Читать книгу Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk - Tino Hemmann - Страница 6

Moskau 10. Juni

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»Sergei Michailowitsch Smirnow?«

Der kräftige Mann im Hotelzimmer betrachtete den kindlichen Pagen, der mit seiner bunten Kappe auf dem Kopf wie ein frecher Ersatzclown aus einem mittelprächtigen russischen Zirkus wirkte. »Ja. Was willst du?«

Aus sicherer Entfernung überreichte der Page dem Geschäftsmann einen verschlossenen Umschlag. »Der ist für Sie. Ich soll ihn nur abgeben.«

Smirnow nahm den Brief an sich. Der Page rührte sich nicht von der Stelle. Er hielt stattdessen die Hand auf. Was blieb Smirnow, als dem Jungen ein paar Rubel zu übergeben, damit er endlich verschwinden würde? »So leicht möchte ich auch mal mein Geld verdienen«, raunte er.

Sogleich steckte der Page das Geld ein. »Glauben Sie, mein Herr, leicht ist es nicht. Ich muss ein Jahr für den Hotelbesitzer arbeiten, ohne dass ich auch nur eine Kopeke kriege.« Er schickte sich an zu gehen.

»Und warum musst du das tun?«, fragte Smirnow mit faltiger Stirn.

»Mein Vater schuldet dem Hotelbesitzer Geld aus nicht gezahlten Mieten«, sprach der Page. Dann lächelte er. »Aber was soll’s. Hier ist es trocken und im Winter wärmer als auf der Straße. Und fast jeden Tag gibt’s was zu futtern.« Der Junge verschwand in einem Aufzug.

Smirnow ging bedächtig langsam in sein Zimmer zurück. Er hätte den Jungen fragen können, wer ihm den Brief gegeben hatte. Doch dazu war es jetzt zu spät. In diesem riesigen Hotelkomplex würde er den Pagen wahrscheinlich niemals wiederfinden.

Ganz offiziell nannte sich Smirnows Einmannunternehmen »Deutsch-Russische Wirtschaftsagentur SMS«, wobei SMS die Initialen seines Namens verkörperten. Eine Frau Smirnowa hatte sich vor knapp sieben Jahren von ihm scheiden lassen, den damals dreijährigen Igor musste sie beim Exgatten zurücklassen, die beiden älteren Mädchen behielt sie.

Smirnow ließ sich in einem urigen Sessel nieder und öffnete den Brief, nachdem er mehrmals die Fingerkuppen mit der Zungenspitze befeuchtet hatte.

Erwartungsgemäß war der Inhalt in russischer Sprache verfasst. Kurz und knapp. »Ich empfehle Ihnen, dass Sie vor dem Ausschuss zur Fortführung der Baumaßnahmen am ›Башня Россия‹ das deutsche Angebot als unhaltbar einschätzen und zurückziehen. Ich warne Sie nur einmal.« Und unten stand in großen kyrillischen Lettern:

»ВОЛКОВ БОЯТЬСЯ – В ЛЕС НЕ ХОДИТЬ!«

»Fürchtest du die Wölfe, dann geh lieber nicht in den Wald«, flüsterte Smirnow unbeeindruckt. Dann kratzte er sich am Kinn. Schließlich nahm er sein Handy und wählte eine Nummer. Er sprach deutsch mit dem Mädchen am anderen Ende, per Luftlinie 1.730 Kilometer entfernt. »Anja? Ich hatte versprochen anzurufen. Hier ist alles in Ordnung. Bei euch auch? Du musst heute Nacht nicht bei Igor bleiben.«

»Aber Herr Smirnow, ich ...«

Smirnow äußerte sich in kurzen Sätzen: »Gib meinem Jungen einen Kuss und grüß ihn ganz lieb von seinem Vater. Das Gespräch kostet viel Geld. Du hast alles verstanden, Anja?«

»Ja, Herr Smirnow, aber ...«

»Dann ist ja gut.« Er unterbrach die Verbindung und wählte sogleich eine andere Nummer in Moskau. »Artjom? Ich brauche dich hier. Baltschug Hotel. Sofort.«

*

Siebenundfünfzig Minuten später. Artjom stand in der Zimmertür.

Ein unbeschreiblicher Hüne. Auch er arbeitete als Einmannunternehmen, nannte sich selbst »Der Unschlagbare« und hatte einst seine Kraft dem KGB gespendet. Als man jedoch den sowjetischen Geheimdienst 1991 zerschlug und die beiden »lächerlichen Vereine« – wie sich Artjom auszudrücken pflegte – FSB und SWR gründete, weil der KGB angeblich den gesamten Sowjetstaat übernehmen wollte, sollte Artjom im »Sluschba Wnechney Raßwedki« integriert werden, dem neuen Auslandsnachrichtendienst der Russen, was dem SWR jedoch nicht gelang, denn Artjom hatte als damals Vierundzwanzigjähriger seine ganz ureigenen Vorstellungen von der persönlichen Zukunft, und die deckten sich nicht einmal ansatzweise mit denen eines russischen Auslandsnachrichtendienstes. Also gründete er sein eigenes Unternehmen, in dem er sich und seine Kraft anderen zur Verfügung stellte. Er war niemals nur mit Muskeln bewaffnet und konzentrierte sich auf drei Dienstleistungen, die da waren privater Personenschutz, Einschüchterungsarbeit, die er liebevoll »Obraßowanie Taktiki« nannte, sollte heißen »taktische Erziehung«, und schlussendlich sein teuerstes Angebot »Taktitscheskowo Liquidazii«, also die Liquidierung. Selbstverständlich gab es in Artjoms Umfeld keinen Preiskatalog und er arbeitete häufig allein und in einem klar abgesteckten Rahmen. Doch all seine Aufträge bewerkstelligte er so geschickt, dass die beiden Herren vom FSB, die ihn im Auftrag des Inlandgeheimdiensts beschatteten, bereits seit Jahren ein Phantom ohne jeden Beweis jagten. Einen Nachnamen benutzte Artjom, dessen Herkunft völlig unklar war, übrigens niemals.

»Bitte tritt ein.« Smirnow umarmte den Hünen und gab ihm die gewöhnlichen Freundschaftsküsschen auf die Wangen. Er hatte Artjom in der Vergangenheit bereits viel Geld zahlen müssen, wobei es ausschließlich um sehr subtile Aufträge gegangen war, Diese hatte der Hüne stets zur vollsten Zufriedenheit seines Auftraggebers erledigt. Gemeinsame Umtrünke sorgten derweil für eine innige und bleibende Freundschaft. Artjom trug auch heute praktische militärische Kleidung und halbhohe Fallschirmspringerstiefel. Einer Gesinnung folgte er angeblich nicht.

Der Zweimetermann Artjom ging zielstrebig zur Bar des noblen Hotelzimmers und goss sich einen kristallklaren Wodka ein. »Du solltest auch einen trinken, Sergei. Du siehst verdammt beschissen aus.«

»Ich danke deiner Ehrlichkeit. Was glaubst du, was ich die ganze Zeit tue?« Ohne zu zögern reichte ihm Smirnow den anonymen Brief. »Lies das bitte.«

Mehrmals überflog Artjom den Zettel. »Hast du eine Vermutung, wer hinter diesem Schwachsinn stecken könnte?«, fragte der Hüne schließlich, goss teuren Wodka in ein weiteres Glas und reichte es dem Geschäftsmann.

Der trank das Glas in einem Zug aus. »Wie soll ich es sagen. Im Grunde genommen habe ich mehrere Vermutungen.«

Beide setzten sich, Artjom legte die Füße samt Tretern auf ein hochglanzpoliertes kleines, güldenes Tischchen, das als Beistelltisch für Getränke dienen sollte. »Und die wären?«

»Hier, schau dir das an.« Smirnow nahm ein buntes Prospekt zur Hand, ließ es auf den Tisch zwischen beide Herren gleiten und lehnte sich zurück. »Ich schulde dir ein paar Erklärungen. Sollte ich dich langweilen, dann sag es einfach.«

Lächelnd gab Artjom von sich: »Da ich für meine Zeit bezahlt werde, würde ich ein Dummes tun, dich zu unterbrechen, Sergei.«

Ausführlich erklärte ihm der Geschäftsmann die Situation und dass er ein von deutschen Unternehmen geleitetes internationales Konsortium vertrete, dass es noch zwei russische und einen internationalen Anbieter gebe, die alle behaupten, die Bauarbeiten am Russia Tower ordentlich beenden zu können, wobei das deutsche Angebot für die Moskauer Verwaltung wahrscheinlich das interessanteste sein könne, da es vorsehe, den Tower in die ursprünglich geplante Höhe wachsen zu lassen.

Artjom holte tief Luft. »Einer der Anbieter will das deutsche Angebot also sabotieren. Das leuchtet mir ein. Aber welcher?«

»Wahrscheinlich werden wir das erst nach der Angebotsübergabe erfahren.«

»Wann und wo?«

»Im Tower 2000 in Moskau City.« Smirnow schob ein Blatt Papier zu Artjom hinüber. »Am 12. Juni, 12:00 Uhr bin ich geladen. Der Moskauer Bürgermeister wird anwesend sein und die halbe Stadtverwaltung. Es ist ein formeller Akt mit ausgewählten Presseleuten, die praktisch nicht berichten dürfen, bis der Deal in Sack und Tüten ist. Mir werden zwanzig Minuten gewährt, um das Angebot zu übergeben. Der deutsche Architekt Prof. Dr. Helge Grollmann wird mit anwesend sein, falls die Fragen zu speziell werden.«

»Wer ist das?«

»Er wurde mir von BDI und Bund zur Seite gestellt. Wir kennen uns seit Langem. Ein erfahrener Sesselquetscher aus dem Institut für angewandte Hochbautechnologie Potsdam. Wir hatten nur zwei Mal telefonischen Kontakt, er hat auch die Unterlagen auf sachliche Richtigkeit geprüft.«

»Wann triffst du diesen Grollmann?«

»11:45 Uhr im Foyer des Towers 2000.«

»Okay. Ich werde mir ein Zimmer nebenan besorgen und mich ein wenig umhören. Mehr können wir im Moment nicht tun.«

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