Читать книгу Die Hölle im Herzen - Timo Januschewski - Страница 5

Kapitel 1 – Der Anfang vom Ende

Оглавление

Scheiß Leben! Ich öffnete meine Augen und innerhalb von ein paar Millisekunden kam das bekannte und auch drückende Gefühl in meiner Brust, das langsam abermals den ganzen Körper einnahm, wieder zum Vorschein. Die Leere hatte mich vollkommen erobert. Dieser Samstag vor dem Beginn meiner befreienden Taten, fühlte sich an wie jeder andere Tag der Woche. Der einzige Unterschied war, dass anstatt meines schrillen Wecktons auf dem Handy, mich die Blase in meinem Körper, also letztendlich mein Gehirn, weckte. Die Jalousie verdunkelte den Raum, doch trotzdem kamen Lichtfetzen in das Zimmer, die das erneute Einschlafen zusätzlich verhinderten. Ich wollte trotzdem nicht aufstehen und drehte mich auf den Bauch, um das Gefühl der vollen Blase und des nervenden Lichts etwas erträglicher zu machen. Ich wollte weder wach sein noch wollte ich schlafen.

Durch meinen Kopf rauschten Millionen Bildfragmente wie Züge an mir vorbei. Donnernd, laut, mächtig. Jedes Fragment riss ein Teil mehr von dem Zustand, in dem ich mich noch zuvor befand, ab. Es schlich die beschissene Realität wieder in meinen Kopf. Bildfragment für Bildfragment. Ich bemerkte jedoch, dass dies kein gewöhnlicher morgendlicher Neustart meines Gehirns war. Es war intensiver und bedrückender als sonst. Dies lag wohl nicht zuletzt an dem Termin bei einem Psychologen, welchen ich am Vortag genießen durfte. Alle Wunden in mir schienen wieder geöffnet zu sein, denn jede auch noch so gut verheilte alte Narbe wurde wieder zu einer blutenden Verletzung.

Es war ein recht explizites Erstgespräch, in dem ich natürlich nicht jede kranke Fantasie in meinem Kopf darlegte, weil ich wusste, dass dies dann mein sofortiges Ende wäre. Trotzdem hab ich dort irgendwie mehr gelassen als ein paar Worte. Ich habe den Termin nur wahrgenommen, weil ich ein Versprechen einlösen wollte. Das Versprechen, das ich meiner Ex-Freundin machte. Sie bot mir neutralen Kontakt an. Im Austausch dafür sollte ich aber keine beinahe stündlichen SMS mehr schicken und ferner einen Psychologen aufsuchen. Natürlich hatte ich das akzeptiert, wie ich wohl jede Forderung von ihr akzeptiert hätte. Seit dem großen Bruch zwischen uns, bei dem ich gar nicht mehr weiß, wieso dies so gekommen war, hatte sie sich nicht mehr auf meine Emails, SMSen oder Anrufe gemeldet. Aber nüchtern betrachtet, hatte sie zwei Monaten nach unserer Trennung auch keinen Grund mehr mir zu schreiben oder überhaupt in irgendeiner Weise Kontakt mit mir zu haben. Ihr neuer Freund konnte mit seinen Händen nun durch ihre brünetten Haare fahren; ihr strahlendes Lächeln sehen und sich dabei in ihre grünen, leicht katzenförmigen, Augen verlieren; ihren Kopf auf seiner Brust fühlen, während man durchs TV-Progamm des Alltags zappt; ihre vollen Lippen küssen oder nach harten kräftigen Stößen, ohne Kondom, in ihr abspritzen. Wie sehr ich all dies mit Denise wieder hätte teilen wollen? Nicht in Worte zu fassen. Was solche Gedanken in mir ausrichteten? Nicht ansatzweise in Worte zu fassen. Ich war trotz allem voller Freude und bereit, meine endlosen, liebestrunkenen und stalker-ähnlichen Nachrichten gegen ein bisschen Smalltalk einzutauschen. Bietet man einem hungernden Menschen ein paar Krümel, würde er diese wie ein Festmahl verschlingen. Daher verschlang ich auch Ihre WhatsApp-Nachricht. Allein schon, da sie mich entsperrte, um mir zu schreiben. Ich schöpfte Hoffnung, denn vielleicht war doch noch ein Funken Liebe für mich in ihrem Herzen. Meine Gedanken überschlugen sich und daher brauchte ich ein paar Sekunden, um mich auf ihre Nachricht zu konzentrieren.

DENISE: „Brian! Wie dumm bist du eigentlich? Weißt du wie krank sowas ist? Du schreibst alle paar Minuten wie so ein verdammter Stalker! Das ist schon richtig krank! Mein Freund hat ein paar deiner Nachrichten gelesen. Ich bin auf 180! Bitte versprich mir, dass du es sein lässt und zu einem Psychologen gehst! Versprichst du mir das? Allein schon wegen all dem Mist, der in deinem Leben passiert ist. Wenn du zu einem Psychologen gehst, kannst du mir gern normal schreiben. Nur keine ständigen Liebeserklärungen mehr, denn ich kann und will das einfach nicht mehr hören. Einfach ganz normal schreiben, Brian!“

ICH: „Hey, Denise. Ja, du hast irgendwie recht, habe selbst schon nachgedacht, wie das wohl rüberkommt, aber ich denke halt ununterbrochen an dich. Ich habe nur dich im Kopf. Wenn ich aufwache, bist du der erste Gedanke, der mir in den Sinn kommt und wenn ich schlafen gehe, bist du der letzte Gedanke. Ich liebe liebe liebe liebe liebe liebe liebe dich! Ich kann dich auch einfach nicht ersetzen. Du bist unentbehrlich für mich, egal, wie kitschig es klingt, aber so sind meine Gefühle. Ich brauche dich mehr als mich selbst. Ich werde das echt machen. Sehr gern sogar!“

Obwohl ich dann weitere Nachrichten schickte, kam von ihr nichts mehr. Wahrscheinlich verbrachte sie den Abend wieder bei ihm oder war generell einfach nur angepisst von mir. Trotzdem wollte ich diese kleine Chance nutzen. Wer hungert schon gerne weiter, wenn zumindest Krümel gereicht werden? Als ich bei Google nach Psychologen in meiner Umgebung als ersten „Dr. Schwedka“ sah, vereinbarte ich sofort einen Termin. Ich wollte das Ganze schnellstmöglich hinter mich bringen, um bei Denise in irgendeiner Art und Weise voranzukommen. Wohin das Ganze mit ihr hinführen sollte war mir eigentlich gar nicht richtig klar. Schließlich hatte sie einen Freund, aber ich wollte sie einfach wiederhaben. „Vielleicht würde sie in ein paar Wochen doch erkennen, was sie an mir hat“, dachte ich. Zwei Jahre Beziehung wischt man doch nicht einfach so weg?

Am Tag des Termins waren es draußen mindestens -10 Grad. Zum Glück aber ohne Schnee. Ich war nicht nur genervt vom Eiskratzen am Auto, sondern auch von meinen Fragen im Kopf, die dort aufleuchteten wie Werbeschilder in Las Vegas. Warum mache ich das? Was erwartet mich da? Werde ich da heulen? Wie wird Denise reagieren, wenn sie sieht, dass ich es echt getan habe? Doch ich konnte einfach keine befriedigenden Antworten finden und war quasi im Blindflug, dank meiner Gedanken, zum Termin gelangt. Vorbei durch die halbe Stadt, vorbei an der netten älteren Dame an der Anmeldung, vorbei am Psychologen und nur noch in Richtung des mir von ihm gezeigten Platzes. Es war dort wirklich so wie man sich eine Psychologenpraxis vorstellt. In seinem Praxiszimmer war es ekelhaft auf Gemütlichkeit bedacht eingerichtet, aber doch so nichtssagend steril. Alles hell und freundlich gehalten. Weiße Schränke - natürlich voller Bücher, weißer Schreibtisch - natürlich total aufgeräumt, weißes Sofa - natürlich für die Patienten. Alles vereint auf Echtholz-Parkett und durch grüne Gardinen, grüne Kissen auf dem weißen Sofa sowie einen grünen Designerdrehstuhl vor dem Sofa, für den feinen Herrn Doktor, abgerundet. Als ich auf dem Sofa, zwischen den kiwi-grünen Kissen, platznahm, wachte ich allmählich aus meiner Blindflugphase auf.

DOC: „Was führt Sie zu mir?“, eröffnete er das Gespräch mit einem Hauch Routine in der Stimme.

ICH: „Puh! Ja, eigentlich schwer zu sagen. Hab´s meiner Ex versprochen.“

DOC: „Versprochen hierher zu kommen!? Aus welchem Grund?“

ICH: „Sie sagte, wenn ich zu einem Psychologen gehen würde, würde sie wieder mit mir reden. Normal jedenfalls. Ich schreibe sie ständig an, weil mich das alles sehr mitnimmt. Liebeskummer halt.“

DOC: „Wie lange sind Sie denn getrennt?“

ICH: „Seit vier Monaten. Aber das allein ist nicht der einzige Grund, wieso ich herkommen soll.“

Nun hatte ich wohl irgendwie sein Interesse geweckt. Sein Blick fixierte mich. Liebeskummer allein bringt einem Psychologen womöglich schon gut Geld ein, aber wenn dort noch mehr in einem Patienten ist, bedeutet das mehr Sitzungen und dies bedeutet wiederum mehr Geld für den Seelenheiler. Man kann es denen ja auch nicht verübeln. Wer hört sich schon freiwillig die Sorgen anderer an und studiert dafür noch?

DOC: „Okay. Ich würde dieses Erstgespräch gern dafür nutzen mehr über Sie zu erfahren, damit ich mir ein explizites Bild von Ihnen machen kann.“

ICH: „Ja, okay – von mir aus.“

DOC: „Gut, dann erzählen Sie doch mal von sich. Wer Sie sind, was Sie machen, was Ihnen im Leben so alles widerfahren ist und so weiter. Jedes Detail ist wichtig. Seien Sie einfach ehrlich, desto besser kann ich Ihnen letztendlich helfen“, sprach er mich auffordernd an und nahm dabei einen Block sowie einen Kugelschreiber zur Hand.

Ich stockte kurz. „Ich sollte mich also einfach entblößen? Einfach vor jemand völlig Fremden meine Hose runterlassen? Das widersprach eigentlich völlig meiner Art, doch mit dem Übertreten der Türschwelle der Praxis hatte ich meine Art schon über den Haufen geworfen. Niemals wollte ich fremde Hilfe annehmen, doch nun saß ich dort und hatte ohnehin nichts zu verlieren. Er machte jeden Tag doch nichts anderes als sich Sorgen anderer Wesen anzuhören, diese zu katalogisieren, ein Fazit zu ziehen und dann entsprechende Methoden anwenden, um diese Sorgen letztendlich zu reduzieren bzw. diese gar aufzulösen. Was gab es also schon zu verlieren? Er hört es sich an und geht dann nachher nach Hause zu seinen Kindern und seiner Frau, welche er als Bild auf seinem perfekt arrangierten Schreibtisch hat“, dachte ich.

Meine Gedanken waren nun bereit aus meinem Mund zu strömen. Ich fing zunächst an die Basics auszuplaudern, die man jedem noch so unvertrauten Menschen anvertrauen konnte.

ICH: „Ja also, ich bin Brian Herkstein. Ich bin 28 Jahre alt, hier in Cuxhaven geboren und aufgewachsen und machte 2006 mein Abitur. Anschließend musste ich dann zum Bund und habe danach meine Ausbildung als Bestattungsfachkraft begonnen. Ja, und in dem Beruf arbeite ich heute noch.“

Sein Blick änderte sich leicht. Zumindest kam es mir so vor. Es war dieser Blick, den jeder in meinem Beruf zu sehen bekommt, wenn man verrät, womit man sein Geld verdient. Dieser Blick voller Neugier, Abscheu und Ekel. Ich hatte mich schnell daran gewöhnt und es machte mir auch nie groß etwas aus. Ganz im Gegenteil, ich genoss schon immer gern die Aufmerksamkeit der anderen.

DOC: „Wie kamen Sie dazu?“

ICH: „Ich weiß nicht, ob es am frühen Kontakt mit dem Tod lag, aber es reizte mich halt immer schon die Vergänglichkeit. Als kleines Kind nahm mich mein Opa immer mit auf den Friedhof zu Omas Grab. Ich realisierte da, dass von Friedhöfen eine unglaublich tiefe Ruhe ausgeht. Ein Ort, an dem man bedacht denkt, bedacht redet und besonnen handelt. Ich mag solche Orte. Auf Opas Bauernhof, auf dem ich unzählige Ferientage verbrachte, war es auch normal, dass dort Tiere geboren wurden oder halt auch starben. Ich bin mit dem Tod groß geworden. Er war immer irgendwie präsent. Und was auch gut ist, ist die Abwechslung und Vielseitigkeit. Man macht Verwaltungsarbeit im Büro, organisiert, plant, berät Kunden und man hat aber gleichzeitig handwerkliche Tätigkeiten zu erledigen. Tja, und es wird nie langweilig, weil man nie weiß, was auf einen am nächsten Tag zukommt. Ruft da die Kripo wegen eines Mordfalls an oder muss man noch die ein oder andere neue Beerdigung planen? Das hat mich so gereizt in diesen Beruf zu gehen.“

DOC: „Oh, okay. Für mich persönlich wäre das nichts. Ich bevorzuge dann doch die Lebenden. Was sagen Ihre Eltern zur Ausübung dieses Berufes?“, fragte er seriös lächelnd und nicht ahnend, dass er meinen wunden Punkt schon nach nicht mal fünf Minuten getroffen hatte.

ICH: „Meine Mutter kam damit klar.“

DOC: „Kam? Jetzt etwa nicht mehr?“

ICH: „Sie starb letztes Jahr.“

DOC: „Oh! Mein Beileid dann nochmal an dieser Stelle. Möchten Sie vielleicht darüber reden?“

ICH: „Ganz so viel gibt es da eigentlich nicht zu erzählen“, spielte ich es lapidar runter.

DOC: „Erzählen Sie ruhig so viel Sie mögen, wir haben genug Zeit.“

ICH: „Sie starb letztes Jahr im Januar, weil irgendein scheiß Penner einen Ziegelstein von einer Brücke auf die Autobahn warf, als sie auf dem Weg zu einer Freundin war. Das Ding krachte durchs Fenster und hat ihren Schädel regelrecht zertrümmert. Wie kann man sowas tun? Das kam alles so krass. Einfach so. Zwei Tage vorher war ich noch mit ihr beim Griechen zum Essen und dann erfährst du, dass deine Mutter tot ist. Was für ein sinnloser Tod. Kotzt mich so an, dass die scheiß Bullen nicht mal einen Verdächtigen vorweisen konnten. Lieber kontrollieren sie einen, wenn man kein Licht am Fahrrad an hat. Haben ja nichts Besseres zu tun. Scheiß Bullen!“

DOC: „Sie hatten also engen Kontakt zu Ihrer Mutter?“

ICH: „Ja, das war absolut so. Sie war immer für mich da und stand auch immer 100 Prozent hinter mir. Hatte ich Geldnöte – sie war da. Hatte ich Tränen im Gesicht – sie war da. Hatte ich mal nichts zu Essen im Kühlschrank – sie war da. Sie hat sich immer rührend um mich gekümmert. Meine Mutter war eine pragmatische Frau voller Herz. Jedes Gramm ihres Herzens war voller Leidenschaft für mich. Das werde ich ihr nie vergessen. Ihr Verlust ist mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen. Würde ich diesen Hurensohn, der meiner Mutter das antat…“

Ich schwieg kurz und ging in mich, um nicht zu krass in meiner Äußerung zu werden. Ich ordnete kurz meine Gedanken und beruhigte mich.

ICH: „Na, Sie wissen schon. Oft hat man ohnehin schon einen anderen Blick auf die Welt und würde sie am liebsten in Flammen sehen, aber diese eine spezielle Person, die würde ich so gerne… – na, Sie wissen schon, aber ich denke das ist normal.“

Er nickte kurz.

DOC: „Und Ihr Vater? Was ist mit dem?“

ICH: „Er ist auch tot. Habe ihn aber nie richtig kennenlernen können, weil ich fünf war, als er starb. Er war damals als Pilot bei der Bundeswehr und starb noch während seiner Ausbildung in Arizona. Was meine Mutter so sehr liebte, starb in dem Land, in dem sie geboren wurde. Komische Ironie des Schicksals. Na ja, und woran ich mich halt erinnern kann, ist, dass meine Mutter mir damals sagte, dass wir alle sterben müssen. Ich habe als kleiner Junge den ganzen Tag unter dem Stubentisch verbracht und geheult. Sie konnte wohl selbst nicht richtig mit der Situation umgehen, da kamen solche Sprüche nun mal manchmal von ihr. Kann man ihr aber nicht verübeln. Wer kommt mit sowas schon einfach so klar? Aber an ihn selbst erinnere ich mich leider nicht. Nicht ein Stück. Das war halt nur der Moment, an dem ich merkte, dass bei uns irgendwas anders ist. Der erste Moment, in dem mir wohl indirekt klar wurde, dass ich keinen Vater hatte.“

DOC: „Wie steht es um den Rest Ihrer Familie. Irgendwelche Geschwister vielleicht?“

ICH: „Ne, ich bin ein Einzelkind. Wirklich Kontakt habe ich zu keinem, außer zu Tante Erna, weil sie auf mich aufpassen musste, während meine Mama damals arbeiten war. Haben jetzt immer mal gelegentlich Kontakt. Aber sonst sind alle Großeltern mittlerweile tot. Zu meinen Cousinen habe ich gar keinen Kontakt und auch zu meinem Onkel nicht. Die leben ihr Leben, ich lebe meins.“

DOC: „Fühlen Sie sich oft einsam?“

ICH: „Irgendwie ja, irgendwie nein. In meinem Kopf ist oft Achterbahn. Manchmal könnte ich vor Einsamkeit heulen, wie in dieser Phase meines Lebens, manchmal bin ich aber auch froh, wenn ich niemanden um mich herum habe. Ich denke jedoch, dass die Traurigkeit in mir überwiegt - verstehen Sie, was ich meine?“

DOC: „Ja sicher, ich verstehe Ihren Gemütszustand.“

Ich bemerkte, wie er immer mehr Notizen auf seinem Block notierte. Lief seine Analyse womöglich schon auf Hochtouren?

DOC: „Ich würde gern auf Ihre Ex-Freundin zurückkommen. Wie war das Verhältnis zu ihr?“

ICH: „Das war eigentlich gut. Sehr sogar. Klar, es gab Höhen und Tiefen, doch die Höhen haben alles andere übertroffen – jedenfalls für mich. Aber manchmal kommen Frauen an einen Punkt, das ist jedenfalls meine Erfahrung, da wollen Sie einfach einen anderen Kerl. So wie sie ihre Haare oder ihren Klamottenstil ändern, müssen sie auch ihre Kerle wechseln. Frauen können sich halt alles aussuchen. Die werden pausenlos angeschrieben oder angesprochen. Kommt zur passenden Zeit ein anderer Kerl an, dann sind die weg. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man wegwirft statt zu reparieren. Das ist in Sachen Liebe doch nichts anderes.“

DOC: „Was war denn der Grund für die Beendigung der Beziehung?“

ICH: „Kann ich gar nicht genau sagen. Sie würde jedenfalls sagen, wir hätten uns auseinandergelebt. Ich sehe das aber anders. Sie hat einen anderen kennengelernt und wollte sich einfach mal verändern. Liebe bedeutet doch nichts. Was bedeutet schon eine Beziehung? Es ist ein loses Versprechen, dass man mit keinem anderen schläft oder sonst rummacht. Manche tauschen Ihre Partner wochenweise aus. Als Mann ist man leicht austauschbar, das kotzt mich extrem an. Ich kann sie nicht einfach so leicht ersetzen - sie mich jedoch schon. Nach all der Zeit kann sie einfach so einen neuen Kerl nehmen und mich ersetzen. Das ist mega verletzend für mich.“

DOC: „Liebe ist individuell. Sie ist vergänglich, wie alles im Leben. So war es schon immer und die Zeit heilte bisher jedes Herz – oder etwa nicht?“

ICH: „Nein! Die Liebe hat sich im Laufe der Zeit verändert. Ich glaube, dass sich durch social media alles verändert hat. Jeder ist ständig verfügbar und kann klar gemacht werden. Früher musste man noch mühsam eine Telefonnummer erfragen und musste zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Jetzt geht man einfach online und schreibt alles an, was irgendwie halbwegs zu vögeln ist. Die Welt dreht sich schneller, die Liebe dreht sich mit ihr. Frauen ändern sich, wie ich schon sagte. Aber gut, das mag meine Perspektive sein.“

DOC: „Liebe scheint für Sie eine besonders wichtige Facette des Lebens zu sein?!“

ICH: „Klar. Und vor allem, wenn sie fehlt.“

DOC: „Gut, okay. Mit dem Themenfeld sollten wir uns in einer weiteren Sitzung explizit nochmal auseinandersetzen. Was ich gerne noch wissen würde: Gab es irgendwelche anderen Auffälligkeiten während Ihrer Kindheit bzw. Jugend? Nahmen Sie Drogen oder waren in irgendeiner Weise verhaltensauffällig?“

ICH: „Drogen waren nie mein Ding. Ich habe zwei Mal im Leben gekifft, hat mir aber nicht so zugesagt. Tja, Alkohol war oft im Spiel, aber nicht mehr als bei anderen Jugendlichen. Am Wochenende mit seinen Freunden losgehen und sich dann mal einen genehmigen – war früher aber auch mal mehr.“

DOC: „Andere Auffälligkeiten gab es nicht?“

ICH: „Nein. Mir ist jedenfalls nichts bekannt.“

DOC: „Sie haben auch keine Aufmerksamkeitsdefizite oder Depressionen bzw. Niedergeschlagenheit verspürt?“

ICH: „Niedergeschlagen vom Liebeskummer ist ja jeder mal, aber ne, sonst eher nicht.“

DOC: „Wie steht es um Ihren Freundeskreis? Wie ist dieser bei Ihnen strukturiert?“

ICH: „Ja, man kennt schon recht viele Leute, aber echt gute Freunde, die mit einem durch Himmel und Hölle gehen? Davon habe ich sicherlich nur zwei oder drei. Viele in meinem Alter haben mittlerweile schon eine Ehe am Start, Kinder, ein Haus und dazu einen Familienwagen vor der Tür. Echt viele Freunde von damals leben nun ein anderes Leben, aber ein paar sind ja übriggeblieben.“

DOC: „Hätten Sie gern so ein Leben? Kinder, Haus und all das?“

ICH: „Eigentlich nicht.“

Er schrieb noch seinen Satz auf seinem Block zu Ende und legte ihn, samt Kugelschreiber, zurück auf den Tisch.

DOC: „Ja, gut. Das ist doch schon mal ein guter Anfang. Vielen Dank für das offene Gespräch und lassen Sie sich bitte vorne von Frau Ronn einen neuen Termin geben.“

Wir standen auf, schüttelten uns noch die Hände und verabschiedeten uns mit Floskeln wie „Schönes Wochenende“ oder auch „Schönen Tag noch“. Ich holte mir einen neuen Termin und ging raus. Ich bemerkte erst kurz vor dem Wagen, dass meine ganze Umgebung voller Schnee war. „Ich hasse Schnee“, kam es mir leise über die Lippen. „Wenn ich schon daran denke, dass Denise es sich nun mit ihrem Spasti kuschelig, gemütlich macht oder sie draußen einen bescheuerten Schneemann oder einen verhurten Schneeengel machen und sie dann glücklich im Schnee rumtollen, könnte ich echt kotzen. Grinsen sich ständig an und knutschen sich. Fickt mich das ab, Mann. Allerdings wäre es auch beschissen, wenn jetzt Sommer wäre. Dann würden sie sich am Strand zusammen sonnen oder händchenhaltend durch die Stadt ziehen und einkaufen oder was weiß ich nicht alles machen“, argumentierte ich flüsternd vor mich hin. Scheiß Wetter. Mir war es eigentlich schon immer egal, welches Wetter draußen war. Ich weiß nicht, warum Leute sagen, dass sie sich auf Sonne freuen oder keine Regentage möchten. Es ist doch nur beschissenes Wetter. Allein schon über das Wetter zu reden ist doch bescheuert. Eine trivialere Form der Unterhaltung kann ich mir kaum vorstellen.

Während ich nach Hause fuhr, musste ich an meine Lügen bezüglich des Gesprächs denken. Na ja, nicht alles zu erzählen?! Ist das überhaupt eine Lüge? Natürlich hatte ich Aufmerksamkeiten, wie er es nannte, an mir festgestellt. Aber ich sage dem Arsch doch nicht, dass ich im Alter von neun Jahren einmal Katzenbabys gegen eine Mauer geschleudert habe und es äußerst amüsant fand, wie es sich angefühlt hat, über Leben und Tod zu entscheiden. Auch würde ich dem Penner doch nicht sagen, dass ich in der Schule gern den einen oder anderen zusammengeschlagen habe oder ich mit 15 eine Oma in den Graben geworfen habe, als sie mich blöd angemacht hat. „Pass auf, wie du fährst!“, schrie sie mich an, während ich sie mit meinem Fahrrad leicht an ihrem Mantel streifte. Das war zu viel. Ich stieg ab, gab ihr eine Backpfeife und habe sie die kleine Böschung runtergeschubst. Ich machte mich dann aus dem Staub, weil ich einfach meine Ruhe haben wollte. Ihr Gejammer, als sie da unten lag, machte mich sogar noch aggressiver.

Ich war noch nicht mal richtig in der Wohnung, da hatte ich Denise gleich die Nachricht geschickt, dass ich es getan habe:

„Hey, Denise. Ich hab mein Versprechen eingelöst. War bei einem Psychologen. War auch keine große Sache! Melde dich mal, wenn du gerade Zeit hast. Vermiss dich!“

Natürlich schaute ich den ganzen verfluchten Tag, trotz des eingeschalteten Tons, auf mein Handy. Alle paar Minuten immer ein erneuter Blick, ob sie geschrieben hat. Ich musste mich echt zusammenreißen ihr nicht noch weitere Nachrichten zu schicken. Welch ein beschissenes Gefühl sich im Laufe des Tages in mir breit machte. Nun hatte ich getan, was sie wollte und nichts kam zurück. In meinem Kopf malte ich mir wieder die beschissensten Gedanken aus, dass sie gerade mit ihm im Bett lag oder die beiden gerade zusammen Essen machten. Die Gedanken schnürten mir fest die Kehle zu. Die komplette Sehnsucht hatte mich wieder. Es kamen mir so viele Erinnerungen mit ihr hoch. Der erste Kuss in der Disco, der erste Sex auf meinem Sofa – all solche Dinge waren dauerpräsent in meinem Kopf. Immer wieder kam ein anderes Detail, vor meinem geistigen Auge, zum Vorschein. Jedes einzelne war schöner und gleichzeitig schmerzhafter als das andere zuvor. Ich wollte doch einfach nur bei ihr sein und hätte alles getan, was in meiner Macht stand, damit sie glücklich bei mir hätte werden können. Es zerfetzt einem so sehr das Herz, dass jemand anderes nun das hat, wonach man sich so sehr sehnt. Man selbst fühlt sich dann hässlich und minderwertig. Wie oft hatte ich in dieser Zeit an Selbstmord gedacht? Wie gern hätte ich mir eine Knarre besorgt, um mich vor ihren Augen zu erschießen? So unglaublich gerne. Sie hätte dann endlich gewusst, dass ich nur sie liebte und niemals wieder jemand anderen lieben würde. Doch ich vegetierte einfach nur vor mich hin und verlebte den Rest des Tages damit, mich allein zu betrinken und schnulzige Musik zu hören. Ich heulte und heulte einfach nur. Je höher der Alkoholgehalt in meinem Blut wurde, desto höher wurde auch die Sehnsucht nach ihr. Irgendwann musste ich nachts, mit Tränen auf den Wangen, eingeschlafen sein. Dies geschah zu dieser Zeit extrem oft.

Die Hölle im Herzen

Подняться наверх