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Sollte das britische Wahlsystem zu Gunsten verhältnismäßigerer Repräsentation reformiert werden?

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Das britische Wahlsystem zur Verteilung der Mandate in den Unterhauswahlen ist eines der ältesten Wahlsysteme Europas und wird daher traditionell von der Mehrheit der Briten als natürliches Medium einer stabilen Demokratie angesehen (Bogdanor, 1981: 177). Dabei handelt es sich um ein Mehrheitswahlrechtsmodell, in dem in jedem Wahlkreis verschiedene Kandidaten für Parteien antreten, wobei am Ende nur derjenige das Mandat bekommt, der die meisten Stimmen erhält. Dabei reicht eine Stimme Vorsprung zum Zweitplatzierten bereits aus, um das Mandat zu erhalten, während die anderen Stimmen damit automatisch verloren gehen (Leach et al., 2011: 73 f.). Man spricht bei diesem System vom sogenannten „Single member plurality system“ (Leach et al., 2011: 74) oder umgangssprachlich „first past the post“-System (Bogdanor, 1981: 177). Lijphard (1999) bezeichnet das politische System Großbritanniens generell als „Westminster democracy“. Ein großes Problem des Westminster-Modells ist die Verzerrung zwischen den Stimmen und Mandaten. So wurde zwar die rechtsextreme United Kingdom Independence Party (UKIP) mit über 3 Millionen Stimmen die drittstärkste Kraft im Land, erhielt aber dennoch lediglich einen Sitz, da sie nur in einem der 650 landesweiten Wahlkreise die Mehrheit der Stimmen erhielt (vgl. BBC, 2015). Dabei handelt es sich um Ein-Mann-Wahlkreise, sodass für jeden Wahlkreis nur ein Kandidat ins Unterhaus einzieht. Es braucht ein Kandidat noch nichtmals die absolute Mehrheit zu erreichen, sodass viele Mandatsträger mit unter 50 Prozent der Stimmen gewählt wurden (Leach et al., 2011: 76). Zudem verändert sich die Parteienstruktur, sodass Gegner der Westminster-Demokratie dieses Modell nicht mehr für zeitgemäß erachten (ibid.). Daher ist zu klären, ob das britische Wahlsystem zur Wahl des Unterhauses (House of Commons) in Zeiten des Wählerwandels ein großes Demokratiedefizit mit sich bringt und welche Alternativen zur Verfügung stehen.

Ein besonderes Demokratiedefizit lässt sich vor allem in der Stimmverzerrung beobachten, wie bereits oben am Beispiel der UKIP deutlich gemacht wurde. Aber auch kleinere Parteien wie die britischen Grünen und die Liberal Democrats (LibDem) waren nach den Wahlen im Jahr 2015 nur mit einer einstelligen Zahl an Sitzen vertreten, während die Scottish National Party (SNP), welche etwa die gleiche Größenordnung annimmt, ganze 56 Sitze erhalten hat. Damit hat die SNP mehr Einfluss im Parlament als die Grünen und LibDems zusammen, obwohl alle drei Parteien jeweils weniger als fünf Millionen Stimmen auf sich vereinigen konnten (s. BBC, 2015). Daran zeigt sich, dass nicht nur die UKIP als Extrembeispiel für eine Stimmenverzerrung exemplarisch herauszustellen ist, sondern die Stimmenverzerrung ein allgemeines und immer wiederkehrendes Problem im britischen Wahlsystem zur Mandatsverteilung im Unterhaus darstellt, was von einigen Teilen der Bevölkerung als unfair wahrgenommen wird. Aus diesem Grund hat sich die Electoral Reform Society gebildet, welche für eine Reform des Wahlsystems wirbt. Der aktuelle Slogan lautet „The way we elect MPs is bad for voters, bad for government and bad for democracy.” (ERS, o.J.a). Die ERS führt als Reformgrund besonders den hohen Verlust an Wählerstimmen durch das First-past-the-post-System an: “We need reform so that every vote counts – and where public opinion is properly represented in Parliament. The House of Commons can never represent the will of the British public when half of votes cast don’t help send anyone to Parliament. The system we use to elect our MPs has a real impact on life in Britain – it’s time we made sure seats matched votes.” (ERS, o.J.b). Aber auch das House of Lords wird von der ERS als undemokratisch angesehen, da es nicht von der Öffentlichkeit gewählt wird (ERS, o.J.c). Zudem wird die Unterrepräsentation von Frauen in wichtigen Positionen kritisiert und die Ungleichheit des Wahlalters wird beklagt, da man in Schottland schon ab 16 Jahren wählen darf, im restlichen Vereinigten Königreich jedoch erst ab 18 Jahren (ibid.). Dass die Electoral Reform Society keine Peripheriestimme ist, sondern durchaus ernste Unterstützer hat, zeigt sich in der medialen Aufmerksamkeit, die dieser Organisation zuteil kommt. So haben werbewirksam über 500.000 Menschen eine Petition für eine Wahlrechtsreform unterschrieben, darunter auch prominente Politiker wie die Baroness Sal Brinton (LibDem), Nigel Farage (UKIP), Natalie Bennett (Green Party), Leanne Wood (Plaid Cymru) und Philippa Whitford (SNP) (s. ERS, 2015). Aus den im Werbevideo gezeigten politischen Persönlichkeiten und deren Parteiangehörigkeit lässt sich schließen, dass gerade die kleineren Parteien die Kampagne unterstützen, was nicht verwunderlich sein sollte, da diese am meisten von einem reformierten Wahlsystem profitieren würden.

Dennoch ist es nicht so leicht in Zeiten des Friedens ein Wahlsystem zu reformieren oder zu ersetzen, vor allem, wenn die regierenden Kräfte davon profitieren (vgl. Watts, 2006: 327). Daher sind die konservative Partei (Conservatives), aber auch Teile der Labour-Partei gegen eine Veränderung (Leach et al., 2011: 74), da diese ihre Vormachtstellung im britischen Wahlsystem aufheben würde, nicht zuletzt weil ein Mehrheitswahlrecht gerade darauf abzielt, ein Zweiparteiensystem und damit ein gewisses Parteienmonopol zu etablieren (Riker, 1982: 754). Daraus lässt sich zudem folgern, dass die Kandidaten kleinerer Parteien in der Regel chancenlos sind, was sich aus dem Anfangsbeispiel der Stimmverteilung im Vergleich zur Mandatsverteilung der UKIP sehr gut aufzeigen lässt. Gleichzeitig kommt es zur Bildung von Hochburgen und damit zu einer Entpolitisierung in den Wahlkreisen, in denen der Sieg einer Partei als dauerhaft gesichert gilt (s. Korte, 2009). Eine Entpolitisierung ist für eine gesunde Demokratie von Nachteil, weil dies zu politischem Desinteresse und mangelndem politischen Engagement, aber auch zur Verschränkung von Veränderungen und somit zu Stillstand führt. Da aber gerade die Demokratie von einem fluiden Meinungsaustausch und ernsthaften Wahlalternativen lebt, ist besonders die Hochburgenbildung demokratiegefährdend, für die betreffende Region womöglich demokratieentwertend. Dagegen gibt es einen heftigen Kampf um die Stimmen in den unsicheren Wahlkreisen (marginal seats), und eine Konzentrierung des Wahlkampfes, sodass hauptsächlich den Problemen in umkämpften Wahlkreisen besondere Beachtung geschenkt wird (ibid.). Auch dies ist nicht unproblematisch, weil die Konzentration auf lokale Konflikte möglicherweise größere landesweite Probleme in den Hintergrund stellt. Ein Mehrheitswahlsystem bildet zwar eine starke Regierungsstabilität heraus, sorgt aber gleichzeitig für eine schwache Opposition und vertritt keine Minderheitenstimmen, da diese durch das Mehrheitswahlrecht erst gar keine Chance auf Repräsentation im Parlament haben. Eine bessere Repräsentation würde vor allem durch Verhältniswahlsysteme gewährleistet werden. Watts (2006: 329 f.) schlägt vor allem Parteilistensysteme, das Single Transferable Vote (STV) oder Hybridsysteme wie das Additional Member System vor, welches exakt dem deutschen Wahlsystem entspricht.

Immerhin ist seit 2011 durch das Fixed-Term Parliaments Act die Legislaturperiode auf eine Zeit von fünf Jahre festgelegt (s. Legislation.gov.uk, 2011). Zuvor oblag die Auflösung des Parlaments beim britischen Monarchen, der das Parlament jedoch nur auf Rat des Premierministers auflöst, womit die jeweilige Regierung einen Einfluss auf den Zeitpunkt der Unterhauswahlen hatte und damit taktische Erwägungen einbringen konnte. Das Fixed-Term Parliaments Act legt somit erstmals gesetzlich die Auflösung des Parlamentes fest und schränkt damit die Kompetenz des Monarchen über diesen Handlungsspielraum ein. Dies ist jedoch nur ein kleiner Schritt, um Wahlen fairer zu machen, da es lediglich machttaktische Überlegungen des Wahltermins ausmerzt, während die Probleme des Wahlprozesses an sich unberührt bleiben und es die Parlamentswahlen selbst somit nicht fairer und demokratischer macht.

Für die Reformbedürftigkeit des britischen Systems spricht zudem die exklusive Nutzung des „first past the post“-Modells zu den Unterhauswahlen, während bei den Wahlen zum europäischen Parlament sowie den Wahlen zu den Nationalversammlungen in Wales und Nordirland und den Parlamentswahlen in Schottland bereits Verhältniswahlrechtsmodelle verwendet werden. Schottland hat mit der Gründung des nationalen Parlaments im Zuge des Devolutionsprozesses ein personalisiertes Verhältniswahlrecht eingeführt, welches identisch mit dem Wahlsystem zum Landtag und Bundestag in der Bundesrepublik Deutschland ist. Dementsprechend wird es oft vereinfacht als „the German system“ (Leach et al., 2011: 77) bezeichnet, obwohl die offizielle Bezeichnung „Additional Member System“ (AMS) lautet und in Deutschland als personalisiertes Verhältniswahlrecht bekannt ist, da die Erststimme an einen Direktkandidaten geht, und somit wie beim Majorz personalisiert ist, während die Zweitstimme an die geschlossene Liste einer Partei gegeben wird. Auch in Wales wurde mit der Etablierung der eigenen Nationalversammlung 1999 das AMS eingeführt (Robinson, 2010: 143). Ein großer Vorteil dieses Wahlsystems besteht darin, dass weniger Stimmen verloren gehen und eine prozentuale Verteilung zustande kommt, womit die Mandatsverzerrungen viel geringer ausfallen als beim reinen Majorz (Leach et al., 2011: 77 f.). Jedoch kritisiert Bogdanor (1981: 221), dass das deutsche Wahlsystem noch sehr weit vom eigentlichen Gedanken der proportionalen Repräsentation entfernt liegt, vor allem im Bereich der Proliferation der Parteien, schwachen Koalitionsregierungen, und steigenden Tendenzen zur Wahl extremer Parteien und Ansichten. Da die Zweitstimme an eine geschlossene Liste abgegeben wird, besteht zudem der Nachteil, dass man gleichzeitig auch unliebsame Politiker mitwählt, wenn man seine Stimme einer gewissen Partei gibt. Bereits beim Majorz gibt es die immer steigende Tendenz zum Tactical Voting, das heißt, das man einen Kandidaten, den man eigentlich präferiert nicht wählt, um eine Mehrheit, die man jedoch nicht präferiert, zu verhindern (Leach et al., 2011: 75). Durch das AMS wird das Tactical Voting nicht beseitigt. Zwar kann man die Erststimme einem Kandidaten geben, den man präferiert, jedoch wählt man möglicherweise nicht die Wunschpartei als Zweitstimme, um den Einzug unbeliebter Politiker zu verhindern. Das Mehrheitswahlsystem dagegen ist persönlicher und zielt auf die enge Bindung zwischen Kandidat und Wähler ab, weswegen das House of Commons ursprünglich „House of Communities“ hieß, weil es die regionale Repräsentation sicherstellen sollte (vgl. Bogdanor, 1981: 177). Da es auf eine starke Mehrheitsbildung abzielt, kommt es in der Regel nicht zu Koalitionen (Korte, 2009), sodass die Gefahr schwacher Koalitionsregierungen, wie Bogdanor sie herausgestellt hat, nur äußerst selten vorkommt.

In der Praxis gingen in der walisischen Nationalversammlung durch den Proporz im Jahr 1999 28 Sitze an die Labour-Partei, die 35,5% der Stimmen erhielt; 17 Sitze an Plaid Cymru mit einer Stimmenanzahl von 30,6%; neun Sitze an die Konservativen, die 16,5% der Stimmen einfahren konnten; und sechs Sitze an die LibDems mit 12,6% der Gesamtstimmen, was einer guten proportionalen Repräsentation entspricht. Zu den Unterhauswahlen 1997 mit Majorz dagegen ging kein einziger Sitz aus Wales an die Konservativen, obwohl diese insgesamt 19,5% der walisischen Wahlstimmen einfuhren, während Plaid Cymru vier Sitze bekam, aber insgesamt nur zehn Prozent der Stimmen aus Wales erhielt (s. Robinson, 2010: 144). Die LibDems erhielten sogar nur zwei Sitze, gleichwohl sie über 12% der Stimmen bekamen (ibid.). Dies zeigt, dass vor allem die Konservativen durch den Proporz profitieren. Auch in Schottland profitieren die Konservativen durch den Proporz zur Parlamentswahl, da diese dadurch einige Sitze sichern konnten, während die Konservativen zu den Unterhauswahlen 2005 und 2010 durch den Majorz gerade mal einen Sitz in Schottland holen konnten (s. Leach et al., 2011: 78).

In Nordirland wurde im Mai 1998 ein Referendum abgehalten und bereits im Juni des gleichen Jahres eine eigene Nationalversammlung eingerichtet (Robinson, 2010: 159). Anders als Schottland oder Wales, entschied sich Nordirland jedoch für das Single-Transferable-Vote (STV) als Entscheidungsregel. In der Theorie soll das STV den Vorteil haben, dass nicht nur die Parteien untereinander konkurrieren, sondern auch die Kandidaten innerhalb der Parteien (Bogdanor, 1981: 232). Daher soll dem Wähler keine geschlossene Liste zur Wahl gegeben werden. Der Wähler soll stattdessen unter gleicher Anzahl an Kandidaten von jeder Partei seine Präferenzen angeben, sodass der Wähler selbst auf die Parteistrukturen Einfluss nehmen kann (ibid.). Dadurch wird der Nachteil des AMS, dass man sich für eine geschlossene Liste und damit auch für unliebsame Kandidaten entscheiden muss, beseitigt. Zudem wird die proportionale Repräsentation dadurch gestärkt, dass die Chancen höher sind, dass man am Ende von einem Kandidaten einer Partei repräsentiert wird, den man auch wirklich präferiert hat. Daraus ergibt sich zudem der Vorteil, dass der Wähler tendenziell nicht mehr taktisch wählen muss, da durch seine Stimme nur der Politiker profitiert, den der Wähler auch wirklich im Parlament vertreten sehen möchte, obgleich das Tactical Voting natürlich dennoch möglich ist. Vor allem die Machtaufteilung und Verteilung steht in Nordirland im Fokus, und damit die Repräsentation sowohl nationalistischer irischer Interessen, als auch denen der nordirischen Briten, die als Unionisten bezeichnet werden (Robinson, 2010: 163). Das Single-Transferable-Vote Verfahren ist das komplexeste Wahlsystem in Großbritannien, jedoch wird durch eine Formel eine sehr genaue Proportion erzeugt. Am Ende wird die gesamte Anzahl der Stimmen durch die Zahl der Sitze plus eins geteilt und das ganze nochmal um eins addiert (s. Leach et al., 2011: 77). Das bedeutet konkret für Nordirland, dass ein Kandidat dann gewählt ist, wenn er mehr als einsiebtel der Gesamtstimmen auf sich vereinen kann, sodass eine Partei auch mehrere Kandidaten aus einem Wahlkreis in die Nationalversammlung bekommen kann, wenn diese genügend Stimmen erhalten (ibid.).

Zu den Parlamentswahlen der Europäischen Union verwendet Großbritannien ein Verhältniswahlrecht mit geschlossener, regionaler Parteiliste als Entscheidungsregel (Robinson, 2010: 189). Damit konnten neben den LibDems erstmals die Grünen und die UKIP effektiv Sitze gewinnen. Letztere vor allem, da sie als neue anti-europäische Partei, die erst 1993 gegründet wurde, auf Anhieb drei Sitze, und damit mehr Sitze als die anderen kleinen etablierten Parteien (wie die Grünen oder Plaid Cymru) auf sich vereinen konnte (s. Robinson, 2010: 190 f.). Die regionale Liste hat sich bewährt, vor allem da auch in der folgenden Wahl zum Europaparlament kleinere Parteien repräsentiert wurden. So sind jenseits von Conservatives und Labour auch die LibDems (12 Sitze), UKIP (12 Sitze), SNP (zwei Sitze), die Grünen (zwei Sitze) und Plaid Cymru (ein Sitz) ins Parlament eingezogen (s. Robinson, 2010: 192). Jedoch zeigt sich auch beim Proporzverfahren zu den EU-Parlamentswahlen ein großes Defizit in der verzerrten Repräsentation und damit ein Demokratiedefizit, denn die BNP und Respect haben insgesamt mehr Stimmen erhalten als SNP und Plaid Cymru und sind trotzdem mit keinem einzigen Sitz eingezogen (ibid.). Dies zeigt, dass geschlossene regionale Listen trotz Verhältniswahlrecht durchaus starke Nachteile mit sich bringen. Zudem variiert das Wahlverfahren zur Europawahl innerhalb Großbritanniens sehr stark. Großbritannien ist dabei in 12 Wahlregionen unterteilt, wobei jede Region zwischen drei und zehn Abgeordnete wählt. In England, Schottland und Wales wählt man, wie bereits erwähnt, eine Parteiliste, in Nordirland findet stattdessen das STV Anwendung (s. Government of the United Kingdom, o.J.).

Der Bürgermeister von London wird dagegen wiederum durch ein Mehrheitswahlsystem gewählt, dem Supplementary Vote. Anders als beim reinen Majorz zu den Unterhauswahlen reicht es nicht aus, dass ein Kandidat die meisten Stimmen auf sich vereinen kann ohne dabei auf Anhieb eine absolute Mehrheit der Gesamtstimmen des Wahlkreises zu erhalten. Stattdessen hat der Wähler beim Supplementary Vote zwei Stimmen: eine Stimme für seinen Lieblingskandidaten (Erstpräferenz) und eine Stimme als zweite Wahl (Zweitpräferenz). Auf dem Wahlzettel gibt es daher zwei Spalten, eine ‚first choice’-Spalte und eine ‚second choice’-Spalte (s. Robinson, 2010: 30). Dabei ist man jedoch nicht verpflichtet, eine Zweitpräferenz abzugeben, da der Wahlzettel auch nur mit Angabe einer Erstpräferenz gültig ist. Die Zweitpräferenz kann auch erneut an die Erstpräferenz gegeben werden, jedoch hat dies dann der gleiche Effekt, als wenn man keine Zweitpräferenz angegeben hätte (ERS, o.J.d). Schafft es ein Kandidat 50 Prozent oder mehr der Erststimmen für sich zu gewinnen, gilt er als gewählt. Gelingt es dagegen keinem Kandidaten auf Anhieb die absolute Mehrheit der Stimmen einzufahren, werden die Kandidaten mit den zweitmeisten Stimmen auf Zweitstimmen gezählt. Der Kandidat mit den meisten Erst- und Zweitpräferenzen gilt als gewählt (s. Robinson, 2010: 29). Die Electoral Reform Society hebt hervor, dass zwar ein größerer Kampf um die Stimmen stattfindet als beim reinen First-past-the-post-Verfahren, jedoch ist das Supplementary Vote immer noch zu ineffektiv (s. ERS, o.J.d). So muss ein Kandidat weiterhin nicht zwangsläufig die absolute Mehrheit erreichen, sondern lediglich die meisten Erst- und Zweitstimmen erhalten haben. Beispielsweise erhielt Boris Johnson 2012 bei den Bürgermeisterwahlen insgesamt nur 44 Prozent der Stimmen und war damit Ken Livingstone, der 40 Prozent der Stimmen erhielt, überlegen und somit gewählt (ibid.). Das Supplementary Vote hat Ähnlichkeiten mit dem Alternative Vote Verfahren (AV). Beim AV wird den Kandidaten eine Präferenzzahl zugeordnet. Dabei gilt ein Kandidat in der ersten Runde als gewählt, wenn er auf Anhieb die absolute Mehrheit und damit die meisten Erstpräferenzen auf sich vereinen konnte. Es reicht jedoch nicht aus nur die meisten Erstpräferenzen, aber nicht die absolute Mehrheit erhalten zu haben. Gelingt es keinem Kandidaten, die absolute Mehrheit zu erhalten, wird der Kandidat mit den geringsten Stimmen aus dem Rennen geworfen und die Zweitpräferenzen werden addiert. Schafft es nach der Auszählung der Zweitpräferenzen immer noch kein Kandidat über die 50-Pozent-Hürde, kommen die Drittpräferenzen ins Spiel. Dies wird so lange fortgeführt, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hat (s. Hortala-Vallve, 2010). In den Vereinigten Staaten ist dieses Verfahren als „Instant Runoff“ bekannt (ibid.). Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein Proporzverfahren, sondern lediglich um einen ausdifferenzierten Majorz, bei dem keine neuen Stichwahlen ausgetragen werden müssen, sondern die Stichstimmen direkt vom Wahlzettel durch die Präferenzen ermittelt werden können. In einem Referendum im Jahr 2011 konnten die Briten darüber entscheiden, ob sie lieber das Alternative Vote anstelle des First Past the Post Systems haben wollen und haben dies abgelehnt (ERS, o.J.e). Die Electoral Reform Society spricht sich ebenfalls gegen das AV als Entscheidungsregel für die Parlamentawahlen aus, hält jedoch fest, dass es ideal geeignet ist, um einen Einzelposten wie z.B. ein Präsident oder Bürgermeister zu wählen (ibid.).

Alternative Majorzsysteme stellen also entweder nicht sicher, dass wirklich der Wille einer absoluten Mehrheit repräsentiert wird (Supplementary Vote), oder können sogar eine noch größere Disproportion als beim First-past-the-post-Verfahren herbeiführen, wie dies beim AV zu beobachten wäre (vgl. hierzu ERS, o.J.e). Zudem liegen mit 533 Wahlkreisen die meisten Wahlkreise in England (s. parliament.uk, o.J.), welches auch flächenmäßig die größte nationale Einheit im Vereinigten Königreich darstellt. Die Regionen, die vom Devolutionsprozess betroffen sind, und damit eine eigene Vertretung mit Proporzsystem haben, sind zwar nicht insignifikant, jedoch sind sie für sich betrachtet relativ klein. Nordirland hat gerade mal 18 Wahlkreise, Wales hat 40 Wahlkreise und Schottland hat 59 (ibid.). Die meisten Menschen Großbritanniens leben in England, welches keine eigene nationale Vertretung hat, sodass die meisten Einwohner im Vereinigten Königreich nur vom demokratiedfizitären Majorz Gebrauch machen können, wobei im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens eines Abgeordneten der Wahlkreis einen neuen Abgeordneten wählen muss, sodass kein unliebsamer Nachrücker den Posten annehmen kann.

Hinzu kommt, dass das House of Lords, also das Oberhaus, nicht gewählt wird, sondern die Mitglieder ernannt werden. Traditionell entstammen die Mitglieder dem Adel und dienen als Kontrollgremium für die im House of Commons entstandenen Gesetze. Zudem ist das House of Lords neben seiner undemokratischen Tradition auch wegen jüngster Skandale immer wieder in Kritik geraten: „Viele Briten sehen in der zweiten Kammer ihres Parlaments […] Patronage, Korruption und einen Beleg für die vulgäre Macht des Establishments. Der Skandal um Lord Sewel und seine Party mit zwei Prostituierten und einem Häufchen Kokain zeigt, wie leichtfertig manche Lords mit der Reputation einer wichtigen Institution spielen. Auf einem Foto in der ‚Sun’ trägt Sewel einen roten BH und darüber eine Lederjacke. Es ist ein absurd lächerliches Bild – und das beste Argument dafür, dass sich das House of Lords ändern sollte.“ (Scheuermann, 2015: 71). Daher vermehren sich die Stimmen, dass das House of Lords demokratisiert werden solle, zum Beispiel durch indirekte Wahlen. Zudem ist die derzeitige Käuflichkeit der Mandate im House of Lords hochfraglich und schädigt das Vertrauen in die Demokratie und die politische Sozialisation (vgl. ibid.). Hinzu kommt, dass das House of Lords mit über 800 Sitzen viel zu groß ist (ERS, o.J. f). Damit verbunden sind die hohen Kosten der Abgeordneten. Die Electoral Reform Society hebt hervor, dass alleine von Februar 2014 bis Januar 2015 der durchschnittliche Lord rund 26.000 Pfund gekostet hat (ibid.). Die undemokratische Intransparenz wird noch dadurch erschwert, dass 27 Prozent der Abgeordneten im House of Lords ehemalige Würdenträger aus der Politik sind (ibid.). Das birgt die Gefahr politischer Verflechtungen zwischen den Interessen ehemaliger Minister und aktuellen politischen Würdenträger im House of Commons. Nicht zuletzt ist dies auch deswegen problematisch, da es sich dabei um ehemalige Regierungsmitglieder handelt, die abgewählt wurden oder zurücktreten mussten, aber auch Kandidaten, die Wahlen verloren haben landen im House of Lords (vgl. ibid.). Das bedeutet wiederum, dass die aktuellen Politiker im House of Commons und ihre politische Agenda ausgerechnet von abgewählten oder eventuell unbeliebten unterlegenen Kandidaten kontrolliert werden soll, was für eine Demokratie nicht nur höchst fragwürdig, sondern auch paradox ist, weil ein Wahlverlust im House Of Commons somit zu einer Beförderung zum House of Lords führen kann. Das House of Lords ist zudem nicht repräsentativ, da es nicht die Bevölkerung wiederspiegelt, sondern nur eine gewisse privilegierte Schicht. 2012 wurde der Versuch unternommen das House of Lords zu reformieren, jedoch scheiterte der vorgelegte Gesetzesvorschlag am Widerstand der Conservatives, die auch die meisten Sitze im House of Lords innehaben (s. Democratic Audit UK, 2016). Es ist nicht verwunderlich, dass die Conservatives, die sowohl vom First-Past-The-Post-System, als auch der Vormachtstellung des House of Lords profitieren, diese Machtstellung nicht aufgeben wollen. Der Versuch, diese Vormachtstellung aufrechtzuerhalten ist ebenfalls nicht sehr demokratisch, gerade in Zeiten der Devolution Großbritanniens und dem Machtverlust der zwei großen Parteien im Unterhaus.

Um den Demokratiedefizit Großbritanniens zu beheben, müsste ein Proporzverfahren eingeführt werden. Bogdanor (1981: 255) kommt zur Feststellung, dass nicht ohne weiteres gesagt werden kann, welches Proporzverfahren am Idealsten ist. Er spricht sich gegen allgemeine geschlossene Regionallisten aus, da die Fragmentierung dadurch zu hoch würde (ibid.). Tatsächlich spricht die hohe Fragmentierung der Parteien der Europäischen Union für Bogdanors Argument. Sowohl das STV als auch das AMS nach deutschem Vorbild würden die Repräsentation der großen Parteien in allen Landesteilen garantieren (Bogdanor, 1981: 255f.). Das würde bedeuten, dass auch die Konservativen davon profitieren würden, da diese mit dem derzeitigen First-Past-The-Post-Verfahren in Schottland fast keine Sitze einfahren können, weil diese fast alle an SNP oder Labour gehen und konservative Interessen Schottlands damit nicht im Westminster repräsentiert werden. Bogdanor (1981: 256) sagt zudem voraus, dass falls man jedem Wahlkreis fünf Sitze zuteilt, die großen Parteien mindestens einen oder zwei Sitze durch das STV bekommen könnten. Für Bogdanor scheint damit also das AMS und STV als geeignetste Alternative, um allen Tendenzen repräsentativ Rechnung zu tragen, ohne dass Konservative und Labour einen allzu großen Machtverlust befürchten müssten, womit deren Umsetzung am reellsten wäre. Dennoch hebt er heraus, dass das deutsche System gerade den Nachteil hat, dass man keinen aktiven Einfluss auf die Kandidaten innerhalb der Parteiliste hat, sondern lediglich einen Einfluss auf die Wahl der Partei (Bogdanor, 1981: 257). Robinson (2010: 210) hält die regionale Parteiliste als Alternative für ausgeschlossen, da dies den Kontakt zwischen Wähler und Kandidat stark abkühlt, vor allem da lediglich eine Parteiliste und kein Kandidat direkt gewählt wird. Dagegen sieht Robinson (2010: 211) das STV als Alternative, weil es die Bindung zwischen Wähler und Kandidat nicht aufhebt, gleichzeitig aber ein Quorum zur Erlangung eines Sitzes verlangt. Die Electoral Reform Society und Liberal Democrats setzen sich ganz besonders für die Etablierung des STV als demokratischste Alternative ein (ibid.). Tatsächlich bietet das STV das höchste Maß an demokratischer Partizipation, da man sowohl Einfluss auf die Kandidaten als auch die Parteien nehmen kann, und dadurch sowohl die Kandidaten, als auch die Parteien um die Gunst der Wähler werben müssen. Zudem vermeidet dies die Bildung eines Parteienzwangs, da die Kandidaten sich auch innerhalb der Parteien profilieren müssen. Watts (2006: 343) legt sich auf kein Wahlsystem fest, hebt aber die Notwendigkeit der Repräsentation von Minoritäten als wichtiges demokratisches Element hervor.

Daher lässt sich als Fazit das STV als idealste Alternative zum First-Past-The-Post-System herausstellen. Es reicht nicht aus, nur den Majorz als demokratiedefizient abzuschaffen, sondern das Proporzsystem, welches den Majorz ersetzen sollte, sollte selbst keine neuen Demokratiedefizite herbeiführen. Die regionalen Parteienlisten führen dazu, dass gerade der Einfluss auf Kandidaten vermieden wird, und damit lediglich die Parteien, aber nicht das Kandidatensystem gestärkt wird. Somit würden die Parteien zwar mächtiger und einflussreicher, aber die Kandidaten würden gleichzeitig weniger dem Wähler, sondern eher der Partei dienen. Das Additional Member System ist ein Hybridsystem aus regionaler Parteienliste und Direktkandidat. Zwar gibt es die Möglichkeit, einen regionalen Favoriten ins Parlament zu wählen, aber die Hauptmacht liegt immer noch bei den Parteien, die durch dieses System gestärkt werden. Das Single Transferable Vote Verfahren dagegen schränkt die Parteien in ihrer Disziplin ein, sodass die Kandidaten auch untereinander konkurrieren und Innovation zeigen müssen, was die Demokratie lebendig erhält. Es können sowohl alle politischen Positionen umfangreich vertreten werden, als auch die enge Beziehung zwischen Kandidat und Wahlkreis aufrechterhalten werden. Durch das STV verlieren die etablierten Parteien – Konservative und Labour – nicht an Bedeutung, gleichzeitig können aber auch kleinere Parteien und damit auch Minderheiteninteressen effektiv repräsentiert werden.

Literatur:

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Verfasst im August 2017, veröffentlicht am 26. Juli 2018

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