Читать книгу Für immer bis zum nächsten Mal - Tiny von Wedel - Страница 6

2. Kapitel

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1


Geld verschönt die guten Zeiten und tröstet in deren Abwesenheit. Und da in dieser Welt nun einmal eine gewisse Kausalität zwischen Arbeit und Geld zu bestehen scheint und da Arbeit außerdem und bekanntermaßen das beste Mittel ist, um einen den dunklen Abgründen zu entreißen, würde sie den Buchauftrag selbstverständlich annehmen. Aber ausgerechnet Au Pairs, eines der wenigen Gebiete, auf dem Valeries Erfahrungsschatz auf ein überschaubares Häuflein Nichts zusammenfiel. Valerie hatte Kindermädchen gehabt. Als sie klein war. Also für sich selbst. Aber das war nun wirklich schon – nun, ein bisschen her.


Sie hätte mühelos, und wie am Fließband Bücher schreiben können wie: „Nachts in der Medina. Die besten Bars von Marrakech.“, „Verantwortung - Das Fremde in mir. Konfrontieren. Verstehen. Integrieren.“, „Zwangswechsel – Parallelen in der Jagd und im wirklichen Leben.“, „Sex & Geschenke“ (Familie und Freunde hatten sie gebeten dies Projekt zu verschieben und am Besten auf unbestimmte Zeit.), „Detox & Retox. Wege in die Sucht“ (dito), „Das Abwettern von Böen - Nautische Taktiken in der Ehe“, „Ab und zu ab- und zunehmen. Das Leben als Jojo.“, und dergleichen mehr. Eine recht ausgedehnte Bandbreite an Lebensthemen also, aber ausgerechnet „Au Pairs“ sollte das Buchthema sein. Wirklich Großartig!


Wer Valerie kannte und solche, die sie noch kennen lernen sollten, mussten wissen, dass auch eine einhundertprozentige Nichtkenntnis auf diesem Gebiet kein Hindernis, sondern geradezu eine Herausforderung darstellte. Glücklich sein wird für gewöhnlich nicht durch die Verfolgung des Glücks erreicht, sondern ist normalerweise ein Nebenprodukt anderer Aktivitäten, wie irgendein kluger Mensch einmal bemerkte. Und eine solche Aktivität würde sie jetzt in Angriff nehmen. Sie lag schon ganz klar erkennbar vor ihr. Bevor man aufgab, musste man es versuchen. Und außerdem lag Mut angesichts widriger Umstände in ihrer Familie. Da war sie sich ganz sicher. Große Denker - dessen Namen ihr gerade entfallen waren - hatten Thesen aufgestellt wie: nun, Gewagteres wurde jedenfalls auf dieser Welt vollbracht als über ein Thema zu schreiben, von dem man partout keine Ahnung hatte und auf dem man somit völlig kenntnisfrei war.


Was sie jetzt brauchte, war eine Quelle zur Materialsammlung auf diesem unbekannten Gebiet. Menschen, die biologisch programmiert waren jemanden zu lieben. Menschen, die Verantwortung kannten und die damit verbundenen Aufgaben. Menschen, denen Ernsthaftigkeit zur zweiten Natur geworden war. Die das individuelle Wohl zum Wohle des Familienwohls, wenn auch nicht vollständig aufgegeben, so doch signifikant eingeschränkt hatten. Was sie brauchte waren: Eltern! Was sie brauchte waren ihre Schwanenburgs. Ihr "Au Pair-Ass" im Ärmel. Die perfekte Familie und Material-Generierungs-Basis im Norden Deutschlands. Die einzige Familie, die sie kannte, die es mit fünf fabelhaften Kindern und einer kaum noch zu rekapitulierenden Horde Au Pairs geschafft hatte, immer noch Menschen zu bleiben und dazu noch Ihre besten Freunde. Und das war manchmal für weitaus ungebundenere Lebensformen durchaus mit Schwierigkeiten verbunden.


Sie würde den Auftrag natürlich annehmen und das Tor dieser unbekannten Au Pair und Familien-Welt weit aufstoßen. Alles nur eine Frage der professionellen Vorbereitung. Sie hatte schließlich Fantasie, Weltkenntnis und Probanden. Und die beste Möglichkeit etwas über ein Gebiet zu lernen, das man nicht kannte, war bekanntermaßen ein Buch darüber zu schreiben. Mit ein, zwei Flaschen gutem Rotwein sollte die Materialsammlung die Sache von ein paar Abenden werden, eines Moments geradezu. Sie rief also ihren Verlag an und sagte zu. Nicht umsonst war „The best way out is always through“ die Nr. 1 ihrer Top-5 Zitatenschilder.


Valerie hatte in ihrem Leben neues Terrain noch nie gescheut und hatte - angetrieben von der Freude an Neuem und meist mit dem Luxus der Option - schon ganz andere Herausforderungen auf ihrem Weg angenommen. Und der mit der Arbeit noch verbundene zusätzliche Reiz des Gelderwerbs - das heißt der optionalen Unabhängigkeit - hatten sie zu vielen neuen Ufern aufbrechen lassen. Ihre Vita liest sich dann auch wie ein Wald-und-Wiesen-Lauf durch die verschiedensten Tätigkeits-Landschaften.


Während Schule und Studium hatte sie nebenbei als Model gearbeitet und hatte dabei Fotografen mit ihrer damaligen Weltsicht erst in tiefe Sinnkrisen gestürzt und wurde dann auch gleich von einem von ihnen geheiratet – wahrscheinlich, als dieser noch in einer solchen steckte. Das behauptete damals zumindest Alwine Anheim, Bernhards Mutter und ihre damalige erste Schwiegermutter. Diese Quoten-Schwiegermutter, und Lady Macbeth des Paläozens, die in keiner vollständigen Ehe-Chronik fehlen durfte. Dann wurde bei einem quasi auf dem Wege liegenden kurzen Ausflug in die Schauspielerei zur Erlösung aller entschieden, dass hier kein Talent im noch so Verborgenen lag. Es folgten noch verschieden Abstecher unter anderem in den Bühnenentwurf und die Landschaftsgärtnerei. Es wurde eine Platte aufgenommen (s. "Schauspielerei") und dann kamen noch eine Möbel-Kollektion und die Hundezucht dazu - wobei diese eher unfreiwillig entstand - und schließlich der aktuelle Zitatenschilder-Handel.


Valerie hatte einfach ein Temperament, das leicht zu begeistern und ebenso schnell zu langweilen war. Sie war absolut in ihrer Bewunderung und endgültig in ihrer Abwendung. Eine für die sorgfältige Auswahl generell und die Beurteilung von Lebenslagen im speziellen eher fatale Kombination. Während der ganzen Zeit hatte sie es dann auch hauptsächlich immer mit ihren freien Artikeln, Büchern und Reiseberichten geschafft, mal ab und zu "eine Mark zu treffen", wie Leonard es einmal ausdrückte und was Valerie so nicht richtig fand. Und was den Nagel ziemlich genau traf. Glücklich waren die Menschen, die von ihrem Hobby leben konnten. Und das konnten nun einmal nicht viele. Und bei der allgemeinen Kurzlebigkeit von Valeries Hobbys hätte auch das in diesem Fall zu keiner grundlegenden Änderung der Situation geführt.


Musik hingegen gehörte zu den zuverlässigeren Begleitern in Valeries Leben. Und es gab kaum ein Stück, keine Musikrichtung und wenige Interpreten, für die sich nicht eine passende Situation und Stimmung finden ließ. Es gab ein "Frisch-verliebt-im-offen-Wagen-die-A1-in-Californien-runterrasen-Stück", ein "Nachdenklich-auf-das-Eismeer-die-Schlittenhunde-und-den-letzten-Proviant-starren-Stück" und natürlich auch ein " Es-gibt-kein-Gestern-und-kein-Morgen-und-heute-gehen-wir-für-immer-ins-Wasser-Stück". Eine eben noch schnell zusammengestellte Playlist würde zweifellos auch den geeigneten Soundtrack und die passende Einstimmung zu diesem neuen Projekt liefern:


Playlist "Life is a song – Easy"

- Hippies on a cornet: Joe Sample

- On a clear day: Mario Biondi

- Dancing barefoot: Patti Smith Group

- I can see clearly now: Johnny Nash

- My dad the weatherman: The Pearlfishers

- His majesty rides: Josh Rouse

- Stitched up: Herbei Hancock feat. John Mayer

- Joy and Pain: Frankie Beverly & Maze

- Periodically triple or double: Yo lo tengo

- Sex and reruns: Matt Duke

- If I ask you nicely: Gomez

- Glow: Donovan Frankenreiter

- I wish that I could see you soon: Herman Dune

- Every morning : Sugar Ray

- How many six packs does it take to screw in a light: American Music Club

- Piece of Cake : Track Dogs

- Dreaming of you: The Coral

- Just abuse me: Traffic

- Everybody´s talking: Iggy Pop

- Santeria : Sublime

- It´s a good day to be alive: Travis Tritt

- Catch my disease: Ben Lee

- Al mar: Manel

- 5 year time: Noah and the Whale

- I got rhythm: The Happenings

- Evaporar: Little Joy

- Are you lonesome tonight (laughing version) live at Las Vegas: Elvis Presley

- The arrival of he queen of Sheba : Georg Friedrich Händel

- Angel dance: Robert Plant

- Rocksteady: Remy Shand

- Azuro: Adriano Celentano

- Baby elephant walk: Henry Mancini

- Everything is sound: Jason Mraz

- Back on top: Van Morrison

- Breakfast at Tiffany´s : Ray Conniff

- Too young: Phoenix

- Find my way: Amp Fiddler

- Batucada de Carioca: Reminiscence Quartett

- Got to give a little bit: Allyson Williamson

- Beyond the sea: Helen Shapiro

- Dans la Merco Benz : Benjamin Biolay

- The blues are still blue: Belle and Sebastian

- Keep me in my plane: Who is Who

- Bonita: Roy Ayers

- Sunshine Day: Osibisa

- Light of the universe: Sun

- Let´s get lost: Chet Baker

- Born free: Ray Conniff

- I can´t stay: The Killers


Valerie lebte jetzt seit einiger Zeit in London, nur der Mann zur Stadt war ihr vor einigen Jahren abhanden gekommen, oder sie ihm. Es lief letztendlich immer auf das Gleiche hinaus. Auf jeden Fall war die geplante bevorstehende Reise in ihre alte Heimatstadt Hamburg eine willkommene Abwechslung zum momentan überschaubaren Battersea-Park-Alltag. Und in den familienfreundlichen hohen Norden sollte die Reise gehen. Sie würde Alice und Magnus Schwanenburg noch diese Woche anrufen. Es hieß nicht umsonst, dass die Chance es liebte, dass man sie liebte, dass man an sie glaubte. Und wer tat das nicht. Es lieben, geliebt zu werden.


Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie sich mit einer Aneinanderreihung von Arbeitsstunden fast jedes Ziel erreichen lässt. Und sich dieses Weltgesetz vor Augen haltend ging Valerie an die Arbeit. Allein das Wissen, das sie nicht hatte über Au Pairs und das dazugehörige Familienleben hätte Bibliotheksreihen gefüllt. Die wichtigsten Mitglieder in Valeries Haushalt waren momentan die Geschirrspülmaschine, ihr Computer und Fanny. Und auf die seit Tagen unveränderte Anzahl von Seiten auf dem Computer blickend fühlte Valerie auch schon die Geier kreisen über ihrem teuren Buchprojekt. Denke Liebe. Schreibe Liebe. Denke Familie, Kinder und Au Pairs. Schreibe Familie, Kinder und Au Pairs. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Sie würde die Hamburgreise vorziehen müssen.



2


Am nächsten Morgen saßen Valerie und Fanny gemeinsam in der großen Küche in Valeries Wohnung. Alle sitzen gerne in der Küche. Eine der letzten großen Weltweisheiten. Draußen regnete es in Strömen und der ganze Tag lag in einem dieser Halbdunkel, das wenn die Seelenlage es zulässt, von Romantiksüchtigen auch gerne als gemütlich bezeichnet wird. Und Valeries Seelenlage hätte gerade Hagelschauern getrotzt, wie immer vor einer Reise und vor Veränderungen. Und das Glück begünstigt bekanntlich die Mutigen, wie es heißt und man brauchte sich deswegen auch in ihrem Fall überhaupt keine Sorgen zu machen. Denn als einigermaßen mutig hätten einige fantasielose Geister ihr Vorhaben, das wieder einmal näher an der Fantasie als an der Realität lag, sicherlich beschrieben.


Valerie saß gerade vor einem ihrer neuen Lieblingszitatenschilder "Happiness makes up in height what it lacks in length." (Zitatenschild Nr.53) um das sie das Sortiment der Blankenstern Ltd. gerade erweitert hatte und schaute abwechselnd aus dem Fenster, den ohne Ton laufenden Küchen-Fernseher und auf Fanny, die ihr gegenübersaß. Hauptsache nicht auf ihren vor ihr stehenden Computer und den schon stehenden Arbeitstitel "Beware of the Au Pair - Vorsicht: Au Pair!" der ja immerhin schon ganz klar erkennen ließ, wohin die inhaltliche Buchreise gehen würde.


Fanny war Valeries unverzichtbare Hüterin des Lebensordnungs-Grals und sie begleitete Valerie jetzt schon seit fast vier Jahren. Länger als die meisten ihrer Ehen gehalten hatten.

Fanny war ein bodennahes Geschöpf, das immer fröhlich zwischen ihren orangefarbenen Sommersprossen und unter ihren ebenso orangefarbenen kurzen Locken in jede noch so graue Welt schaute. Man konnte ihr etwas koboldhaftes nicht absprechen was nicht nur an der einheitlichen Farbstimmung auf ihrem Kopf lag, sondern häufig auch an den in diesem vorgehenden Gedanken. Aber trotz deren Vielfalt und manchmal unergründlichen Wegen besaß sie doch immer einen erstaunenswert fokussierten Blick auf die Geschehnisse. Ihr Blick richtete sich nie in irgendeine unerreichbare Zukunft sondern immer auf genau das, was vor ihr auf dem Weg lag. Oder in diesem Fall auf Valeries Küchentisch, wo sie gerade die "Binnen-Post" sortierte, wie sie die Korrespondenz nannte die mit "Wenn Sie nicht binnen…" anfing. Außerdem war sie eine unerschöpfliche Quelle der allerletzten Stadt-Neuigkeiten und Sensationen im Großraum London W1. Sie kam dreimal die Woche zu Valerie und musste den Rest ihrer Wochenzeit offensichtlich mit der Organisation eines besseren Informanten-Systems als dem des britischen MI5 verbringen. Ihre zur Zeit dringlichsten Wünsche außerhalb des Blankenstern Headquarters waren ansonsten mit einem Missoni-Bikini - sobald und so lange sie noch rein passen würde- einer Popcorn-Maschine, die sie an den Zigarettenanzünder in ihrem uralten hellblauen Peugeot anschließen konnte und einem neuen Freund erschöpfend beschrieben. Der Griff nach den Sternen hatte noch keinen Menschen glücklich auf der Welt zurückgelassen, das stand für Fanny Buchfink auf jeden Fall felsenfest.


Fanny und Valerie hatten sich in Los Angeles – wo Valerie gerade im Phillip-Exil war und Fanny in einer Filmproduktion arbeitete - bei gemeinsamen Freunden kennengelernt. Die Phillip-Episode war eine kurze in Valeries Leben gewesen und eine der wenigen, die sie nicht in ihre mit Rosen geschmückten Lebensmänner-Alben geklebt hatte. Fanny, die ihn kurz einmal getroffen hatte, war mit Valerie einer Meinung, dass wenn es diesen nicht gegeben hätte, man ihn auch nicht hätte erfinden müssen. Diese und andere grundlegende Sichtweisen auf das Weltgeschehen verbanden die beiden. Und als sie zurück in die alte Welt wollten und die Wahl paritätisch auf London fiel, waren die Würfel gefallen. Valerie würde ihre letzten Sachen aus der gemeinsamen Wohnung mit Phillip in ein eigenes Lebensquartier bringen lassen und Fanny würde ihr dabei helfen. Fanny würde sich als freier Produktionsassistent in der Inselmetropole bewerben und Valerie würde ihr dabei helfen. Und so hatte diese kleine Battersea-Allianz ihren Anfang gefunden.


Im Fernsehen lief irgendeine Talkshow als Aufzeichnung des letzten Abends. Valerie stellte versehentlich den Ton lauter. Die Ablenkung suchte einfach nach Valerie, nicht umgekehrt.

""Wer ist davon Nutznießer? Ich nicht. Niemand anderes!", stellte eine resolut wirkende Frau gerade apodiktisch klar.

"Ich gehöre der Geistesschulung an und gebe Kurse in "Schauen & Sein", und ich würde die Frage nach Leistung anders stellen", sagte ein fast leblos wirkender Mann jetzt kohärent.

"Kann man mit mehr oder mit weniger auskommen? Ich meine das mit Augenzwinkern", warf hier eine juwelenbehangene Alt-Barbie milde lächelnd ein.

"Das ist doch jetzt wirklich der Hammer!", kam von einem, im Schneidersitz auf einem Blass-Rosé-Sessel sitzenden Talk-Gast von gegenüber, "Wir reden hier von Aktions-Hungern! Ich bin im Widerstand. Das ist auch wichtig." Das Gespräch begann allmählich einen Zusammenhang zu bekommen und all das war wirklich hochinteressant. Zumindest für einen konzentrierten Zuhörer in Verfolgung seiner eigenen Geistesschulung, und Valerie kehrte daher auch nur zögerlich auf den Weg des realen zurück.


In einer ihrer früheren Stimmungstief-Phasen während der Studienzeit hatte Valerie sich vorübergehend darauf verlegt, die Todesanzeigen zu studieren und aus rein sprachlichem Interesse die gesammelt, die sie in ihrer Ausdruckskraft und inhaltlichen Relevanz besonders beeindruckten. Die hieraus geplante Hausarbeit war jedoch nie entstanden. Und aus dieser Zeit war ihr auf der Suche nach einigen anderen Unterlagen gerade eine in die Hände gefallen, die „überlebt“ hatte: "Im hohen Alter von 99 Jahren und nach langer qualvoller Krankheit, starb plötzlich und unerwartet unsere geliebte Mutter, Großmutter und Urgrossmutter. Warum?" Valerie hatte die Worte „plötzlich und unerwartet“ seither nie wieder mit denselben Augen sehen können. In ihrer heutigen weltzugewandten Gemütsverfassung war sie dann auch kurzfristig „vergnügt wie ein Schwein im Schlamm“ - wie ihre Großmutter gesagt hätte - über den wiedergefundenen Schatz. Und nur die noch recht unbefriedigende Materiallage zu ihrem Buchthema konnte eine kurze Wolke auf die ansonsten sonnige seelische Großwetterlage werfen.


"Das ist doch eine ausgesprochen isolierte Sichtweise", wurde im Fernsehen von einem weiteren Fachmann klar gestellt.

"Nichts gegen Ihr Lebensmodell, aber das ist eine Tatsache, Herr - ich habe Ihren Namen vergessen."

"Das ist doch alles Unsinn. Die eigentliche Frage, die sich hier stellt ist doch: Kann jeder selber entscheiden, was er wichtig findet? " Hier wurden der Fernseher und die Gesprächsrunde für den anspruchsvollen Geist wieder in den verdienten Ruhezustand versetzt.


Fanny bearbeitete gerade die Zitatenschilder-Bestellungen der letzten Wochen und die ließen ein kommendes Buchprojekt als zusätzliche Einnahmequelle doch als recht wünschenswert erscheinen. Die Zitatenschilder gab es in verschiedenen Ausführungen und auf Wunsch auch in Marmor, was allerdings ein wenig an einen Grabstein erinnerte und was daher bisher auch keinen allzu großen Anklang gefunden hatte. Nachdem Valerie unter Tränen die wiedergefundene Todesanzeige vorgelesen hatte, erinnerte sich Fanny aber an die eine Bestellung, die dann doch tatsächlich einmal diesem Zweck gedient hatte: „Life is just one damned thing after the other.“ (Zitatenschild Nr. 29). Der Besteller war ein - allem Anschein nach recht progressives - Mitglied des englischen Landadels aus einer abgelegenen südlichen Grafschaft Britanniens gewesen, vermutlich noch vor seinem Ableben. Der Onkel irgendeiner Mutter irgendeiner Freundin von Valerie. Das war aber auch die einzige Bestellung dieser Art bis heute geblieben. Keiner konnte sich noch genau daran erinnern, wie diese vielversprechende Geschäftsidee mit den Zitaten ursprünglich ihren Anfang genommen hatte, aber sie belieferten mittlerweile immerhin einige der führenden Inneneinrichter der Stadt. Einige. Aber hauptsächlich schmückten Valeries Zitaten-Schilder ihr eigenes Haus und die Häuser ihrer Freunde.


Und in diese lustigen Grabgespräche fiel Fanny dann plötzlich ein:

„Betty sagte übrigens, sie hätte Amelie getroffen und die habe ihr erzählt, sie und Adrian würden jeden Tag telefonieren.“

Valerie wollte sich gerade einen Löffel in die Haare stecken. Das ließ sie jetzt bleiben.

„So“, war die kurze Antwort. Sie wusste, wie man Fanny „verhungern“ ließ. Eine solche Information verdiente keine sofortige Antwort. Aber dann stand sie lange genug im Raum.

„Grundgütiger, Fanny. Was für eine Sensation. Ihr Zugang zur „eleganten Welt“, ha! Lassen wir ihr dies Türchen doch offen.“

„Aber ich meinte doch nur, dass du das wissen solltest.“

„Auch äußerst verbunden. Ich danke dir!“

„Ist doch kein Grund gleich so schnippisch zu werden.“

„Schnippisch?“

„Ja, schnippisch. Es kann dir doch eigentlich völlig egal sein. Ihr beiden seid ewig geschieden. Du hast ihn verlassen und ...", Fanny überlegte kurz, aber eine Information war nun einmal eine Information, "...und außerdem soll sie einen IQ von160 haben, sagt Tobi." Die Kobold-DNA war heute wieder stärker.

"Haha!160 wovon? 1000?"

"Ach Val, Amelie hat noch dazu eine der besten Galerien in Chelsea." Es war manchmal schwer zu sagen, was Fanny mehr Freude bereitete. Informationen zu sammeln oder Informationen weiterzugeben. "Für moderne Kunst ist das momentan einer der Hot Spots der Stadt. Es hätte wirklich schlimmer ...“


Auch eine Blankenstern konnte nur so viel ertragen wie sie ertragen konnte.

„Fanny, meine liebe Fanny, apropos. Irgendein schlauer Mensch hat einmal gesagt: Können ohne Fantasie verdanken wir so praktische Dinge wie Picknick-Weidenkörbe, und Fantasie ohne Können verdanken wir die moderne Kunst. Und einer absoluten Abwesenheit von beidem, unter zusätzlicher Auslassung von Stil, verdanken wir Lebensformen wie Amelie Petrowski, möchte ich noch hinzufügen.“ Ein wenig atemlos und ohne weitere überflüssige Herstellung eines Zusammenhangs schob sie noch hinterher:

„Ich gehe jetzt zu „Fresh and wild“ ein Huhn holen, soll ich dir auch etwas mitbringen?“

„Danke nein Val. Aber es regnet doch in Wasserfällen und du hast noch ein Huhn im.....“ Da war die Tür bereits für alle im Haus vernehmlich in das Schloss gefallen."...Kühlschrank."



3


Valerie hatte die Angewohnheit, in Situationen emotionaler Angespanntheit, Brathühner zu kaufen. Diese wurden dann mit Rosmarin vollgestopft in den Ofen verbracht und das kurz darauf aus diesem entweichende Aroma schien eine beruhigende Wirkung auf Valeries Nervensystem auszuüben. Das darauf folgende Schicksal des Geflügels war jedoch meistens ungewiss. Sollten sich nicht zufällig einige Freunde und Bekannte aus den umliegenden Straßen und Stadtgebieten, angelockt vom Brathuhn-Duft zum Essen einfinden, so fristeten die meisten dieser „Frust-Hühner“ ein recht abgeschiedenes Dasein bis zu ihrer Entsorgung. Fanny meinte dann auch des Öfteren, ein „Rosmarinhuhn-Spray“ sei doch die erheblich ökonomischere Variante.


Wenn Valerie aber tatsächlich einmal in der Küche stand, um Nahrungsmittel nicht allein aus olfaktorischen Gründen zuzubereiten, dann gab es meistens ihren Spezial Ceasar´s Salad. Mit diesem feierte sie über die Jahre weltweite Erfolge. Was an diesem so spezial war konnte eigentlich niemand so genau erklären, nur die begeisterten „Encore“-Rufe, die über alle Flure hallten, taten davon Kunde, und vor allem die sonst eher Salat-abgeneigten Männer schienen verrückt danach zu sein. In der momentanen Ermangelung einer großen Haushaltsführung – aber auch schon zu Zeiten der Notwendigkeit derselben – wurde Valeries Ceasar´s Salad als formelles Abendessen, als informelles Abendessen, als Lunch, als late Lunch, als spätes Frühstück, als noch späteres Mitternachtsessen oder einfach zwischendurch serviert. In Südafrika, in Californien, in Nordafrika, am Mittelmeer, in Norddeutschland, im Tessin und im Englischen Königreich und in den kaum erforschten Gebieten dieser Erde. Und diese Woche wollte Fanny das unfehlbare Rezept ausprobieren. Sie erwartete Paul, einen „guten Freund“ den sie „ganz in Ordnung“ fand, und sie versprach sich einen Erfolg von dem bewährten Essen. Es war mittlerweile wieder nachmittägliche Ruhe in ihrem Battersea Hauptquartier eingetreten. Der Duft von Rosmarin-Huhn lag in allen Zimmern während der melodische Regen beruhigend an die Fenster prasselte und Valerie schrieb im Wohnzimmer zwischen Kissen, Rosen und Büchern die Zutaten auf:


Valeries Spezial Ceasar´s Salad


Für die Sauce:

Balsamico Essig

Frisch gemahlenen Pfeffer

Frische gemahlenes rosa Himalaya Salz (oder jedes andere)

1 Sardellenfilet klitzeklein geschnitten

1-2 Knoblauchzehen zerpresst

1-2 Esslöffel Mayonnaise

Allerbestes Olivenöl (oder jedes andere)


Einen großen Römersalat zerpflücken und untermischen und große Mengen von sehr grob geraspelten Parmesan dazugeben. Nach Belieben mit gegrilltem Putenbruststreifen oder Lachs servieren.

Für die Parmesancroutons: Längliche Häufchen der Parmesanraspeln auf Backpapier in den Ofen geben und kurz kross backen. Die Parmesancrouton-Streifen als Dekoration auf dem Salat verteilen. C´est ca!


"Fanny, bist du fertig? Ich bin es", rief Valerie durch die Wohnungsschluchten.

"Gleich, nur noch eine Mail. Möchtest du auch einen Milchkaffee?", rief es zurück. Fanny brauchte ihre täglichen zwölf bis sechzehn Milchkaffee, was auch ihr stabiles Energieniveau erklärte. Und ihre zur Zeit ebenfalls recht stabilen drei bis neun Kilo zu viel. Sie war momentan das etwas robustere Kobold-Model. Für Light-Varianten im Allgemeinen war Fanny nicht zu begeistern. Sie war denn auch die Gründerin und Vorsitzende des "Three-F-Clubs" - "Full Flavour & Fun!"- und vollauf bereit die Konsequenzen des Genusses zu tragen. Sie nahm eben ab und zu ein wenig ab und zu.

"So, alles erledigt. Und du hast das Rezept. Du Freund in der Not. Danke dir." Während sie es sich zwischen einigen Bodenkissen, die größer waren als sie selbst, ihren Milchkaffee zwischen den Knien balancierend, bequem gemacht hatte überflog sie kurz die Zutaten.


"Teufel, das ist also das "Rezept der langen Nächte", ha! Ich hoffe, das liegt nicht am Knoblauch. Ich werde berichten. Sag einmal Val, was ist das denn wieder für eine Geschichte mit diesem neuen Buch über Au Pairs? Das wirst du doch nicht ernsthaft annehmen? Normalerweise redest du nicht einmal über Kinder. Nicht mal im Spaß. Und jetzt willst du ein Buch über die Aufzucht schreiben? Das kann unmöglich und noch nicht einmal dein Ernst sein?" Fanny hatte sich während ihrer Frage offenbar schon den weiteren Verlauf des Gesprächs überlegt und konnte daher ohne lange Valeries Antwort abzuwarten gleich fortfahren.

"Es ist doch nichts verkehrt daran, jemanden um etwas zu bitten. Warum ist das nur immer so schwer für dich? Jeder sollte doch in einer Beziehung immer das tun, was er am besten kann und vielleicht auch noch nach einer Beziehung. Worauf ich hinaus will, ist ganz einfach, dass das Geld verdienen nun einmal nicht zu deinen größten Stärken gehört und das ist ja auch gar nicht weiter schlimm und alle deine Ex-Ehemänner würden sich freuen zu helfen und....."

Hier ergriff die Hauptbeteiligte jetzt doch unerwartet selber das Wort.

"Einen "Valerie-Hilfsfond" gesäumt von Lobgesängen auf die Beine zu stellen. Das ist es, was du meinst. Es ist lieb von dir und du weißt wie sehr ich ehrliche Anteilnahme an meiner Person schätze aber ich werde das ganz alleine hinbekommen. Ich habe schließlich fast immer gearbeitet in meinem Leben."

"Mit schwankenden Erfolgen", konnte Fanny als kurze Ergänzung nicht unausgeführt lassen.

"Es reicht über die Zukunft nachzudenken, wenn man keine Zukunft mehr hat, über die man nachzudenken braucht."

"Teufel, wer hat das jetzt wieder gesagt?"

"Ist mir entfallen, aber es enthält in den Grundzügen, was ich zu dem Thema zu sagen habe."

"Oh Val, du weigerst dich, irgendetwas ernst zu nehmen."


Für heute brach Fanny ihre Mission damit erfolglos ab. Sie erkannte das Ende eines Gesprächs, wenn es erreicht war. Sie wickelte sich in ihre Regenausrüstung - das momentan nicht ganz so kleine Schwarze hatte sie meisten schon morgens drunter - und machte sich auf den Weg zu der ersten ihrer fünf Nachmittags-Verabredungen vor der Ausstellungseröffnung und vor ein paar Partys, auf denen sie sich kurz zeigen musste. Der Film "Mädchen allein in Großstadt" ließ in ihren Augen gar kein anderes Programm zu. Vor der Spätaufführung. Und Valerie - sie würde sich den Nachmittag und Abend für ein paar Illusionen freinehmen.



4


Keiner der Menschen die verrückt genug waren Valerie Blankenstern als einen Freund zu bezeichnen, hätten sie wahrscheinlich als besonders aufopfernd oder altruistisch bezeichnet. Sie half, wenn es gerade auf ihrem Weg lag. Sie nahm ehrlich Anteil an Dingen, die sie verstehen konnte, ohne allzu große emotionale Verrenkungen machen zu müssen und sie stand mit allem immer bereit, wovon sie zur Genüge oder zu viel hatte. Und das war eine Menge. Sie war einer dieser wunderbar ehrlichen, aufrechten und herzvollen Egoisten.


Chester der orangefarbene Kater von "Niemand-wusste-woher" war an diesem Abend wieder einmal von draußen irgendwie nach drinnen in die Wohnung gekommen, was dieser nicht sollte, was dieser auch wusste, weswegen er es immer wieder machte. Valerie war zwar eigentlich ganz eindeutig ein Hunde-Mensch, aber Hunger ist Hunger, angeblich schlimmer als Heimweh oder Durst, und hier war nachbarschaftliche Hilfe gefragt. Noch dazu wo er die gleiche Haarfarbe wie Fanny hatte und die beiden durchaus eine entferne verwandtschaftliche Ähnlichkeit hätten haben können. Außerdem musste von heute Mittag noch das Huhn im Ofen sein. Jetzt würde sie erst einmal in Hamburg anrufen, um die Koordinaten für die Reise festzulegen. Denn ohne einen maßgeblichen Informations-Input waren die Aussichten auf die Fertigstellung des Buches wie der Blick in den wolkenverhangenen Londoner Abendhimmel über ihr oder in den jetzt leeren, weit offen stehenden riesigen schwarzen AGA-Herd in ihrer Küche.


„Alice, hier ist Valerie, wobei störe ich gerade? Ich wollte fragen, ob es euch passen würde, wenn ich euch nächste Woche für ein paar Tage besuchen komme? Ich habe da gerade ein Buchprojekt über Au Pairs auf dem Tisch, für das ich noch Material bräuchte.“

„Welch Freude Val, natürlich kannst du kommen. Au Pairs, ha!, na das ist vielleicht wirklich nicht eines deiner Spezial-Gebiete. Aber da können wir dir gern Erfahrungsberichte der Au Pairs im Wandel der Jahrhunderte liefern. Du weißt, wir freuen uns immer, wenn du kommst. Dann musst du auch in Ruhe berichten, was noch alles bei Dominik passiert ist, nachdem wir vorher abfahren mussten.“ Sie hatten sich vor ein paar Wochen auf dem Fest eines gemeinsamen Freundes in der Nähe von Cap Ferrat getroffen, der für den vorzivilisatorischen Verlauf seiner Feiern bekannt war.

„Haben wir seitdem noch gar nicht wieder gesprochen? Grundgütiger, die fliegende Zeit und was nicht alles. Ihr habt nichts versäumt. Keine Toten und Verletzten, kaum Intrigen und Skandale. Tubby, die Bulldogge wurde am nächsten Morgen orientierungslos in der Nähe des Strandes aufgegriffen und der Schal um seinen Hals gehörte der brasilianischen Botschafter-Gattin, die seitdem verschwunden ist. Bei Tubby war es wahrscheinlich zu viel des guten Bieres und bei Sra. Velasquez...... der langhaarige Barkeeper wird allgemein angenommen", fasste Valerie den besagten Abend zusammen.

"Gibt Dominik den Tieren immer noch Bier? "

"Wahrscheinlich sind die alten Albernheiten schwer wieder abzustellen, wenn die Meute erst einmal geschlossen vor einem steht und auf den Geschmack gekommen ist, ha! Ich weiß es nicht, aber unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen scheinen sie zu stehen. Die Saison da unten ist ansonsten wahrscheinlich auch für die vierbeinigen Großgrundbesitzer schwer auszuhalten", versuchte Valerie Einblicke in die südfranzösische Tierpsyche zu eröffnen.


"Wie sieht es bei euch nächste Woche Freitag aus, zwecks Begrüßung des Blankenstern-Überfallkommandos?“, fragte Valerie.

„Da sind wir auf einer Hochzeit eingeladen.“

„Warum werde ich nie auf Hochzeiten eingeladen, ich habe nicht den Schatten einer Idee. Wie schön. Und wer gegen wen?“

„Oh, Lydia und Paul Hoffer. Freunde aus Zürich. Kennst du nicht.“

„Das ist einmal eine gute Nachricht. Sonst bin ich immer nur nicht auf Hochzeiten eingeladen von Menschen, die ich kenne. Diesmal bin ich endlich auch mal nicht auf einer Hochzeit eingeladen von Menschen, die ich nicht kenne“, stellte Valerie zufrieden fest.

„Aber tu es gleich, sagst du doch immer. Warum kommst du nicht schon Anfang der Woche, wenn du keine anderen Pläne hast? Dann haben wir noch genug Zeit, und Donnerstag ist ein Abendessen bei einer Freundin, wenn du Lust hast.“

"Hervorragend. Am Montag trudel ich dann bei euch ein. Dann habt ihr immerhin noch ein recht glückliches Wochenende vor euch, ha! Also, die Mauern höher die Keller tiefer bis dahin und ich freu mich sehr auf euch."

"Wir auch! Wir freuen uns auch sehr, dich nächste Woche hier zu haben. Magnus wird entzückt sein und erst Walburga.“ Walburga war Magnus Mutter und somit Alices Schwiegermutter. Eine Stelle, die naturgemäß in den meisten Ehen zu besetzen ist. „Komm mal schnell her und alles Weitere dann."

"Dann bis gleich." Damit verwirrte Valerie alle die sie nicht kannten. "Bis gleich" konnte auch in einem Jahr sein. "Das hört sich nicht so lange an." "Bis gleich", lachte Alice, die Valerie ja schon lange genug kannte.


Valerie buchte sich einen Flug für den übernächsten Tag. So hatte sie noch genug Zeit für einige Vorbereitungen und um vor der "Arbeitswoche" bei Magnus und Alice noch ein Wochenende bei ihrem alten Freund Arthur Fandenberg zu verbringen, der in der Nähe von Hamburg lebte und somit endlich auch mal wieder etwas zu tun für ihr "Freude & Vergnügen-Profit-Center". Ein wenig Zerstreuung hatte sich vor Phasen großer Konzentration und intensiver Arbeit schon immer als zuträglich erwiesen. Vor allem der Freude und dem Vergnügen zuträglich, aber für ihre Arbeit würde hierbei sicherlich auch noch etwas abspringen.


Der Flug war gebucht, alle von der Reise betroffenen Freunde waren vorgewarnt und es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie würde die Dinge jetzt bis zum Abflug langsam angehen lassen, nur noch ein wenig am Kapitel-Aufbau basteln und ein paar Recherche-Arbeiten erledigen. Aber das konnte eigentlich auch Fanny während Valerie in Hamburg war übernehmen. Hier zeigte sich wieder einmal deutlich, dass wenn man mit der nötigen Leidenschaft und überzeugtem Engagement bei der Sache ist, erledigen sich die meisten Dinge ganz wie von selbst. Das liegt nun einmal in der Natur der Dinge.


Die meisten Entscheidungen im Leben sind Replikationen, das heißt Wiederholungen von Entscheidungen, die sich in der Vergangenheit als richtig erwiesen haben. Diese Automatismen, dieser Entscheidungsfindungs-Sparmodus führt leider wiederholt dazu, die meisten Entscheidungen aufgrund weniger guter Gründe zu treffen. Und meistens geht das ja auch gut. Und das hoffte Valerie jetzt auch bei diesem „Steckenpferd-Buch“.



5


Der Autor trinkt viel und isst wenig hatte sie sich angesichts einer erneuten, nicht zu überkommenden abendlichen Schreibblockade noch einmal vor Augen geführt. Was dann später in der Nacht dazu führte, dass etwas an ihren Fenstern vorbeizog, was sich anhörte wie vorbeifahrende Muppets auf Rädern. In London konnte man nie wissen. Vielleicht waren es tatsächlich vorbeifahrende Muppets auf Rädern. Fozzie, Floyd und ein paar von Gonzos Hühnern. Und ihre beiden Stadtfüchse bellten dazu.


Der nächste Morgen produzierte ein viel zu helles Tageslicht und eine viel zu pünktliche Fanny, die mit Koboldmiene, warmen Schokoladen-Muffins und den allerneusten Neuigkeiten in der Tür stand. Und einem Ding, das aussah, wie - ein Helikopter als es an Valerie vorbei in die Eingangsdiele flog.

"Grundgütiger! Himmel - was... Fanny was ist das?" versuchte Valerie dieses morgendliche Flugphänomen zu klären, das jetzt auch noch rot "Hello" blinkte.

"Guten Morgen Sweetie. Das ist ein Ufo Space Messenger. Ist der nicht niedlich? Habe ich gestern Abend von einem der Brüder von Paula geschenkt bekommen."

"Es ist nicht das Erste, was ich retten würde, wenn das Haus in Flammen steht. Sei ein Schatz, komm rein und mach die Tür hinter dir zu. Leise! Und das Ding bitte in die Schublade mit der Aufschrift "Geschenke in letzter Minute." Ich danke dir." Die Reizüberflutung des Morgens stellte eine gewisse Herausforderung dar.


Fanny hatte letzten Abend - bei einer der drei Vernissagen, zwei Lesungen und fünf Partys - einen Einkäufer von Harrods kennen gelernt. Es konnte aber auch vorher auf einem Tee bei einer ihrer Freundinnen gewesen sein, so genau wusste sie das nicht mehr. Dieser wollte jedenfalls unbedingt die Zitatenschilder in sein Programm aufnehmen, erzählte sie aufgeräumt und fröhlich bei ihrem fünften Milchkaffee. Er hatte eins der Schilder bei Lizzy, einer gemeinsamen Bekannten gesehen und war begeistert.

"Valerie, Lizzy. Das Mädchen was wir bei Daniel kennengelernt haben. Drei mal Dorothee Parker-Bestellung. Du weiß doch "Take care of the luxuries and the necessities will take care of themselves." Nein? Gut, also bei ihr hatte er eines der Schilder gesehen und war begeistert von der Idee und überhaupt. Riesen Hemingway Fan. Will er gleich die ganze Serie bestellen. Und dann habe ich gehört..."

"Fanny! Gnade ruft es aus dem Publikum", hauchte Valerie noch kurz dazwischen, sich mit angezogenen Knien auf dem rot gepolsterten Tudor-Küchen-Thron-Stuhl in eine ihrer Lieblings-Cashmere-Haus-und-Kater-Jacken wickelnd. Sie war heute eine Idee reduziert und betrieb das Denken in eher homöopathischen Dosen. Mit komplexen Zusammenhängen zu ihr durchdringen zu wollen, war daher vollkommen sinnlos.

"Du brauchst ein wenig Metropolen-Input. Unbedingt. Also, offen gestanden fand ich diese skandalumwitterte Geschichte des angeblichen „Mädchenklo-Exhibitionisten“ einen Witz, und du glaubst nicht, wer mir erzählt hat...."

Valeries Hirn war gnädig und schaltete vorübergehend ab. Erst geraume Zeit später hörte sie Fanny wieder sagen: "Es war wirklich wahnsinnig komisch." Nach einem kurzen Blick auf Valerie fügte sie noch hinzu: "Na ja, man muss dabei gewesen sein."


Sie würde Valerie morgen selbstverständlich gern zum Flughafen fahren, wenn sie dafür die Woche ihren Mini haben könnte. Fannys Auto - ein uralter Peugeot 404 und hässliches Gefährt - war wieder einmal in der Werkstatt, was keinen der ihren Fahrstil kannte verwunderte. Sie war eine schlechte Autofahrerin, aber das aus Leidenschaft. Valeries Autoherz krampfte sich dann auch kurz zusammen bei dem Gedanken ihren geliebten Veteranen-Mini in die Hände von Fanny zu geben, aber man sollte sein Herz nicht so sehr an Dinge hängen. Apropos, die London-Liste für Bernhard musste noch raus und das Abendessen mit Adrian nächste Woche musste verschoben werden. Verschieben war besser als absagen. Absagen sah immer gleich so beleidigt aus.


"Bist du ein Schatz und sagst Adrian, dass ich nach Hamburg zu Magnus und Alice fahren muss und wir unser Essen leider verschieben müssen. Ich weiß nicht, wann er wieder in der Stadt ist, und er kann mich anrufen, wenn er da ist und nichts Besseres in London zu tun hat."

"Das soll ich so sagen?"

"Was ist verkehrt daran?"

"Wenn er nichts Besseres in London zu tun hat?"

"Schau doch bitte mal, ich habe ein Problem mit meinem Mac", fiel es Valerie jetzt auf einmal ein, und sie schob Fanny ihr iBook über den Tisch in deren "Schoko-Muffin-Milchkaffee-Frühstücks-Landschaft.

"Das geht alles immer langsamer und langsamer. Das kann so nicht richtig sein."

Fanny zog das Arbeitsgerät fachmännisch zu sich rüber und bekam nach einem kurzen Blick ihre spitze Nase, wie immer bevor sie etwas Bedeutendes zu sagen hatte.

"Na ganz hervorragend. Du hast hier über achtzehntausend Titel in deiner Musikbibliothek. Das ist wirklich faszinierend für jemanden, der beruflich nichts damit zu tun hat. Teufel auch, du solltest dich entscheiden, ob du ihn als Entertainment-Center oder zum Arbeiten nutzen willst."

"Pah, das sind doch nur ein paar Dateien oder Daten. Das kann doch nicht..."

"Es ist nicht sehr hilfreich "pah" zu sagen", unterbrach hier der verständnislose IT-Spezialist des Hauses. "Herrje Val, was machst du mit achtzehntausend Titeln? Du musst dich doch von ein paar trennen können. Vielleicht erst einmal von den fünfzehntausend Nicht-Lieblingstiteln."

Da war er wieder. Der wunde Punkt.

"Das kann man, muss man aber nicht. Und das ist doch auch gar nicht die Frage. Man kann doch die Festplatte erweitern oder so etwas in der Art. Das weiß sogar ich. Lösungs- nicht problemorientiert an die Dinge rangehen!" Es war manchmal besser, auf den Dialog zu verzichten und die Dinge einfach zu ändern und besser zu machen. Für das Erstere hatte Valerie sich jetzt in diesem Fall zumindest schon einmal entschieden.


Studien hatten festgestellt, dass sich Menschen in „Maximizer“ und „Satisficer“ unterteilen lassen. Und hier hatte man jetzt zwei Vertreter der jeweiligen Gruppe gemeinsam in einer Küche in Battersea sitzen. Zum einen Valerie - das hochgewachsene Amazonen-Model - immer den Blick in die Ferne gerichtet. Immer auf der Suche nach dem Besten und dann wieder nach dem Besten. Für die das Gras immer grüner auf der anderen Seite war. Immer auf der anderen Seite. Und dann war da zum anderen Fanny - der katzenköpfige Kompakt-Bausatz - die genau wusste was sie brauchte und wie viel davon, und wenn dies ausreichende einmal vorhanden war, war sie zufrieden mit dem Ist-Zustand. Erstaunlicherweise hatte man nun festgestellt, dass die „Satisficer“ die glücklicheren der beiden sind.


Nun mochte dies sein, wie es wollte, überlegte Valerie, als sie anfing ihre Koffer zu packen und sich in ihrem „Mehr-ist-mehr-Leben“, der eleganten Unordnung und der dazugehörigen Wohnung umschaute. Es gibt kein Zuviel der guten Dinge, es gibt einfach nur ein zu wenig an Platz um diese unterzubringen.

Für immer bis zum nächsten Mal

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