Читать книгу Crow Kingdom - Tino Falke - Страница 10
Оглавление4
Wir stehen im Schatten der gewaltigen Lunaphobia, und während neben uns ein Zug mit zwei Dutzend Fahrgästen durch einen Looping rauscht, dreht sich Donnie in meine Richtung und öffnet den Mund. Er wartet, bis die Schreienden weitergefahren sind, doch mir ist schon jetzt klar, was er sagen will.
»Weißt du, wieso es hier keine Hüpfburgen gibt?«
Ich weiß es, aber ich kann nicht antworten, weil Kundschaft an uns vorbeispaziert. Eine Gruppe kleiner Mädchen in neu gekauften Raben- und Schwanenkleidern und passenden Plastikmasken winkt mir zu, und ich winke zurück, dann verschwinden sie im nächsten Fast-Food-Restaurant.
»Aufblasbare Attraktionen haben die höchste Unfallrate überhaupt«, sagt Donnie und wühlt in seinem Werkzeugkasten. »Die Leute haben Angst, dass ihre Achterbahn entgleist oder sie aus der Schiffschaukel fallen, aber nirgends verletzen sich so viele Menschen wie in Hüpfburgen.«
Ich kenne all die Beispiele, doch solange ich das Rabenkostüm trage, muss ich in Anwesenheit der Kundschaft stumm sein. Wir befinden uns hinter Lunaphobia, am Eingang des Corona Kinderkarussells, wo nachmittags nur noch wenige Leute hinfinden, trotzdem darf aus dem Kostüm keine Stimme zu hören sein. Ein fremder Akzent könnte die Leute verunsichern. Eine Stimme, die nicht zum dargestellten Tier passt, könnte die ganze Illusion zerstören. Das Gute ist, dass man so auch nicht auf irgendwelche Fragen antworten muss.
Donnie trägt die Uniform des Parkpersonals, schwarz mit gelbem Saum an Ärmeln und Kragen. Auf seinem Rücken prangt das Parklogo. Er kann nichts dagegen tun, dass er immer wieder angesprochen wird.
»Wo finde ich denn das Dornröschenschloss?«, fragt ein rundlicher Mann in einem »Hard Rock Café Corona«-Shirt. Donnie klärt ihn darüber auf, dass er sich vermutlich im falschen Park befindet, dann wendet er sich wieder an mich.
»Jedes Jahr fliegen aufblasbare Attraktionen davon, weil sie nicht ordnungsgemäß befestigt wurden. 1986 wurden 13 Leute verletzt und eine Neunjährige getötet, als eine Hüpfburg in Wyoming gegen ein anderes Fahrgeschäft flog. 2007 segelte auf Hawaii eine Hüpfburg fast zehn Meter in die Luft und landete 50 Meter entfernt im Meer. Die Kinder darin waren zwei und fünf Jahre alt.«
Bevor er sagen kann, dass die Kinder gerettet wurden und überlebt haben, nähert sich der nächste Lunaphobia-Zug. Donnie widmet sich wieder den Reparaturarbeiten am Karussell. Ich neige mich zurück, um durch den Schnabel des Rabenkopfs nach oben zu sehen. Der Zug rauscht durch den Looping, die Gäste schreien aus Freude, aus Angst, aus Gewohnheit, und während sie mit 80 km/h um die nächste Kurve verschwinden, segeln unbemerkt ihre Habseligkeiten in die Tiefe. Handys und Schlüssel, Brillen und Parkgeld – sobald die Pforten wieder geschlossen sind, dürfen wir unter allen Attraktionen aufsammeln, was die Kundschaft verloren hat und schon bald vermissen wird.
Donnie wischt sich das schwarze Haar aus der Stirn und grinst mich an.
»Ich weiß genau, was du denkst«, sagt er. »Aber du hast schon letztes Mal alle Schokosonnen bekommen, die wir gefunden haben. Und die Tüte Gummiraben! Heute bin ich an der Reihe!«
Dass hier immer die Sonne scheint, heißt nicht, dass es nicht täglich Süßigkeiten regnet.
»2001 wurde eine Hüpfburg in Form einer Giraffe von einem Wirbelwind davongetragen«, fährt er fort, als wäre nichts gewesen. »In Australien war das. Ein Todesopfer, 15 Verletzte. In Ungarn flog 2007 eine Hüpfburg 30 Meter weit, prallte gegen einen Zaun und tötete einen achtjährigen Jungen.«
Während Donnie weitere Unfallopfer aufzählt, beginne ich zu tanzen. Die Leute sollen unterhalten werden. Wenn ich das Kostüm trage, kann ich nicht einfach regungslos rumstehen, es muss immer etwas geboten werden. Eine Gruppe junger Männer kommt die Straße entlang und kann nicht anders, als sich mir anzuschließen. Sie lachen und nehmen mich in ihre Mitte, grinsen für ein Foto und sind auch schon auf dem Weg zur nächsten Attraktion. Für den Fall, dass Bellmore vorbeikommt, gehe ich ein paar Schritte auf und ab. Wer morgens die Neuankömmlinge begrüßt, soll sich den Rest des Tages frei im Park bewegen und dafür sorgen, dass die Kundschaft gut gelaunt bleibt. Trotz des heißen, schweren Kostüms ist es eine der angenehmeren Schichten. Immerhin muss man nicht lächeln.
Eine ältere Dame macht ein Bild von mir, dann geht sie auf Donnie zu.
»Entschuldigen Sie, junger Mann, arbeiten Sie hier?«
»Was hat mich verraten?«, sagt er und steht auf. »Es war mein strahlendes Lächeln, oder? Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Können Sie mir sagen, wann die Halloweenparade beginnt?«
Er schaut auf seine Armbanduhr, dann wieder in das Gesicht der Frau. Soweit ich es beurteilen kann, hält er alle von Bellmores Regeln ein. Wenn ein Gast uns etwas fragt, müssen wir ihm direkt in die Augen sehen. Für ein Gespräch mit Kindern müssen wir auf ein Knie gehen. Jede noch so dumme Frage muss ernst genommen und mit einem Lächeln beantwortet werden.
»Nun, es ist April, also würde ich sagen, Sie haben vor der Parade noch etwa ein halbes Jahr, um all unsere anderen Attraktionen zu genießen.«
Er lacht, und für einen Moment hört man nur das Rattern und Kreischen der Achterbahn neben uns. Dann lacht auch die Besucherin. Sie bedankt sich und verschwindet in Richtung Geisterhaus. Vielleicht wird sie unserem König Bericht erstatten, ob Donnie alles richtig gemacht hat – wir müssen immer damit rechnen, dass wir es mit Bellmores Schatten zu tun haben, mit getarnten Angestellten, die heimlich für ihn testen sollen, ob unsere Interaktion mit der Kundschaft zufriedenstellend ist. Mystery Shopping, um zu prüfen, ob unsere Mundwinkel nach oben zeigen und wir artig Bitte und Danke sagen. Vielleicht war sie nur eine ganz normale Parkgästin.
Donnie hat sein Dienstlächeln schon wieder abgelegt und schraubt weiter. Als Mechaniker hat er nur diese eine Schicht, Reparatur und Wartung, Tag für Tag, und irgendwas ist immer kaputt oder muss geölt, nachjustiert, neu kalibriert werden. Während er den Grund dafür sucht, dass das Karussell einfach aufgehört hat, sich zu drehen, erzählt er weiter von der einen Attraktion, die man nicht mit Werkzeug und einer Ingenieursausbildung davon abhalten kann, Kinder zu verletzen oder zu töten.
Einen Dreijährigen im Indoor-Spielplatz Hoppin’ Houses zum Beispiel. 2007 in Washington von herumspringenden Erwachsenen zerdrückt.
Einen Fünfjährigen im kroatischen Magic City-Parkour mit aufblasbaren Hindernissen, Kletternetzen und Ballgruben. 2010 von Seilen stranguliert.
Dutzende, vielleicht Hunderte, die von der aufblasbaren Titanic-Rutsche gefallen sind – in Kanada, Schottland, Spanien und unzählige weitere Male überall auf der Welt. Donnie muss lachen, als er einmal mehr davon erzählt.
»Eine der größten Katastrophen der Schifffahrt als Vorbild für die vielleicht gefährlichste Attraktion, die es gibt. Als bräuchten Vergnügungsparks noch weitere Erinnerungen daran, dass man in ihnen ihr Leben riskiert!«
Und der nächste Lunaphobia-Zug schießt an uns vorbei.
Es sind keine anderen Menschen in Sichtweite, also neige ich meinen riesigen Rabenkopf in Donnies Richtung und erinnere ihn daran, dass so etwas hier nie passiert ist. Die Hüpfburg, die einst angeschafft wurde, ist nie aufgestellt worden. Unsere Paintball-Arena wurde aufgrund von Sicherheitsbedenken doch nicht eröffnet. Corona Kingdom ist seit der Eröffnung absolut unfallfrei. Das hier ist nicht Avalanche Rocks.
Donnie schnaubt verächtlich und will etwas erwidern, da bleibt sein Blick in der Ferne hängen. Ich drehe mich um und sehe, was ihn zum Schweigen bringt. Jasper Bellmore wagt sich einmal mehr aus seinem Büro hoch über dem Park und spaziert inmitten der Kundschaft umher. Zeit, die perfekte Mitarbeiterin zu geben.
Ich schlendere die Straße entlang, als hätte ich nicht die letzte Stunde neben Donnie rumgestanden und gehofft, es würde niemand vorbeikommen. Wenn Bellmore eine seiner Erkundungstouren durch sein Königreich macht, müssen wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Wenn er mitbekommt, dass eine seiner Regeln nicht eingehalten wird, sind uns Überstunden, Zusatzaufgaben und die unbeliebtesten Schichten sicher. Niemand wird jemals entlassen. Wir sind eingesperrte Tiere. Wie die Raben im Tower of London, deren Flügel gestutzt werden, weil Großbritannien untergeht, wenn sie je davonfliegen. Selbst Aram musste nicht gehen, nachdem er am Sonnentor für Aufruhr gesorgt hat. Stattdessen darf er die nächsten Wochen das Unkraut aus den Fugen in den Gehwegen kratzen. Nachts natürlich, damit keiner sieht, welche Verhältnisse hier herrschen.
Es ist nicht so, als hätte nie jemand versucht, einfach zu gehen. Bellmore hat sich nur gegen jede Eventualität vertraglich abgesichert. Er bürgt für die meisten Häuser und Wohnungen seiner Angestellten. Viele von uns könnten obdachlos werden, wenn wir kündigen. Er hat das Recht, unser Gehalt zu kürzen, wenn der Park wegen Streiks der Belegschaft weniger einnimmt. Er hat genügend Kontakte zur Presse, dass er jeden Versuch, die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen, verhindern kann, bevor auch nur ein Wort gedruckt wird. Mit alldem im Hinterkopf werden die Schichten, in denen man nicht lächeln muss, noch mal angenehmer.
Ich gebe ein paar Autogramme auf Rabe-Büchern, Lageplänen und frisch gedruckten Fotos von Achterbahnfahrten. Bellmore streift indessen mit dem Finger über die Rückenlehne einer Bank am Wegrand und betrachtet seine Fingerkuppe.
Wie weit ich auch gehe, neben mir erstreckt sich weiter Lunaphobia. Die violette Stahlkonstruktion ist von jedem Punkt des Geländes aus zu sehen. Die Schreie aus den Zügen hallen bis auf die Parkplätze vor dem Eingang. Die kolossale Achterbahn ist die bekannteste Attraktion des Parks und hält mehrere Weltrekorde. Größer als Kingda Ka in New Jersey. Schneller als Formula Rossa in Abu Dhabi. Drei Loopings und unzählige steile Abfahrten sorgen dafür, dass wir nach Feierabend nicht nur Mützen und Stifte zwischen den Stützpfeilern finden, sondern auch ein Best-of des gastronomischen Angebots des Tages.
Und unser Feiertagsbonus besteht aus Gutscheinen für Burger und Orangen-Coronade.
Ich umarme ein kleines Mädchen, zwischen dessen Fingern irgendeine neue Köstlichkeit des Parks auf den Boden trieft, dann steht mir plötzlich Bellmore gegenüber. Durch den Schnabel des Kostüms sehe ich nur seinen Anzug und seine Krawatte.
»Sei gegrüßt, Rabe«, sagt er. »Ist es nicht herrlich in der Sonne? Ein Tag, den man einfach im Freien verbringen muss!«
Dass in seiner Stimme keinerlei Freude mitklingt, liegt vor allem daran, dass ihm das Wetter egal ist. Bellmore benutzt verschlüsselte Sätze, um uns Anweisungen zu geben, ohne dass die Kundschaft es mitkriegt. Ich muss unweigerlich an meine Eltern denken. Zwischen den Zeilen gibt er mir zu verstehen, dass ich mich mehr auf den größeren Plätzen im Park aufhalten soll. Die Hauptfigur soll nicht nur zu sehen sein, wenn man zufällig am defekten Karussell vorbeispaziert.
Ich nicke und breite die Flügel aus. Das heißt: Verstanden. Das heißt: Ich mache mich sofort auf den Weg. Würde ich mit Worten reagieren, wäre mir zumindest eine Ermahnung sicher. Ohne eine weitere Bemerkung spaziert der alte Mann weiter. Während er auf Donnie zugeht, nähern sich die Fahrgäste auf Lunaphobia dem höchsten Punkt der Strecke. Am Ende des Lifthills erwartet sie ein 90°-Drop 130 Meter in die Tiefe.
»Ich will hier raus!«, schreit irgendein Kind, dann vereinen sich alle Stimmen zu einem weiteren Kreischkonzert.
Mein Weg führt mich bis an den Ausgang der Achterbahn. In wenigen Minuten werden zwei Dutzend Benommene aus der Station strömen, schwindelig von den g-Kräften der Fahrt, euphorisch vom Adrenalin und den Endorphinen, die ihre Körper in Antwort auf das intensive Erlebnis ausgeschüttet haben. Die Hälfte der Leute wird zum Stand neben dem Ausgang pilgern, wo auf großen Bildschirmen die Fotos ihrer Fahrt angezeigt werden, die sie dann bei Sonja kaufen können. Vorerst ist nur ein Gast bei ihr. Er wedelt mit einem Lageplan des Parks.
»Aber wie soll ich wissen, wo ich bin, wenn kein Pfeil mir meinen Standort anzeigt?«
»Es tut mir sehr leid«, antwortet sie lächelnd. »Derzeit können wir dieses Feature auf unseren Papierbroschüren leider noch nicht anbieten. Wenn Sie Abonnent unseres Newsletters sind, werden Sie natürlich informiert, sobald unsere Druckerei diese Möglichkeit bereitstellt.«
»Das hoffe ich doch!«, ruft er und stürmt davon. Ich nehme seinen Platz ein.
»Ein weiterer Kunde befriedigt«, sagt sie, wieder mit ihrer tieferen, normalen Stimme. »Und was kann ich für dich tun? Willst du ein Foto kaufen? Heute im Angebot: Kinder, die gerade so das Mindestalter und die Größenbeschränkung erfüllen und jetzt um ihr Leben fürchten, und junge Gentlemen, die sich den Mund zuhalten, um nicht ihre Begleitung vollzuspeien.«
Ich bestelle eine gelangweilte Blondine, die nach ihrer Schicht Zeit für einen gemeinsamen Abend hat, und ernte ein Lächeln. Sie streicht ihr Haar hinters Ohr, und ich sehe all die Löcher, in denen sie sonst ihre Ohrringe trägt. Bellmore verbietet uns Piercings jeglicher Art. Sonjas Tattoos müssen komplett verdeckt sein. Donnies Haarlänge ist hart an der Grenze für männliche Mitarbeiter. Auch er gesellt sich an den Fotostand. Seinen Werkzeugkasten stellt er auf den Boden. Offenbar ist das Karussell repariert.
»Ein Teenager in Texas hat 2009 versucht, in einer Hüpfburg einen Salto rückwärts zu machen«, sagt er. »Ist auf dem Kopf gelandet und war monatelang gelähmt.«
»Einer hat seinen Hund mit reingeschmuggelt«, sagt Sonja mit Blick auf die Bildschirme um sich herum. Dann scheinen beide Kundschaft zu sehen, in der Ferne, außerhalb meines Sichtfelds. Sie lächeln. Aus den Lautsprechern ertönt die dritte Strophe der Parkhymne.
Im hellen Schein, da liegt das Glück!
Sagst du Lebwohl, komm bald zurück!
Im Herzen trägst auch du ein Stück
Vom Königreich Corona!
»Ich hasse diesen Ort«, sagt Donnie leise.
»Das tun wir alle«, flüstert Sonja, auf dem Gesicht dasselbe falsche Lächeln wie bei unserem Mechaniker. Wie auf dem ewig fröhlichen Rabenkopf, den ich trage.
Und dabei sind wir es, die all das am Laufen halten. Ohne uns würde der ganze Park eingehen, sage ich. Wir sind die Raben im Tower.
»Wir sind die Zahnräder im Getriebe von Bellmores Monstrum«, sagt Donnie. »Wenn wir aufhören, uns zu drehen, ist hier alles dem Untergang geweiht.«
Ich sage, dass wir den bereits angerichteten Schaden damit auch nicht repariert kriegen.
»Immerhin würde man der nächsten Generation einen Gefallen tun, wenn man den ganzen Laden hochgehen lässt«, sagt Sonja. »Spricht irgendeine der Parkregeln gegen Sprengstoff?«
»Wir brauchen keinen Sprengstoff«, sagt Donnie. »Alles, was wir brauchen, ist schon hier. Wenn man ein paar Schrauben entfernt, bricht Lunaphobia in sich zusammen. Wenn die Fritteusen zu heiß laufen, brennen früher oder später alle Restaurants. Weißt du, wie viele brennbare Materialien es in diesem Park gibt?«
Bevor einer von uns reagieren kann, öffnet sich der Ausgang der Achterbahn. Die Parkgäste schreien, dass sie noch mal fahren wollen, dass sie sich kurz setzen müssen, dass sie unbedingt das Foto von sich nach dem ersten Looping kaufen möchten. Irgendwo jault ein kleiner Hund. Donnie nimmt seinen Werkzeugkasten, nickt uns zu und verschwindet in der Menge. Sonja versucht, herauszufinden, wessen Finger auf welchen Bildschirm zeigt.
Ich sehe unserem Mechaniker hinterher. Und zum ersten Mal, seitdem ich am Morgen das Kostüm angelegt habe, kann auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.