Читать книгу Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 4 - Tobias Fischer - Страница 3

15. Kapitel: Weitere Ermittlungen

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»Jane, wachen Sie auf.«

Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie reichte, um sie aus dem Schlaf zu reißen. Ruckartig setzte sich Jane auf, riss die Augen weit auf. Als sie jemanden neben ihrem Bett sitzen sah, zog sie instinktiv die Decke bis zum Hals. Es dauerte einen Moment, bis sie die hagere Gestalt von Swift erkannte und sich aufsetzte. Die Decke ließ sie los; es war ja nur Veyron. »Sind Sie verrückt? Was tun Sie hier?«, fuhr sie ihn an.

Veyron machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Sie tragen ein elbisches Nachthemd«, stellte er fest und deutete auf das perlmuttglänzende Gewand, das sanft, als wäre es aus Federn gemacht, um ihre Figur floss.

»Ein Geschenk von Königin Girian. Sie meinte, ich könne vielleicht was Frisches wollen. An Bett- oder Nachtwäsche habe ich beim Packen nämlich nicht gedacht. Noch eine Nacht länger in meinen Klamotten, und ich hätte gerochen wie ein alter Vampir«, erklärte sie und streichelte über den wunderbar weichen Stoff.

»Es steht Ihnen hervorragend, Jane«, sagte er lächelnd.

Sie starrte ihn verdutzt an. Veyron Swift einmal ehrlich erfreut lächeln zu sehen, war etwas Seltenes. Komplimente von ihm war sie erst recht nicht gewohnt. Das brachte sie doch glatt selbst zum Lächeln – und das am frühen Morgen. »Faeringel hat es mir letzten Abend vorbeigebracht«, sagte sie nicht ohne Stolz. Es mochte vielleicht nur ein Nachthemd sein, aber es war das schönste Stück Stoff, das sie jemals getragen hatte.

»Ach so. Ja, Faeringel. Natürlich«, brummte Veyron. Sein Lächeln versiegte wie ausgeknipst, und schlagartig wurde er wieder ernst. »Nun, was wollte ich gleich wieder? Ach ja: Sobald die Sonne aufgeht, werden Danny und ich mit der Silberschwan nach Seramak fliegen. Ich muss in Erfahrung bringen, ob Tom wirklich dort ist. Ich will es nicht hoffen. Allein der Gedanke frisst sich wie Gift durch meinen Verstand, er lässt mir einfach keine Ruhe mehr«, erklärte er.

Jane rieb sich müde die Augen. »Das versteh ich gut.« Auch sie sorgte sich um den Jungen. Hastig schlug sie die Decke zurück.

»Geben Sie mir dreißig Minuten, dann bin ich fit und betriebsbereit«, ließ sie ihn wissen und gähnte erst einmal. »Es ist wirklich verdammt früh, wissen Sie das?«

Veyron holte tief Luft. »Schlafen Sie sich ruhig aus, Willkins. Danny und ich erledigen das. Sie müssen sowieso hierbleiben und weiterhin die Moorelben im Auge behalten. Konzentrieren Sie sich auf die Gesichter, die ihnen aus Floyds Partyzelt bekannt vorkommen«, sagte er.

Jane versetzte diese Nachricht einen kleinen Stich. Veyron wollte Tom ohne sie suchen gehen? »Natürlich komme ich mit«, protestierte sie.

Seine Miene war unnachgiebig. »Es ist von immenser Wichtigkeit, dass Sie die Beobachtungen hier fortsetzen, während ich nicht vor Ort bin. Der Flug nach Seramak wird rund elf Stunden in Anspruch nehmen. Es sind mehr als zweitausendzweihundert Kilometer, die wir zurücklegen müssen. Sehr wahrscheinlich kommen wir erst morgen wieder zurück. Behalten Sie die Moorelben im Auge, Willkins«, forderte er. Dann nahm er ihre Hand und drückte sie. »Sie schaffen das, auch ohne mich. Sie sind eine hervorragende Polizistin, Jane. Inspektor Gregson sieht das ganz genauso wie ich.«

Jane knurrte mürrisch. Es war wirklich noch verdammt früh am Morgen, um Komplimente, Zurückweisung und Lob miteinander in Einklang zu bringen.

»Na schön. Ich werde die Augen offen halten. Guten Flug«, murrte sie beleidigt.

Veyron stand auf und legte ihre Hand sanft auf die Bettdecke zurück. Ein letztes flüchtiges Lächeln blitzte über seine schmalen Lippen, und schon war er aus dem Zelt heraus.

Vielleicht ist es ganz gut, dass er was anderes zu tun hat, fand Jane. Ihr war nicht entgangen, wie nervös und unkonzentriert er sich in den letzten paar Tagen gezeigt hatte. Allein schon, wie er neuerdings ständig Faeringel anstarrte, statt sich auf die Moorelben zu konzentrieren … Sie beschlich allmählich der Verdacht, Veyron zählte den Jäger von Königin Girian ebenfalls zu den Verdächtigen – absurd! Ihrer Meinung nach steckte die Seelenkönigin hinter der ganzen Misere. Seit sich dieses Biest dreisterweise als Jane ausgegeben hatte, benahm sich Veyron irgendwie seltsam, als hätte sie ihn mit irgendetwas verhext. Na, dann musste sie eben für sie beide die Augen offen halten.


Danny blieb keine Zeit zum Ausschlafen. Als Veyron ihn weckte, war es draußen noch nicht einmal hell. »Sie haben dreißig Minuten für Morgenwäsche und Frühstück. Danach treffen wir uns unten am Steg bei der Silberschwan«, verkündete er und rauschte aus dem Zelt. Anders als Danny hatte Veyron all dies offenbar bereits erledigt.

»Der ist ja gleich noch schlimmer als Nagamoto«, maulte Danny. Ganze fünf Minuten brauchte er, um halbwegs wach zu werden.

Als Danny eine halbe Stunde später beim See ankam, wo das riesige Flugschiff vertäut am Steg lag, weckte Veyron gerade König Floyd, der seit der Verwüstung seines Partyzelts wieder an Bord der Silberschwan nächtigen musste. Der Herrscher Talassairs zeigte sich ungehalten. Besonders die Idee, Danny an Bord zu lassen, wollte ihm gar nicht gefallen.

Floyd, der in einem viel zu großen, goldfarbenen Schlafanzug mit der albernen Aufschrift I’m the King auf dem Stummelflügel des Flugschiffs stand, verschränkte bockig die Arme. »Also, der kommt mir nicht an Bord! Außer, er ist einverstanden, sich in Ketten legen zu lassen, geknebelt und betäubt«, maulte er. In seinen überdimensionalen Hausschuhen wirkte er ein verzogener Junge.

Trugen die Schuhe wirklich kleine Silberschwan-Modelle? Danny konnte es nicht fassen. Wie lächerlich! »Hey, Mann! Ich mach Ihnen schon nichts mehr kaputt, okay? Erinnern Sie sich daran, wer letztes Jahr Ihr altes Schlachtschiff gerettet hat. Das war ich!«, rief er und setzte sein allerbestes Unschuldslächeln auf.

Floyd schnaubte nur abfällig. »Das war doch wohl eher dieser Kapitän Fokke, nicht wahr? Also, ich bleib dabei: in Ketten gelegt, geknebelt und betäubt – oder gar nicht!«

»Wollen Sie allen Ernstes einen Simanui in Ketten legen, der ohne Schwierigkeiten einen Krieger mit Exoskelett und Chobham-Panzerung auseinandernehmen kann? Mein lieber Floyd, liegt es am frühen Morgen oder an zu viel Sauerstoff, dass Ihr Verstand noch nicht richtig arbeitet?«, frotzelte Veyron.

Einen Moment suchte der König Talassairs nach einer passenden Antwort. Sein abschätzender Blick traf Danny, dann zuckte er mit den Schultern. »Wehe, er macht mir was kaputt! Das stelle ich dir nämlich in Rechnung, Veyron!«, zeterte er. Sein Finger spießte mehrmals die Luft vor Swifts Brust auf.

Veyron nahm es schief lächelnd, aber kommentarlos hin. Beleidigt drehte sich Floyd um und stapfte zurück an Bord des Flugschiffs. Sie folgten ihm ins Innere.

Aus den dunklen Ecken des Salons, der als Reisekabine diente, funkelten Danny einige wütende Zwerge an und knurrten, als er an ihnen vorüberkam. Er atmete angestrengt durch. Das war neulich eine echt saublöde Aktion. Ich muss in Zukunft wirklich auspassen. Ein Glas zu viel, und man hat als Simanui halb Elderwelt zum Feind, dachte er schuldbewusst.

Veyron stieg hinauf ins Obergeschoss, wo er mit Captain Viul die Reiseroute besprechen wollte. Danny blieb bei den Zwergen in der Reisekabine, während Floyd sich in seine Schlafkoje zurückzog. Kurz darauf starteten die zwölf Motoren auf dem Flugzeugdach, erwachten donnernd und brummend einer nach dem anderen zum Leben. Im Osten zeigte sich inzwischen die Sonne als schmaler roter Streifen, drängte die Nacht immer weiter zurück, während die Motoren der Silberschwan warmliefen. Eine halbe Stunde später löste die Besatzung die Taue und steuerte das Flugschiff hinaus auf den See. Los ging’s! Ein kurzer Ruck, eine spürbare Beschleunigung, dann das seltsame Gefühl von Schwerelosigkeit, als die Maschine die Berührung mit dem Wasser aufgab und sich in die Lüfte hob. Alles sanft und komfortabel, gar kein Vergleich zum donnernden Brausen einer Giganthornisse und dem pfeifenden Wind, der einem ins Gesicht schnitt. Danny seufzte. Er stand eindeutig auf wildere, schnellere Fluggeräte.

Die kommenden Stunden verliefen ereignislos. Der aufgehenden Sonne entgegen überflog die Silberschwan die schneebedeckten östlichen Ausläufer der Himmelmauerberge. Einem Hufeisen für ein Götterross gleich, umschloss das schier unüberwindbar hohe Gebirge das Elbenreich Fabrillian. Selbst auf ihrer maximalen Flughöhe vermochte man von Bord der Silberschwan aus nicht über seine höchsten Gipfel zu blicken. Das immergrüne und blühende Fabrillian blieb den Augen der Reisenden verborgen. Anschließend scherte die Silberschwan nach Süden, glitt über das Große Salzmeer im Osten der Himmelmauerberge hinweg. Früher hatte es hier einmal tatsächlich ein Meer gegeben, das jedoch vor rund dreitausend Jahren ausgetrocknet war und nichts hinterlassen hatte als eine endlos wirkende weiße Wüste. Auf dem kargen Salzboden vermochte nicht einmal der kleinste Grashalm zu gedeihen. Danny wusste aus den Geschichtsbüchern, dass in dieser Salzwüste zahlreiche Eroberungszüge und große Feldherren ihr Ende gefunden hatten. Von dort ging es stetig nach Südosten über die Gebirgstäler, Wälder und Steppen Hattis hinweg. Sie überquerten die roten Sanddünen Nagmars, danach das Sperrgebirge im Osten, welches Nagmar von der gelben Wüste Neoperseuons trennte.

Veyron Swift bekam Danny während dieser Zeit nicht zu Gesicht. Der kauzige Ermittler hatte sich im Gepäckraum der Silberschwan eingesperrt, wo es eine kleine Laborausrüstung gab, denn er wollte vor ihrer Ankunft in Seramak unbedingt noch ein paar Untersuchungen durchführen. Als Danny die wortkarge Gesellschaft der mitreisenden Zwerge leid wurde – sie vergalten ihm die Verwüstung des Partyzelts ihres Königs mit inbrünstiger Abneigung – suchte er Veyron auf.

Zusammengekrümmt saß dieser hinter einem kleinen Klapptisch, vor ihm ein Mikroskop, mehrere Lupen, Kanülen und Reagenzgläschen. In der spärlichen Beleuchtung erahnte Danny mehr, als er es sah, wie gerötet Veyrons Augen waren, wie übermüdet der Mann wirkte. Kein Wunder. Stunden in diesem engen Verlies, umzingelt von Dutzenden schwerer Koffer und Kisten voll mit Floyds nutzlosem Krempel, das musste den stärksten Mann schaffen. Auf dem Tisch lagen einige Häufchen Staub und ein Stück Fingerpanzerung des eisernen Attentäters.

Danny pfiff halblaut durch die Zähne. »Sie stehlen Beweismaterial unter Gwarantirs Nase? Wow. Das wird dem Elbenkönig nicht gefallen, wenn er es rausfindet«, meinte er.

Veyron zuckte mit den Schultern. »Gwarantir interessiert mich nicht, Danny. Mein Problem ist im Moment folgender Natur: Ich verstehe den Zusammenhang zwischen all den Fakten nicht«, gestand er, reckte sich stöhnend und ließ dabei die Wirbel knacken. »Dieser Sandstaub zwischen den Rüstungsteilen des Attentäters, etwas stimmt mit ihm nicht. Es sollte purer Quarzsand sein, wie er in den Wüsten Ergians vorkommt. Aber bei genauerer Untersuchung stelle ich fest, dass er zu einem hohen Prozentsatz aus Granit besteht, sehr grob. Vergleichbares Material findet sich eigentlich nur im Bergbau.« Mit sichtlicher Frustration schaltete er das Mikroskop ab und schaute eine Weile ins Leere, doch schien er nicht nachzudenken.

Danny vermisste das schnelle Hin- und Herhuschen seiner Pupillen. »Was geht Ihnen durch den Kopf?«, wollte er wissen.

Zunächst reagierte Veyron gar nicht. Doch plötzlich, als fühle er sich ertappt, lächelte er entschuldigend. »Nichts Wichtiges. Ich bin mit meinen Gedanken lediglich ein wenig abgeschweift«, sagte er.

Danny hob skeptisch die Augenbrauen. »Aha. Abgeschweift? Zu Jane Willkins, nehme ich an.«

Veyron verengte seine Augen zu Schlitzen und presste die schmalen Lippen fest aufeinander. »Wie meinen Sie das?« In seiner Frage schwang eine deutliche Spur Feindseligkeit mit.

»Ach, kommen Sie«, schnaubte Danny. »Das kann doch jeder sehen. Sie sind in Willkins verliebt.«

Sein kurzes Zusammenzucken verriet mehr als tausend Worte. Als habe Danny etwas vollkommen Widersinniges gesagt, schüttelte Veyron den Kopf. »Unsinn!«, tat er die Behauptung mit schneidender Stimme ab. »Solche Gefühle kenne ich nicht, das kann ich Ihnen versichern.«

Nun musste Danny höhnisch auflachen. »Ja, klar. Den Scheiß können Sie vielleicht einem jungen Kerl wie Tom erzählen, jemandem, der vom Leben keine Ahnung hat. Aber bei mir müssen Sie schon früher aufstehen. Wahrscheinlich würde ich Ihnen das sogar glauben, wenn ich es nicht besser wüsste.« Er atmete tief durch, ließ Veyron einen kurzen Moment Zeit, darüber nachzudenken. »Ich bin dabei gewesen, als die Seelenkönigin sich für Jane ausgegeben hat. Ich habe alles gesehen und alles gehört.«

Veyron war still, sein hageres Gesicht undurchschaubar. War er wütend? Verzweifelt? Fühlte er sich verlegen? Danny konnte es nicht sagen. Ihm war, als schaue er in das Antlitz eines Androiden, einer Maschine in Menschengestalt.

»Lediglich ein kurzer Moment der Schwäche, mehr war es nicht. Ich habe meine Gefühle vollständig unter Kontrolle«, behauptete er mit einer Gleichgültigkeit in der Stimme, die Danny regelrecht frösteln ließ.

»Veyron Swift, Sie sind ein Lügner! Sie lassen sich viel zu leicht ablenken, sind unkonzentriert und kein bisschen bei der Sache. Sie sagten Nagamoto und mir, wir sollten die Moorelben beobachten, aber Sie selbst haben die ganze Zeit nur Willkins im Auge. Das ist die Wahrheit«, erwiderte Danny zornig. Dieses sture Beharren auf einem unsinnigen Standpunkt passte gar nicht zu Veyron, und es machte Danny wütend. Ausgerechnet Veyron Swift, die Ausgeburt an Disziplin und Selbstbeherrschung, ließ sich von seinen Gefühlen an der Nase herumführen – und wollte es nicht einsehen.

Veyron gab einen entnervten Seufzer von sich. Ohne Danny eines weiteren Blicks zu würdigen, beugte er sich wieder über sein Mikroskop. »Sie sind hier als mein Assistent, Mr. Darrow, nicht als mein Psychiater oder Beziehungstherapeut. Ich versichere Ihnen jetzt ein letztes Mal, dass mein Verstand durch die Anwesenheit von Willkins nicht beeinträchtigt wird. Ich erfülle meine Aufgaben mit der von mir erwarteten Zuverlässigkeit. Und ich käme bei meinen Nachforschungen schneller voran, wenn Sie aufhören würden, meine Zeit mit diesem Unsinn zu verschwenden. Vielen Dank.«

Das kam faktisch einem Rauswurf gleich. Verärgert drehte sich Danny um und kletterte nach oben. Lauter als beabsichtigt ließ er die Luke des Frachtraums hinter sich zuknallen. Falls ihm Meister Nagamoto eine Lektion in Sachen Geduld erteilen wollte, als er ihn Veyron Swift zuteilte, erfüllte das Ganze mehr als seinen Zweck!

Es musste später Nachmittag sein, als die Silberschwan zum Sinkflug überging. Captain Viul kreiste ein paar Mal über Seramak, um sicherzugehen, dass dort unten keine Überraschungen auf sie lauerten. Anzeichen der Schwarzen Horde waren jedenfalls nirgendwo zu entdecken. Dafür aber die rauchenden Ruinen eines einstmals riesigen Gebäudes.

»Sehen Sie die eingestürzten Kamine und die verbogenen Bauteile der Turbinen? Es muss sich um ein Kraftwerk gehandelt haben. Sehr interessant«, konstatierte Veyron und deutete aus den großen Sichtfenstern des Cockpits.

»Dann war das hier sicher ein wichtiger Stützpunkt der Schwarzen Horde. Könnte gefährlich werden. Aber wir haben ja einen jungen, sehr unbeherrschten und angriffslustigen Simanui an Bord. Der wird uns das Pack schon vom Hals halten«, flachste der bärbeißige Viul.

Tappende Schritte. »Ja, ein wirklich aggressiver, brutaler und krimineller Kerl«, bestätigte König Floyd, noch immer in Hausschuhen, grummelnd.

Danny konnte darauf nur die Augen verdrehen.

Die Silberschwan landete auf dem spiegelnden See der nahen Oase, der mit kaum mehr als einen halben Kilometer Länge und noch weniger in der Breite gerade groß genug dafür war. Dattelpalmen säumten die Ufer, an einem klapprigen Steg lagen alte Fischerboote.

»Eines fehlt, größer als die anderen«, erkannte Veyron sofort und deutete auf die entsprechende Stelle. »Sehen Sie die Furchen im Boden? Man hat es über Land geschleift, in Richtung Stadt. Sehr ungewöhnlich.«

Sie setzten mit den kleinen, zur Silberschwan gehörenden Faltbooten an Land. Captain Viul schickte eine Schar mit Musketen bewaffneter Zwerge voraus, ehe er Floyd, Danny, Toink und Veyron übersetzen ließ. Der König Talassairs trug jetzt eine khakifarbene Uniform, Shorts und kniehohe Socken, auf dem Kopf einen riesigen Tropenhut.

»So bin ich ideal gerüstet. König Floyd auf Expedition«, rief er und stieg ins Faltboot.

Danny sparte es sich, den Herrn Talassairs darauf aufmerksam zu machen, wie lächerlich er aussah. Die Überfahrt dauerte nur ein paar Minuten und verlief reibungslos. Toink und Veyron glaubten Bewegungen zwischen den Dattelpalmen zu entdecken, für Danny kaum mehr als Schatten. Allerdings hatte er weniger auf die Umgebung als auf die Rauchwolken geachtet, die vom zerstörten Kraftwerk der Horde aufstiegen.

»Mein König, wartet noch!« Kaum am Ufer angelangt sprang Toink auf den Strand und instruierte die Zwergenwache. Flink wie Füchse verschwanden sie im Strauchwerk und trieben kurz darauf ein paar Einheimische aus ihren Verstecken. Zur Warnung feuerte einer der Zwerge in die Luft. Schreiend warfen sich die Menschen flach in den Sand, flehten und winselten auf Parsonai.

»Sie halten uns für Zauberer, weil wir mit einem Vogel aus Silber aus dem Himmel kamen und Donnerwaffen mit uns führen«, übersetzte Danny.

Floyd kicherte albern, doch Veyron blieb gänzlich unberührt. Sie kletterten nun ebenfalls von Bord, und Danny begann, auf die Einheimischen einzureden. Zu seiner Verblüffung konnten sie ihn nicht verstehen, er sie allerdings schon. Da dämmerte es ihm. »Ich kann den Sinn der Worte aus ihren Gedanken entnehmen und ihnen umgekehrt den Sinn meiner Worte übermitteln«, erklärte er schnell. »Das lernt man als Simanui zuallererst. Telepathie. Nagamoto hält es dennoch für hilfreich, die Sprachen anderer Völker zu lernen, aber ich glaube, dafür bin ich eher ungeeignet.«

»Das wissen Sie erst, wenn Sie es ernsthaft versucht haben. Klingt ein wenig nach Alt-Persisch, aber ein mir unvertrauter Dialekt«, meinte Veyron, der mit gerunzelter Stirn eine Weile zugehört hatte.

»Das stimmt. Wissen Sie, im alten Babylon gab es einst einen Illauri-Durchgang, der nach Elderwelt führte. Meder, Chaldäer, Assyrer, Elamiter. Sie kamen als Erste hierher. König Nebukadnezar II. ließ schließlich auf dem schmalen Landstreifen zwischen den Zwillingsströmen eine Kopie Babylons errichten und nannte sie Kadingira, wie die Stadt immer noch genannt wird. Später durchschritten die Perser das babylonische Weltentor nach Elderwelt. Von Kadingira aus eroberten sie ein gewaltiges Reich, Neoperseuon. Als schließlich Alexander der Große im Jahr 323 vor Christi Geburt den Marduk-Tempel Babylons abtragen ließ, wurde der Illauri-Durchgang auf der Fernwelt-Seite zerstört und damit die Verbindung zwischen Babylon und Kadingira. Es geschah wahrscheinlich unabsichtlich und unwissentlich, denn es heißt, dass seit den Tagen von Xerxes kein Mensch mehr durch dieses Tor gekommen sei. Im Lauf der Jahrhunderte muss seine Funktion schlichtweg vergessen worden sein. Dumme Sache. Das Tor in Kadingira ist deshalb heute nur noch ein nutzloses Relikt«, erklärte Danny. Er deutete hinaus auf die endlos scheinende Wüste. »Neoperseuon war einstmals das größte menschliche Königreich Elderwelts, erstreckte sich vom Amazonenland im Norden bis nach Ta-Meri im Süden. Bis Vacandor aus dem bewaldeten Akkar kam, mit ihm eine Armee aus Söldnern, den gefürchteten, raubtierhaften Arkalen, und anderen mythischen Wesen. Vacandor fegte die gewaltige Armee Neoperseuons fort wie Strohhalme. Erst fünfzig Jahre nach dem Tod dieses mystischen Feldherrn konnte sich ein neuer Großkönig in Neoperseuon etablieren, aber Hatti, Süd-Hatti, Tyrosia, Kolasurya und Ki-Na-Hin waren zu eigenen Staaten geworden und gingen für das Reich verloren. Zahlreiche Bürgerkriege und Thronstreitigkeiten verhinderten den erneuten Aufstieg Neoperseuons zur Weltmacht. Diese Stellung nahm das Imperium Maresium ein – und verteidigt sie mittels politischer Tricks und Kriege bis zum heutigen Tag. Neoperseuons riesige Wüstengebiete verhinderten allerdings mehrere Eroberungsversuche des Imperiums, und allein deshalb regiert heute noch immer ein Großkönig in Kadingira. Vom einstigen Weltreich ist jedoch kaum mehr als ein Schatten geblieben. Kein Wunder, dass die Schwarze Horde hier so leichtes Spiel hatte.« Als er Veyrons interessierten Blick bemerkte, zuckte er mit den Schultern. »Fragen Sie mich bloß nicht nach Details! Ich hab nur das wiedergegeben, was in den Büchern der Simanui geschrieben steht, zusammenfassend sozusagen.«

Veyron klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Ich schlage vor, wir gehen jetzt nach Seramak und schauen uns die Stadt an«, sagte er und ersparte ihm weitere Rückfragen zur wechselhaften Geschichte Neoperseuons.

Danny nickte. Er musste Veyron folgen, ob er wollte oder nicht, und hier wollte er. König Floyd, der eben noch gelangweilt an seinen Fingernägeln geknibbelt hatte, stimmte begeistert zu. Auf Kommando von Toink rückte die Zwergen-Garde gen Norden vor, und von den Einheimischen begleitet erreichten ihre kleine Delegation rasch die Außenbezirke Seramaks. Ihre Ankunft erregte einiges Aufsehen. Immer mehr Stadtbewohner zeigten sich, um die bärtigen Zwerge zu sehen. Solche Kreaturen hatte man in Seramak anscheinend noch nie zuvor erblickt. Toinks Gardisten aber blieben auf der gewundenen Hauptstraße, die ins Zentrum der Stadt führte, wachsam. Sie sicherten Haus für Haus, hatten ihre kleinen Augen überall, und ihre Reaktionen waren blitzschnell. Doch jeder, den sie anhielten, entpuppte sich als harmloser Stadtbewohner. An einigen Wänden hatten Händler ihre Marktstände errichtet. Je weiter sie kamen, umso mehr von ihnen entdeckte Danny auf. Die Stadtbevölkerung erledigte scheinbar die täglichen Einkäufe, und auch in den Tavernen herrschte reges Treiben.

»Sehen Sie nur: Diese Läden waren bis vor Kurzem mit Brettern verschlossen. Sie können die kleinen Löcher in den Fassaden erkennen, wo man die Nägel eingeschlagen hatte«, sagte Veyron und deutete von Haus zu Haus.

»Das Werk der Schwarzen Horde. Diese Mistkerle verbieten dem Volk nahezu alles, wenn sie einmal eine Stadt übernommen haben. Für fast jedes Vergehen wird die Todesstrafe verhängt. Sogar das Pfeifen auf der Straße kann einem den Strang einbringen«, sagte Danny.

Die vielen fröhlichen Menschen auf dem Basar wollten jedoch nicht recht in dieses Bild passen. Ein paar Häuser weiter fanden sie den Grund für den bemerkenswerten Stimmungsumschwung in Seramak heraus: In einem Hinterhof hingen etliche Schrate und zwei Menschen an einem Galgen. Gemein war ihnen die schwarze Kleidung aus Leder und Fell, die fast wie eine Uniform wirkte. Krieger der Schwarzen Horde; Fliegen umschwärmten ihre Leichen.

»In Seramak ist die Herrschaft der Horde offensichtlich Geschichte«, erkannte Veyron nüchtern. Ohne sich weiter um die Gehängten zu scheren, kehrte er auf die Hauptstraße zurück. Danny und Floyd folgten ihm nach einem letzten Blick auf die Hingerichteten.

»Abscheuliche Praktiken herrschen in diesem Land. In Talassair wurde die Todesstrafe schon vor langer Zeit abgeschafft«, meinte Floyd kopfschüttelnd.

Danny wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Seiner Meinung nach verdiente jeder einzelne Krieger der Schwarzen Horde den Tod. Sie waren Monster, brutal und grausam – oder verallgemeinerte er zu sehr? Zum ersten Mal stellte er fest, dass er in Sachen Schwarze Horde seine Objektivität verloren hatte.

Sie näherten sich dem Stadtzentrum, wo die Menge vor dem großen, runden Palastgebäude feierte. Musiker trommelten einen flotten Rhythmus, junge Frauen sangen mit hellen Stimmen, Tänzerinnen und Derwische wirbelten über den Vorplatz, während Kinder aus den Fenstern des Palastes Blütenblätter warfen.

Ein Mann in üppiger, kunterbunter Tracht kam ihnen breit grinsend entgegen. Er verbeugte sich vor Floyd, Danny und Veyron. »Willkommen in Seramak, Besucher aus Talassair. Ich habe Euer Flugschiff sehr wohl erkannt. Willkommen, willkommen, willkommen! Endlich ist unsere Stadt aus dem Griff der Schwarzen Horde befreit, und das Volk kann das Neujahrsfest feiern!«, rief er.

Die Menschen rund um ihn herum brachen in Jubel aus. Danny spürte ihre Erleichterung und die ausgelassene Freude. Sie fühlten sich wahrhaftig befreit. Hoffnung stand in ihren Gesichtern, Hoffnung auf bessere Zeiten.

»Und wer seid Ihr?«, fragte Veyron kalt. Sein Interesse galt dem riesigen Palastgebäude.

Die Mundwinkel des papageienbunten Mannes sackten ein wenig herab. Dafür hoben sich seine Brauen erstaunt. »Sagt, kenne ich Euch irgendwoher?«

Veyron verneinte irritiert.

»Je nun, ich bin Kalandasch, der neue Bürgermeister dieser Stadt und im Augenblick auch ihr Regent. Unser Fürst wurde von der Horde ermordet, ebenso wie sämtliche Hofbeamten. Der Stadtadel wurde vollständig ausgelöscht.«

»Wie kam es zur Befreiung? Mit welcher Armee wurde die Schwarze Horde geschlagen?«, wollte Danny wissen. Ihm kam das alles wie ein Wunder vor.

Dem Bürgermeister schwoll stolz die Brust. »Die Allianz der Verlorenen hat die Horde in die Flucht geschlagen. Ha! Es war ein Piratenstück. Zunächst glaubten wir unser aller Ende gekommen. Ein seltsamer Mann, schwarz und weiß gekleidet, hager und ausgemergelt, führte die Arbeitstrupps der Horde an. Sie plünderten sämtliche Haushalte, nahmen Bettzeug und Vorhänge mit. Alles an Tuch, dessen sie habhaft werden konnten. Dann wurden alle Frauen und Männer der Stadt zu Näharbeiten in den Palast gerufen. Wir dachten, uns allen blühe nun die Sklaverei. Dann aber zog die Armee des grausamen Mordkommandanten ab, nach Norden, vielleicht nach Kishon. Zurück blieb lediglich eine Kompanie brutaler Kerle und Schrate, um uns weiter zu knechten. Gegen sie erhob sich die Allianz der Verlorenen und bereitete dem schwarzen Spuk ein Ende«, erklärte er.

Veyron studierte das Gesicht Kalandaschs skeptisch. »Wo wurden die Näharbeiten ausgeführt?«

»In der Thermenanlage des Palastes. Kommt, ich führe Euch hin. Es war wie Zauberei. Aus dem Dach der Therme stieg die Allianz der Verlorenen auf, kurz darauf explodierte das Kraftwerk der Horde. Daraufhin ergriffen die letzten dieses Packs die Flucht. Sie rannten hinaus in die Wüste, wo sie sich verirrten und den Sandhaien zum Opfer fielen. Heute Morgen kamen ein paar wenige zurück. Besser, sie hätten es nicht getan. Frech forderten sie Wasser und Verpflegung. Da kochte die Seele des Volkes von Seramak über. Zwanzig der Halunken wurden vom Mob auf der Stelle erschlagen, die anderen jagten wir durch die Straßen und hängten sie in den Hinterhöfen. Jetzt gibt es niemanden in Seramak, der lebt und sich Mitglied der Schwarzen Horde schimpft«, tönte Kalandasch.

Sie erreichten den rechteckigen Thermenanbau des Palastes. Durch eine Seitentür führte der Bürgermeister sie in die riesige, leere Badehalle. Zahlreiche technische Geräte standen oder lagen im ausgelassenen Schwimmbecken, zusammen mit einigen großen weißen Tanks. Veyron sprang hinunter, um alles ganz genau zu untersuchen.

»Wer sind die Allianz der Verlorenen?«, fragte Danny den Bürgermeister.

Der musste laut auflachen, als er das hörte. »Nicht wer, sondern was! Es ist ein Schiff, junger Herr. Ein Schiff, das durch die Lüfte fliegt wie eine Flugmaschine aus Talassair. Unser Volk hat auf Geheiß des falkengesichtigen Mannes einen Ballon zusammengenäht und die Jacht des Fürsten von der Oase bis hierher geschleppt. Allianz der Verlorenen stand in großen Lettern auf dem Rumpf. Gesteuert wurde es von dem hageren Mann, aber auch ein Schrathauptmann und eine Hexe des Nordens gehörten zur Besatzung …«

»Moment mal«, fuhr Danny dazwischen. »Der verulkt uns doch!«

Veyron gebot ihm Schweigen, und Kalandasch fuhr ein wenig pikiert fort: »Es ist keine Lüge! Diese beiden haben viele Krieger der Schwarzen Horde mit bloßen Händen erschlagen. Aber der Anführer der Allianz ist ein junger Mann, der mit einem leuchtenden Schwert bewaffnet ist. Saphire in der Klinge, sagen die Augenzeugen. Ich selbst habe leider gar nichts gesehen, man sagt, er sei ein Gefangener im Kerker gewesen, und doch war er es, der den Ausbruch anführte und alle Gefangenen rettete«, berichtete Kalandasch. Verschwörerisch wandte er sich an Danny. »Manche behaupten sogar, der Junge wäre ein Simanui. Das täte mich aber wundern, denn diese arroganten Zauberer sitzen ja nur in ihrem Elfenbeinturm und unternehmen nichts.«

»Ich fürchte, die Geschichte des geschätzten Bürgermeisters ist wahr«, meldete sich Veyron aus dem Schwimmbecken. Abwechselnd deutete er auf die leeren Tanks und ein Gestell, das Danny an eine Sprinkleranlage erinnerte. »Hier sind leere Wasserstofftanks. Gasförmiger Wasserstoff, wie er früher in Luftschiffen eingesetzt wurde, von der ZTC geliefert, aber offenbar unbrauchbar für die ursprünglichen Zwecke der Schwarzen Horde. Wimille hat jedoch ein Anwendungsgebiet dafür gefunden. Und dieses Gestell hier wurde benutzt, um die Leinenhülle des Auftriebkörpers zu galvanisieren. Mit flüssigem Gummi, wie man riechen kann. Ansonsten haben wir hier die Reste einer Klimaanlage. Die Propeller und die dazugehörigen Motoren wurden ausgebaut, um als Antrieb für das Luftschiff zu dienen. Angesichts der begrenzten Mittel und der kurzen Zeit ein weiteres Meisterwerk Wimilles«, erklärte er.

Danny dachte kurz darüber nach. »Okay, alles klar. Ich glaube, ich kann mir ein Bild machen. Aber wer zum Henker ist Wimille?«

Veyron kletterte aus dem Becken und streifte sich Hemd und Hose ab, ehe Antwort gab. »Mein Bruder.«

»Was? Sie haben einen Bruder? Es gibt gleich zwei von Ihrer Sorte? Ich werd verrückt«, japste Danny überrascht.

Das brachte ihm einen verständnislosen Blick Veyrons ein. »So verwunderlich ist das gar nicht. Viele Menschen besitzen Geschwister, und nicht jeder wächst wie Sie als Einzelkind auf, Danny«, meinte er kalt. Die Ironie in Dannys Ausruf schien ihm völlig entgangen zu sein. »Was mir viel mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass sich Wimille tatsächlich auf ein so brandgefährliches Abenteuer eingelassen hat. Wer der junge Mann mit dem blau leuchtenden Simanui-Schwert ist, brauche ich Ihnen ja nicht erst zu erklären. Meine schlimmsten Befürchtungen sind nichts verglichen mit dem, was ich hier entdecken muss. Tom Packard hat nicht nur Nachforschungen zum Schwarzen Manifest und zu Ernie Fraud angestellt, sondern obendrein meinen Bruder rekrutiert, sich nach Elderwelt geschlichen und mit ihm ein Luftschiff gebaut.«

Danny zählte an den Fingern ab. »Dazu ein Kraftwerk gesprengt, die Gefangenen gerettet und der Schwarzen Horde in den Arsch getreten. Verdammt, Veyron, Ihr Schützling ist ja ein richtiger Held. Und noch mal verdammt! Er erledigt den Job, den wir Simanui hätten übernehmen sollen!«

Veyron seufzte. »Genau das befürchte ich«, raunte er, dann wandte er sich an Kalandasch. »Hier bin ich fertig. Nun würde ich mir sehr gern das gesprengte Kraftwerk ansehen.«

Der Bürgermeister verbeugte sich. »Wie Ihr wollt.«

Danny spürte die plötzliche Furcht, die den Mann ergriffen hatte. War es möglich, dass sich bei der Fabrik noch ein paar Kämpfer der Schwarzen Horde verschanzten?

Kalandasch entschuldigte sich und gab seiner Hoffnung Ausdruck, sie bald im Palast begrüßen zu dürfen.

Der Rauch wies ihnen den Weg zur Fabrik der Schwarzen Horde. Toink und die Zwergensoldaten eilten wieder voraus, erneut Haus für Haus absichernd, ehe Floyd, Danny und Veyron folgten.

»Pah, lächerlich«, maulte Floyd. »Ein Luftschiff! Tom und dieser Wimille haben ein Luftschiff gebaut. Oho! Wie aufregend, wie großartig. Also wirklich! Was soll denn daran so besonders sein? Ich besitze auch ein Luftschiff, sogar ein richtig tolles aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, einen Zeppelin. Der ist bestimmt viel größer als diese Allianz der Verlorenen. Pah, lächerlich!« Er wandte sich an Toink, dessen kantiges Gesicht fast ebenso rot angelaufen war, wie sein Bart. »Wir rufen sofort bei Farin an. Er soll mir meinen Zeppelin schicken. So weit kommt es noch, dass hier irgendjemand mit einem selbst gebauten Luftschiff rumfliegt. Da kann ich locker mithalten. Immerhin bin ich der König Talassairs!«

»Schlagt Euch das gleich wieder aus dem Kopf, Majestät«, grummelte Toink ungehalten. »Am Ende schießt es die Schwarze Horde noch ab, dann gibt’s wieder königliches Gejammer.«

»Wer führt die Schwarze Horde eigentlich an? Ist es einer der Schatten?«, wechselte Veyron das Thema.

Danny schüttelte den Kopf. »Nein. Er nennt sich selbst der ›Achte‹ und behauptet, früher einmal ein Simanui gewesen zu sein, doch seit der Neugründung im Jahr 1918 hat kein Mitglied den Orden verlassen. Er missbraucht diese Lüge, um gegen die Simanui zu hetzen und sich als Opfer einer Verschwörung in Szene zu setzen, die es gar nicht gibt. Das Schwarze Manifest macht dieses Lügenkonstrukt sogar zur Religion.

Wir haben herausgefunden, dass der Achte in seinem früheren Leben als Magier unterwegs gewesen ist. Ein Scharlatan, nichts weiter, der damals auf den Namen Tscharyascha gehört hat. Seine Familie ist wohl einmal von hohem Adel gewesen, ehe sie in Ungnade fiel. Tscharyascha hat jedenfalls in der Verbannung gelebt, fern der Städte Neoperseuons, und die Simarell zu keinem Zeitpunkt besessen. Lange Zeit war er verschwunden, bis er vor drei Jahren als der ›Achte‹ wieder auftauchte, Anführer der Schwarzen Horde. Inzwischen zeigt der Achte allerdings Merkmale der Simarell, Telekinese etwa. Er kann Dinge bewegen, ohne sie zu berühren. Meister Nagamoto glaubt, dass ihm diese Fähigkeiten vom Dunklen Meister übertragen worden sind, ganz wie bei den Schatten«, erklärte Danny und schnaufte. Mit Veyron unterwegs zu sein, war wie in einer beständigen Prüfung zu stecken. Noch nie seit Beginn seiner Ausbildung zum Simanui hatte er sein erworbenes Wissen dermaßen oft abrufen müssen.

Veyron nickte nur. »Da lüften sich doch gleich ein paar Schleier des Rätsels. Der Achte ist offenkundig bestrebt, zum Schatten aufzusteigen, das sagt schon der Name aus, den er sich gegeben hat. Und der Dunkle Meister plant seinerseits, die Seelenkönigin durch den Achten zu ersetzen. Da haben wir das Motiv, warum der Dunkle Meister erst jetzt, Jahrhunderte nach ihrem Verrat, so sehr daran interessiert ist, ihr den Garaus zu machen.«

»Das wäre aber schade«, meinte Floyd in seiner unübertrefflichen Naivität. »Der Achte scheint ein Mann ohne Humor zu sein; die Seelenkönigin versteht es dagegen, Spaß zu haben. Sie ist eine sehr amüsante Person.«

»Sie ist ein Dämon, Majestät. Eine Hexe, ein Vampir – ach was, alles zusammen!«, mischte sich Toink grollend ein.

Floyd schien das egal. »Sie war trotzdem eine Bereicherung für meine Partys. Ob man sie als Animateurin anwerben könnte?«

Toink stieß einen Schrei aus und stierte seinen König zornig an. »Schluss damit! Ihr wisst ja gar nicht, was Ihr da redet. Da vorn ist das Kraftwerk. Haltet besser die Augen offen, Majestät: Hier könnten noch ein paar Hordlinge herumlungern!«

Ein großer, tiefer Krater war alles, was vom Kraftwerk der Schwarzen Horden übrig geblieben war. Die Trümmer des Gebäudes waren Hunderte von Metern weit geflogen, manche sogar bis hinüber zur Oase. Noch immer stieg beißender Rauch von ihnen auf und hing über allem. Die Zwerge zogen die Uniformkrägen über ihre Nasen und eilten in alle Richtungen davon, um eventuelle Angreifer aufzuspüren. Der Schutt bot zahlreiche gute Verstecke für einen Hinterhalt.

Veyron untersuchte alles ganz genau, umkreiste Mauerreste und die aufgerissenen, ausgebrannten Treibstofftanks, die kreuz und quer in der Gegend lagen. »Zaltianna Trading Company«, las er von einem der Tanks ab. »Damit dürfte es offiziell sein: Die ZTC steckt hinter der Schwarzen Horde. Sie finanziert diese grausame Armee, rüstet sie mit Waffen aus und versorgt sie mit Nachschub.«

Auf einem freien Platz vor dem Krater fanden sie die qualmenden Reste eines ringförmigen Apparats, der im Boden eingelassen war. Die Explosion des Kraftwerks hatte ihn aus seinem Bett gesprengt und zerstört. Unzählige Kabel und Rohre ragten aus seinen Segmenten. Danny staunte nicht schlecht, berührte den zerstörten Apparat und zuckte zurück. »Wow! Glühend heiß! Was zum Teufel ist das?«

»Ein künstlicher Durchgangs-Apparat, Danny. Ich habe so etwas schon einmal gesehen, vor zwei Jahren in Carundel, als wir die dortige Basis des Dunklen Meisters infiltrierten. Diese Maschinen erschaffen künstliche Wurmlöcher, um von unserer Welt nach Elderwelt zu reisen und den Schutzschirm, der sie voneinander trennt, zu durchbrechen. Die ZTC ist Hersteller und Eigentümer dieser Apparate«, erklärte Veyron. Eingehend untersuchte er die qualmenden Trümmer. »Der genaue technische Vorgang ist unbekannt. Eventuell bilden Teilchenbeschleuniger ihre technologische Basis, aber das ist pure Spekulation. Das Kraftwerk wurde einzig und allein zu dem Zweck errichtet, diese Maschine mit Energie zu versorgen. Die Explosion hat kaum genug übrig gelassen, um es genauer zu untersuchen, was schade ist. Nach meiner Theorie kamen Tom und Wimille hier an, als sie von unserer Welt aufbrachen. Seramak war wohl eines der wichtigsten Zentren der Schwarzen Horde. Der Ausbruch der Gefangenen mit der Allianz der Verlorenen und die gleichzeitige Explosion des Kraftwerks müssen die Schwarze Horde in hohem Grade überrascht haben. Chaos war die Folge, darum die fluchtartige Räumung der Stadt, was wiederum zum nächsten Desaster führte. Klar ist aber auch: Wenn die Armee der Horde ihren Feldzug beendet hat, wird sie nach Seramak zurückkehren«, fuhr er fort.

Danny verzog das Gesicht. »Das wird ein Gemetzel geben. Ich habe schon viele schlimme Geschichten über diesen Ernie Fraud gehört. Der Junge ist ein psychopathischer Mörder, ein Irrer. Er wird kaum jemanden in der Stadt am Leben lassen.«

Veyron erwiderte darauf nichts, aber das musste er auch nicht. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was die Schwarze Horde nach ihrer Rückkehr in Seramak anrichten würde.

»Meister Swift«, rief Toink aus einiger Entfernung. Der Zwerg stand auf den Trümmern eines eingestürzten Kamins und winkte aufgeregt. »Wir haben etwas gefunden!«

Sofort eilten Veyron und Danny los, Floyd trottete ihnen gelangweilt hinterher. Toink und drei andere bewaffnete Zwerge starrten auf etwas, das unter einem Trümmerstück verborgen lag, tief im Sandboden versteckt. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Fuchsbau.

»Die verlassene Höhle eines Sandhais, den vermutlich die Explosion aufgeschreckt hat. Oder ein Versteck der Schrate«, vermutete Toink. Die anderen drei Zwerge spannten ihre Musketen.

»Finden wir es raus«, meinte Veyron und kroch auch schon in das Loch.

Die Zwerge schauten sich gegenseitig nervös an, sichtlich beeindruckt von Veyrons Tapferkeit, doch ohne den Mut, es ihm nachzutun. Danny schüttelte den Kopf, ehe er Veyron folgte. Von oben hörte er Toinks energische Stimme, die Floyd den Abstieg verbat.

Unter dem Trümmerstück führte ein schmaler, gewundener Schacht hinunter in den Erdboden. Offenbar war er durch die Explosion freigelegt und teilweise beschädigt worden, denn aus seinen Seitenwänden ragten weitere Trümmer hervor. Danny musste aufpassen, nicht an ihnen hängen zu bleiben oder sich zu verletzen. Das hier war kein Versteck eines Sandhais gewesen.

Nach einer Weile weitete sich der Schacht zu einem Treppenhaus, das aus dem Felsgestein geschlagen worden war. Als Danny Veyron eingeholt hatte, war dieser bereits dabei, mithilfe der Taschenlampenfunktion seines Smartphones die Felswände zu untersuchen. Er studierte selbst die kleinsten Kratzer an den Wänden.

»Fehlanzeige«, meinte er schließlich und setzte sich mit einem frustrierten Stöhnen auf die kalten Stufen. Danny sah ihn fragend an, und Veyron bequemte sich zu einer Erklärung. »Tuff, kein Granit. Andere seiner Art wurden vielleicht hier zusammengeschraubt, aber das ist nicht der Ort, von dem unser Attentäter stammt. Die Wände sind auch kein bisschen salzig. Wir sind hier vollkommen falsch.«

»Wohin führt dieser Schacht?«, fragte Danny und blickte in die Finsternis, in der sich das Treppenhaus wahrscheinlich fortsetzte.

»Unwichtig. Das ganze Gebäude wurde gesprengt. Was davon übrig blieb, ist eingestürzt. Egal, was wir hier noch finden könnten, Fakt bleibt: Das ist der falsche Ort. Keine der Mineralienspuren, die ich dem Leichnam des Angreifers entnommen habe, stammt von hier, weder der Granit noch die Salzablagerungen. Dieser Teil der Mission war ein Fehlschlag«, sagte Veyron seufzend.

Danny setzte sich neben ihn. Er hätte sich denken können, dass Swift auch gleich nachsehen wollte, ob der gepanzerte Kerl von hier gekommen war. Von wegen Sorge um Tom! Als würde ein Veyron Swift sich nur von solchen Gedanken leiten lassen! »Wo sollen wir denn sonst noch suchen? Es gibt in dieser Region kein einziges Salzbergwerk«, sagte er. »Salz wird im Südosten an den Küsten Neoperseuons produziert, mit Verdunstungsbecken.«

»Somit können wir also ausschließen, dass der Attentäter überhaupt aus Neoperseuon kam. Ich verstehe das nicht. Alle anderen Spuren deuten doch ganz eindeutig auf dieses Land hin! Was habe ich nur übersehen? Somit war diese Reise nichts als Zeitverschwendung«, schimpfte Veyron.

»Na ja, kann schon sein, was das betrifft. Aber immerhin wissen wir jetzt, dass Tom und Ihr Bruder der Schwarzen Horde die Stirn geboten und geholfen haben, Seramak zu befreien«, widersprach ihm Danny sofort.

Veyron schaute ihn überrascht an. »Zutreffend. Nur leider vermögen mich diese Neuigkeiten in keiner Weise zu beruhigen.«

»Ach, kommen Sie schon! Wir werden einen Weg finden, Tom und seinen Freunden zu helfen. Fürs Erste sind wir hier fertig. Lassen Sie uns nach Teyrnas Annoth zurückfliegen. Die Neuigkeiten von der Allianz der Verlorenen könnte der Debatte der Könige eine neue Wendung geben«, schlug Danny vor.

»Das sind die ersten klugen Worte, die ich von Ihnen höre, Danny. Kommen Sie, mein junger Freund: Kehren wir zur Oberfläche zurück und packen alles zusammen.«

Ein paar Minuten später kletterten sie wieder unter dem Trümmerstück hervor, zur offensichtlichen Erleichterung von Toink und den anderen Zwergen.

»Siehst du, Toink, keine Gefahr. Ich hätte ruhig mitgehen können«, maulte Floyd.

»Majestät …«

Veyron schnitt dem Zwerg das Wort ab und setzte sie ins Bild, was sie gefunden hatten, und dass sie nun zurückfliegen würden.

»Gepriesen sei die Schatzkammer des Altzwergs!«, rief Floyd. »Hier ist es mir sowieso viel zu heiß. Das nächste Mal muss eine Expedition in die Wüste besser vorbereitet werden. Ohne wanderndes Sonnensegel begebe ich mich an keinen Ort mehr, der so ist wie dieser. Und der ganze Sand! Meine Schuhe sind voll damit«, beschwerte er sich.

Keiner schenkte dem Gejammer Floyds Beachtung, während sie, die Zwerge voran, an dem Labyrinth aus Trümmerstücken vorbei den Rückweg antraten.

Nur einmal blieb Floyd kurz stehen und begutachtete ein senkrecht in den Himmel ragendes Stück Mauer. Es war ein ganzes Eck des einstigen Kraftwerks, groß wie ein Reisebus. »Mit was wurde der Laden wohl gesprengt? Dein Tom muss ja eine richtige Bombe gebaut haben«, meinte Floyd neugierig.

»Mit Wasserstoff, mein lieber Floyd. In der Therme des Fürsten habe ich Tanks mit der Nummer 1, 3, 4 und 5 entdeckt. Nummer 2 ist abgängig. Es ist daher anzunehmen, dass Wimille – nicht Tom – einen kleinen Sprengsatz benutzt hat, um die Treibstofftanks in Brand zu stecken. Das Feuer hat später den Wasserstofftank entzündet, und die kombinierte Sprengkraft war ausreichend, um das gesamte Gebäude zu zerstören«, erklärte Veyron sachlich.

Floyd grunzte verächtlich und schlug gegen die herausgesprengte Hausecke. »Kein Wunder, alles nur schratischer Schrott«, meinte er. Als fühle sich das Trümmerstück von dieser Aussage regelrecht demotiviert, fiel es in sich zusammen. Staubwolken stoben auf, als die Ziegel in den Sand plumpsten.

Der König musste husten, und Danny wedelte sich den Sand aus dem Gesicht. Kaum dass er wieder klar sehen konnte, fand er sich vier menschlichen Kriegern der Schwarzen Horde gegenüber, die Gesichter rußgeschwärzt, die Körper in dicke Rüstungen aus schwarzem Stahl, Leder und Fell gehüllt.

Sie reckten ihnen ihre Lanzen entgegen und bedeckten ihre Flanken mit schweren Schilden. Außerdem hingen krumme Säbel an ihren Gürteln. »Ergebt euch!«, brüllten sie.

Floyd stand ihnen so nahe, dass sie mit ihren Lanzen nur zuzustoßen brauchten, um den König Talassairs zu durchbohren.

Im Nu waren die Musketen der Zwerge oben, die Zündschlösser klickten. »Nein, ihr ergebt euch!«, brüllten der Anführer der Zwerge.

»Niemals! Ihr verdammten Dreckskerle!«, rief ein anderer.

»Die Waffen weg, ihr Unholde!« – »Wir stechen euch alle ab! Wir machen euch fertig!« – »Waffen weg, im Namen des Königs!«, plärrte es von Zwergen und Hordlingen.

Floyd stand starr wie eine Salzsäule und hielt ausnahmsweise mal den Mund. Veyron befand sich dicht neben ihm; beide Männer in akuter Todesgefahr. Die Zwerge waren bereit zu feuern, wussten aber genau, dass sie damit womöglich ihren Herrn zum Tod verurteilten. Trotz der drohend verengten Augen und gefletschten Zähne ihrer Feinde konnte Danny deutlich ihre Angst spüren. Eine falsche Bewegung, und es gäbe ein Gemetzel. Zeit zu handeln, entschied er.

Ein einziger Wink seiner Hand genügte, eine ausgreifende Bewegung mit der glühend heißen Energie, die längst in ihm erwacht war. Mit der unsichtbaren Kraft der Simarell packte er Lanzen, Schwerter und Schilde, riss sie den vier Hordlingen aus den Händen und schleuderte sie weit fort. Verdutzt und ungläubig starrten die Krieger auf ihre leeren Hände.

»Also gut«, meinte Danny so gelassen wie möglich – in seinem Inneren dagegen raste sein Herz aufgeregt. »Ihr seid diejenigen, die sich ergeben. Sofort!«

Zu seiner Verblüffung dachten die Kerle gar nicht daran. Alle vier zitterten: vor kochender Wut, Panik, vielleicht auch Verzweiflung oder einer Mischung aus allem. Todesverachtung und Wahnsinn im Blick schnellte einer von ihnen vor – genau auf Floyd und Veyron zu. Danny konnte nur noch nach Luft schnappen, so schnell, wie alles geschah.

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 4

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