Träumte bunt und wild, sie schwimmt in einem See mit unendlich klarem Wasser, Johnny steht am Ufer und streckt sehnsüchtig die Hand nach ihr aus, ruft etwas, doch kein Laut ist zu hören. Sie taucht unter, in eine Welt voller seltsamer Wesen, findet sich plötzlich in hohen Straßenschluchten wieder, Manhattan oder Shanghai, aber alles menschenleer, der Wind weht ihr leere Plastiktüten um die Füße.

Kurz vor Würzburg wachte sie wieder auf, als das ältere Paar geräuschvoll seine Sachen packte. Der Mann hob einen riesigen Koffer aus dem Gepäcknetz und stellte ihn auf den Boden, setzte sich dann noch einmal und starrte sie an, während seine Frau Taschenspiegel und Lippenstift herauszog. Sharani hatte das Gefühl, der Mann ziehe sie mit den Augen vollständig aus. Wahrscheinlich hatte er etwas über die freie Liebe in Poona gelesen und darüber, dass die hübschen jungen Bhagwan-Jüngerinnen ohne viel Federlesens mit jedem Mann ins Bett gingen. Einen Moment dachte sie daran, ihn zu provozieren, und seine Alte dazu. Aber dann fragte sie sich, wozu. Die waren für ihr trostloses Leben selbst verantwortlich. Sie wandte sich zum Fenster und sah hinaus, auf die unterfränkischen Hügel, die Weinberge, den Main, die Schnellstraße. Sie drehte sich den beiden nicht mehr zu, bis sie – grußlos – das Abteil verlassen hatten. Als sie draußen waren, fühlte Sharani sich gleichzeitig erleichtert und verlassen. Die beiden hatten ungefähr das Alter ihrer Eltern, die irgendwo da draußen ihr Kleinstadtleben lebten, keine fünfzig Kilometer entfernt. Nein, sie hatte die Eltern nicht besucht vor ihrer Abreise. Die verstanden ja gar nichts.

In Würzburg stiegen jede Menge Leute in den Zug, die meisten schauten kurz in ihr Abteil und gingen dann weiter. Mit ihren roten Klamotten schien sie wohl gefährlich zu sein. Oder aussätzig? Jedenfalls so anders, dass niemand ihre Nähe suchte. Bis dann schließlich doch die Tür aufging. Sharani sah erst auf, als sich ein oranges Hosenbein in ihr Blickfeld schob, orange Socken in roten Wildlederschuhen… „Namaste, Ma“, sagte eine tiefe Stimme, dann ließ der Neuankömmling sich auf den Sitz ihr gegenüber plumpsen. „Auch unterwegs nach Hause?“

Der Swami hatte einen riesigen Rucksack dabei. Die zerzausten Haare reichten ihm auf die Brust, das Gesicht verschwand fast vollständig hinter einem dichten Vollbart. „Nach Hause? Nee, ich bin unterwegs nach Poona“, antwortete sie. „Meine ich doch“, lachte der Vollbart. Sie erwiderte das Lachen nicht. Der Blick, mit dem er sie ansah, unterschied sich nicht viel von dem des Alten, der gerade ausgestiegen war. Ein Fickswami. So nannte sie für sich die Männer, bei denen die spirituelle Suche eindeutig der freien Liebe untergeordnet schien.

„Also, ich bin der Sajeev.“

Interessiert mich nicht die Bohne, wer du bist, solange du mich so angaffst, dachte Sharani und lehnte sich wieder zurück. „Du, sorry“, sagte sie, „ich bin wahnsinnig müde.“

„Hey, relax doch mal“, sagte der Vollbart namens Sajeev. „Du bist ja total verspannt.“

„Am besten kann ich relaxen, wenn du mich bis Frankfurt schlafen lässt“, murmelte Sharani. „Aber weck mich dann, wenn wir da sind, okay?“

Sajeev zog beleidigt die Nase hoch, aber er ließ sie in Ruhe. Aus seinem Mammutrucksack zog er ein Büchlein von Bhagwan. Na immerhin, er interessiert sich anscheinend doch auch für das, was Bhagwan zu sagen hat, dachte Sharani noch, dann schloss sie die Augen. In zwei Tagen würde sie wieder in Poona sein. Und ja, der Vollbart hatte Recht, es war ihr Zuhause. Der Ashram in Poona war mehr ihr Zuhause als irgendein anderer Ort auf Erden.

Sie erinnerte sich, wie sie das erste Mal vor dem großen Tor stand, im bunten Hippiekleid, doch schon voller Sehnsucht, dazuzugehören zu der rot gewandeten Schar. Mehr noch – es war schon eine Gewissheit, dazuzugehören, vom ersten Moment an, schon als sie das erste Mal in Poona aus dem Zug stieg und sich nach endloser Fahrt die eingeklemmten Glieder geradezurichten versuchte, schon da spürte sie etwas. Wie ein großes Willkommen, wie eine Liebe, wie ein Zuhause. Ein paar Sannyasins, die sie in Bombay kennen gelernt hatte, nahmen sie einfach mit, führten sie hinunter zum Koregaon Park. Und je näher sie dem Ort kam, an dem der seltsame Guru lebte und lehrte, desto ruhiger und gleichzeitig aufgeregter wurde sie. Ja, beides. Aufgeregt, weil etwas in ihr sagte: Du bist da, du bist angekommen, und sie konnte es kaum erwarten, endlich Ihn zu sehen, Bhagwan Shree Rajneesh. Und ruhig, weil sie wusste: Hier ist es, ich habe gefunden, wonach ich lange gesucht habe.

Es war ganz anders als dort, wo sie gerade herkam. Zuerst die lange, abenteuerliche Fahrt mit Utz, Harald und Bine im VW-Bus. Schon diese Fahrt war eine riesige Enttäuschung. Sie hatte sich eine spirituelle Suche vorgestellt. Dachte, sie würden in den islamischen Ländern, durch die sie kamen – die Türkei, dann Iran, Afghanistan, Pakistan – vielleicht irgendwelche Sufi-Meister aufspüren, wenigstens tanzende Derwische sehen oder in einer persischen Mysterienschule Halt machen. Aber Utz, der das Sagen hatte, interessierte sich auf einmal gar nicht mehr so sehr für das mystische Zeugs, sondern war im Grunde immer nur auf der Suche nach gutem Hasch. In Afghanistan wurde er fündig, fläzte erst einmal drei Tage dauer-stoned in der Hängematte, dann verstaute er den Vorrat des dunkelbraun-krümeligen, würzig duftenden Stoffs in einem gut getarnten Rohr, das er vorsorglich irgendwo in den Wassertank geschweißt hatte. Nach sechs anstrengenden Wochen überquerten sie die pakistanisch-indische Grenze, und selbst den fiesen indischen Zöllnern blieb das Geheimfach verborgen. Sie nahmen den halben Bus auseinander, aber das Rohr im Wassertank fanden sie nicht. Dann steuerten sie den VW-Bus zwischen Kühen, Rikschas, Fahrrädern und altersschwachen Lkws über unmögliche Straßen durch Rajasthan und den halben indischen Subkontinent. Kamen schließlich in Rishikesh an, dem spirituellen Zentrum im Tal des Ganges am Fuß des Himalaya, wo schon die Beatles meditiert hatten. Endlich kam nun doch das spirituelle Thema auf die Tagesordnung. Utz und Harald wollten unbedingt zu Maharishi Mahesh Yogi, denn sie hatten in Deutschland schon einen Workshop in Transzendentaler Meditation besucht und wollten den Gründer unbedingt persönlich sehen. Endlich, dachte Jeannie, endlich. Sie war wirklich wild entschlossen, bei einem Guru in die Lehre zu gehen, ob Maharishi oder wer sonst.

Sie stellten den Bus in der Nähe der Ram Jhula ab, der unteren der beiden Hängebrücken über den Ganges, und begannen die Suche nach Maharishis Ashram. Ein paar Hippies, die sie nach dem Weg fragten, hatten keinen blassen Schimmer, der nächste meinte nur: „Maharishi? Der ist zurzeit gar nicht hier, der ist in Europa oder USA.“ Das ist ja wohl nicht wahr, war alles, was Jeannie dazu einfiel. Sie beschloss, es einfach nicht zu glauben. Es gab so viele Gerüchte unter den Rucksacktouristen!

Schließlich fanden sie einen jungen Inder, der bei den Stichworten Maharishi und Ashram heftig mit dem Kopf wackelte. Jeannie hatte inzwischen gelernt, dass es sich dabei wohl um ein Ja handelte, und schon setzte sich der Junge in Bewegung. „Follow me“, sagte er und winkte sie hinter sich her. Über die Brücke, durch breite, ungepflasterte, baumgesäumte Straßen ging es, dann standen sie vor einem Tor. „Das ist der Ashram von Maharishi“, erklärte der Junge in seinem melodiösen indischen Singsang. Utz drückte ihm ein paar Rupien in die Hand, dann wandte er sich an den Wachmann in dem Torhäuschen. Der wackelte ebenfalls mit dem Kopf, aber auf eine Weise, die Nein bedeutete. „Maharishi ist nicht da. Er ist gerade in Europa unterwegs.“

„Scheiße.“ Mehr fiel Utz erst mal nicht ein. Wie begossene Pudel standen sie vor dem Ashramtor herum. Da fahren wir um die halbe Welt und dann erfahren wir, dass wir nur hätten zu Hause bleiben müssen. Das war ja ein Witz, aber ein schlechter.

„Frag ihn doch mal, wann er wiederkommt“, drängte sie Utz.

„Hat er schon gesagt. In sechs Wochen oder so.“

Jeannie konnte es immer noch nicht so recht glauben. Sie sah sich um, sah an dem Wachhäuschen ein schwarzes Brett mit einigen Zetteln daran. Da stand es auch noch mal schwarz auf weiß: Der Maharishi war ausgeflogen.

„Na gut.“ Es musste doch einen Weg geben. „Wir sind in Rishikesh, und ganz in der Nähe ist Haridwar, da gibt es doch jede Menge Gurus und heilige Männer. Wir werden schon einen finden, mit dem wir meditieren können“, schlug Jeannie vor.

Doch Utz winkte ab und Harald schüttelte den Kopf. „Nee, wenn schon, denn schon. Ich will zum Maharishi. Deswegen sind wir doch so weit gefahren.“

„Aber er kommt doch erst in sechs Wochen zurück. Was sollen wir denn so lange machen?“

„Da wird sich schon was finden“, meinte Utz achselzuckend. Enttäuscht kehrten sie zum Bus zurück. Die anderen hielten sich nicht lange mit ihrer Enttäuschung auf. Stattdessen widmeten sie sich dem Pot, das sie aus Afghanistan mitgebracht hatten.

„Können wir nicht einen anderen Guru suchen?“, fragte Jeannie eins ums andere Mal, aber Utz und Harald wollten nichts davon wissen und Bine war sowieso alles egal. Jeannie war zuerst sauer, dann verzweifelt. Welchen Sinn hatte es, einmal quer durch den Orient zu fahren, um dann, am Ziel der Reise, im Haschischnebel zu versinken? Waren sie nicht aufgebrochen, um spirituelle Erfahrungen zu machen? „Reg dich ab“, nuschelte Utz träge, total stoned. „Du willst dein Bewusstsein erweitern? Das kannst du doch genauso einfach damit!“ Und er hielt ihr den fetten Joint hin, den er gerade gedreht hatte. Sie schlug ihn ihm aus der Hand. „Dein scheiß Shit kannst du behalten, verdammt, ich will zu einem Guru!“

„Dann geh doch“, grinste Utz breit und hob in aller Seelenruhe den Joint wieder auf, blies den Sand weg und fingerte nach seinem Feuerzeug. „Es hält dich keiner auf.“

Aber wie sollte sie einfach zu irgendeinem Guru gehen? Sie wusste ja nicht einmal genau, wie man sich so einem heiligen Mann zu nähern hatte. Und schon gar nicht, wo man einen Guru finden konnte, der Europäer als Schüler annahm. Utz und Harald wussten es wahrscheinlich genauso wenig, aber immerhin waren sie ein paar Jahre älter und hatten mehr Erfahrung. Von Bine hatte sie nichts zu erwarten, das war klar. Die würde nur zum Guru gehen, wenn Harald ging. Sie war überhaupt nur Haralds Schatten. Wenn er meditieren wollte, würde sie meditieren, wenn er vögeln wollte, war sie geil, wenn er ihr anschaffte zu kochen, kochte sie. Jeannie war stocksauer, aber die anderen interessierte das gar nicht.

Okay, dachte sie, du bist Jeannie, dir kann keiner was. Mach dich auf den Weg und hock hier nicht untätig rum. Sie packte ihre Umhängetasche und stieg hinunter zur Straße, schlug den Weg zum Ganges ein. In den islamischen Ländern, durch die sie gekommen waren, wäre es undenkbar gewesen, als Frau allein unterwegs zu sein; hier in Indien hatte sie keine Angst, speziell an einem Ort, an dem so viele Sadhus und Yogis unterwegs waren und auch jede Menge Hippies und Gottsucher aus dem Westen. In einer Dhaba an der Ram Jhula bestellte sie einen Chai, setzte sich auf die wacklige Holzbank, schaute über den Fluss und versuchte einen Plan zu machen, wie sie einen Guru finden konnte.

Sie hatte gerade einmal an der Schale genippt, da setzte sich ein Mann neben sie. Ende zwanzig, groß gewachsen, braun gebrannt, schulterlanges Haar, um den Hals baumelten mehrere Ketten aus Muscheln und Glasperlen. „Hi there. Where are you from?” Die üblichen ersten Fragen unter Travellern. „How long have you been travelling?“ Jeannie war froh, jemand zum Reden zu haben, und lächelte den Fremden an. Der lächelte aus auffallend blauen Augen zurück. „I’m Rob“, stellte er sich vor, „from Leiden, Netherlands.“

Ihr Englisch war ziemlich holperig, aber sie gab ihr Bestes. Sie fragte Rob aus. Was hatte ihn nach Rishikesh gezogen? War er auch auf der Suche? Ihr Herz machte einen Sprung, als er von einem Ashram erzählte, indem ein gewisser Shree Satpal Ji lehrte, auch Maharaji genannt. „Maharaji? Ist das ein Guru? Kannst du mich zu ihm bringen?“ Rob lachte ein tiefes, voll tönendes Lachen. „Siehst du“, sagte er mit seinem holländischen Akzent, „du brauchst gar nicht zu suchen, das Leben findet dich von selbst.“ Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen vor Sonnenaufgang an der Lakshman Jhula, der anderen Brücke, die sich drei Kilometer entfernt ebenfalls über den Ganges spannte. Dann sagte Rob noch einen Satz, der sich Jeannie einbrannte: „Maharajis Lehre ist ganz einfach: Erkenne dich selbst. Erkenne das Bewusstsein, das alles durchdringt. Das bist du.“

Das war es. Danach hatte sie gesucht. Das Bewusstsein, das alles durchdringt. Sie verabschiedete sich von Rob und stand auf. „Morgen früh, halb fünf“, rief er ihr nach. „Ich warte hier auf dich!“ Sie drehte sich zu ihm um, hob den Daumen. „Ich komme, versprochen.“ Dann setzte sie den Fuß auf die schmale, fragil wirkende Hängebrücke, tauchte ein in den Strom der Sadhus in orangen Dhotis, der Hippies mit ihren Fransentaschen und der indischen Bauern, Geschäftsleute und Hausfrauen im farbenprächtigen Sari.


***

Als sie ihren ersten und einzigen Trip warf, hätte Jeannie nie vermutet, dass er sie ziemlich direkt in diese bunte, aufregend fremde Welt führen würde. Eigentlich hatte sie sich so gut wie gar nichts davon versprochen, außer, dass es ein bisschen Abwechslung bringen könnte, Ablenkung von dem ewigen Kreisen um Johnny, Johnny, Johnny. Um seinen Brief, den letzten, den sie von ihm bekommen hatte, in dem er ihr unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er sie nie, nie, nie wieder sehen wollte. Sie hatte es nicht geglaubt und sofort geantwortet, aber schon nach zwei Tagen lag ihr eigener Brief wieder im Kasten. Ungeöffnet. Zurück an Absender. Da wusste sie, dass er es diesmal ernst meinte.

Und das Gedankenkarussell fing an zu kreiseln. Warum nur, was hätte ich denn anders machen sollen, was hätte, wäre, könnte… All die nutzlosen Grübeleien. Sie wollte runter von dem Karussell. Nahm dankbar an, als Bine, die Kollegin von der Kardiologie, sie zu einer Party einlud.

Eine WG in einem Altbau, abbröckelnde Stuckdecken, das ehemals edle Parkett total zerkratzt, mit Farbspritzern bekleckert, ein großes Wohnzimmer, mit Matratzen ausgelegt, darauf bunte indische Tücher, ein großer Flokati, Räucherstäbchen, Tropfkerzen auf Flaschen überall im Raum, in den Ecken irgendwelche Abfälle. Bücher, Zeitungen, Flugblätter auf allen Flächen, Teller mit Essensresten, umgekippte Gläser, laute Musik von King Crimson oder sonst einer Underground-Band, sie kannte sich da nicht so gut aus, trotz ihrer langen Geschichte mit Johnny. Zwei Dutzend Leute, Männer mit langen Haaren und Bärten, Frauen in indischen Kleidern, Silberschmuck, Dutzende von Ketten und Ringen, Federn, Schals. Die Atmosphäre stickig von Rauch unterschiedlicher Herkunft, laute Gespräche, Lachen, Diskutieren. Genau das Richtige, um für einen Abend auf andere Gedanken zu kommen.

Hier lernte Jeannie Utz kennen. Utz war ein Hüne, dem das Haar bis weit über die Schultern fiel. Nickelbrille, Vollbart, ein dicker Joint zwischen den Fingern. Ihr gefiel, wie er mit lauter Stimme über Dinge redete, von denen sie bestenfalls ein Viertel verstand, wobei ihr nicht ganz klar war, ob das an ihrer Unwissenheit lag oder an dem offenkundigen Durcheinander seiner Gedanken. Er schien ziemlich high zu sein, wer weiß wovon. Irgendwann stand sie in der verdreckten Küche neben ihm und fragte, wo es Weißwein gebe. Er maß sie von oben bis unten mit dem Blick, dann grinste er spitzbübisch hinter seinem Vollbart und sagte: „Ich hab auch bessere Sachen als Weißwein.“ Jeannie wollte erst dankend ablehnen, dann überlegte sie es sich anders. Sie wollte doch auf andere Gedanken kommen. Da kam ein Experiment mit einer mutmaßlich verbotenen Substanz doch gerade recht.

„Ich hätte ein schönes Acid da…“

Ein bisschen misstrauisch schaute Jeannie das Stückchen Löschpapier an, das Utz ihr auf die ausgestreckte Hand gelegt hatte. Das sollte einen Trip geben? Wie Utz ihr geraten hatte, legte sie das Papier auf die Zunge, lutschte daran herum. Es schmeckte nach gar nichts, allenfalls nach Pappe. Aber es waren ja auch nur 150 Mikrogramm LSD drauf. Schmecken konnte man das keinesfalls. Allerdings wusste sie als Krankenschwester sehr genau, welch gewaltige Wirkung manche Chemikalien schon in geringster Dosierung entfalten, warum also nicht auch Lysergsäurediethylamid.

Sie ging wieder ins Zimmer, setzte sich auf eine der Matratzen, wartete. Eine ganze Weile tat sich gar nichts, doch nach einer halben Stunde schienen die Gläser und Flaschen vor ihr auf dem Tisch die Form zu ändern, wie in einem Zerrspiegel. Plötzlich konnte sie die Musik, die immer langsamer in immer dickflüssigeren Tropfen, farbigen Schlieren, aus den Lautsprechern rann, schmecken. Utz kam vorbei, lachte sie an. Seine Worte widerhallten hundertfach in ihrem Kopf. „Na, spürst du schon was?“ Über diesen absurden Satz musste sie schrecklich lachen, und das Lachen quoll ihr wie Seifenblasen aus Mund und Nase. Sie wurde immer leichter, wurde selbst zur Seifenblase. Begann zu schweben. Die Musik trug sie wie eine Fontäne hinauf, immer höher, zur Zimmerdecke, durch die Decke hindurch in einen wilden Zauberwald, in dem kleine pelzige und fedrige Tiere durch violette Schatten huschten. Die Gesichter der Leute im Zimmer waren auf die riesigen Urwaldbaumblätter gemalt, die Gespräche verebbten in unendlicher Langsamkeit. Die Musik wurde immer blaustichiger, dann auf einmal explodierte sie in kräftiges Orange, durch den Zauberwald sah sie das Zimmer, die Balkontür, wollte hinaus, den Himmel sehen. Sie stand auf, durch den Schwung des Aufstehens segelte sie bis an die Decke, ging kopfunter an der Decke entlang, sah alles von oben, es war unglaublich lustig. Ihre Bewegungen waren extrem verlangsamt, wie in Sirup, überhaupt wurde alles wie Sirup, dicker, minzefarbener Sirup, ihre Stimme wie Sirup, die mächtige Gestalt von Utz wie Sirup, alles löste sich auf in Sirup, in Sirup.

Dann war der Sirup weg.

Alles war weg.

Die Wände des Raums kippten weg.


Sie schwebte im Weltall, Milliarden und Abermilliarden von Sonnen kreisten, dazwischen sie, schwebend,

die Sonnen kreisten in ihrer Brust


sie schwebt inmitten der Sonnen

die Sonnen kreisen in ihr

innen ist außen, außen innen

sie fällt

stürzt



alles fällt durch sie

stürzt in sie hinab, durch sie hindurch, in ihre Mitte


ihre Mitte ist die Mutter der Galaxien


Galaxien lösen sich auf


sie stürzt

ins Bodenlose

kein Boden nirgends


keine Sterne mehr

gleißende Dunkelheit

grell schwarzes Licht



All-eins-Sein

Glückseligkeit

zeitlos unendlich



Fülle

Nichts





























Ewigkeit

























aus der Leere ein Sein



aus der Fülle eine Wahrnehmung




ein Name

Zeit


ein Körper


Raum

Schwere

Grenzen


ein Zimmer, Kerzen, Rauch, Menschen. Viele liegen auf den Polstern, manche schnarchen.

Wie viel Zeit ist vergangen? Es müssen Jahrmilliarden gewesen sein, eine Nanosekunde.

Verwirrung.

Ein Gefühl, ein Geschmack.

Glückseligkeit. Sie hat die Glückseligkeit erlebt. Sie war Glückseligkeit. Sie war das All. Sie war die Myriaden Galaxien, die Abermilliarden Sonnen, sie war Raum und Zeit und Raum und Zeit waren in ihr, sie war Eins und Alles und Nichts und…

landet wieder in dem Zimmer, in ihrem Körper, in ihrem Leben.

Eine Spur der Glückseligkeit lebt in ihr weiter. Sie will sie festhalten und weiß instinktiv, dass das nicht geht.

Sie will allein sein, doch da ist Utz. „Na, wieder gelandet?“

„Wie lang war ich unterwegs?“

„Keine Ahnung. Sechs Stunden, acht?“

Sie schüttelt den Kopf. Sechs Stunden. Absolut unsinnig.

„Wie war’s? Wie war deine Jungfernfahrt?“

Sie will nichts erzählen. Das Geheimnis bewahren. Die Glückseligkeit nicht zerreden.

„Alles war Sirup. Und ich konnte die Musik schmecken und kopfunter an der Decke gehen.“ Das kann sie erzählen und sie weiß, es ist besser, dem Wolf einen Brocken hinzuwerfen, dann gibt er sich zufrieden und reißt ihr nicht das Fleisch aus den Rippen, schneidet ihr nicht die Glückseligkeit heraus.

Utz lachte. „Und? Gut?“

Jeannie nickte. Sie fühlte sich unendlich müde und hellwach. „Habe ich geschlafen?“

Utz zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe dich nicht bewacht. Hätte ich sollen?“

Sie grinste schwach. „Ich muss mal.“ Ihre Rettung, wie so oft, die Toilette. Sie schaute in den Spiegel, versuchte mit der Tatsache klarzukommen, dass sie wieder einen Körper hatte. Nach Äonen des glückseligen All-eins-Seins erschien es ihr wie eine Strafe, eingesperrt zu sein in dieses materielle Etwas, von dem sie früher einmal gemeint hatte, sie sei identisch mit ihm.

Sie behielt ihre Erfahrung für sich. Sie war ihr heilig und diese Heiligkeit durfte nicht gestört werden. Jetzt wusste sie, was Heiligkeit bedeutet. Über alles, was landläufig als heilig galt, konnte sie nur müde lächeln.

Sie war versucht, es wieder zu probieren. Aber sie hatte genug über psychedelische Drogen gehört. Jeannie wusste, dass sich diese Erfahrung mit größter Wahrscheinlichkeit so nicht wiederholen würde. Sie wusste, dass sie ein großartiges, einmaliges Geschenk erhalten hatte, das sie nicht entweihen wollte durch den Versuch, es noch einmal zu erleben.

Trotzdem ging sie seit dieser Nacht in der WG ein und aus. Zum einen wegen Utz, der ihr gefiel. Zum anderen, weil sie in der WG so viele interessante Leute traf. Es wurde nicht nur Gras und Acid konsumiert, es wurde nicht nur über den Kapitalismus und die Revolution diskutiert, es gab auch Leute, die wundersame Dinge erzählten vom Meditieren, von den östlichen spirituellen Wegen. Utz und Harald hatten selbst schon Erfahrungen in der Transzendentalen Meditation des Maharishi. Sie waren zwar noch nicht geflogen, wie das angeblich bei solchen Meditationen passieren konnte, aber sie hatten beide an verschiedenen Retreats teilgenommen. Und im kommenden Jahr wollten sie nach Indien fahren.

Einmal kam einer vorbei, der Jogi genannt wurde. Ein hagerer, asketisch wirkender Dreißigjähriger mit langem, dünnem Bart, der nicht rauchte, keinen Alkohol trank und keine Drogen nahm. „Das ist doch alles überflüssig“, sagte er abfällig. „Wenn ihr meditiert, habt ihr dieselben Erfahrungen und viel bessere. Die absolute Glückseligkeit.“

Glückseligkeit?

Sollte es tatsächlich einen Weg geben zu ihrer Erfahrung des All-eins-Seins?

„Kann man auch die Erfahrung machen, dass alles eins ist und man selbst Teil von allem und alles Teil von einem selbst?“ Das hatte sie gar nicht fragen wollen, aber sie war so aufgeregt angesichts der Möglichkeit, die Jogi andeutete.

Jogi blickte milde auf sie herab. „Das ist ja genau das, wovon ich spreche. Das ist das Ziel des spirituellen Weges.“

„Und man kann tatsächlich dahin kommen?“

Jogi nickte bedeutungsvoll. „In der Tat, das kann man. Allerdings nicht von heute auf morgen. Du musst viele Jahre jeden Tag üben. Und du brauchst einen Meister.“

„Und wo findet man einen Meister?“

Jogi wiegte den Kopf. „Da wirst du schon nach Indien gehen müssen. Manche Meister kommen zwar auch in den Westen, wie der Maharishi. Aber sie bleiben immer nur kurz und wenn du wirklich den Weg gehen willst, musst du lange, lange zu Füßen des Meisters sitzen. Das geht nur in Indien.“

In dem Moment war Jeannie klar, dass sie sich an Utz hängen musste. Er war keineswegs ihr Traummann – es gab sowieso nur einen Traummann, aber sie hatte beschlossen, den Namen Johnny nicht mehr zu denken (worin sie selbstredend grandios scheiterte). Aber immerhin, Utz hatte schon etwas. Und das reichte, um mit ihm eine Art Beziehung aufzubauen. Eine Beziehung, die eng genug war, dass er sie mitnahm auf seinen Trip nach Indien. Wo sie hoffte, endlich einen Weg zu finden, ihrer mystischen Erfahrung wieder nahe zu kommen.


***

In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Während Utz neben ihr in seinem Schlafsack schnarchte, wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie war wahnsinnig aufgeregt. Wie vor dem ersehnten Rendezvous mit einem lange aus der Ferne angeschmachteten Kerl, wie vor einer Prüfung, von der ihre gesamte Zukunft abhing. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie schlüpfte aus dem Schlafsack, kletterte nach unten, stieg aus dem Bus ins Freie. Die kalte Nachtluft machte sie zittern. Vorsichtig, um die anderen nicht zu wecken, kramte sie in dem Klamottenhaufen, der sich auf dem Beifahrersitz angesammelt hatte, nach ihrem Alpaka-Pullover. Der Mond schob sich gerade über den gegenüberliegenden Hügelkamm und tauchte diese Seite des Tals in ein zauberisches Licht, während die andere im Tintenschatten lag. Ein Hund bellte in der Ferne, ein anderer antwortete. Ansonsten Totenstille. Kein Lüftchen bewegte die Blätter. Sie lauschte in die klare Stille. Erkenne das Bewusstsein, das alles durchdringt. Das bist du. Ihr war, als erklängen in der Stille auf einmal silberne Glöckchen, ein Windspiel, kaum hörbar, doch durchdringend, von einer überirdischen Süße. Sie spitzte die Ohren, um den Klang genauer wahrzunehmen, doch dann konnte sie gar nicht mehr unterscheiden, ob es wirklich Schallwellen in der Luft waren, die an ihr Trommelfell drangen, oder ob sie das Klingen nicht auf einer ganz anderen Ebene vernahm, mit einem ganz anderen Organ. Sie schlang die Hände um ihren Oberkörper, um sich halbwegs warm zu halten, und bewegte sich langsam vom Bus weg, hinunter ins Tal. Tauchte ein in den tiefen Schatten, der gar nicht so schwarz und lichtlos war, wie er von oben wirkte. Nahm die ganze Fremdheit der Umgebung auf, die Gerüche, die so anders waren als zu Hause – der Rauch der Herdfeuer aus getrockneten Kuhfladen, die Räucherstäbchen vor den Hausschreinen, menschliche und tierische Exkremente, seltsame Düfte und Aromen, die sie nicht näher bestimmen konnte und die ihr jedes Mal, wenn sie sie bewusst wahrnahm, unmissverständlich klar machten, dass sie in einer anderen Welt angekommen war.

Sie näherte sich dem Zentrum. Obwohl es mitten in der Nacht war, saßen an jeder Ecke ein paar Männer, um ein kleines Feuer gekauert, Fahrräder schoben sich quietschend durch die Dunkelheit, Menschen mit und ohne Gepäck waren unterwegs nach wer weiß wo. Je näher sie dem Fluss kam, desto stärker hörte sie sein Rauschen, zuerst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher. Die Brücke spannte sich waghalsig über den Ganges, silbern schimmernde Wellen. Zu den vielen Düften kam jetzt noch der Geruch des Wassers, doch auch das Wasser roch anders als der Main zu Hause.

Einen Moment lang kam sie sich ganz einsam und verlassen vor. Mutterseelenallein, achttausend Kilometer von zu Hause entfernt, unter Menschen, deren Sprache sie nicht verstand und deren Kultur ihr fremd und unverständlich vorkam. Doch im nächsten Moment fühlte sie sich aufgehoben und geborgen. Erkenne das alles durchdringende Bewusstsein. Deshalb war sie hier. Dieses Bewusstsein, von dem sie den Zipfel einer Ahnung spürte, war in allen dasselbe – in den Indern an ihren Lagerfeuern wie in ihr selbst, in Utz, der oben im VW-Bus schnarchte und in Rob aus Holland, der sie in ein, zwei Stunden zum Guru führen würde.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. Es lohnte sich kaum, noch einmal zum Bus zurückzugehen. Frierend suchte sie den Weg zur oberen Brücke, das Laufen wärmte sie kaum. Wann ging endlich die Sonne auf! Der Himmel im Osten hatte sich noch kein bisschen aufgehellt, es mochte vier Uhr sein. An der Lakshma Jhula angekommen, hüpfte sie auf der Stelle und trabte ein paar Runden im Kreis, um sich etwas aufzuwärmen, als Robs tiefe Stimme sie aus der Dunkelheit ansprach. „Hi there“, begrüßte er sie wieder. „Du bist ja tatsächlich gekommen!“

„Ich hab’s doch versprochen“, antwortete sie. Hatte er ihr nicht geglaubt?

Statt auf ihre Antwort einzugehen, sagte Rob nur: „Komm!“ Er griff nach ihrer Hand, sie gab sie sie ihm gern. Robs Hand war groß und warm, er wirkte stark und entschlossen. Das gefiel ihr. Ihre Eingeweide wussten, dass sie mit ihm schlafen würde, früher oder später.

Rob hatte einen dicken Wollpullover an, einen Armeeparka, zwei oder drei Schals und eine Mütze. Ich bin eindeutig unpassend gekleidet, dachte Jeannie noch, da zog er sie schon mit sich. Nur ein paar Ecken, dann standen sie vor einem eher unauffälligen Haus mit einer großen Veranda, auf der sich im beginnenden Morgengrauen schon einige Gestalten herumdrückten.

„Wo ist der Guru?“, fragte Jeannie flüsternd. Sie wusste nicht genau, was sie sich vorgestellt hatte, aber hier war definitiv kein Guru zu sehen. Rob flüsterte zurück: „Der hat sich vorgestern für eine Woche Schweigen in seine Kammer zurückgezogen. Aber“, fügte er gleich hinzu, als er Jeannies Enttäuschung spürte, „die Kammer ist gleich da hinter der Wand, die an die Veranda stößt. Er ist also praktisch anwesend. Du kannst seine Energie spüren, darauf kommt es an.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Wir suchen uns einen Platz auf der Veranda und meditieren.“

Na toll. Sie würde sich also hinsetzen und versuchen, sich zu konzentrieren und an nichts zu denken. Hinter Rob kletterte sie auf die hölzerne Veranda hinauf, suchte sich einen einigermaßen windgeschützten Platz an der Mauer. Verflixt, warum habe ich mich nicht wärmer angezogen! Rob schien ihre Gedanken lesen zu können. Er wickelte sich aus einem seiner drei Schals und gab ihn ihr. Sie schlang ihn sich um Hals und Ohren und versuchte, so gut es ging, auch noch die Hände darin einzuhüllen, die klamm und eiskalt waren. Kaum hatte sie sich halbwegs bequem hingesetzt, kam eine Frau auf sie zu und begann ebenfalls flüsternd, aber eindeutig wütend auf sie einzureden. Jeannie verstand kein Wort, aber der Tonfall machte unmissverständlich klar, was Sache war. Anscheinend hatte sie es gewagt, sich auf einen reservierten Platz zu setzen und der unverständliche Wortschwall musste in etwa bedeuten: Schleich dich, du dumme Tussi! Hier sitze ich! Einen Moment rang Jeannie mit sich selbst, ob sie sich auf einen Streit einlassen sollte oder sich als der totale Neuling lieber trollte. Im Moment schien es ihr tatsächlich klüger, nachzugeben. Ohne aufzustehen, robbte sie einen Meter nach vorn. Jetzt hatte sie den Windschatten verloren und hatte keine Wand mehr, um sich anzulehnen. Rob saß schon im Schneidersitz, die Hände auf den Knien und die Augen geschlossen, reglos da. Seine Silhouette zeichnete sich scharf gegen den Himmel ab, der nun im Osten doch allmählich von einem fahlen Indigo in ein Violett, ein beginnendes Rot überging. Ein paar kleine Wolkenfetzen standen hoch oben unbeweglich, färbten sich gerade orange, die Farbe der Sadhus, der Eremiten und heiligen Männer.

Sie versuchte eine einigermaßen entspannte Sitzposition zu finden und sich zu konzentrieren.

Und das war nicht so leicht.

Gar nicht leicht.

Die blöde Kuh! Meint wohl, sie hätte einen Anspruch auf diesen Platz!

Jeannie versuchte den Gedanken wegzuschieben.

Aber er kam immer wieder.

Blöde Kuh, blöde Kuh, blöde Kuh!

Und dann der nächste Gedanke: Hey, die hält sich wahrscheinlich für besonders heilig. Ganz nah dran am Guru, praktisch nur durch eine dünne Holzwand getrennt. Hält sich wohl für was Besseres. Gar nichts ist besser an der! Egoistische Kuh, blöde!

Unwillig versuchte Jeannie erneut, den Gedanken wegzuschieben. Aber der war hartnäckig. Kam immer wieder.

In einer Ecke der Veranda war jetzt ein kleiner Sonnenfleck zu sehen. Breitete sich allmählich aus. Aber es war immer noch bitter kalt. Jeannies Hände waren taub, an der Nase hing ein kalter Tropfen. Der Hintern schlief ihr langsam ein, die Sitzhaltung war derart unbequem. Vorsichtig sah sie sich um, versuchte, nur die Augen zu bewegen, nicht den Kopf. Die anderen hatten praktisch alle ein Kissen unter sich. Nur ich bin zu blöd, mir die Ausrüstung zu besorgen! Wie komme ich eigentlich auf die Idee, ich könnte meditieren! Wie komme ich auf die Idee, das sei etwas für mich…

Sie versuchte, die Sitzposition ein bisschen zu verändern, und merkte, dass ihr rechtes Bein eingeschlafen war. Der helle Fleck auf dem Holzfußboden hatte sich ausgebreitet, aber noch immer war von der Wärme der Sonne nichts zu spüren. Jeannie fühlte ihre Füße nicht mehr; sie wusste nicht, ob das an der Kälte lag oder daran, dass sie auch eingeschlafen waren.

Kalt, kalt, kalt…

Und dann wieder: Ich hatte so einen guten Platz, so schön windgeschützt, und dann kommt diese blöde Kuh und verjagt mich. Was bildet die sich eigentlich ein! Redet vorn herum wahrscheinlich ganz toll vom Inneren Licht und von der kosmischen Liebe, aber hinten rum tritt sie dich in den Arsch. Blöde Kuh! Ja, ja, All you need is love, yeah. Verdammter Mist, noch mal!

Ob John Lennon auch so gefroren hat? Nee, Quatsch, die waren ja wohl im Sommer hier, oder? Den Bildern nach zu schließen, die sie vom Aufenthalt der Beatles beim Maharishi gesehen hatte, war es warm gewesen.

Ich halt’s nicht mehr aus.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit bisher vergangen war.

Wie lange sollen wir hier eigentlich rumsitzen?

Von den anderen hatte sich noch niemand gerührt. Die haben alle Übung. Meditationsfreaks. Bloß ich bin die blöde Anfängerin. Was habe ich mir eigentlich gedacht?

Sie versuchte die Zehen zu bewegen, aber sie hatte kein Gespür mehr darin.

Ich kann nicht mehr.

Wozu soll das alles eigentlich gut sein?

Sie holte tief Luft.

Schluss. Aus. Ich mag nicht mehr.

Aufgeben? Sie hatte ja noch gar nicht richtig angefangen.

Die Sonne beschien jetzt die Hälfte der Veranda, nur bis zu ihrem Platz war sie noch nicht vorgedrungen. Sie blinzelte. Dort drüben saß Rob, eingehüllt in einen warmen Schein; die Strähnen, die ihm wirr um den Kopf hingen, leuchteten im Gegenlicht. Gerade als sie zu ihm hinübersah, bewegte er behutsam seine Schultern, ließ sie etwas kreisen, saß dann wieder unbeweglich.

Okay, Schluss. Es geht nicht mehr.

Sie gab auf. Vorsichtig wickelte sie die steifen Hände aus dem Schal, stützte sich ab, begann die Beine auseinanderzuknoten. Streckte das linke vor, dann das rechte, das sie nicht mehr spürte. Doch, jetzt spürte sie etwas. Eine Million Eisnadeln punktierten ihre Wade. Doch im Fuß hatte sie immer noch kein Gefühl. Endlich schaffte sie es, wenigstens auf die Knie zu kommen, doch als sie versuchte, sich aufzurichten, knickte ihr rechtes Bein einfach weg. Beinahe wäre sie auf die Gestalt neben ihr gefallen, die unbeweglich, in eine Decke gehüllt, da saß. Irgendjemand schnalzte ärgerlich mit der Zunge.

Wahrscheinlich die blöde Kuh, die mir den Platz weggenommen hat.

Die Eisnadeln waren inzwischen im Fuß angekommen. Wenigstens spürte sie wieder etwas. Behutsam setzte sie den Fuß auf den Boden. Er trug. Behutsam suchte sie sich ihren Weg durch die unbeweglich sitzenden Gestalten. Erreichte die Stufen, die hinab führten zur Straße.

Wohin jetzt? Am besten zu der Dhaba, wo Rob sie aufgelesen hatte. Sie musste ihm seinen Schal zurückgeben, und dort würde er sie wohl am ehesten suchen. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen und die ersten Strahlen begannen ihr wohltuend den Rücken zu liebkosen. Die Dhaba hatte schon auf. Sie bestellte wieder einen Chai, mit extra Zucker. Dann ging ihr auf, dass sie Hunger hatte, und bestellte ein Omelett. Über die Theke hinweg sah sie dem Koch zu, wie er erst eine riesige Zwiebel, dann zwei handspannenlange grüne Peperoni klein schnitt und mit der Zwiebel in die Pfanne gab, dazu dann drei verquirlte Eier. Jeannie schwante nichts Gutes. Der Chai wärmte sie allmählich von innen, die Sonne taute Finger und Nasenspitze langsam auf. Dann kam das Omelett. Misstrauisch stach sie mit der Gabel hinein, probierte. Die höllische Schärfe trieb ihr Tränen in die Augen. Sie hatten schon einige Male an Straßenständen Dhal oder ein Curry gegessen, aber so scharf hatte sie es noch nie erlebt. Egal. Du bist in Indien, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Mit Todesverachtung schob sie sich eine Gabel nach der anderen hinein, spülte die verätzten Geschmacksknospen mit Chai nach, bestellte anschließend noch eine Chapati, um die geschundenen Mundschleimhäute etwas zu beruhigen.

Erstaunlich, wie rasch die Sonne jetzt ihre Glieder wärmte. Es war, als rieselten die Strahlen durch ihre Adern, die Wärme kroch allmählich bis in die Fingerspitzen, ihre Wangen fühlten sich fast schon heiß an. Sie beglich ihre Zeche und setzte sich vor der Dhaba auf einen großen Stein, lehnte den Rücken an einen Baumstamm. Müdigkeit kroch ihr bleischwer in die Glieder, die Augen fielen ihr zu. Satt und endlich warm, ihr fehlte nichts.

Sie kämpft sich durch den Schneesturm. Ringsum nichts als Weiß, ein Schleier von rasenden, peitschenden Schneemassen, Eiseskälte, die die Knochen gefrieren lässt. Die anderen Teilnehmer der Expedition sind verschwunden, mutterseelenallein strebt sie dem Südpol zu. Sie weiß: Dort, am Südpol, wartet die Rettung. Aber sie wird es nicht schaffen, unmöglich. Der Neuschnee wird immer tiefer, bis zur Hüfte sinkt sie ein. This is the end, my friend… Sie ist verloren, wie Robert Falcon Scott, der den Wettlauf zum Südpol mit dem Leben bezahlt hat. Bald wird sie nicht mehr weiterkommen, sie wird sich hinlegen, sich zuschneien lassen, der Schnee wird ihr ein weiches Leichentuch und ein Grab sein…

Etwas kitzelt sie an der Nase. Sie versucht das lästige Insekt wegzuscheuchen, da hört sie Robs Stimme: „Heda, Schlafmütze! Aufwachen!“

Verschreckt blinzelte sie in die Sonne. Vor ihr stand der baumlange Holländer, inzwischen ohne seine Schals, ohne Mütze und Parka, einen langen Grashalm zwischen den Fingern. Jeannie freute sich ehrlich, ihn zu sehen.

Gemeinsam saßen sie in der Sonne und schlürften ihren Chai. „War hart heute Morgen, was?“, meinte Rob grinsend. Sie nickte. „Ich war viel zu dünn angezogen, ich habe nicht damit gerechnet, dass es so kalt ist.“ Dann erzählte sie von der blöden Kuh, die sie von ihrem Platz vertrieben hatte. „Und ich dachte, dass die Leute durchs Meditieren rücksichtsvoll und unegoistisch werden.“

Rob schnaubte. „Das ist die Theorie“, sagte er und lachte leise. „Aber bis du dahin kommst, hast du einen weiten Weg vor dir.“ Er sah sie von der Seite her an. „Du hast der Frau gegenüber wahrscheinlich auch keine besonders liebevollen Gedanken, was?“ Sie zuckte die Schultern. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Aber klar, Rob hatte Recht. Sie war kein bisschen besser als die andere. „Wer weiß“, fuhr Rob fort, „was bei ihr dahinter steckt. Was sie mit diesem egozentrischen Beharren auf ihrem Stammplatz kompensiert oder innerlich auszugleichen versucht…“

Sie zog den Kopf zwischen die Schultern. „Wahrscheinlich hast du Recht“, murmelte sie kleinlaut. „Ich bin auch nicht besser als die.“

Rob legte ihr den Arm um die Schulter. Es fühlte sich gut an. „Nimm’s nicht so schwer“, tröstete er sie. „Wir sind alle auf dem Weg. Du hast gerade gemerkt, was Jesus gemeint hat: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht?“

Ruckartig löste sie sich aus Robs Umarmung. „Bist du Christ oder was?“ Das hatte ihr jetzt noch gefehlt, so ein bigotter Kirchentyp… Andererseits, so sah er nun wirklich nicht aus.

Rob lachte laut. „Ach wo, ich bin ein Suchender, genau wie du. Aber du wirst lachen: Bei manchen Gurus hier steht Jesus hoch im Kurs. Sie betrachten ihn als ihresgleichen und zitieren ihn genauso, wie sie die Veden zitieren oder ihren Patanjali oder die Upanischaden.“

Trotzdem, Jeannie hatte absolut keine Lust, über Jesus zu reden. Nicht hier in Indien. Nein, überhaupt nicht. Von Kirche und Christen hatte sie die Nase voll, aber komplett.

Sie wechselte das Thema. „Wo wohnst du eigentlich?“ Rob hatte ein kleines Zimmer gemietet, auf der anderen Seite des Ganges, nicht weit entfernt, und sie musste ihn nicht lange bitten, es ihr zu zeigen. Sein Bett war schmal und hart, aber das störte nicht. Dass es so schnell gehen würde, hatte sie selbst nicht gedacht, aber nun war es so. Schweißnass und noch etwas keuchend lag er neben ihr, die Hand auf ihrer Brust. „Irgendwie mag ich dich, kleine deutsche Jeannie.“ Und sie dachte für einen Moment, dass ihr diese irdische Form von Lust und Liebe vielleicht doch mehr lag als die spirituellen Freuden. Aber dann sagte sie sich: Du hast es ja noch kaum probiert. Dass Bumsen okay ist, weißt du schon. Jetzt kommt es drauf an, das Meditieren wirklich zu probieren.

Sie setzte sich auf der Pritsche auf. „Wie macht man das“, fragte sie Rob, „dass man beim Meditieren nichts denkt?“

Rob hatte sichtlich keine Lust, ausgerechnet jetzt über dieses Thema zu reden. Seufzend fragte er: „Du hast noch gar keine Erfahrung, oder?“

„Fast keine. Mein Freund hat mir ein bisschen was erzählt und wir haben es ein paarmal gemeinsam probiert, daheim in Deutschland. Aber wie man es wirklich macht, weiß ich nicht. Deshalb bin ich ja hier.“

Rob stutzte: „Du hast einen Freund?“

„Na klar. Denkst du, ich reise allein durch Indien?“

„Du wärst nicht die Einzige.“ Rob schwieg eine Weile. Dann fragte er, und seine Stimme klang auf einmal ganz dünn und rau: „Das heißt, du bist mit deinem Freund unterwegs?“

Sie nickte.

„Er ist… hier? In Rishikesh?“

Sie nickte wieder. „Ja. Und?“

Rob holte tief Luft. „Gut, dass du es sagst. Ich hätte mich um ein Haar in dich verliebt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ach, hör auf, Rob. Nur weil wir einmal miteinander geschlafen haben. Das war doch bloß Sex…“

Rob zuckte die Achseln. Dann gab er sich einen Ruck. „Ich will dich nicht aufhalten…“

Sie sah ihn an. „Mit anderen Worten: Du schmeißt mich raus?“

Er sah ihr kurz in die Augen, dann wandte er den Blick ab. „Ich glaube, es ist besser, wenn du gehst.“

Nun war es an ihr, die Achseln zu zucken. Sie fischte nach ihrem Slip, ihrem Kleid, wortlos zog sie sich an. Was war denn das jetzt wieder! Da hättest du vielleicht mal jemand gehabt, der dich ernst nimmt und dir was zeigen kann, und dann machst du wieder mal alles kaputt. Schöne Scheiße!

Den Alpaka-Pullover stopfte sie in ihre Hirtentasche. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um Rob einen Kuss zu geben, doch der wandte das Gesicht ab.

Mimose!, dachte sie. Aber eine ganz liebe Mimose. Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.


***

Utz war ziemlich angefressen, als Jeannie am Bus ankam. Er schien ausnahmsweise mal nicht high zu sein. „Wo kommst du denn her?“, fragte er mürrisch.

„Von unten“, antwortete sie ausweichend.

„Wie, von unten! Das sehe ich, dass du von unten kommst. Was hast du da gemacht? Den ganzen Tag warst du weg!“

„Ist das jetzt ein Verhör oder was?“, fragte sie unwillig. Männer! Meinen immer, sie hätten ein Recht auf dich.

„Wär ja vielleicht nicht unangebracht, wenn du hinterlassen könntest, wo man dich nötigenfalls finden kann“, sagte Utz gespreizt.

„Ach, lass mich in Frieden“, entgegnete sie und wollte an Utz vorbei zum Bus. Er trat ihr in den Weg. „Jetzt mal ohne Scheiß. Wo warst du?“

Sie seufzte. Okay, dann lass ihm seinen Willen. „Bei Maharaji war ich. Das ist ein anderer Guru. Da hab ich meditiert.“ Den Rest ließ sie lieber weg. Aber Utz ließ nicht locker. „Den ganzen Tag, seit früh um vier oder wie?“

„Hey, was geht’s dich an! Bin ich deine Sklavin oder was?“ Langsam ging er ihr auf die Nerven.

„Natürlich. Du warst mit einem Typen zusammen. Du riechst nach Sex!“

Sie verdrehte die Augen. „Mann, dass du immer bloß das eine denken kannst!“ Dann funkelte sie ihn so böse an, wie sie konnte. „Jetzt lass mich in Frieden, ich bin müde.“

„Hey!“ Utz war anscheinend wirklich sauer. „Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Mann, wir sind hier in Indien, nicht daheim in Würzburg. Du kannst hier nicht einfach so allein rumrennen als Frau.“

„Kann ich nicht?“ Mann, wie blöd kann man sein! „Kann ich doch. Siehst du ja.“

Utz gab auf und wandte sich ab. „Ach, mach doch, was du willst!“

„Genau das!“, antwortete sie schnippisch und kletterte in den Bus. Sie war todmüde. Hatte kaum geschlafen in der Nacht und hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Sie stieg hinauf unters aufgestellte Dach und streckte sich auf dem Schaumgummi aus.

Aber schlafen konnte sie nicht. In ihrem Kopf ging alles durcheinander. Zu Maharji konnte sie nicht mehr gehen, dort würde sie Rob treffen, und das wollte sie nun doch nicht mehr. Das hatte sie versiebt, warum musste sie mit ihm auch gleich in die Kiste! Gleichzeitig spürte sie, dass es ohnehin nicht das Richtige für sie war. Sie brauchte mehr Anleitung. Und sie brauchte eine Umgebung, in der nicht so rumgezickt wurde. Sie brauchte… ja, was?

Zwei Tage später wusste sie, was sie brauchte. Sie ignorierte Utz einfach und ging wieder allein hinunter an den Fluss. Sah sich um, ließ sich treiben. Irgendetwas in ihr sagte: Lass einfach los! Das, was du suchst, wird dich finden. Einen Moment lang hatte sie ein blödes Gefühl im Magen, weil der Gedanke sie an Rob erinnerte. Schuldgefühl? Nein, woher! Eher ein leichtes Bedauern, dass sie die beginnende Freundschaft an die Wand gefahren hatte. Dass er sich gleich in mich verlieben muss… Überhaupt: Wie konnte er das eigentlich wissen, nach ein paar Stunden? Da konnte doch von Verlieben nicht die Rede sein. Ach, was soll’s! Damit muss er selber fertig werden.

Sie sah sich um. Diesmal saß sie in einem eher westlich anmutenden Café, trank eine lauwarme Cola. Am Nebentisch saß eine Frau, ein paar Jahre älter als sie, in roten Klamotten, eine Kette aus dicken Holzperlen um den Hals, an der ein Medaillon hing. Ins Haar hatte sie ein rotes Tuch geflochten, in der Hand hielt sie ein Buch. Jeannie schielte um die Ecke, um den Titel lesen zu können. Irgendwas mit Tantra. Das war doch diese indische Sexgeschichte, oder?

Die Frau bemerkte Jeannies Blick, ließ das Buch sinken, lächelte herüber. „Interested?“, fragte sie mit starkem deutschem Akzent.

„Du kannst Deutsch reden“, antwortete Jeannie und winkte einladend. Die Frau lachte. „Hab mir schon gedacht, dass du auch aus Deutschland bist“, meinte sie und fragte dann: „Darf ich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich zu Jeannie an den Tisch.

„Kann ich mir mal das Buch ansehen?“

Die andere gab es ihr. Tantra – die höchste Einsicht, stand da. Und als Autor war Bhagwan Shree Rajneesh angegeben. Richtig, deswegen die rote Kleidung! Und der Typ auf dem Medaillon war derselbe wie auf dem Buchumschlag. Bhagwan!

„Da geht es wohl nicht um Sex?“, fragte Jeannie.

Die andere lachte wieder. „Nein, nicht in erster Linie.“ Sie sah Jeannie direkt an. „Aber wenn du wissen willst, was Bhagwan dir geben kann, dann ist es eine gute Einführung.“

„Du glaubst an diesen Bhagwan?“, fragte Jeannie.

Die andere schüttelte den Kopf. „Nee, also wirklich! An Bhagwan kann man nicht glauben. Bhagwan ist da, du kannst zu ihm gehen, du kannst seine Sannyasin werden, du kannst seine Lectures anhören und danach leben – oder du kannst es bleiben lassen. Du kannst in Poona leben und Gruppen machen und deine psychischen Macken bearbeiten und du kannst meditieren und dein Ego überwinden – aber an Bhagwan glauben, das kannst du nicht.“

Das klang spannend. „Wie meinst du das, deine psychischen Macken bearbeiten?“, fragte sie. „Ich hab nämlich vorgestern bei Maharaji auf der Veranda meditiert und da waren eine Menge psychische Macken versammelt, meine und die von anderen.“

Die Frau lachte schon wieder. Es war ein offenes, freundliches Lachen, keine Spur arrogant oder aufgesetzt. „Maharaji ist schon gut“, sagte sie dann. „Nur für ungeübte Westler ein etwas steiler Einstieg. Bhagwan hat Meditationen entwickelt, die für uns verkopfte Europäer besser geeignet sind.“

„Echt?“ Allmählich wurde es interessant.

„Komm doch mal nach Poona“, sagte die Frau. „Das wäre bestimmt gut für dich.“ Dann hob sie ihr Glas. „Übrigens, ich bin Nalini.“

„Na – wie?“

„Nalini. Das ist mein Sannyas-Name. Heißt auf Deutsch Lotus, die tausendblättrige heilige Pflanze, die sich durch den Sumpf ans Licht arbeitet.“ Sie lachte wieder ihr sympathisches Lachen.

„Kriegt ihr einen neuen Namen, wenn ihr – wie heißt das noch mal – Sannyasins werdet?“

Nalini nickte. „Klar. Hast du das noch nicht gehört?“

„Ehrlich gesagt“, musste Jeannie zugeben, „ich hab von Bhagwan noch fast nichts gehört. Nur dass viele Leute zu ihm kommen und dann rote Klamotten tragen und dass er so was wie eine Sekte gegründet haben soll.“

„Ach ja“, sagte Nalini mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Das mit der Sekte, das erzählen die Pfaffen, weil sie Angst haben, dass ihnen die Leute davonlaufen.“ Sie nahm das Buch in die Hand. „Aber das ist Quatsch. Die Leute gehen zu Bhagwan, weil er einfach unglaublich ist. Hier, lies mal, ich leihe es dir.“

Jeannie nahm das Buch. „Hey, klasse, danke. Ich glaube, das mache ich. Ich werd’s auf jeden Fall lesen.“ Dann fragte sie: „Bist du morgen um diese Zeit wieder hier? Dann kann ich dir schon meine ersten Eindrücke sagen.“

„Gut“, antwortete Nalini.

„Ach ja, ich bin Jeannie.“

„Okay, Jeannie, bis morgen.“

Sie steckte das Buch in die Tasche und winkte dem Jungen im Dhoti, der sie bedient hatte. Sie konnte es kaum erwarten, das Buch zu lesen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie hätte etwas von dem gefunden, wonach sie gesucht hatte. Oder besser: Das, wonach sie gesucht hatte, hatte sie gefunden.


***

Es war wie ein Hammerschlag. Schon die allerersten Worte trafen sie in der Mitte.

Die Erfahrung des Höchsten ist überhaupt keine Erfahrung – weil der Erfahrende dabei verloren geht. Und wenn es keinen Erfahrenden gibt, was lässt sich dann darüber sagen? Wer soll es sagen? Wer soll von der Erfahrung berichten? Wenn es kein Subjekt mehr gibt, verschwindet auch das Objekt – beide Ufer verschwinden, und nur der Fluss der reinen Erfahrung bleibt. Das Wissen ist da, aber der Wissende nicht.

Die Erfahrung des Höchsten – Jeannie wusste, wovon Bhagwan sprach. Genau das hatte sie erlebt, dieses Verlorengehen. Diesen Fluss der reinen Erfahrung. Das hatte sie hierher getrieben, nach Indien. Das ließ sie suchen. Diese Erfahrung, die sie vor einem knappen Jahr gemacht hatte, ließ sie nicht mehr los. Und nun stand hier in diesem Buch genau beschrieben, was ihr widerfahren war.

Wenige Seiten später noch einmal:

Mahamudra ist eine Erfahrung des Nichts – du bist ganz einfach nicht da. Und wenn es dich nicht gibt, wer ist dann da, um zu leiden? Wer soll dann in Schmerz und Qual sein? Wer soll dann deprimiert und traurig sein?

Sie trank die Worte aus den Seiten, Nektar für ihre geschundene Seele. Wenn es dich nicht gibt, wer ist dann da, um zu leiden? War das endlich ein Weg heraus aus dem ewigen Leiden, dem Deprimiertsein, der Verzweiflung, die sie immer wieder einholte?

Sie musste diesen Bhagwan kennen lernen.

Ein Schatten fiel auf das Buch. Utz stand vor ihr. „Was liest’n du da?“

„Ach, nichts.“ Sie hatte keine Lust, mit Utz über ihre Entdeckung zu reden.

„Für nichts ist das aber ein ganz schön dickes Buch!“ Mit einem raschen Griff riss Utz ihr das Buch aus der Hand. Wütend trat sie ihm gegen das Schienbein, aber er wich ihr aus. Barfuß wie sie war, hätte der Tritt ihm ohnehin nicht viel ausgemacht.

„Bhagwan Shree Rajneesh!“ Utz lachte, es klang leicht angewidert. „Dieser Rattenfänger! Was willst du denn von dem! Hier, in Rishikesh und in Haridwar, das sind die echten Gurus. Dieser Bhagwan ist doch bloß ein Scharlatan.“

„Du musst es ja wissen, Herr Siebengescheit“, zischte sie ihn an. „Dein toller Guru ist ja nicht mal zu Hause! Ich tu wenigstens was, ich suche nach einem Weg, ich hocke nicht bloß den ganzen Tag am Bus und zieh mir einen Joint nach dem anderen rein!“

„Ach, leck mich doch!“ Utz warf ihr das Buch in den Schoß. „Da hast du deinen Super-Guru. Werde glücklich mit ihm.“

„Das werde ich auch! Glücklicher als du mit deinem Pot!“

Utz ließ ein hohles Lachen hören und trollte sich. Besser so! Jeannie hatte überhaupt keinen Bock mehr auf ihn. Was hatte sie nur an ihm gefunden! Gut, er war derjenige, der schon in Indien gewesen war, er kannte die Transzendentale Meditation, er wollte wieder nach Indien, zum Meister Maharishi. Das war es gewesen, was sie an Utz anzog, was sie zu der Beziehung mit ihm bewogen hatte. Als Mann hatte er sie nie besonders gereizt, und als Mensch auch nicht. Wenn sie ganz ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie Utz benutzt hatte, um hierher zu kommen. Nun war sie hier und brauchte ihn nicht mehr. Zumal er die spirituelle Suche erst mal ganz aufgegeben hatte. Wenn er wenigstens mit ihr zu Maharaji oder zu sonst einem Guru gegangen wäre! Aber so… einen dauerbekifften Freund brauchte sie nicht. Morgen würde sie Nalini fragen, wie man nach Poona kam, und dann würde sie abreisen. Sie würde schon durchkommen.

Und sechs Tage später stieg sie tatsächlich in Poona aus dem Zug. Das Bhagwan-Buch, das Nalini ihr geschenkt hatte, war ein Türöffner gewesen, als sie die drei rot gewandeten Typen auf dem Bahnhof von Bombay sah. Vielleicht hatte auch ihr Aussehen etwas geholfen; sie wusste nur zu gut, wie sie mit ihrer schlanken Figur und den langen Haaren auf Männer wirkte. Auch wenn die auf dem spirituellen Weg waren.

Und als sie in Poona aus dem Zug stieg, war es, als spürte sie die unendliche Liebe Bhagwans, die aus dem Ashram bis hierher drang, um sie willkommen zu heißen. Woher diese Gewissheit kam, war ihr nicht klar. Sie spürte eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann, den sie noch nie gesehen hatte, und wusste, dass er das hatte, wonach sie suchte.

Sajeev stupste sie am Knie an. „He, Süße, aufwachen! Wir sind gleich da.“ Sharani streckte sich und gähnte. „Ich heiße nicht Süße, ich heiße Sharani“, sagte sie und grinste. Sajeev grinste zurück. Er schien ja doch ganz nett zu sein. Immerhin hatte er sie zwei Stunden in Ruhe gelassen. Das war ja schon mal was.


***

Sie saß auf einem der unbequemen Plastikstühle im Frankfurter Flughafen und versuchte gar nicht mehr, die Augen offen zu halten. Sajeev war unterwegs, er wollte noch irgendetwas organisieren und irgendwo anrufen. Sharani war ganz froh, dass er sie für den Moment in Ruhe ließ. So konnte sie ihren Gedanken nachhängen. Gedanken, in denen Johnny wieder im Mittelpunkt zu stehen begann. Den Tag über hatte sie es geschafft, sein Bild zu verdrängen, aber nun, da die Müdigkeit sie wehrlos machte, kam es mit Macht zurück. Dieses Bild, wie er da lag, den Mund halb geöffnet, halb unter der Bettdecke vergraben. Hätte sie versuchen sollen, ihn zu wecken? Wie wäre es, wenn er mitkäme zur Quelle, nach Poona? Wie wäre es, wenn er Sannyas nähme, wenn sie gemeinsam in einer Hütte am Fluss wohnten, gemeinsam meditierten, schwiegen, redeten, tanzten, sängen, Bhagwan lauschten – endlich zusammen lebten?

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Nein, das hatte doch alles keinen Sinn. Vergiss die Vergangenheit. Sei im Hier und Jetzt. Alles andere ist irreal. Ja, irreal. Johnny ist irreal. Nein, das stimmte nicht. Natürlich war er real, irgendwo weit weg, in München, bei dieser komischen Gabi. Die Gedanken an eine gemeinsame Zukunft, die waren irreal. Hatte Bhagwan nicht irgendwann gesagt: Sehnsucht ist eine schlimme Krankheit. Sie hält dich davon ab, dich dem Einzigen hinzugeben, was wirklich vorhanden ist: dem Hier und Jetzt? So ähnlich jedenfalls hatte sie es in Erinnerung. Sehnsucht hält dich ab von der Hingabe an die Existenz, hält dich ab von Sharani, von dir selbst. Sie gab ihr Bestes, aber es gelang ihr nur unvollständig. Sie musste Johnny vergessen, das war klar, und gleichzeitig wusste sie, sie würde ihn mitnehmen, wohin sie auch aufbrach.



Sex & Gott & Rock'n'Roll

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