Читать книгу Roadtrip mit Guru - Timm Kruse - Страница 6
Anfang
ОглавлениеLange bevor Ashrams und Gurus in meinem Kopf herumspukten, war ich ein kleiner Junge mit einem großen Traum: Ich wollte Fußballprofi werden. Ich spielte jeden Tag, teilweise stundenlang. Der Dorfbolzplatz des VfL Hiddesen im Landstrich mit dem widersprüchlichen Namen Ostwestfalen lag einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Wenn ich dort niemanden antraf, radelte ich zurück auf unseren Bauernhof und kickte bis zum Sonnenuntergang mit mir selbst. Unser Scheunentor hatte ich zum Fußballtor umfunktioniert. Ich zirkelte den Ball aus allen Winkeln in den Kasten, den ich mit bunter Kreide auf die riesige Holzwand gemalt hatte. Ich war Karl-Heinz Rummenigge, Klaus Fischer und der Kaiser in einer Person. Ich sah aus wie Gladbachs Torwart Wolfgang Kleff mit Locken, kannte jedes Ergebnis der laufenden Saison, die WM-Paarungen aller Zeiten und ich wusste genau: Irgendwann würde jemand kommen, der mich entdeckte. Einer der großen, dicken Bundesligamanager würde sich zufällig auf unseren Hof verlieren. Mit einem fetten, weißen, aufgemotzten Mercedes-Benz S-Klasse, beigefarbenem Streifenanzug und prunkvollem Goldkettchen. Er würde in unserer Hofeinfahrt stehen und sofort erkennen, dass ich das größte Talent seit Uwe Seeler war. Der Talenthändler würde meinem Vater eine Million Mark anbieten. Doch mein Papa würde sagen: »Nee, nee, mein Freund. Für diesen Jungen musst du fünf Millionen hinblättern.«
Der große Manager ließ sich mein ganzes Leben lang nicht blicken. Weder auf unserem Bauernhof noch in der Schule. Nicht im Studium oder im Urlaub. Weder in meiner Freizeit noch bei der Arbeit. Selbst als ich durch Glück Redakteur beim Fernsehen wurde und Filme über Vulkane, Klofrauen und Fußballstars produzierte, kam er nicht. Ich hatte ein Leben lang auf meinen Manager gewartet. Auf einen Typen, der mein Leben in die Hand nehmen und mir sagen würde, was zu tun sei. Der genau wüsste, wie ich wann, wo und warum zu sein hätte.
Und dann, ganz plötzlich, stand dieser Manager vor mir. Bei einem Festival. Auf einer Treppe in einem kargen Messebau in Blaufingen. Er trug weiße Gewänder, hatte lange, lockig-strähnige Haare, einen buschigen Vollbart und dunkle Haut. Er war so etwas wie ein Bundesligamanager für Indienfans und Nationaltrainer aller Erleuchteten. Um ihn herum standen vier ebenfalls weiß gewandete weibliche Heiligkeiten, alle um die dreißig, teilweise hübsch. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Bis mich sein Blick traf. Seine Augen waren dunkel wie die Unendlichkeit. Seine Pupillen bohrten sich direkt in meine Seele. Der Guru lehnte mit überkreuzten Beinen an einem Treppengeländer und lächelte entspannt in diese Horde der Suchenden. Dabei nickte er langsam, fast wie in Zeitlupe, mit dem Kopf. Schaute er sich die Verwirrung der Menschheit an? Versuchte er zu retten, was zu retten war? Plötzlich wurde mir klar, dass ich auch gerettet werden wollte. Dass ich endlich nicht mehr auf ein Scheunentor schießen, sondern Kapitän in der Champions League der Erleuchteten sein wollte.
Das Sunrise Festival in Blaufingen war spirituelle Messe, Musikfestival und Meditationsorgie in einem. Ich war wegen der Musik von Krishna Das und Deva Premal gekommen, zwei westlichen Weltstars indischer Folk-Musik. Dass dies der Beginn meines drastischsten Lebenseinschnitts sein sollte, ahnte ich nicht. Denn dies war nicht meine Welt. Noch nicht.
Bevor ich den Guru traf, bummelte ich unschuldig über das Gelände und wehrte Leute ab, die mir Engelsfiguren, Edelstahlpyramiden und Aura-Lesungen andrehen wollten. Diese Leute mit Bimmelkettchen an den Füßen und Blumen im Haar sprachen von Energien, genossen ihren Atem und hörten nicht auf, sich zu umarmen. Waren sie wirklich so glücklich, wie sie aussahen?
Hier kannte mich niemand. Ich konnte sein, wie ich wirklich war oder wie ich gern sein wollte, ohne Scham. Ich besuchte so viele Workshops wie möglich – spielte schiefe Melodien auf einer Tonflöte, klopfte meinen Körper systematisch ab, um meine Chakren zu öffnen, übte mich in Hechelatmung, um an mein innerstes Ich zu gelangen. Schaden konnte das alles nicht, oder? Bis plötzlich eine alte Schulfreundin vor mir stand. Hatte sie gesehen, wie ich gestern im Hopserlauf an einer Lachmeditation im Park teilgenommen hatte? Auch sie war in Blumenstoffe gewandet und lächelte beseelt. »Du hier? Wusste gar nicht, dass du was mit Spiritualität am Hut hast.«
»Ich auch nicht!«
Sie wirkte natürlicher als früher. Tat diese spirituelle Welt den Leuten doch gut? Vielleicht wäre aus uns damals etwas geworden, wenn ihre Mutter etwas lockerer gewesen wäre. Sie hatte ihrer Tochter den Umgang mit mir verboten, weil ich in meiner Heimatstadt den zweifelhaften Ruf eines angeblichen Grasdealers und fanatischen Fußballers besaß.
»Kommst du nachher mit in den Park? Da hält Sri What einen Satsang.«
»Sri What?«
»Ja. Der Guru. Kennst du ihn nicht? Er ist der Obama der Spirituellen. Du musst ihn kennenlernen! Halb vier im Park.«
»Und was hält der da?«
»Einen Satsang. So was wie’n Vortrag.«
»Okay«, sagte ich, ohne zu wissen, was mich erwartete. »Ich bin dabei.« Sie lächelte und lief weiter.
Unter einer gewaltigen Magnolie saß Sri What in der Mitte des Parks auf einer Art Thron. Goldene Tücher umhüllten ihn. Seine schwarzen Augen waren hellwach und schienen jede einzelne Bewegung wahrzunehmen. Ich war erneut fasziniert von ihm. Um ihn herum scharwenzelten eifrige Anbeter und bereiteten alles für seinen Auftritt vor. Sie verlegten Kabel, schlossen Boxen an und stimmten Gitarren.
Eine seiner Helferinnen beugte sich zum Guru herab. Ihr Gewand war weit geschnitten und ich saß günstig. Sie übte eine fast ebenso starke Anziehung auf mich aus wie der Guru. Allerdings war ihre Anziehungskraft weniger spiritueller Natur. Als sie sich vom Guru abwandte, trafen sich plötzlich unsere Blicke. Mich durchfuhr es wie ein Blitz. Manchmal kann ein einziger Blick zwischen Mann und Frau eine verlangende Unruhe auslösen. Für nicht einmal eine Sekunde schauten wir uns in die Augen. Ich ahnte nicht, was diese Sekunde für Konsequenzen haben würde.
Dann ging sie davon. Ihr Kopf war gesenkt.
Ich hockte 15 Meter vom Guru entfernt neben einem Fliederbusch. Von der Klassenkameradin war nichts zu sehen. Langsam füllte sich die Wiese vor dem Guru. Viele hielten die Hände vor dem Gesicht gefaltet und verneigten sich. Der Meister grüßte freundlich zurück. Eine große, blonde, weiß gekleidete Frau beugte sich zu ihm herab, empfing eine Anweisung und eilte heilig davon.
Der Guru war ungefähr einen Meter achtzig groß. Seine Wangenknochen standen unter dem Bart hervor. Sein Gesicht wirkte apart, fast nobel. Als wäre er einem Hollywoodfilm mit edlen Recken entstiegen. Mit gestutztem Bart und weniger zotteligen Haaren wäre er ein extrem attraktiver Mann gewesen. Vielleicht versteckte er sein gutes Aussehen hinter der haarigen Fassade, um nicht darauf reduziert zu werden.
Die Atmosphäre im Park war äußerst friedlich. Mindestens zweihundert schweigende Menschen hockten vor dem Guru. Mir kam niemand aufgesetzt devot vor. Alle schienen fokussiert aufmerksam. Wahrscheinlich wollte jeder seine Energie einsaugen. Genau wie ich.
Der Guru schloss die Augen. Er wirkte jetzt noch bescheidener. Leise Gitarrenklänge ertönten, steigerten sich und bildeten einen ruhigen Rhythmus. Jemand fing an zu singen. Ganz klar und wunderschön. Es war eine Stimme wie aus Licht: Jaya Rama, Jaya Jaya Rama klang es durch den Park. All meine Skepsis und Zweifel waren verflogen. Ich schloss die Augen. Fast alle sangen mit. Ich bekam das gleiche Gänsehautgefühl wie im Stadion, wenn die Mannschaften einlaufen und Tausende Kehlen Die Elf vom Niederrhein singen.
Ohne es zu merken, sang ich mit: »Jaya Rama, Jaya Jaya Rama.« Es klang fast wie »Mönchengladbach, Mönchen, Mönchen-Gladbach«. Fremde Silben flossen aus meinem Körper, verbanden sich mit den Klängen der Gitarre und den Gesängen. Ich stand auf, ohne es zu wollen, klatschte im Takt in die Hände und hüpfte im Kreis. Ich war plötzlich kein Fußballfan mehr, sondern ein Spiritueller. Da alle um mich herum ebenfalls klatschten und hüpften, fiel ich nicht auf. Selbst der Guru gebärdete sich, als hätte sein Lieblingsverein gerade das Derby gewonnen. Er wirbelte bei achtzig Umdrehungen pro Minute mit ausgestreckten Armen im Kreis, während sich seine Füße bedenklich in den staubtrockenen Grund bohrten. Schließlich landete er erschöpft mit herabhängenden Armen auf seinem Thron.
Atemlos hockte auch ich mich hin. Nach einer Viertelstunde öffnete der Guru die Augen. Ich sah zum ersten Mal, dass Schwarz funkeln kann. Er schaute in die Runde. »How are you?« Profaner hätten die ersten Worte nicht sein können. Doch selbst wenn der Guru gefragt hätte: »Seid ihr auch alle da?«, hätte ich weitergelächelt. Ich hatte das deutliche Gefühl, zur richtigen Zeit mit den richtigen Menschen am richtigen Ort zu sein. Ich fühlte mich wie nach einem gewonnenen Elfmeterschießen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte laut gejubelt und gegrölt: »Jaaaa. Mir geht’s saugut!«
»Möchte jemand eine Frage stellen?« Der Guru lächelte breit und einladend. Blitzweiße Zähne kamen unter Barthaaren zum Vorschein. Die Brauen des Meisters nahmen die Form eines Zirkumflex an. Langsam wurde das Schweigen peinlich. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann meldete sich ein etwa dreißigjähriger Mann mit langen, fettigen, blonden Haaren: »Wie erlange ich Erleuchtung?« Der Guru lachte und erklärte: »Du kannst Erleuchtung gar nicht erlangen, da alle Wesen bereits erleuchtet sind. Es ist, als ob sich ein Vogel, der gerade auf dem Boden sitzt, wünscht, dass er fliegen könne. Erleuchtet sein zu wollen ist Unsinn.«
So einfach war das? Der Mann gefiel mir. Alles war erleuchtet!
»Aber was ist dann überhaupt Erleuchtung?«, fragte der blonde Mann weiter. »Möchtest du wirklich Erleuchtung, oder möchtest du ein Guru sein?«, antwortete der Guru. Um mich herum lachten fast alle. Ich wusste nicht, worüber. Guru wäre ich auch gern gewesen, mit oder ohne Erleuchtung. »Nach Erleuchtung kannst du nicht suchen. Sie passiert einfach. Ohne dein Zutun. Vergiss alles, was du über Erleuchtung zu wissen glaubst. Sonst erfährst du nur deine Vorstellung von Erleuchtung. Nicht aber Erleuchtung selbst.«
Alle hörten schweigend zu. Einigen stand der Mund offen. Irgendwie hatte es der Guru geschafft, uns alle mit wenigen Sätzen vollkommen in seinen Bann zu ziehen. Er schien das zu haben, wonach hier alle suchten: Einigkeit mit allem.
»Lasst uns annehmen, dass es so etwas wie Gott gibt. Einverstanden?« Alle nickten. »Nennen wir Gott lieber Existenz. Existenz ist alles, was ist. Wenn du also gern erleuchtet wärst, sträubst du dich gegen Existenz. Gegen das Leben. Gegen Gott. Wenn du also gern ein Guru wärst, dann willst du etwas anderes sein, als du schon bist.« Mir erschien diese Argumentation logisch. Doch war ich damals weit davon entfernt, sie zu verstehen.
»Erleuchtung ist nichts Exotisches. Sie ist ganz normal. Ganz natürlich. Sie wird dir auch nicht durch die Kraft eines Gurus verliehen. Vergiss es!« Dabei lachte er und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.
»Erleuchtung ist nicht von deinem Guru abhängig. Es gibt Gurus, die wollen angebetet werden. Sie sind egoman. Eine erleuchtete Person kennt keine Form. Sie ist hohl wie ein Bambusrohr, durch das der Wind bläst und einen Ton erzeugt.« Der Guru blickte sich um. Seine Augen funkelten wieder. Dann spitzte er die Lippen, formte die Zunge zu einer offenen Röhre und gab einen langen, dunklen, pfeifenden Ton von sich. Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte.
»Dieser eine Ton reicht dir aber nicht. Du willst eine Bambusflöte sein. Gott soll dich bespielen und Melodien erzeugen, von denen die Beatles nur träumen könnten. Stimmt’s?« Um mich herum brummten einige zustimmend.
»Was willst du wirklich? Möchtest du ein anderes Leben leben? In einer anderen Welt? Zu einer anderen Zeit? Eine Superflöte sein? Das geht aber nicht! Das Leben geschieht nur jetzt. Es geschieht genau so, wie es jetzt geschieht. Nicht anders. Es hat keine Vergangenheit, keine Zukunft und keine Absicht. Es ist formlos. Gurulos. Schmeiß alle Vorstellungen von Erleuchtung weg, bis die Sehnsucht nach Erleuchtung verschwindet. Erst dann wirst du erkennen, dass du bereits erleuchtet bist.«
Der Guru schloss die Augen. Die letzten Sätze waren so schwer, dass meine Lider wie durch eine fremde Macht zufielen. In mir breitete sich ein langes, tiefes Schweigen aus. Ich war glücklich. Vollkommen glücklich. Ich wollte nichts anderes sein, als ich war. An keinem anderen Ort. Zu keiner anderen Zeit. War ich erleuchtet?
Es folgten noch Dutzende Fragen nach Heiligen, Gelassenheit und Wanderwegen, nach Tsunamis, Lottozahlen, Heuschrecken und Ernteerträgen, nach Nelken, dem Hermannsdenkmal und Revolutionen. Der Guru wusste in seiner offensichtlichen Gottverbundenheit auf alles eine passende Antwort. Doch ich hörte nicht mehr richtig zu, so glücklich war ich. Dieser Mensch sprach direkt zu meiner Seele: Wir waren bereits alle erleuchtet. Ich wollte sofort alles hinschmeißen, mir ein ruhiges Plätzchen suchen und befreit von Arbeit, Leistung und Druck leben. Ich blickte mich um. Jeder hatte ein sanftes, wissendes, zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Ein Leuchten breitete sich aus, als hätte es Heiligkeit geregnet. Nach einer Stunde erhob sich der Guru, öffnete seine Arme und lud alle ein, aus ihm zu trinken. Seine Ergebenen sangen im Hintergrund: »Komm, komm, trink aus mir, komm, komm, natürliche Schönheit.« Wenn Wolken am Himmel gestanden hätten, wären sie aufgerissen und ein Lichtstrahl hätte die Szenerie in Gold getaucht.
Es bildete sich eine Schlange aus etwa fünfzig Menschen, die alle im Energiefeld des Heiligen baden und von seiner Göttlichkeit nippen wollten. Ich war berauscht, schloss mich an und stand irgendwann vor den ausgestreckten Armen des Gurus. Er zog mich zu sich. Ich ließ es geschehen. Er roch fremd, aber angenehm, nach Öl aus Zedern oder so etwas. Ich atmete laut aus, schmiegte mich an seine Schulter. Er drückte gezielt auf einige Punkte an meinem Rücken. Sein linker Daumen lag auf meinem dritten Auge. Plötzlich brach es aus mir heraus – nein: Mein Herz brach auf. Schleusen öffneten sich und ich fing an zu heulen wie ein kleines Kind. Es schüttelte mich. Ich vergaß alle Scham und bekam einen regelrechten Heulkrampf. Ich war angekommen. Wo, wusste ich nicht. Bei wem, interessierte mich nicht. Mit dem Bundesligamanager hatte das nichts mehr zu tun. Es war alles viel, viel größer.
Der Guru nahm mich sanft bei den Schultern, blickte mir tief in die Augen und sagte: »Come, come!« In dem Moment wusste ich, dass ich alles aufgeben musste und zu ihm gehen würde. Ein gellender Schmerzensschrei entwich meiner Kehle. Ich sank auf die Knie und umklammerte den Heiligen. Meine Tränen tropften auf seinen Lunghi. Meine Hände krallten sich in den Stoff. Meine Stirn sank auf seine Tennissocken, die nicht nach Boris Becker rochen. Schließlich kroch ich auf allen vieren davon, zurück zu meinem Fliederbusch. Ich merkte, dass Menschen mich anstarrten. Es war mir egal. Nichts war mehr wichtig. Ich weinte hemmungslos ins Gras. Plötzlich kam der Gedanke auf, dass die alte Schulfreundin mich so sehen könnte. Ich fuhr hoch und blickte mich um. Es standen noch immer Leute an, um den Gottgleichen zu umarmen. Einige guckten verstohlen zu mir herüber. Die Bekannte sah ich zum Glück nicht.
Erleichtert wischte ich mir Tränen und Grashalme aus dem Gesicht. Plötzlich bekam ich einen Lachanfall. Eine Mischung aus Blöken und Wiehern dröhnte aus mir heraus. Es hallte über die gesamte Wiese. Ich warf mich bäuchlings auf den Boden, jauchzte, grölte und gackerte über mich selbst. Ich hämmerte mit den Fäusten Grashalme platt. Ich nahm dunkel wahr, dass andere ebenfalls anfingen zu lachen. Ich konnte mein Geheule von vorhin nicht begreifen; ich feixte und brüllte über meine Angst, von dieser Schulfreundin beobachtet zu werden. Wie lächerlich! Es interessierte niemanden, ob ich heulte oder lachte, ob ich gut oder schlecht dastand. Es war nicht einmal wichtig, ob ich existierte.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, entdeckte ich den Verkaufsstand von Sri What. Gierig saugte ich alle Informationen auf. Hochglanzbroschüren, hübsche Flyer und sogar ein kleiner Prospekt; alles professionell. Die gehetzte blonde Frau von vorhin erzählte mir mit Schweizer Dialekt, dass jeder im Ashram willkommen sei. Sie würden per Wohnmobil durch Europa touren. Spätestens ab November seien sie dann wieder an ihrem Hauptsitz in Indien. Während ich mit ihr sprach, kamen mir wieder Tränen. Ich wehrte mich nicht dagegen, sondern stammelte: »Der Guru kann meine Gedanken lesen. Er hat ›Come, come‹ zu mir gesagt. Heißt das: ›Komm in meinen Ashram? Trau dich? Sei frei?‹« Sie blickte mich ruhig an. »Erlaube dir, dein Leben zu leben. Das heißt ›Come come‹.« Ich nickte und wusste, dass in dem »Come, come« auch »Bye-bye« steckte. Gehe zu ihm, verlasse alles, was du dir aufgebaut hast, lege dein altes Leben ab.
Dass er zu jedem Menschen »Come, come« sagte, war mir vor Ergriffenheit damals entgangen. So wie sich Angler »Petri Heil« wünschen, sagen Sri Whatler »Come, come« zueinander.
Als ich nach insgesamt fünf Tagen spirituellen Vollrauschs wieder zu Hause ankam, besuchte ich die Homepage von Sri What im Internet. Über Weihnachten und Silvester würde er in Andhra Pradesh, einem Staat im Südosten Indiens, ein Erleuchtungsseminar geben. Die Versprechungen der Homepage waren zu verlockend: »Entledige dich innerhalb von zehn Tagen deiner alten Persönlichkeitsstrukturen und durchlaufe eine Transformation zur inneren Befreiung.« 650 Euro plus Kost und Logis. Ich hätte gedacht, dass Erleuchtung teurer wäre, und buchte.
Draußen läuteten Glocken. Drei Kirchen bimmelten um die Wette, um Sünder anzulocken. Es war Sonntagvormittag in Kiel. Ich saß im Bett und blickte aus dem Fenster. Ich wünschte mir, im Himmel stünde in Neonschrift, was ich tun sollte. Vielleicht hätte ich in die Kirche gehen und Gott um Rat fragen sollen. Aber Gott war mir noch nie ein guter Ratgeber gewesen. Mein Blick wanderte langsam zur anderen Betthälfte. »Gabi?« Seit drei Jahren lebten wir zusammen. »Ich werde eine Auszeit nehmen.« Sie blickte mich durchdringend und fragend an. Obwohl sie gerade erst aufgewacht war, sah sie hellwach aus. »Wovon?«
»Von hier.«
Sie schwieg. Seit Blaufingen hatte ich mich innerlich zurückgezogen. Gabi hatte seit Tagen keine Chance mehr gehabt, an mich heranzukommen. »Ich muss mal wieder losziehen.« Ich erzählte ihr vom Guru und meiner Idee, für zwei Monate nach Indien zu gehen und diesen Meister ein bisschen besser kennenzulernen.
»Und der NDR?«
»Der NDR kommt auch gut ohne mich klar. Zwei Monate kriege ich durch.« Wir arbeiteten beide beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Gabi als Nachrichtensprecherin, ich als Filmemacher. Dort hatten wir uns kennengelernt. Ich hatte sie von der ersten Sekunde an geliebt. Doch es hatte über ein Jahr gedauert, bis ich mich traute, mit ihr auszugehen. Die Angst, dass meine Liebe nicht erwidert werden könnte, war zu unerträglich gewesen. Nach einem weiteren halben Jahr hatten wir uns zum ersten Mal geküsst. Noch ein halbes Jahr später hatten wir endlich unsere Ängste überwunden und waren zusammengekommen. Seitdem waren wir glücklich und hatten beide das Gefühl, den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Und jetzt setzte ich alles aufs Spiel. »Für einen Guru?« Gabi hatte Tränen in den Augen.
»Nein, für eine neue Möglichkeit, unser Leben zu leben.«
»Ich brauche keine neue Möglichkeit für mein Leben.«
Ich fing an, aufzuzählen, was uns an der Stadt, dem Job, den Freunden und Bekannten nicht gefiel. Wie oft wir überlegt hätten, uns von allem zu befreien.
»Aber doch nicht, um bei einem Guru zu leben.«
In diesem Moment kam Lilly, Gabis Tochter, ins Schlafzimmer. Sie war neun. »Was ist ein Uhu?«
»So was wie Jesus«, antwortete ich. »Oder jemand, der mal so werden könnte wie Jesus.« Lilly legte sich zwischen uns. »Ihr müsst Weihnachten und Silvester ohne mich feiern.« Wir schwiegen.
Erst ein Weihnachten hatten wir gemeinsam gefeiert. Damals waren wir zu meinen Eltern nach Detmold gefahren. Sie hatten sich gefreut, dass ich endlich eine ernsthafte Beziehung führte. Gabi hatten sie von Anfang an gemocht. Sie strahlte die Bodenständigkeit aus, die mir in den Augen meiner Eltern immer gefehlt hatte. Gabi war die Erde und ich die Luft. Gemeinsam waren wir ein ziemlich gutes Paar.
Ich tröstete Gabi mit der Aussicht, sie im Februar in Thailand zu treffen. Außerdem hatte sie mir wenige Tage zuvor gestanden, eine Pause von mir gebrauchen zu können. Ob ich nicht mal wieder allein Urlaub machen wollte. Ich hatte nämlich gerade vierzig Tage lang gefastet. Es hatte sich dabei um einen weiteren ambitionierten Versuch gehandelt, Erleuchtung zu erlangen. Eine harte Probe für unsere Beziehung. Gabi fühlte sich von Extremen überstrapaziert und sehnte sich nach Normalität. »Wieso genießen wir unser Glück nicht einfach? Wieso musst du immer wieder Ausnahmesituationen schaffen? Wir führen eine Stressbeziehung.«
Gabi war leider schon erleuchtet. Deshalb erzählte ich ihr nicht viel von Blaufingen und meinen Gedanken, mit diesem Guru um die Welt zu ziehen. Wahrscheinlich wusste ich selbst nicht, wie weit ich gehen würde.
Gabi ist bis heute absolut bodenständig. Den größten Gefallen tue ich ihr mit jeder Zeile, die ich nicht über sie schreibe.