Читать книгу Disziplin ohne Drama - Тина Пэйн Брайсон - Страница 8
Оглавление1 | Disziplin überDENKEN |
Hier sind einige Aussagen, die wir tatsächlich so von Eltern gehört haben, mit denen wir gearbeitet haben. Stehen irgendwelche davon im Einklang mit Ihren eigenen Empfindungen?
Kommen Ihnen diese Bemerkungen bekannt vor? Sehr viele Eltern empfinden so. Sie wollen die Dinge optimal handhaben, wenn ihre Kinder Mühe haben, sich angemessen zu verhalten, aber in den meisten Fällen endet es so, dass sie einfach auf eine Situation reagieren, statt mit klaren Prinzipien und Strategien zu arbeiten. Sie wechseln in den Autopilotmodus und verlieren achtsamere Entscheidungen aus den Augen.
Der Autopilot mag ein tolles Werkzeug sein, wenn Sie ein Flugzeug fliegen. Sie legen einfach den Hebel um, lehnen sich zurück und entspannen sich, und der Computer bringt Sie dorthin, wohin zu fliegen er programmiert ist. Was die Disziplin von Kindern angeht, ist das Arbeiten mit einem vorprogrammierten Autopiloten hingegen nicht so gut. Er kann uns direkt in die dunkle und turbulente Wolkenbank hineinfliegen, die sich gerade auftürmt, sodass Eltern wie Kinder sich auf einen unruhigen Flug gefasst machen können.
Statt unseren Kindern gegenüber reaktiv zu sein, wollen wir auf sie eingehen. Wir wollen absichtsvoll handeln und auf der Basis von Prinzipien, über die wir zuvor nachgedacht und auf die wir uns geeinigt haben, bewusste Entscheidungen treffen. Absichtsvoll zu handeln bedeutet, verschiedene Optionen zu prüfen und dann diejenige auszuwählen, mit der ein wohlüberlegtes Vorgehen in Richtung unserer beabsichtigten Ziele in Gang gesetzt wird. Bei einer Disziplin ohne Drama sind dies das kurzfristige äußere Ziel, Verhaltensgrenzen zu setzen und Struktur zu bieten, und das langfristige innere Ziel, Lebenskompetenzen zu vermitteln.
Nehmen wir zum Beispiel einmal an, Ihr vierjähriger Sohn schlägt Sie. Vielleicht ist er böse, weil Sie ihm gesagt haben, Sie müssten eine E-Mail fertig schreiben, bevor Sie mit ihm mit Legos spielen können, und er hat reagiert, indem er Ihnen auf den Rücken geschlagen hat. (Ist es nicht immer wieder erstaunlich, dass ein so kleiner Mensch anderen so viel Schmerz zufügen kann?)
Was tun Sie? Wenn Sie auf Autopilot geschaltet haben und keine spezielle Philosophie des Umgangs mit schwierigen Situationen die Basis für Ihr Tun darstellt, reagieren Sie möglicherweise einfach sofort, ohne viel nachzudenken oder eine Absicht zu verfolgen. Vielleicht packen Sie ihn, womöglich fester, als Sie es sollten, und sagen ihm mit zusammengebissenen Zähnen: „Schlagen ist nicht in Ordnung!“ Dann verhängen Sie ihm unter Umständen irgendeine Konsequenz, lassen ihn vielleicht für eine Auszeit auf sein Zimmer marschieren.
Ist dies die schlimmstmögliche elterliche Reaktion? Nein, ist es nicht. Könnte es aber eine bessere geben? Definitiv. Was nötig ist, ist ein klares Verständnis dessen, was Sie eigentlich erreichen wollen, wenn Ihr Kind sich auf eine Weise verhält, die Sie nicht tolerieren wollen.
Das ist das übergeordnete Ziel dieses Kapitels: Es soll Ihnen helfen zu verstehen, wie wichtig es ist, auf der Basis einer wohlüberlegten Philosophie absichtsvoll zu handeln und eine klare Strategie für die schwierige Situationen zu haben. Wie wir schon in der Einleitung gesagt haben, bestehen die zwei Ziele der Disziplin darin, zum einen kurzfristig ein gutes äußeres Verhalten zu fördern und zum anderen die innere Struktur des Gehirns aufzubauen, damit sich langfristig bessere Verhaltensweisen und Beziehungskompetenzen einstellen. Denken Sie daran, dass es bei der Disziplin letztendlich um Einsicht geht. Handelt es sich beim Zähnezusammenbeißen, Fauchen einer Regel und Verhängen einer Konsequenz also um eine wirksame Maßnahme, Ihrem Kind zur Einsicht in ungeeignetes Verhalten zu verhelfen?
Nun, ja und nein. Diese Reaktion könnte die kurzfristige Wirkung erzielen, dass Ihr Sohn Sie nicht mehr schlägt. Furcht und Bestrafung können im Moment effektiv sein, funktionieren aber nicht auf lange Sicht. Und wollen wir wirklich, dass Furcht, Bestrafung und Drama die Hauptmotivatoren unserer Kinder sind? Falls ja, bringen wir ihnen bei, dass Macht und Kontrolle die besten Werkzeuge darstellen, um andere dazu zu bringen, zu tun, was wir wollen.
Auch hier gilt, es ist völlig normal, dass wir einfach nur reagieren, wenn wir wütend werden, insbesondere, wenn jemand uns körperlichen oder emotionalen Schmerz zufügt. Aber es gibt bessere Antworten, solche, die dasselbe kurzfristige Ziel – die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass das ungewollte Verhalten in Zukunft weiterhin auftritt – erreichen können und dabei gleichzeitig Kompetenzen aufbauen. Anstatt sich also einfach nur vor Ihrer Reaktion zu fürchten und einen Impuls in Zukunft zu unterdrücken, wird Ihr Kind eine Erfahrung machen, die eine innere Kompetenz erzeugt, welche über eine bloße Furchtassoziation hinausgeht. Und all dies Lernen kann stattfinden, während das Drama in der Interaktion reduziert und Ihre Verbindung zu Ihrem Kind gestärkt wird.
Lassen Sie uns nun darüber sprechen, wie Sie antworten können, um Disziplin weniger zu einer furchtauslösenden Reaktion und mehr zu einer Kompetenzen aufbauenden Antwort zu machen.
Die drei Fragen: Warum? Was? Wie?
Nehmen Sie sich, bevor Sie auf ein Kind reagieren, einen Moment Zeit, um sich drei einfache Fragen zu stellen:
1. Warum hat mein Kind sich so benommen? In unserer Wut kann unsere Antwort lauten: „Weil es ein verzogenes Balg ist“ oder „Weil es versucht, mich in Rage zu bringen!“ Gehen wir an die Frage jedoch mit Neugier statt mit Mutmaßungen heran und schauen wir uns genauer an, was hinter einem bestimmten Verhalten steckt, können wir häufig verstehen, dass unser Kind versucht hat, etwas auszudrücken oder zu probieren, es aber einfach nicht angemessen hinbekommen hat. Wenn wir dies verstehen, können wir selbst effektiver – und mitfühlender – auf das Kind eingehen.
2. Was möchte ich meinem Kind in diesem Moment vermitteln? Noch einmal: Das Ziel der Disziplin besteht nicht darin, eine Konsequenz zu verhängen. Wir möchten Einsicht fördern – sei es zum Thema Selbstbeherrschung, zur Bedeutung des Teilens, zu verantwortungsvollem Handeln oder zu irgendetwas anderem.
3. Wie kann ich diese Einsicht am besten ermöglichen? Wie können wir unter Berücksichtigung des Alters und der Entwicklungsstufe eines Kindes sowie des Kontexts der Situation (hatte er begriffen, dass das Megafon eingeschaltet war, bevor er es dem Hund ans Ohr hielt?) am effektivsten vermitteln, was wir dem Kind klarmachen wollen? Zu oft reagieren wir so, als bestünde das Ziel von Disziplin im Anordnen von Konsequenzen. Manchmal resultieren aus der Entscheidung eines Kindes natürliche Konsequenzen und die Lehre wird erteilt, ohne dass wir viel dafür tun müssten. Normalerweise aber gibt es wirksamere und liebevollere Möglichkeiten, unseren Kindern zu helfen, zu verstehen, was wir ihnen zu vermitteln versuchen, als sofort Konsequenzen nach Schema F zu verhängen.
Indem wir uns diese drei Fragen stellen – warum, was und wie –, wenn unsere Kinder etwas tun, das uns nicht gefällt, können wir den Autopilotmodus leichter abschalten. Das bedeutet, dass wir mit viel höherer Wahrscheinlichkeit auf eine Art und Weise auf ein Kind eingehen werden, die das Verhalten auf kurze Sicht beendet und zugleich größere, dauerhafte Lebenslehren und Kompetenzen vermittelt, welche der Charakterbildung dienen und unsere Kinder darauf vorbereiten, in Zukunft gute Entscheidungen zu treffen.
Schauen wir uns näher an, wie diese drei Fragen uns helfen können, auf den Vierjährigen zu reagieren, der uns schlägt, während wir eine E-Mail schreiben. Wenn Sie den Klaps hören und auf einer winzigen, handförmigen Stelle Ihres Rückens den Schmerz spüren, brauchen Sie möglicherweise einen Moment, um sich zu beruhigen und nicht sofort zu reagieren. Das ist nicht immer einfach, stimmt’s? Unser Gehirn ist darauf programmiert, körperlichen Schmerz als Bedrohung zu interpretieren, wodurch das neuronale Schaltsystem aktiviert wird, das unsere Reaktivität erhöhen und uns in einen „Kampf“-Modus versetzen kann. Deshalb ist etwas Beherrschung nötig, manchmal sogar immense Beherrschung, um die Fassung nicht zu verlieren und eine Disziplin ohne Drama zu verfolgen. Dafür müssen wir unser primitives reaktives Gehirn außer Kraft setzen. Nicht einfach. (Übrigens wird es noch viel schwerer, wenn wir unausgeschlafen, hungrig oder überfordert sind oder der Selbstfürsorge keinen Vorrang einräumen.) Diese Pause zwischen Reaktivität und feinfühligem Eingehen auf das Kind ist der Beginn von Wahlmöglichkeit, Absicht und elterlichem Geschick.
Sie sollten also versuchen, so schnell wie möglich innezuhalten und sich die drei Fragen zu stellen. Dann können Sie sehr viel klarer sehen, was in der Interaktion mit Ihrem Kind gerade geschieht. Jede Situation ist anders und hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, doch könnten die Antworten auf die Fragen ungefähr so aussehen:
1. Warum hat mein Kind sich so benommen? Ihr Sohn hat Sie geschlagen, weil er Ihre Aufmerksamkeit forderte und sie nicht bekam. Hört sich ziemlich typisch an für einen Vierjährigen, oder? Erwünschenswert? Nein. Von der Entwicklung her angemessen? Absolut. Es fällt einem Kind in diesem Alter schwer, zu warten, und starke Gefühle tauchten auf, die es dem Jungen noch schwerer machten. Er ist noch nicht alt genug, um sich beständig effektiv oder schnell genug zu beruhigen, um ein Ausagieren seiner Gefühle zu verhindern. Sie wünschten, er würde sich einfach besänftigen und mit Fassung erklären: „Mama, ich bin frustriert, dass du mich darum bittest, weiterhin zu warten, und ich habe den starken und aggressiven Impuls, dich genau jetzt zu schlagen – aber ich habe mich entschieden, es nicht zu tun, und verwende stattdessen Worte.“ Aber das wird nicht geschehen. (Es wäre auch ziemlich komisch, wenn es geschehen würde.) In dem Moment ist das Schlagen die Standardstrategie Ihres Sohnes zum Ausdrücken seiner starken Gefühle der Frustration und Ungeduld, und er benötigt etwas Zeit und Übung im Aufbau von Kompetenzen, um zu lernen, mit einem Belohnungsaufschub zurechtzukommen und mit Wut auf angemessene Weise umzugehen. Deshalb hat er Sie geschlagen.
Jetzt fühlt es sich sehr viel weniger nach einem persönlichen Angriff an, stimmt’s? Unsere Kinder schlagen normalerweise nicht auf uns ein, weil sie einfach grob sind oder weil wir als Eltern Versager sind. Normalerweise schlagen sie, weil sie noch nicht über die Fähigkeit verfügen, ihre Gefühlszustände zu regulieren und ihre Impulse zu kontrollieren. Und sie fühlen sich bei uns sicher genug, um zu wissen, dass sie unsere Liebe nicht verlieren werden, selbst wenn sie sich von ihrer schlimmsten Seite zeigen. Tatsächlich ist es so, dass wir uns Sorgen um die Bindung eines vierjährigen Kindes zu seiner Mutter bzw. seinem Vater machen sollten, wenn es nicht schlägt und sich die ganze Zeit „perfekt“ benimmt. Wenn Kinder sicher an ihre Eltern gebunden sind, fühlen sie sich auch sicher genug, um diese Beziehung auszutesten. Mit anderen Worten ist das so genannte Fehlverhalten Ihres Kindes häufig ein Zeichen seines Vertrauens in Sie und seiner Sicherheit bei Ihnen. Viele Eltern stellen fest, dass ihre Kinder „alles für sie aufsparen“ und sich in der Schule oder bei anderen Erwachsenen viel besser benehmen als zu Hause. Dies ist der Grund dafür. Diese Wutanfälle sind häufig ein Zeichen von Sicherheit und Vertrauen und eben nicht einfach nur irgendeine Form von Rebellion.
2. Was für eine Lehre möchte ich meinem Kind in diesem Moment vermitteln? Die Lehre ist nicht die, dass unangemessenes Verhalten eine Konsequenz verdient, sondern die, dass es für Ihren Sohn bessere Wege gibt, Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen und mit seiner Wut umzugehen, als Gewalt anzuwenden. Sie wollen, dass er lernt, dass es nicht in Ordnung ist, zu schlagen, und dass es viele angemessene Möglichkeiten gibt, seine starken Gefühle auszudrücken.
3. Wie kann ich diese Lehre am besten vermitteln? Während eine Auszeit oder irgendeine andere Konsequenz, die in keinem Zusammenhang mit der eigentlichen Angelegenheit steht, wohl dazu führen kann, dass Ihr Sohn es sich das nächste Mal gut überlegt, ob er schlägt, aber nicht dazu führen muss, gibt es eine bessere Alternative. Wie wäre es, wenn Sie sich mit ihm verbänden, indem Sie ihn zu sich zögen und ihn wissen ließen, dass er Ihre volle Aufmerksamkeit bekommt? Dann könnten Sie seine Gefühle anerkennen und modellhaft vorführen, wie man diese Emotionen mitteilt: „Es fällt schwer, zu warten. Du willst unbedingt, dass ich mit dir spiele, und du bist sauer, dass ich am Computer sitze. Stimmt das?“ Höchstwahrscheinlich werden Sie als Antwort ein zorniges „Ja!“ erhalten. Das ist nichts Schlechtes; er weiß, dass er Ihre Aufmerksamkeit bekommt. Und Sie bekommen auch seine. Sie können nun mit ihm reden und, während er ruhiger wird und besser zum Zuhören imstande ist, Augenkontakt mit ihm herstellen, ihm erklären, dass Schlagen nie in Ordnung ist, und über einige Alternativen sprechen – wie zum Beispiel die, seiner Frustration mithilfe von Worten Ausdruck zu geben –, für die er sich das nächste Mal entscheiden könnte, wenn er Ihre Aufmerksamkeit fordert.
Statt einfach zu reagieren …
… stellen Sie die drei Fragen
Diese Methode funktioniert auch bei älteren Kindern. Schauen wir uns einmal eines der üblichsten Probleme an, mit denen Eltern überall konfrontiert sind: die Kämpfe um die Hausaufgaben. Stellen Sie sich vor, dass Ihre neun Jahre alte Tochter sich wirklich schwertut, wenn sie lernen muss, und dass Sie beide sich regelmäßig im Kreis drehen. Mindestens einmal in der Woche rastet sie aus. Sie wird so frustriert, dass sie letztendlich anfängt zu weinen, Sie anschreit und ihre Lehrer als „gemein“ bezeichnet, weil sie so schwere Hausaufgaben aufgeben, und sich selbst als „dumm“, weil sie so große Mühe damit hat. Nach diesen Verkündigungen begräbt sie ihr Gesicht in der Armbeuge und bricht in einer Lache aus Tränen auf dem Tisch zusammen.
Für eine Mutter oder einen Vater kann diese Situation mindestens genauso unerträglich sein wie die, von einem Vierjährigen auf den Rücken geschlagen zu werden. Bei einer Reaktion im Autopilotmodus würden Sie der Frustration nachgeben und in der Hitze des Gefechts mit Ihrer Tochter streiten und sie belehren, es ihr anlasten, dass sie schlecht mit ihrer Zeit umgeht und im Unterricht nicht gut genug aufpasst. Wahrscheinlich sind Sie vertraut mit der Belehrung: „Wenn du angefangen hättest, als ich es dir gesagt habe, wärest du jetzt längst fertig.“ Wir haben noch nie von einem Kind gehört, das hierauf geantwortet hätte: „Du hast recht, Papa. Ich hätte wirklich anfangen sollen, als du es mir gesagt hast. Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass ich nicht angefangen habe, als ich es sollte, und ich habe meine Lektion gelernt. Morgen mache ich mich einfach früher an meine Hausaufgaben. Danke, dass du mich darüber aufgeklärt hast.“
Wie wäre es, wenn Sie, statt zu belehren, die Warum-Was-Wie-Fragen stellen würden?
1. Warum hat mein Kind sich so verhalten? Noch einmal, die Ansätze wechseln, je nachdem, wer Ihr Kind ist und was für eine Persönlichkeit es hat. Vielleicht sind die Hausaufgaben für Ihre Tochter ein Kampf und sie ist frustriert, weil sie das Gefühl hat, diesen Kampf nie gewinnen zu können. Vielleicht haben die Aufgaben etwas an sich, das sie als zu schwer oder als Überforderung empfindet und das bewirkt, dass sie mit sich selbst unzufrieden ist. Vielleicht braucht sie aber auch nur mehr körperliche Betätigung. Die hauptsächlichen Gefühle könnten in diesem Fall Frustration und Hilflosigkeit sein.
Oder vielleicht fällt ihr die Schule normalerweise gar nicht so schwer und sie ist nur deshalb ausgerastet, weil sie heute müde ist und sich überfordert fühlt. Sie ist früh aufgestanden, war sechs Stunden in der Schule und hatte dann ein Pfadfindertreffen, das genau bis zum Abendessen dauerte. Jetzt, da sie gegessen hat, soll sie am Küchentisch sitzen und eine Dreiviertelstunde mit Brüchen arbeiten? Kein Wunder, dass sie ausflippt. Da wird einer Neunjährigen viel abverlangt (selbst für einen Erwachsenen wäre es viel!). Das bedeutet nicht, dass sie ihre Hausaufgaben nicht mehr erledigen müsste, doch kann sich Ihre Perspektive – und Ihre Reaktion – ändern, wenn Sie erkennen, woher ihr Verhalten rührt.
2. Welche Lehre will ich in diesem Moment vermitteln? Möglicherweise wollen Sie Ihrer Tochter etwas über effektives Zeitmanagement und über Verantwortung beibringen. Oder darüber, wie man sich entscheidet, an welchen Aktivitäten man teilnimmt. Oder darüber, wie man mit Frustration flexibler umgeht.
3. Wie kann ich diese Lehre am besten vermitteln? Egal, wie Sie Frage 2 beantworten, Ihrer Tochter einen Vortrag zu halten, wenn sie bereits aufgewühlt ist, ist definitiv nicht die beste Herangehensweise. Dies ist kein Moment, in dem sie zum Lernen bereit ist, weil die emotionalen, reaktiven Teile ihres Gehirns gerade am Wüten sind und die ruhigeren, rationalen, denkenden und empfänglichen Teile überwältigen. Stattdessen könnten Sie Ihrer Tochter bei ihren Brüchen helfen und dabei, diese bestimmte Krise einfach durchzustehen: „Ich weiß, das ist viel heute Abend und du bist müde. Aber du kannst das. Ich setz mich zu dir und wir machen das mal eben.“ Wenn sie sich dann beruhigt hat und Sie gemeinsam eine Schale Eiscreme essen – oder vielleicht auch erst am nächsten Tag –, können Sie darüber sprechen, ob sie mit Aktivitäten überlastet ist, ins Kalkül ziehen, dass sie wirklich Mühe hat, ein Konzept zu verstehen, oder die Möglichkeit untersuchen, dass sie sich während des Unterrichts mit Freundinnen unterhält und nicht fertiggestellte Arbeit aus der Schule mit nach Hause bringt, wodurch sie letztendlich noch mehr Hausaufgaben zu erledigen hat. Stellen Sie ihr Fragen und arbeiten Sie mit ihr zusammen an dem Problem, um herauszufinden, was los ist. Fragen Sie, was ihrem Erledigen der Hausaufgaben in die Quere kommt, was sie glaubt, warum es nicht gut funktioniert, und welche Vorschläge sie hat. Sehen Sie die Situation als Gelegenheit an, gemeinsam an der Verbesserung der Hausaufgabenerfahrung zu arbeiten. Möglicherweise braucht Ihre Tochter Hilfe beim Aufbau von Kompetenzen, die es ihr ermöglichen, sich Lösungen einfallen zu lassen; beziehen Sie sie aber so weit wie möglich in den Prozess mit ein.
Denken Sie daran, sich einen Zeitpunkt auszusuchen, an dem Sie beide in einer guten, empfänglichen Geistesverfassung sind, und beginnen Sie das Gespräch dann, indem Sie so etwas sagen wie: „Mit den Hausaufgaben läuft es nicht besonders gut, stimmt’s? Ich bin mir sicher, wir können eine bessere Lösung finden. Was, meinst du, würde funktionieren?“ (Übrigens machen wir Ihnen in Kapitel 6, in dem wir Umlenkungsstrategien besprechen, viele spezielle, praktische Vorschläge, die Ihnen bei dieser Art von Gespräch helfen.)
Unterschiedliche Kinder erfordern unterschiedliche Antworten auf die Warum-Was-Wie-Fragen. Wir sagen deshalb nicht, dass irgendwelche dieser speziellen Antworten unbedingt zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Ihre Kinder zutreffen müssen. Es geht darum, Disziplin auf eine neue Art zu sehen, sie zu überdenken. Dann können Sie sich beim Interagieren mit Ihren Kindern durch eine Gesamtphilosophie leiten lassen, statt einfach so zu reagieren, wie es gerade aus Ihnen herausbricht, wenn Ihre Kinder etwas tun, was Ihnen nicht gefällt. Die Warum-Was-Wie-Fragen bieten uns einen neuen Weg, um von reaktiver Erziehung zu Empfänglichkeit und zu bewussten, absichtsvollen, vom integrierten Gehirn ausgehenden Strategien zu wechseln.
Zugegebenermaßen werden Sie nicht immer die Zeit haben, über die drei Fragen nachzudenken. Wenn ein freundlicher Ringkampf im Wohnzimmer zu einem blutigen Käfig-Match entartet oder wenn Sie junge Zwillinge haben, die für den Ballettunterricht schon spät dran sind, ist es nicht so einfach, einen Dreifragenplan durchzugehen. Wir verstehen das. Es mag sich vollkommen unrealistisch anhören, wenn wir sagen, Sie hätten die Zeit, im Eifer des Gefechts so achtsam zu sein.
Wir sagen nicht, dass Sie es jedes Mal perfekt hinbekommen werden oder dass Sie augenblicklich in der Lage sein werden, Ihre Reaktion zu durchdenken, wenn Ihre Kinder aus der Fassung geraten. Je mehr Sie sich aber mit diesem Ansatz befassen und je mehr Sie ihn praktizieren, umso natürlicher und automatischer werden Sie eine schnelle Einschätzung vornehmen und mit einer absichtsvollen Antwort reagieren. Dies kann sogar zu Ihrer Standardreaktion werden, zu derjenigen, auf die Sie immer zurückgreifen, auf die Sie sich immer verlassen können. Mit Übung können diese Fragen Ihnen helfen, angesichts von Interaktionen, die zuvor Reaktivität hervorgerufen haben, absichtsvoll und empfänglich zu bleiben. Das Fragen von Warum, Was und Wie kann selbst bei äußerem Chaos zur Erzeugung eines inneren Gefühls der Klarheit beitragen.
Im Ergebnis werden Sie in den Genuss des Bonus kommen, immer weniger eingreifen zu müssen, weil Sie nicht nur das Gehirn Ihres Kindes so prägen werden, dass Letzteres bessere Entscheidungen trifft und die Verbindung zwischen seinen Gefühlen und seinem Verhalten versteht, sondern weil Sie zudem besser darauf eingestimmt sein werden, was mit ihm los ist – warum es das tut, was es tut –, und es deshalb besser werden leiten können, bevor die Dinge eskalieren. Außerdem wird es Ihnen leichter fallen, die Dinge aus seiner Perspektive zu sehen, wodurch Sie erkennen werden, wann es statt Ihres Zorns Ihre Unterstützung benötigt.
Statt zu belehren …
… stellen Sie die drei Fragen
Kann nicht im Gegensatz zu Will nicht:
Es gibt keine Universallösung
Um es einfach auszudrücken, hilft uns das Stellen der Warum-Was-Wie-Fragen, uns daran zu erinnern, wer unsere Kinder sind und was sie brauchen. Die Fragen fordern uns dazu heraus, uns des Alters und der einzigartigen Bedürfnisse eines jeden Individuums bewusst zu sein. Immerhin kann das, was bei dem einen Kind funktioniert, das genaue Gegenteil dessen sein, was sein Bruder braucht. Und was bei dem einen Kind in der einen Minute funktioniert, kann bei demselben Kind zehn Minuten später schon nicht mehr funktionieren. Stellen Sie sich Disziplin also nicht als eine Methode vor, bei der es eine Universallösung gibt. Denken Sie stattdessen daran, wie wichtig es ist, auf dieses eine Kind in diesem einen Moment einzugehen.
Wenn wir im Autopilotmodus sind, reagieren wir auf eine Situation zu häufig viel eher auf der Basis unserer allgemeinen Geistesverfassung als auf der Basis dessen, was unser Kind zu diesem speziellen Zeitpunkt braucht. Man vergisst leicht, dass unsere Kinder genau das sind – nämlich Kinder –, und erwartet ein Verhalten, das über ihre Entwicklungskapazität hinausgeht. Beispielsweise können wir von einem vierjährigen Jungen nicht erwarten, gut mit seinen Emotionen umzugehen, wenn er wütend ist, weil seine Mutter noch immer am Computer sitzt, und genauso wenig können wir von einer Neunjährigen erwarten, dass sie nicht von Zeit zu Zeit wegen ihrer Hausaufgaben ausflippt.
Tina beobachtete letztens eine Mutter und eine Großmutter beim Einkaufen. Sie hatten einen kleinen Jungen, ungefähr fünfzehn Monate alt, in ihrem Einkaufswagen festgeschnallt. Als die Frauen stöberten, sich Portemonnaies und Schuhe ansahen, weinte und weinte der Junge und wollte ganz offensichtlich aus dem Einkaufswagen heraus. Er musste sich bewegen und herumlaufen und Erkundungen anstellen. Seine Bezugspersonen reichten ihm geistesabwesend Gegenstände, um ihn abzulenken, was ihn nur noch mehr frustrierte. Dieser kleine Junge konnte nicht sprechen, aber seine Botschaft war eindeutig: „Ihr verlangt viel zu viel von mir! Ich will, dass ihr seht, was ich brauche!“ Sein Verhalten und sein emotionales Wehgeschrei waren vollkommen verständlich.
Wir sollten in der Tat davon ausgehen, dass Kinder manchmal emotionale Reaktivität empfinden und diese ebenso zeigen wie „oppositionelles“ Verhalten. Aufgrund ihrer Entwicklung bildet ein noch nicht vollständig geformtes Gehirn die Grundlage ihres Handelns (wie wir in Kapitel 2 erklären werden), also sind sie buchstäblich unfähig, jederzeit unsere Erwartungen zu erfüllen. Das bedeutet, dass wir immer die Entwicklungskapazität eines Kindes, sein spezielles Temperament und seinen emotionalen Stil sowie den Kontext der Situation berücksichtigen müssen.
Eine wertvolle Unterscheidung bietet die Vorstellung von kann nicht im Gegensatz zu will nicht. Unsere elterliche Frustration nimmt radikal und drastisch ab, wenn wir zwischen einem Kann nicht und einem Will nicht unterscheiden. Manchmal nehmen wir an, dass unsere Kinder sich nicht so verhalten wollen, wie wir es möchten, wenn sie es in Wirklichkeit einfach nicht können, zumindest nicht in diesem bestimmten Moment.
Die Wahrheit ist die, dass ein sehr hoher Prozentsatz des „ungehörigen“ Benehmens mehr mit „nicht können“ als mit „nicht wollen“ zu tun hat. Fragen Sie sich das nächste Mal, wenn Ihr Kind Schwierigkeiten hat, sich im Griff zu haben: „Ergibt sein Verhalten irgendeinen Sinn, wenn man sein Alter und die Umstände berücksichtigt?“ In den meisten Fällen wird die Antwort „Ja“ lauten. Machen Sie stundenlang mit einer Dreijährigen im Auto Besorgungen, wird sie quengelig. Ein Elfjähriger, der am Abend zuvor lange draußen geblieben ist, um das Feuerwerk anzusehen, und dann am nächsten Morgen früh aufstehen muss, um an der vom Schülerrat organisierten Autowäsche zum Eintreiben von Geld für Schulaktivitäten teilzunehmen, wird wahrscheinlich irgendwann im Laufe des Tages ausflippen. Nicht, weil er sich nicht zusammenreißen will, sondern weil er es nicht kann.
Wir weisen Eltern ständig auf diesen Punkt hin. Besonders wirksam war dies bei einem alleinerziehenden Vater, der Tina in ihrer Praxis aufsuchte. Er war mit seinem Latein am Ende, weil sein fünfjähriger Sohn eigentlich eindeutig die Fähigkeit demonstrierte, sich angemessen zu verhalten und gute Entscheidungen zu treffen. Aber manchmal rastete er wegen der kleinsten Dinge aus. Tina ging folgendermaßen an das Gespräch heran:
Ich begann damit, diesem Vater zu erklären, dass sein Sohn sich manchmal nicht selbst regulieren konnte, dass er sich also nicht dafür entschied, eigensinnig oder aufsässig zu sein. Die Körpersprache des Vaters in Reaktion auf meine Erklärung war eindeutig. Er verschränkte die Arme und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Auch wenn er nicht buchstäblich die Augen verdrehte, war doch klar, dass er nicht vorhatte, einen Tina-Bryson-Fanclub zu gründen. Also sagte ich: „Ich habe das Gefühl, dass Sie in diesem Punkt nicht mit mir übereinstimmen.“
Er erwiderte: „Es ergibt einfach keinen Sinn. Manchmal geht er selbst mit großen Enttäuschungen ganz toll um. Wie letzte Woche, als er nicht zum Hockeyspiel gehen durfte. Andere Male verliert er dann komplett den Verstand, weil er nicht den blauen Becher haben kann, weil der im Geschirrspüler ist! Es hat nichts damit zu tun, dass er etwas nicht kann. Er ist einfach verwöhnt und muss strenger erzogen werden. Er muss lernen, zu gehorchen. Und er kann das! Er hat bereits bewiesen, dass er durchaus entscheiden kann, wie er sich benimmt.“
Ich entschied mich dafür, ein therapeutisches Risiko einzugehen – etwas Ungewöhnliches zu tun, ohne recht zu wissen, wie es laufen würde. Ich nickte, fragte dann: „Ich wette, Sie sind die meiste Zeit ein liebevoller und geduldiger Vater, stimmt’s?“
Er antwortete: „Ja, die meiste Zeit. Manchmal bin ich es natürlich nicht.“
Ich versuchte, meinem Tonfall etwas Humorvolles und Scherzhaftes zu geben, als ich sagte: „Also können Sie geduldig und liebevoll sein, aber manchmal entscheiden Sie sich dafür, es nicht zu sein?“ Zum Glück lächelte er, als er zu verstehen begann, worauf ich hinauswollte. Also fuhr ich fort. „Wenn Sie Ihren Sohn liebten, würden Sie dann nicht bessere Entscheidungen treffen und ständig ein guter Vater sein? Warum entscheiden Sie sich dafür, ungeduldig oder reaktiv zu sein?“ Er fing an zu nicken und setzte ein noch größeres Lächeln auf, akzeptierte meine Scherzhaftigkeit, als der Punkt in sein Bewusstsein drang.
Ich fuhr fort. „Was macht es denn schwer, geduldig zu sein?“
Er sagte: „Nun, das hängt davon ab, wie ich mich fühle, ob ich zum Beispiel müde bin oder bei der Arbeit einen harten Tag hatte oder so etwas.“
Ich lächelte und sagte: „Sie wissen, worauf ich hinauswill, stimmt’s?“
Natürlich wusste er es. Tina führte weiter aus, dass die Fähigkeit eines Menschen, gut mit Situationen umzugehen und gute Entscheidungen zu treffen, tatsächlich je nach den Umständen und dem Kontext einer Situation schwanken kann. Einfach weil wir Menschen sind, ist unsere Fähigkeit, gelassen zu bleiben, nicht stabil und beständig. Und das trifft mit Sicherheit auf ein fünfjähriges Kind zu.
Der Vater verstand ganz klar, was Tina sagte: dass es irrig war, davon auszugehen, dass sein Sohn sich immer gut würde beherrschen können, nur weil er in einem Moment dazu in der Lage war. Und dass die Male, wenn sein Sohn seine Gefühle und Verhaltensweisen nicht im Griff hatte, kein Beweis dafür waren, dass er verwöhnt wäre und eine strengere Erziehung brauchte. Stattdessen brauchte der Junge Verständnis und Hilfe, und der Vater konnte das Vermögen seines Sohnes durch emotionale Verbindung und das Setzen von Grenzen erhöhen und ausweiten. Tatsache ist, dass unser aller Vermögen angesichts unseres jeweiligen körperlichen und geistigen Zustands schwankt, und diese Zustände werden von so vielen Faktoren beeinflusst – insbesondere bei einem sich entwickelnden Kind mit einem in der Entwicklung begriffenen Gehirn.
Tina und der Vater unterhielten sich weiter, und es war klar, dass der Mann Tinas Argument vollständig begriffen hatte. Er verstand den Unterschied zwischen nicht können und nicht wollen, und er sah, dass er starre und dem Entwicklungsstand unangemessene (universale) Erwartungen an seinen jungen Sohn sowie an dessen Schwester stellte. Diese neue Perspektive befähigte ihn, seinen väterlichen Autopilot auszuschalten und zu beginnen, bei seinen Kindern, die beide ihre eigene besondere Persönlichkeit und in unterschiedlichen Momenten ihre eigenen speziellen Bedürfnisse hatten, absichtsvolle, auf den jeweiligen Moment abgestimmte Entscheidungen zu treffen. Der Vater erkannte, dass er nicht nur weiterhin klare, feste Grenzen setzen konnte, sondern dass er dies sogar auf effektivere und respektvollere Art tun konnte, weil er nun das individuelle Temperament und das schwankende Vermögen eines jeden Kindes sowie den Kontext einer jeden Situation berücksichtigte. Dies sollte ihn in die Lage versetzen, beide Ziele zu erreichen: bei seinem Sohn insgesamt mehr Kooperationsbereitschaft zu sehen und ihm wichtige Kompetenzen und Lebenslehren beizubringen, die ihm auf seinem Weg zum Mannwerden helfen würden.
Der Vater lernte, gewisse Annahmen in seinem Denken infrage zu stellen, wie die, dass es sich bei emotionalen Ausbrüchen seines Sohnes immer um eigensinnigen Widerstand handelt statt um einen schwierigen Moment, in dem ein Kind versucht, mit Gefühlen und Verhaltensweisen umzugehen. Anschließende Gespräche mit Tina führten dazu, dass er nicht nur diese Annahme infrage stellte, sondern auch seinen nachdrücklichen Wunsch, sein Sohn und seine Tochter mögen ihm bedingungslos und ohne Ausnahme gehorchen. Ja, er wollte vernünftiger- und verständlicherweise, dass sein Verhalten die Kooperation seiner Kinder begünstigt. Aber vollständigen und bedingungslosen Gehorsam? Wollte er, dass seine Kinder zu Menschen heranwachsen, die ihr ganzes Leben lang jedermann blind gehorchen? Oder wollte er nicht vielmehr, dass sie ihre eigene individuelle Persönlichkeit und Identität entwickeln und dabei lernen, was es heißt, mit anderen zurechtzukommen, Grenzen zu beachten, gute Entscheidungen zu treffen, über Selbstdisziplin zu verfügen und durch selbstständiges Denken mit schwierigen Situationen fertigzuwerden? Wieder verstand er, was Tina ihm vermitteln wollte, und für seine Kinder änderte sich dadurch sehr viel.
Eine weitere Annahme, die dieser Vater in seinem Inneren infrage stellte, war die, dass es irgendeinen Königsweg oder Zauberstab gibt, dessen man sich bedienen kann, um eine verhaltensbezogene Schwierigkeit oder Sorge in Angriff zu nehmen. Wir wünschten, es gäbe so ein Allheilmittel, doch ist das nicht der Fall. Es ist verlockend, sich auf eine Methode einzulassen, die verspricht, jederzeit und in jeder Situation zu funktionieren oder ein Kind in nur wenigen Tagen radikal zu verändern. Aber die Dynamik des Interagierens mit Kindern ist immer sehr viel komplexer. Verhaltensbezogene Schwierigkeiten können einfach nicht mit einem universellen Ansatz gelöst werden, den wir auf jede Situation oder Umgebung oder jedes Kind anwenden.
Lassen Sie uns nun kurz über die zwei üblichsten Vorgehensweisen sprechen, auf die Eltern als Universallösung vertrauen: Schlagen und Auszeiten.
Schlagen und das Gehirn
Eine vom Autopiloten gesteuerte Reaktion, auf die eine Reihe von Eltern zurückgreifen, ist das Schlagen. Wir werden häufig nach unserer Meinung zu diesem Thema gefragt.
Wenngleich wir wirklich Befürworter von klaren Grenzen sind, sind wir doch beide vehemente Gegner des Schlagens. Körperliche Bestrafung ist ein komplexes und hoch sensibles Thema, und eine vollständige Erörterung der diesbezüglichen Forschung, der verschiedenen Zusammenhänge, in denen körperliche Bestrafung stattfindet, und der negativen Auswirkungen des Schlagens würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Aufgrund unserer neurowissenschaftlichen Perspektive und nach Prüfung der Forschungsliteratur zum Thema sind wir überzeugt, dass das Schlagen mit Sicherheit kontraproduktiv ist, wenn es darum geht, respektvolle Beziehungen zu unseren Kindern aufzubauen, ihnen die Einsichten zu vermitteln, von denen wir möchten, dass sie sie lernen, und eine optimale Entwicklung zu fördern. Wir glauben zudem, dass Kinder das Recht haben sollten, frei von jeder Form von Gewalt aufzuwachsen, insbesondere von Gewalt durch die Menschen, auf deren Schutz sie am meisten vertrauen.
Wir wissen, es gibt alle möglichen Eltern, alle möglichen Kinder und alle möglichen Umstände, unter denen Disziplin stattfindet. Und wir verstehen natürlich, dass Frustration, zusammen mit dem Wunsch, das Richtige für ihre Kinder zu tun, manche Eltern dazu verleitet, Schlagen als Diziplinierungsmaßnahme zu nutzen. Die Forschung demonstriert aber durchweg, dass Schlagen selbst dann, wenn die Eltern warmherzig, liebevoll und fürsorglich sind, nicht nur weniger effektiv bei der langfristigen Verhaltensänderung ist, sondern in vielen Bereichen mit negativen Ergebnissen verbunden ist. Zugegebenermaßen gibt es viele Erziehungsansätze, die nichts mit Schlagen zu tun haben, aber genauso schädigend sein können. Kinder für einen langen Zeitraum zu isolieren, sie zu demütigen, ihnen durch das Herausschreien von Bedrohungen Angst einzujagen und andere Formen verbaler oder psychischer Aggression sind alles Beispiele für Erziehungsmethoden, welche die Seelen von Kindern verwunden, auch wenn ihre Eltern sie niemals körperlich züchtigen.
Wir fordern Eltern deshalb dazu auf, jeden Erziehungsansatz zu vermeiden, der aggressiv ist, Schmerzen bereitet oder Angst oder Schrecken verursacht. Zunächst einmal ist er kontraproduktiv. Die Aufmerksamkeit des Kindes wechselt von seinem eigenen Verhalten und der Frage, wie sich dieses modifizieren lässt, zu der Reaktion der Bezugsperson auf sein Verhalten, wodurch das Kind sich nicht länger mit seinen eigenen Handlungen befasst. Stattdessen denkt es nur darüber nach, wie unfair und gemein seine Mutter oder sein Vater war, weil sie oder er ihm wehgetan hat – oder sogar darüber, wie unheimlich seine Mutter oder sein Vater in dem Augenblick war. Die elterliche Reaktion untergräbt dann beide Hauptziele der Erziehung – Änderung des Verhaltens und Aufbau des Gehirns –, weil mit ihr eine Gelegenheit umgangen wird, das Kind über sein eigenes Verhalten nachdenken und vielleicht sogar gesunde Reue empfinden zu lassen.
Ein weiteres wichtiges Problem im Zusammenhang mit dem Schlagen sind die Auswirkungen, die es in physiologischer und neurologischer Hinsicht auf das Kind hat. Das Gehirn interpretiert Schmerz als Bedrohung. Fügt eine Mutter oder ein Vater einem Kind also körperliche Schmerzen zu, ist dieses Kind mit einem unlösbaren biologischen Paradox konfrontiert. Wir werden alle mit dem Instinkt geboren, bei unseren Bezugspersonen Schutz zu suchen, wenn wir verletzt sind oder Angst haben. Wenn aber unsere Bezugspersonen auch die Quelle des Schmerzes und der Furcht sind, wenn die Mutter oder der Vater durch das, was sie oder er getan hat, den Zustand des Schreckens im Kind erzeugt hat, kann dies für das Gehirn des Kindes sehr verwirrend sein. Ein Schaltkreis treibt das Kind dazu an, der Mutter oder dem Vater zu entfliehen zu versuchen, die oder der ihm Schmerz zufügt; ein anderer Schaltkreis treibt das Kind auf der Suche nach Sicherheit zu der Bindungsperson hin. Wenn die Mutter oder der Vater also die Quelle von Furcht oder Schmerz ist, kann das Gehirn in seiner Funktionsweise desorganisiert werden, weil es keine Lösung gibt. Wir sprechen hierbei im Extremfall von einer Form von desorganisierter Bindung. Das Stresshormon Cortisol, das bei solch einem desorganisierten inneren Zustand und bei wiederholten zwischenmenschlichen Erfahrungen des Zorns und Schreckens ausgeschüttet wird, kann dauerhafte negative Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung haben, weil Cortisol schädlich für das Gehirn ist und gesundes Wachstum verhindert. Harte und strenge körperliche Bestrafung kann in der Tat zu erheblichen Veränderungen im Gehirn führen, wie zum Beispiel zum Absterben von Gehirnverbindungen und sogar von Gehirnzellen.
Ein weiteres Problem mit dem Schlagen besteht darin, dass es dem Kind vermittelt, dass die Mutter oder der Vater abgesehen vom Zufügen körperlicher Schmerzen über keine wirksame Strategie verfügt. Das ist eine unmittelbare Lehre, über die alle Eltern sehr gut nachdenken sollten: Wollen wir unseren Kindern vermitteln, dass ein Konflikt nur gelöst wird, indem körperlicher Schmerz zugefügt wird, insbesondere jemandem, der schutzlos ist und sich nicht wehren kann?
Durch unser Studium von Gehirn und Körper wissen wir, dass Menschen darauf programmiert sind, Schmerz instinktiv zu vermeiden. Und derselbe Teil des Gehirns, der körperlichen Schmerz herbeiführt, verarbeitet auch soziale Ablehnung. Weil Kinder nicht perfekt sein können, sehen wir die Bedeutung der Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass Schlagen zwar häufig in einem bestimmten Moment ein Verhalten beenden kann, dieses Verhalten aber nicht gleichermaßen effektiv auf Dauer ändern kann. Vielmehr werden Kinder oft einfach besser darin, zu verheimlichen, was sie getan haben. Mit anderen Worten besteht die Gefahr, dass Kinder tun, was immer erforderlich ist, um den Schmerz der körperlichen Bestrafung (und der sozialen Ablehnung) zu vermeiden. Dies bedeutet häufig, dass es mehr Lügen und Verstecken gibt – nicht gemeinsames Kommunizieren und die Bereitschaft, zu lernen.
Ein letzter Punkt hinsichtlich des Schlagens hat mit der Frage zu tun, welchen Teil des Gehirns wir mit unserer Disziplin ansprechen und entwickeln wollen. Wie wir im nächsten Kapitel erklären werden, haben Eltern die Option, den oberen, empfänglichen, zur Einsicht fähigen Teil des Gehirns des Kindes zu aktivieren oder den unteren, reaktiveren Teil, das Reptiliengehirn. Wenn Sie ein Reptil bedrohen oder körperlich angreifen, was für eine Reaktion bekommen Sie dann wohl? Stellen Sie sich eine in die Enge getriebene Kobra vor, die Sie anspuckt. Reaktivität ist in keiner Weise klug oder verbindend.
Wenn wir bedroht sind oder körperlich angegriffen werden, übernimmt unser Reptiliengehirn oder primitives Gehirn die Führung. Wir verfallen in einen adaptiven Überlebensmodus, der häufig als „Kampf, Flucht oder Erstarrung“ bezeichnet wird. Auch können wir ohnmächtig werden, eine Reaktion, die bei einigen Menschen auftritt, wenn sie sich vollkommen hilflos fühlen. Gleichermaßen aktivieren wir bei unseren Kindern, wenn wir sie zum Empfinden von Furcht, Schmerz und Wut veranlassen, eine Zunahme des Energie- und Informationsflusses zum primitiven, reaktiven Gehirn, anstatt den Fluss in die empfänglichen, zur Einsicht fähigen, höher entwickelten und potenziell klugen Regionen des Gehirns zu lenken, die es Kindern ermöglichen, gesunde und flexible Entscheidungen zu treffen und gut mit ihren Emotionen umzugehen.
Wollen Sie Reaktivität im primitiven Gehirn Ihres Kindes auslösen oder sein oberes, rationales Gehirn dazu veranlassen, empfänglich zu sein und im offenen Austausch mit der Welt zu stehen? Wenn wir die reaktiven Gehirnzustände aktivieren, verpassen wir die Chance, den denkenden Teil des Gehirns zu entwickeln. Es ist eine vertane Gelegenheit. Auch haben wir so viele andere, effektivere Möglichkeiten, unsere Kinder ins Leben zu begleiten – Strategien, mit denen sie Übung darin bekommen, ihr „oberes Gehirns“ zu benutzen, sodass es stärker und weiter entwickelt ist und sie folglich sehr viel leichter verantwortungsbewusste Menschen sein können, die in den meisten Fällen das Richtige tun. (Noch viel mehr zu diesem Thema finden Sie in den Kapiteln 3–6.)
Wie sieht es mit Auszeiten aus?
Sind sie kein effektives Erziehungswerkzeug?
Heutzutage gehen die meisten Eltern, die beschlossen haben, ihre Kinder nicht zu schlagen, davon aus, dass es sich bei Auszeiten um die bestmögliche Alternative handelt. Ist das aber wirklich so? Helfen Auszeiten uns, unsere Erziehungsziele zu erreichen?
Wir glauben, allgemein gesprochen lautet die Antwort „Nein“.
Wir kennen viele liebevolle Eltern, die das Anordnen von Auszeiten als ihre primäre Disziplinierungsmethode einsetzen. Nach Untersuchung der einschlägigen Forschungsergebnisse, Gesprächen mit Tausenden von Eltern und den Erfahrungen mit unseren eigenen Kindern können wir jedoch mehrere wichtige Gründe vorbringen, warum Auszeiten unserer Meinung nach kein sinnvoller Weg sind. Erst einmal greifen Eltern, die Auszeiten verhängen, häufig sehr viel und aus Wut auf diese Methode zurück. Wir können Kindern jedoch positivere und bedeutsamere Erfahrungen ermöglichen, mit denen unser zweifaches Ziel, Kooperation zu begünstigen und das Gehirn aufzubauen, besser erreicht wird. Wie wir detaillierter im nächsten Kapitel erklären werden, werden Gehirnverbindungen durch wiederholte Erfahrungen gebildet. Und welche Erfahrung bietet eine Auszeit einem Kind? Isolation. Auch wenn Sie eine Auszeit auf liebevolle Art anbieten können, stellt sich doch die Frage, ob Sie wollen, dass die wiederholten Erfahrungen Ihres Kindes, nachdem es einen Fehler gemacht hat, aus Alleinsein bestehen, welches häufig, insbesondere bei kleinen Kindern, als Ablehnung empfunden wird?
Wäre es nicht besser, das Kind erfahren zu lassen, was es heißt, etwas richtig zu machen? Anstatt ihm eine Auszeit zu verpassen, könnten Sie es dazu auffordern, einen anderen Umgang mit der Situation zu üben. Wenn Ihre Tochter mit ihrem Tonfall oder ihrer Wortwahl Respektlosigkeit ausdrückt, können Sie sie dazu veranlassen, es noch einmal zu versuchen und das, was sie sagen will, respektvoll zu kommunizieren. Wenn sie gemein zu ihrem Bruder gewesen ist, können Sie sie bitten, sich drei nette Sachen auszudenken, die sie vor dem Zubettgehen für ihn tun könnte. Auf diese Weise beginnt sich die wiederholte Erfahrung von positivem Verhalten in ihrem Gehirn zu verdrahten. (Auch dieses Thema werden wir gründlicher in den folgenden Kapiteln behandeln.)
Kurz gesagt erreichen Auszeiten oftmals nicht ihr Ziel, welches sein sollte, dass die Kinder sich beruhigen und über ihr Verhalten reflektieren. Unserer Erfahrung nach machen Auszeiten Kinder häufig einfach nur noch wütender und dysregulierter, wodurch sie noch weniger imstande sind, sich zu beherrschen oder darüber nachzudenken, was sie getan haben. Und außerdem – wie häufig nutzen Kinder Ihrer Meinung nach ihre Auszeit, um über ihr Verhalten zu reflektieren? Wir meinen: Das Wesentliche, worüber Kinder nachdenken, wenn sie auf ihrem Zimmer hocken, ist, wie gemein ihre Eltern sind, dass sie ihnen das angetan haben.
Wenn Kinder über ihr fürchterliches Pech reflektieren, Eltern zu haben, die so gemein und unfair sind, verpassen sie eine Gelegenheit, Einsicht, Empathie und Problemlösungskompetenzen aufzubauen. Sie in die Auszeit zu schicken, beraubt sie der Chance, es zu üben, aktive, empathische Entscheidungsträger zu sein, die Dinge herausfinden dürfen. Wir wollen ihnen Gelegenheit geben, Problemlöser zu sein, gute Entscheidungen zu treffen und getröstet zu werden, wenn sie zusammenbrechen. Sie können Ihren Kindern viel Gutes tun, indem Sie einfach fragen: „Was für Ideen hast du, wie man es besser machen und dieses Problem lösen kann?“ Wird Kindern diese Chance gegeben, nachdem sie sich beruhigt haben, tun Sie normalerweise das Richtige und lernen dabei.
Darüber hinaus stehen Auszeiten zu oft nicht direkt und logisch im Zusammenhang mit einem bestimmten Verhalten, was jedoch eine Voraussetzung für effektives Lernen ist. Baut das Kind einen Berg aus Toilettenpapier, folgt daraus, dass es dazu angehalten wird beim Aufräumen zu helfen. Fährt es ohne Helm Fahrrad, folgt daraus, dass es zwei Wochen lang jedes Mal, wenn es das Rad aus der Garage holt, einen Sicherheitscheck abwarten muss, statt einfach auf das Rad zu springen und loszufahren. Lässt es einen Schläger beim Tennistraining liegen, folgt daraus, dass es den Schläger eines Mannschaftskameraden borgen muss, bis der andere wieder auftaucht. Bei diesen Folgen handelt es sich um elterliche Reaktionen, die durch Verbindung gekennzeichnet sind und ganz klar mit dem Verhalten in Zusammenhang stehen. Sie haben in keiner Weise strafenden oder vergeltenden Charakter. Sie sind darauf ausgerichtet, Kindern Lehren zu vermitteln und ihnen zu helfen, zu verstehen, wie man Dinge in Ordnung bringt. Auszeiten hingegen stehen oft in keinem klaren Zusammenhang mit dem Verhalten des Kindes oder seiner außer Kontrolle geratenen Reaktion. Folglich sind sie, was das Ändern von Verhalten angeht, häufig nicht gleichermaßen effektiv.
Was Eltern von Auszeiten erwarten:
Was tatsächlich während der Auszeiten passiert:
Selbst wenn Eltern gute Absichten haben, werden Auszeiten häufig unangemessen eingesetzt. Wir mögen es wollen, dass Auszeiten Kindern eine Chance bieten, sich zu beruhigen und zusammenzureißen, damit sie aus ihrem inneren Chaos heraus- und zu Ruhe und Kooperation finden. Einen Großteil der Zeit aber setzen Eltern Auszeiten als Strafe ein, und dann liegt das Ziel nicht darin, dem Kind zu helfen, zu seinem ruhigen Ausgangszustand zurückzukehren und eine wichtige Lehre zu lernen, sondern darin, es für irgend etwas zu bestrafen. Der beruhigende, lehrende Aspekt der Auszeit geht vollkommen verloren.
Der wichtigste Grund aber, warum wir den Wert von Auszeiten bezweifeln, hat mit dem tiefen Bedürfnis eines Kindes nach Verbindung zu tun. Häufig ist ungeeinetes Verhalten ein Ergebnis emotionaler Überforderung, die bewirkt, dass ein Bedürfnis oder ein starkes Gefühl auf aggressive, respektlose oder unkooperative Weise zum Ausdruck gebracht wird. Das Kind kann hungrig oder müde oder aus irgendeinem anderen Grund in dem Moment nicht in der Lage sein, sich zu beherrschen und eine gute Entscheidung zu treffen. Vielleicht liegt die Erklärung einfach darin, dass es drei Jahre alt ist und sein Gehirn noch nicht weit genug entwickelt ist, um es ihm zu ermöglichen, seine Gefühle zu verstehen und ruhig auszudrücken. Statt also sein Bestes zu tun, um seiner fürchterlichen Enttäuschung und Wut darüber, dass kein Traubensaft mehr da ist, Ausdruck zu verleihen, beginnt es, Sie mit Spielzeug zu bewerfen.
Statt eine allgemeine Auszeit anzuordnen …
… lassen Sie Kinder das Treffen guter Entscheidungen üben
In diesen Situationen hat ein Kind unseren Trost und unsere ruhige Präsenz am nötigsten. Es zu zwingen, sich zu entfernen und alleine irgendwo zu sitzen, kann von einem Kind als Verlassenwerden empfunden werden, insbesondere dann, wenn es bereits das Gefühl hat, die Kontrolle verloren zu haben. Die Reaktion kann ihm sogar die subtile Botschaft vermitteln, dass Sie nicht in seiner Nähe sein wollen, wenn es nicht „das Richtige tut“. Sie wollen aber nicht die Botschaft aussenden, dass Sie zu ihm eine Beziehung haben, wenn es „gut“ oder glücklich ist, Sie ihm aber Ihre Liebe und Zuneigung vorenthalten, wenn dies nicht der Fall ist. Würden Sie in einer Beziehung dieser Art bleiben wollen? Würden wir unseren Teenagern nicht nahelegen, darüber nachzudenken, Freunde oder Partner zu vermeiden, die sie so behandeln, wenn sie einen Fehler gemacht haben?
Ist dies die Botschaft, die Sie Ihrem Kind vermitteln wollen?
Wir sagen nicht, dass kurze Auszeiten die schlimmstmögliche Erziehungssmethode sind, dass sie Traumata verursachen oder dass es nie eine Gelegenheit gibt, sie einzusetzen. Wenn sie auf angemessene Art mit liebevoller Verbindung ausgeführt werden, beispielsweise, indem Sie bei dem Kind sitzen und mit ihm sprechen oder es trösten – was eher als „Time-In“ bezeichnet werden könnte –, kann etwas Zeit, um sich zu beruhigen, hilfreich für Kinder sein. Kindern beizubringen, innezuhalten und der inneren Betrachtung oder Reflexion etwas Zeit („Time-In“) zu widmen, ist sogar wesentlich für den Aufbau der exekutiven Funktionen des Gehirns, welche die Impulsivität verringern und die Kraft fokussierter Aufmerksamkeit nutzbar machen. Aber eine derartige Reflexion wird, insbesondere bei kleinen Kindern, im Kontext von Beziehungen erzeugt, nicht in vollständiger Isolation. Wenn die Kinder älter werden, können sie von innerer Reflexion, von einer „Time-In“, profitieren, um ihre Aufmerksamkeit auf ihre innere Welt zu richten. Auf diese Weise lernen sie, das „innere Meer“ zu sehen und die Fähigkeit zu entwickeln, die inneren Stürme zur Ruhe zu bringen. Solch eine „Time-In“ ist die Basis von Mindsight, dem Vermögen, den eigenen Geist und den anderer mit Einsicht und Empathie zu sehen. Und Mindsight umfasst den Prozess der Integration, der es möglich macht, dass innere Zustände sich ändern, dass man von Chaos oder Starrheit zu einem inneren Zustand der Harmonie und Flexibilität gelangt. Mindsight – Einsicht, Empathie und Integration – ist die Grundlage sozialer und emotionaler Intelligenz; indem wir gelegentlich „Time-In“ für die Entwicklung innerer Reflexionskompetenz nutzen, helfen wir Kindern und Jugendlichen also beim Aufbau des Schaltsystems dieser wichtigen Fähigkeiten. Bei der Disziplin ohne Drama würde eine „Time-In“ dafür genutzt werden, ein Verhalten zu beenden (das erste Ziel) und zu innerer Reflexion einzuladen, mit der exekutive Kompetenzen aufgebaut werden (unser zweites Ziel).
Als vorbeugende Strategie kann es effektiv sein, dem Kind beim Schaffen einer „Ruhezone“ mit Spielzeug, Büchern oder seinem Lieblingsstofftier zu helfen, die es aufsuchen kann, wenn es die Zeit und den Platz braucht, um sich zu beruhigen. Das ist innere Selbstregulation, eine grundlegende Fähigkeit der exekutiven Funktionen. (Dies ist auch für Eltern eine gute Idee! Vielleicht ein bisschen Schokolade, Zeitschriften, Musik, Rotwein …) Es geht nicht darum, ein Kind zu bestrafen oder für seinen Fehler bezahlen zu lassen. Es geht darum, eine Wahl anzubieten und einen Ort, der dem Kind hilft, sich selbst zu regulieren, wozu gehört, dass es aus dem Zustand emotionaler Überlastung herausfindet.
Wie Sie auf den folgenden Seiten sehen werden, gibt es Dutzende andere, fürsorglichere, stärker dem Beziehungsaufbau dienende und effektivere Wege, auf Kinder einzugehen, als ihnen automatisch bei jedem Fehlverhalten als universale Standardkonsequenz eine Auszeit zu verpassen. Dasselbe gilt für das Schlagen und sogar für das Verhängen von Konsequenzen im Allgemeinen. Glücklicherweise gibt es, wie wir in Kürze deutlich machen werden, bessere Alternativen als das Schlagen, das Verordnen einer Auszeit oder das automatische Wegnehmen eines Spielzeugs oder Entziehen eines Privilegs. Alternativen, die in logischem und natürlichem Zusammenhang mit dem Verhalten des Kindes stehen, mit denen das Gehirn aufgebaut und eine starke Verbindung zwischen der Mutter oder dem Vater und dem Kind aufrechterhalten wird.
Welches ist Ihre Erziehungsphilosophie?
Der wichtigste Punkt, den wir in diesem Kapitel vermitteln wollten, ist der, dass Eltern auf ungeeignete Verhaltensweisen ihrer Kinder bewusst und absichtsvoll reagieren müssen. Statt eine dramatische oder emotionale Reaktion zu zeigen oder jede Missachtung von Regeln mit einer Universalstrategie zu beantworten, die den Kontext der Situation oder den Entwicklungsstand eines Kindes ignoriert, können Eltern auf der Basis von Prinzipien und Strategien handeln, die ihren Anschauungen entsprechen und mit denen ihre Kinder zugleich als die Individuen respektiert werden, die sie sind. Bei einer Disziplin ohne Drama liegt der Fokus nicht nur auf der Beschäftigung mit den unmittelbaren Umständen und dem Verhalten auf kurze Sicht, sondern auch auf dem Aufbau von Kompetenzen und dem Erzeugen von Verbindungen im Gehirn, die den Kindern auf lange Sicht helfen, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und mit ihren Emotionen ganz natürlich gut umzugehen.
Wie sieht es bei Ihnen aus? Wie absichtsvoll handeln Sie, wenn Sie Ihren Kindern etwas deutlich machen wollen?
Nehmen Sie sich jetzt einen Augenblick Zeit und denken Sie über Ihre normale Reaktion auf das Verhalten Ihrer Kinder nach. Reagieren Sie automatisch mit Schlagen, dem Verordnen einer Auszeit oder mit Schreien? Haben Sie eine andere Antwort, derer Sie sich immer sofort bedienen, wenn Ihre Kinder sich ausagieren? Vielleicht tun Sie einfach, was Ihre Eltern getan haben – oder das genaue Gegenteil. Die wirkliche Frage ist die, inwieweit Ihrer Strategie ein bewusster und klarer Ansatz zugrunde liegt und Sie nicht einfach reagieren oder sich auf alte Gewohnheiten und Standardmechanismen verlassen.
Hier sind einige Fragen, die Sie sich beim Nachdenken über Ihre allgemeine Erziehungsphilosophie stellen können:
• Haben Sie eine Erziehungsphilosophie? Wie zielbewusst und klar bin ich, wenn ich das Verhalten meiner Kinder nicht durchgehen lassen kann?
• Funktioniert das, was ich tue? Erlaubt mir mein Ansatz, meinen Kindern die Lehren zu vermitteln, die ich ihnen nahebringen möchte, sowohl im Zusammenhang mit dem augenblicklichen Verhalten als auch damit, wie sie heranwachsen und sich als Menschen entwickeln? Und stelle ich fest, dass ich mich immer weniger mit bestimmten Verhaltensweisen befassen muss, oder muss ich immer und immer wieder wegen derselben Verhaltensweisen Maßnahmen ergreifen?
• Fühle ich mich wohl mit dem, was ich tue? Hilft mir mein Erziehungsansatz, mehr Freude an der Beziehung zu meinen Kindern zu haben? Denke ich normalerweise über die Situationen, in denen ich etwas deutlich machen will, nach und bin ich dann zufrieden damit, wie ich mich verhalten habe? Frage ich mich häufig, ob es einen besseren Weg gäbe?
• Fühlen meine Kinder sich wohl damit? Disziplin ist selten beliebt, aber verstehen meine Kinder meinen Ansatz und spüren sie meine Liebe? Vermittle ich Respekt und lebe ich diesen auf eine Art vor, die es ihnen erlaubt, weiterhin ein gesundes Selbstvertrauen zu haben?
• Fühle ich mich wohl mit den Botschaften, die ich meinen Kindern vermittle? Gibt es Momente, in denen ich ihnen Lehren erteile, von denen ich nicht möchte, dass sie sie verinnerlichen – zum Beispiel die, dass es wichtiger ist, dem, was ich sage, zu gehorchen, als zu lernen, gute Entscheidungen zu treffen? Oder die, dass Macht und Kontrolle die besten Wege sind, Menschen dazu zu bekommen, zu tun, was wir wollen? Oder die, dass ich nur in ihrer Nähe sein möchte, wenn sie freundlich sind?
• Wie stark ähnelt mein Ansatz dem meiner Eltern? Wie wurde ich von meinen Eltern erzogen? Kann ich mich an ein spezielles Erlebnis und an mein Gefühl hinterher erinnern? Wiederhole ich einfach alte Muster? Rebelliere ich gegen sie?
• Führt mein Ansatz jemals dazu, dass meine Kinder sich aufrichtig entschuldigen? Das mag zwar nicht regelmäßig geschehen, aber lässt mein Ansatz hierfür wenigstens eine Tür offen?
• Erlaubt er es mir, Verantwortung zu übernehmen und mich für meine eigenen Handlungen zu entschuldigen? Wie offen bin ich meinen Kindern gegenüber hinsichtlich der Tatsache, dass ich Fehler mache? Bin ich bereit, ihnen vorzuleben, was es heißt, sich zu seinen eigenen Irrtümern zu bekennen?
Wie fühlen Sie sich jetzt, nachdem Sie sich diese Fragen gestellt haben? Viele Eltern empfinden Schuld, Scham oder sogar Hoffnungslosigkeit, wenn sie sich eingestehen, was nicht funktioniert hat, und sich Sorgen machen, dass sie möglicherweise nicht ihr Bestes gegeben haben. Die Wahrheit aber ist, dass Sie Ihr Bestes gegeben haben. Hätten Sie etwas besser machen können, hätten Sie es getan. Wenn Sie neue Prinzipien und Strategien erlernen, geht es nicht darum, dass Sie sich für verpasste Gelegenheiten selbst schelten, sondern darum, dass Sie versuchen, neue Möglichkeiten zu finden. Wenn wir es besser wissen, machen wir es auch besser. Es gibt Dinge, die wir, als Experten, im Laufe der Jahre gelernt haben, von denen wir wünschten, wir hätten sie gewusst oder an sie gedacht, als unsere Kinder noch Babys waren. Die Gehirne unserer Kinder sind extrem plastisch – sie verändern ihre Struktur als Reaktion auf eine Erfahrung –, und unsere Kinder können sehr schnell und sehr produktiv auf neue Erfahrungen reagieren. Je mehr Mitgefühl Sie für sich selbst haben können, umso mehr Mitgefühl können Sie für Ihr Kind haben. Selbst die besten Eltern erkennen, dass es immer Gelegenheiten geben wird, ihre Kinder absichtsvoller, effektiver und respektvoller zu behandeln.
Ziel der folgenden Kapitel ist es, Ihnen beim Nachdenken darüber zu helfen, was Sie mit Ihrem Leiten und Lehren bei Ihren Kindern erreichen wollen. Keiner von uns wird jemals perfekt sein. Aber wir können Schritte unternehmen, um unseren Kindern Ruhe und Selbstregulierung vorzuleben, wenn sie Fehler machen. Wir können die Warum-Was-Wie-Fragen stellen. Wir können universale Disziplinierungstechniken vermeiden. Wir können die zwei Ziele anbieten, dass äußeres Verhalten eingeladen und innere Kompetenzen gelernt werden. Und wir können daran arbeiten, die Zahl der Male zu verringern, die wir einfach auf eine Situation reagieren (oder überreagieren), und die Male zu erhöhen, die wir aufbauend auf einem klaren und empfänglichen Gefühl für das, was unsere Kinder brauchen, antworten – in jedem speziellen Augenblick und auf ihrem Weg durch die Kindheit bis hin zum Jugend- und Erwachsenenalter.