Читать книгу Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 3 - Tobias Fischer - Страница 3

10. Kapitel: Die Allianz der Verlorenen

Оглавление




Ganze acht Tage waren vergangen, seit Tom Wimille zuletzt gesehen hatte. Acht Tage, in denen er Brokaris und Li Su immer wieder versichern musste, dass sein ›Agent‹ einen Plan verfolge. Tom schmiedete auf jeden Fall schon mal eigene Pläne. So mussten zum Beispiel die Wachen im Palast ausgeschaltet werden. Ebenso galt es, alle Türen nach draußen zu sichern und zu verriegeln. Außerdem müsste jemand die Verletzten und Lahmen tragen, wenn es zum Ausbruch käme. Das unterbreitete er seinen Mitverschwörern, doch Brokaris hielt besonders seine Fürsorge für Zeitverschwendung. Tom aber bestand auf der Umsetzung aller seiner Maßnahmen.

Am Abend des ersten Tages, nachdem er Brokaris und Li Su für seinen Ausbruchsplan gewonnen hatte, wurden weitere Gefangene in den Kerker geschickt. Ihr Vergehen? Widerstand gegen die Schwarze Horde. Die Mistkerle waren nach Aussage der Neuankömmlinge den ganzen Tag über in alle Wohnungen der Stadt eingebrochen, hatten Vorhänge heruntergerissen und die Bettlaken gestohlen. Wer sich widersetzt hatte, war verhaftet worden. Mehr Gefangene – das machte Toms Vorhaben noch schwieriger, stärkte aber auch seine Entschlossenheit.

Tags darauf wählte die Horde eine ganze Reihe Gefangener aus, um Sklavendienste zu verrichten, vornehmlich Frauen, doch auch ein paar Männer, die zuvor in der Schneiderei des Palastes gearbeitet hatten. Als sie in der Nacht zurückgebracht wurden, hatten sie einige interessante Dinge zu berichten. Man hatte sie in die Palasttherme geschafft, wo sie unzählige Tücher, darunter auch die requirierten Bettlaken, in eine bestimmte Form und Größe schneiden mussten, während eine andere Hundertschaft Sklaven die Stücke nach einem bestimmten Muster zusammenzunähen hatte. Aus ihren Aussagen reimte Tom sich die Zahl der verarbeiteten Leinentücher zusammen, die stolze Summe von zweitausend Stück. Des Weiteren hatte die Schwarze Horde die Nordwand der Therme einreißen lassen. Den Grund kannte niemand. Ein paar andere Gefangene erzählten, dass oben vom Kraftwerke laute Geräusche gekommen seien, dass dort etwas gebaut würde. Zudem treibe die Horde alle verfügbaren Lastentiere zusammen, schicke diese zum Kraftwerk oder runter zur Oase. Was das Ganze sollte, darauf konnte sich Tom keinen Reim machen. Er nahm Li Su beiseite und bat sie, sich ebenfalls unter den Arbeitern umzuhören, besonders unter den Frauen, die Tom noch immer mit Argwohn beäugten.

Am dritten Tag hatten die Gefangenen nach ihrem Sklavendienst ähnliche Geschichten zu berichten. Wieder galt es, Betttücher und Vorhänge zusammenzunähen, erneut Tausende davon. Einen Teil der Therme hatte die Schwarze Horde mit Vorhängen abgeriegelt, und Wachen sorgten dafür, dass niemand sehen konnte, was im abgesperrten Teil der Therme geschah. Einige berichteten vom Auftauchen des ›Direktors‹, der die Näharbeiten begutachtete und alles andere als zufrieden gewirkt hätte. Dennoch ließ er die Arbeiten fortsetzen.

Am Ende von Tag Vier erzählten die Sklaven, dass oben beim Kraftwerk nicht mehr gearbeitet worden sei. Tom erfuhr, dass es in der ganzen Stadt erstaunlich ruhig gewesen sei. Dafür wären die Arbeiten im abgesperrten Teil der Therme so richtig losgegangen.

»Es wurde gehämmert, gesägt und …« Ratlos schaut der Sprecher seine Leidensgenossen an. »Was war das für ein Geräusch?«

Niemand wusste es.

Tom musste lachen, als die Sklaven die Arbeitsgeräusche nachmachten. »Schweißen und bohren nennen wir das«, erklärte er den erstaunten Arbeitern. Anschließend musste er noch ausführen, was ›Schweißen‹ war.

Die Schrate der Schwarzen Horde und auch einige versklavte Handwerker, so erfuhr er weiter, hätten außerdem mit dem Wiederaufbau der zuvor eingerissenen Nordwand des Thermenkomplexes begonnen. Doch weil die Schrate mehr Gefallen am Zerstörungswerk fanden, überließen sie das den Sklaven und fingen stattdessen an, das Dach der Therme abzureißen. Die Anzahl der Wächter schien reduziert worden zu sein, aber den Grund dafür konnte keiner in Erfahrung bringen. Der Direktor hielt sich jetzt pausenlos in der Therme auf und schien persönlich im abgesperrten Bereich zu arbeiten.

Am fünften Tag durften alle Näherinnen und Schneider im Kerker bleiben.

Li Su setzte sich zu Tom auf den Boden und flüsterte: »Wenigstens sind die Leute anständig versorgt worden. Die Horde hat ihnen reichlich zu essen und zu trinken gegeben. Einige konnten sogar Sonnenlicht tanken. Eine junge Näherin, Talira, hat mir berichtet, dass sie insgesamt zweiunddreißig riesige Stoffbahnen zu einem einzigen, gewaltigen Tuch zusammennähen mussten, so groß, dass man damit den ganzen Thermenkomplex überdachen könnte. Vielleicht steckt das hinter den ganzen Aktivitäten. Der Direktor war allerdings verärgert über die schlampige Ausführung der Arbeit – was denkt er denn? Alles soll husch-husch gehen, aber die Qualität muss natürlich stimmen?«

Tom stöhnte. Was heckte Wimille da nur aus? So typisch für die Swift-Brüder, sich um die Menschen nicht zu sorgen.

»Am liebsten wollte er alles wieder zerschneiden lassen, aber dann änderte er seine Meinung und ließ weiterarbeiten«, fuhr Li Su fort. »Zeit sei der entscheidende Faktor, und davon hätten sie keine mehr. Weiter, weiter, weiter!, hätte er immer wieder gerufen und schließlich eingelenkt, es müsse eben so gehen. Während auf sein Geheiß hin die Sklaven wieder in den Kerker geschickt wurden, konnte Talira noch beobachten, wie die Schrate mithilfe einer Regenmaschine eine stinkende Flüssigkeit auf das riesige Leinentuch versprühten. Oh, und dann ist ihr noch etwas Merkwürdiges aufgefallen: Der gesamte Boden der Therme wurde mit einem gigantischen Fischernetz ausgelegt.« Erwartungsvoll schaute sie ihn an.

Tom konnte sich auf die ganze Sache leider auch keinen Reim machen. Er fragte sich, was Wimille mit all diesen Maßnahmen wohl bezwecken wollte. Fest stand für ihn lediglich, dass der Thermenkomplex das Ziel des Ausbruchs sein würde.

Am sechsten Tag breitete sich eine sonderbare und bedrückende Stille in den unterirdischen Kammern aus. Tom gefiel das gar nicht, Brokaris noch viel weniger.

»Dein ›Agent‹ ist ein Verräter«, zischte sie. »Oder ihr seid beide vollkommen verrückt. Wahrscheinlich haben die Arbeiten der letzten Tage rein gar nichts mit dem Ausbruch zu tun.«

Eine bockige Hexe, na wunderbar! »Doch. Darum ist es absolut wichtig, dass wir vorbereitet sind«, beharrte Tom auf seinem Standpunkt.

Doch die gespenstische Ruhe im Kerker hielt auch am nächsten Tag an. Erst am Abend, als die Wächter der Horde kamen, Trinkschläuche und trockenes Brot unter die Gefangenen schleuderten, gab es einen neuen Hinweis.

»Morgen werden die Reiche Elderwelts Augen machen. Die Schwarze Horde wird sie alle überrennen, sogar Talassair und Caralantion«, prahlte der Fettsack, als er Tom entdeckte.

Der schratische Wachkommandant spuckte in Richtung der Gefangenen. »Ja, genau«, krakeelte er. »Viel Spaß beim Staunen, ihr Dreckspack!«

Tom lächelte innerlich. Morgen also. Erfüllt von neuer Zuversicht ging er zu Li Su, die sich wieder um die Kranken kümmerte.

Sie sah auf, als sie ihn kommen hörte. »Die Lage hat sich sehr gebessert. Es sind nur noch halb so viele Kranke. Da die Hälfte der Gefangenen einige Tage gut versorgt wurde, bekamen die Übrigen mehr von den Rationen ab. Die Schrate haben vergessen, sie zu reduzieren«, erklärte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

Tom erwiderte es freundlich. Es tat gut zu sehen, wie selbst diese geringen Fortschritte der Heilerin neue Hoffnung gaben und sie strahlen ließen.

»Morgen ist es so weit«, versprach er ihr.

Die Nachricht wischte Li Sus Fröhlichkeit fort. »Wir müssen die Leute beschützen, Tom«, mahnte sie.

»Das werden wir«, versicherte er ihr.

Mit einem bedrückten Lächeln nahm Li Su es zur Kenntnis. Er wartete noch einen Moment, aber als sie nichts sagte, ging er weiter und suchte Brokaris. Er fand die Hexe in der untersten Kammer, wo sie vor dem Ofen auf dem Boden saß und zu meditieren schien. Auch sie ließ er die Neuigkeiten wissen.

Brokaris drehte sich nicht zu ihm um, als sie sagte: »Du hast mir deine Gedanken versprochen, deine Erinnerungen an die Ermordung von Eternis, meiner Königin.«

Tom schluckte. »Und du wirst sie erhalten.«

»Gut«, meinte Brokaris kalt. »Danach werde ich dich töten.«

Tom sparte es sich, etwas darauf zu erwidern. Er nahm sich allerdings vor, sich dagegen zu wappnen.


Ein furchtbarer Knall weckte alle im Kerker. Schlagartig saß Tom aufrecht, spürte wie der Boden und die Wände erzitterten. Eine Explosion wie Kanonendonner. Ganz in der Nähe war etwas in die Luft geflogen. Seine Mitgefangenen wirkten ratlos und verängstigt. Was mochte das jetzt zu bedeuten haben?

Außerhalb des Kerkergitters wurde ein Tumult laut. Männer schrien wütende Befehle, gleich vier schwer bewaffnete Wächter der Schwarzen Horde tauchten vor dem Gitter auf, Lanzen und Speere in den Händen. Sie stocherten durch die Eisenstäbe und drohten damit, jeden umzubringen, der zu nahe käme.

»Was ist passiert? Warum sind die Wachen in Panik?«, fragte Brokaris und wirkte so ratlos, wie Tom sich fühlte.

Li Su wusste ein paar Antworten. »So reagieren die immer, wenn die Horde angegriffen wird. In ihrem Wahn nehmen sie an, wir hier unten würden mit den Angreifern gemeinsame Sache machen. Vermutlich hängt es mit dieser Explosion zusammen«, sagte die Heilerin so gelassen, als wäre das nichts weiter als gewöhnlicher Alltag.

»Was passiert jetzt?«, fragte Tom neugierig. Er hatte da so eine Ahnung, was oder wer für die Explosion verantwortlich sein könnte – und er wusste auch genau, was da eben in die Luft geflogen war.

»Der Kommandant wird nun alle seine Truppen zusammenrufen und zum Ort des Geschehens eilen«, sagte Li Su.

»Das heißt, der Palast wird ziemlich leer sein abgesehen von der Wachmannschaft?«, hakte Tom nach. Er spürte Aufregung in sich hochsteigen wie Blubberblasen.

Li Su bestätigte das. Ja! Das war es.

Ohne ein weiteres Wort warf er sich herum und eilte hinunter in das tiefste Gewölbe des Kerkers. Brokaris und Li Su hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

»Was soll das werden, Tom Packard? Willst du dich feige verkriechen?«, fauchte die Hexe.

»Nein, das ist das Zeichen! Wir brechen aus. Li Su, Brokaris, schafft alle Gefangenen hinauf in die Hauptkammer. Wir müssen so schnell wie möglich alle nach oben schaffen«, rief er den beiden Frauen zu.

Li Su schien zu verstehen, nahm Brokaris an der Schulter und bog mit ihr in das zweite Gewölbe ab. Tom stürmte die Rampe hinunter ins dritte Geschoss. Als sie ihn so entschlossen heranrennen sahen, seinen finsteren Gesichtsausdruck, da schienen die einzigen Anwesenden – der gefesselte Morga und die beiden mordbrennenden Heizer – genau zu wissen, was ihnen bevorstand.

»Ein Aufstand, ein Aufstand!«, brüllte einer beiden Vermummten. Mit seiner Schaufel ging er auf Tom los.

Der ließ sich fallen, grätschte dem Mistkerl zwischen die Beine und holte ihn von den Füßen. Zack, zack, zack. Drei heftige Schläge ins Gesicht, und der Heizer blieb regungslos liegen. Sein Kamerad kam angestürmt, schwang seine Schaufel zum Hieb.

»Professor!«, rief Tom und streckte die Hand aus. Sofort materialisierte sich das Zauberschwert in seiner Hand. Die in die lange, schmale Klinge eingearbeiteten Juwelen leuchteten blau. Wie von allein parierte es den Schaufelangriff, hieb das Mordwerkzeug des Heizers entzwei. Tom sprang auf, stach zu und durchbohrte die Brust des dick gepanzerten Mannes. Der Heizer keuchte, dann brach er zusammen. Morga lachte nur brüllend. Tom sprang zu ihm hinüber. Mit einem einzigen Schlag des Daring-Schwerts zersprangen die Ketten, die den riesigen Schrat an die Wand fesselten. Morga sackte zunächst zusammen, dann spannte er alle Muskeln an.

Tom richtete die Waffe auf ihn. »Hilf uns oder stirb«, fuhr er den Schrat an.

Morga bleckte die Zähne, und ein tiefes Grollen verließ seine Brust. Tom brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ein Lachen war.

»Jetzt wird gemordet!«, verkündete Morga.

Bevor Tom zweimal blinzeln konnte, war der Schrat auf den Beinen, stürmte an ihm vorbei, hinauf in die Hauptkammer. Tom pustete erleichtert aus. Einen Moment lang hatte er geglaubt, der irre Morga würde sich auf ihn stürzen. Schnell folgte er ihm. Es war besser, diesen Schrat nicht zu lange aus den Augen zu lassen.

Dicht hinter Morga boxte und rempelte er sich durch die Menge der Mitgefangenen, die aus der zweiten Kammer nach oben drängten.

»Macht Platz, macht Platz«, schrie Tom und hob sein leuchtendes Schwert. Die Menschen wichen keuchend und schreiend zur Seite, wohl aber mehr wegen des riesenhaften Muskelberges mit seinem wilden Monstergesicht als wegen Toms Warnung. Schon waren sie oben und näherten sich dem Gitter.

»Zurück, zurück, zurück!«, brüllten die schwarz uniformierten Wächter am Tor, zielten mit ihren Lanzen nach Tom und Morga. »Wir stechen euch ab wie Schweine, wenn ihr zu nahe kommt!«

»Na, das wollen wir mal sehen«, entgegnete Tom und richtete das Simanui-Schwert auf das Gitter.

Eine Druckwelle löste sich aus der Klinge, sprengte das Eisen aus seiner Verankerung und schleuderte es mit mörderischer Wucht zu Boden, zusammen mit den vier Wachen. Morga lachte begeistert, dann stürmte er vor.

Über die Treppe kamen weitere Wächter der Schwarzen Horde heruntergeeilt. Mit einem Schlag, mächtiger, als Tom je zuvor gesehen hatte, schmetterte Morga den ersten Wächter gegen die Felswand. Regungslos blieb der Kerl liegen. Der zweite Wächter hatte nicht viel mehr Glück. Er hob noch sein Schwert zum Schlag, aber schon war Morga über ihm. Mit einer einzigen, blitzartigen Bewegung hatte er dem Mann das Genick gebrochen, entwand ihm das Schwert und rammte es durch die Brust des dritten Wächters. Ein schauriges, brüllendes Lachen entfuhr dem wahnsinnig gewordenen Schrat, als er sich vorwärts kämpfte. Noch immer den Toten in seinen Pranken stürmte er die Treppe hinauf, schleuderte die Leiche auf einen vierten Wächter und sprang zugleich einen fünften, diesmal einen Schratgenossen, an. Tom konnte den Schrecken in dessen Augen erkennen, als Morga über ihn kam. Er packte den Kopf des Schrats und zerschlug ihn wie ein rohes Ei an der Felswand.

Hinter Morga kämpfte sich der vierte Wächter fluchend auf die Füße, wandte sich herum und griff an. Ein Fehler, ein ganz großer Fehler. Blitzschnell wirbelte der riesige Schrat herum, packte den Wächter, stemmte ihn brüllend in die Luft und schmetterte ihn zu Boden. Dann nahm er dessen Schwert und trieb es ihm bis zum Heft durch die Brust, nagelte ihn am Boden regelrecht fest.

»Jetzt seid ihr die Schweine«, grunzte Morga. Er richtete sich auf und klatschte in seine blutigen Hände. »Der Weg ist frei.«

Tom gab Li Su das Zeichen, alle Gefangenen hinauf in die Haupthalle zu führen. Er selbst lief vorweg, gefolgt von Brokaris. Beide versuchten sie, Morga einzuholen, der bereits nach oben stürmte. Zu dritt erreichten sie in die Haupthalle.

»Wen töten wir als Nächstes? Gashkazz? Fraud?«, wollte Morga aufgekratzt wissen.

»Zuerst verriegeln wir alle Türen, die nach draußen führen. Die Schwarze Horde darf nicht mehr so schnell hier hereinkommen«, entschied Tom. »Ich übernehme den zweiten Stock, Morga den ersten. Brokaris, kümmere du dich um das Erdgeschoss.«

Sie eilten los, jeder in eine andere Richtung. Tom wusste, dass die Zeit drängte. Es würde sicher nicht lange dauern, bis die Wachen im Palast Alarm schlugen und das Gros der Schwarzen Horde hierher eilte. Sie mussten diese Mistkerle so lange wie möglich aussperren.

Ein lauter Knall riss ihn aus den Überlegungen. Er sah im Erdgeschoss einen Wächter gegen die Mauer prallen, so heftig, dass Putz und Fliesen unter ihm zerbrachen. Brokaris hatte ihn mit einer magischen Druckwelle aus dem Weg geräumt. Doch nun rückten zwei gepanzerte Krieger der Horde vor, geduckt hinter großen, rechteckigen Schilden, wie sie auch im Imperium Maresium benutzt wurden. Es half ihnen nicht viel. Brokaris stieß einen schrillen Schlachtruf aus, und eine zweite Druckwelle riss den Männern die Schilde weg. Die Hexe nahm Anlauf, sprang in schier unglaublichem Bogen durch die Luft, dem ersten Krieger mit gestreckten Beinen gegen die Brust und rammte ihn in den Boden. Im nächsten Augenblick schoss ein Feuerball aus ihrer Rechten, traf den zweiten Krieger und setzte ihn in Brand. Heulend und wild um sich schlagend rannte der lichterloh brennende Kerl durch die Halle, verfolgt von Brokaris’ irrem Gelächter. Schließlich brach er zusammen und blieb liegen. Plötzlich sauste ein Pfeil durch die Luft, durchbohrte ihre rechte Schulter und warf die Hexe zu Boden. Tom blickte auf und entdeckte im dritten Stockwerk einen Bogenschützen der Horde. Eben spannte der Kerl einen weiteren Pfeil ein. Es war der Fettsack, der Brokaris vor Tagen in den Ofen gesperrt hatte.

Mit einem Fauchen war die junge Hexe wieder auf den Beinen, sprang aufs Geländer der Treppe, kletterte wie eine Spinne an der Mauer nach oben, von einer Seite zur anderen hüpfend. Selbst ein Parcours-Läufer könnte von ihrer Schnelligkeit und Geschicklichkeit nur träumen. Des Fettsacks zweiter Schuss verfehlte sie. Zitternd versuchte er, den nächsten Pfeil einzulegen, doch nur einen Lidschlag später stürzte sich Brokaris auf ihn. Viel sehen konnte Tom nicht, außer dass sie plötzlich einen eisernen Knüppel in der Hand hielt. Mit wildem, entfesseltem Geplärre hämmerte sie mit der Waffe auf den Fettsack ein. Zunächst schrie er noch in heller Panik, dann war er still. Brokaris aber schlug immer weiter zu, wollte in ihrem Zorn und ihrer grausamen Rachsucht gar nicht mehr aufhören.

Tom musste das beenden. »Brokaris!«, rief er. »Die Türen, verriegle die Türen!«

Schwer schnaufend ließ die Hexe von ihrem Opfer ab, sprang über das Geländer und sauste wie ein Geschoss nach unten. Geschickt und sanft wie eine Katze landete sie in der Halle, sprang zum Haupttor, drehte die Schlüssel um und legte den Riegel vor. »Erledigt«, knurrte sie, dann eilte sie weiter zu den Nebentüren.

Innerhalb von Minuten hatten sie alle Zugänge zu den drei Stockwerken verschlossen und verriegelt. Von keinem der Nebengebäude würde irgendjemand hereinkommen können. Sie trafen sich wieder in der großen Haupthalle, in der die Gefangenen hin und her liefen. Einige versuchten, die Türen zu öffnen und nach draußen zu entkommen.

»Hey! Da geht’s lang, ihr nutzlosen Maden!«, brüllte Morga und deutete in Richtung der Therme.

Niemand wagte ihm zu widersprechen. Brav wie Lämmchen strömten sie in die angewiesene Richtung. Tom eilte voran, öffnete die Tür zum Verbindungskorridor, wo ihm ein Wächter der Schwarzen Horde in den Weg trat.

»Das ist Sperrgebiet«, schimpfte der Mann und zog am Griff seiner Waffe.

Ein schneller Streich mit dem Daring-Schwert brachte ihn zum Verstummen. Die vorbeiströmenden Gefangenen trampelten teils über seinen Leichnam hinweg.

Tom eilte weiter, öffnete die nächste Tür und betrat zum ersten Mal die riesige Thermenanlage des Palastes. Fürst Aracha hatte sich ganz eindeutig die gewaltigen, prunkvollen Thermen des Imperiums Maresium zum Vorbild genommen. Der Boden war mit Marmor gekachelt, ebenso das große Schwimmbecken. Reich verzierte Säulen ragten in die Höhe, unterteilen Saunaräume und Schwitzbäder in separate Bereiche. Einzig das vermutlich einst prächtige, mit Fresken geschmückte Dach fehlte, doch das war nicht Arachas Versäumnis. Man hatte es vollständig entfernt, sodass Tom einen freien Blick auf den Himmel Elderwelts werfen konnte, von dem die Sonne heiß herunterbrannte.

Das Schwimmbecken der Halle war statt mit Wasser mit Stoff gefüllt, einem Haufen aus zusammengenähten Leinentüchern, über den man ein Fischernetz riesigen Ausmaßes gebreitet hatte. Das Ganze war so gewaltig, des es über die Ränder des Bassins quoll und sie wie ein Berg erhob. Tom entdeckte eine Öffnung darin, wie ein Stollen in einem Bergwerk, nur dass dieser statt von Balken mit Eisenstangen abgestützt wurde und so eine Art Tunnel in die Leinenfalten eröffnete, in den eine breite hölzerne Planke führte. Es roch penetrant nach frischem Gummi. Tom hielt sich die Nase zu. »Wie in ein einer Reifenfabrik, ist ja scheußlich«, meinte er.

Aus dem Tunnel unter dem Stoffhaufen kam ein Schrat der Schwarzen Horde gelaufen. Als er Tom und die ganzen Gefangenen erblickte, schnaubte er wütend und stürmte los. Aber weit kam er nicht. Wimille Swift trat hinter ihm aus dem Leinenberg, in der Hand ein kurzes Rohr, das zwei dünne Drähte abfeuerte, die den Schrat im Genick trafen. Auf einen Knopfdruck Wimilles hin begann sich der Schrat unkontrolliert zu schütteln und auszuschlagen. Einen Moment später schaltete Wimille seinen Apparat ab, und der Unhold brach regungslos zusammen. Zufrieden steckte Veyrons Bruder die selbst gebaute Elektroschockpistole weg und breitete in feierlicher Geste die Arme aus. »Willkommen, Ladys und Gentlemen. Immer hereinspaziert, Ihre Fluchtmöglichkeit wartet, frisch lackiert und gestrichen und bereit für den Einsatz«, verkündete er.

Die Gefangenen standen zu einem ängstlichen Haufen zusammengedrängt, taten keinen Schritt.

Die Näherin Talira streckte anklagend den Finger in Wimilles Richtung. »Das ist er! Das ist der Direktor!«

Da stürmte Morga vor, bereit, Wimille das Genick zu brechen.

Schnell sprang Tom ihm in den Weg, das Daring-Schwert hoch erhoben. »Halt, halt, halt!«, rief er so laut er konnte. »Das ist Wimille Swift, mein Agent. Er genießt mein volles Vertrauen. Er ist hier, um uns hier rauszuschaffen. Bitte tut genau das, was er sagt.«

Wimille hielt sich nicht weiter mit Floskeln auf, sondern verschwand wieder unter dem gigantischen Leinenberg. Tom fragte sich, was Veyrons Bruder wohl darunter versteckt hatte. Widerwillig und zögerlich folgten die ersten Gefangenen ihm, dann immer mehr und immer schneller. Die Furcht vor der Rache der Schwarzen Horde überwog das Misstrauen gegenüber dem schlaksigen Fremden. Den Abschluss bildeten Li Su, Brokaris und Morga. Li Su musterte den Pfeil in Brokaris Schulter mit besorgtem Blick, während die Hexe ihn offenbar nicht einmal sonderlich spürte. Tom betrat als Letzter die massive Planke, die dennoch unter seinen Füßen wippte, weil vor ihm so viele andere liefen. Es waren aber nur wenige Schritte in dem stickigen, dunklen Tunnel. Tom bekam schnell Probleme zu atmen, aber er ging weiter. Wimille würde schon wissen, was er tat. Der Weg führte nach unten. Schließlich machte er einen Lichtschein aus und betrat staunend eine Art Raum. Eine Konstruktion aus Eisenstangen bildete eine Art Gitter über dem Becken, sodass eine geräumige Höhle unter den Leintüchern entstanden war, in der sich nun die Flüchtigen drängten. Wenige Fackeln erhellten die Finsternis. Am Grund des Schwimmbeckens stand eine alte, hölzerne Segeljacht, eine Dau, an die zwanzig Meter lang und vier Meter breit. Bestimmt war es die Jacht des Fürsten, für Vergnügungsfahrten auf der Oase gedacht. Über mehrere Strickleitern konnte man an Bord steigen.

»Also, das ist ja ein wohl ein Witz!«, rief Brokaris, als sie Wimilles ›Wunderwaffe‹ erblickte.

Tom hegte ganz ähnliche Gedanken, sprach sie aber nicht aus. Er entdeckte, dass man die beiden Masten entfernt und ein Zwischendeck eingezogen hatte. Rund um das Schiff lagerten vier der riesigen Wasserstofftanks aus dem Kraftwerkskomplex. Tom erkannte sie sofort wieder. Die Etiketten ›UNBRAUCHBAR! ZURÜCK AN ABSENDER‹, klebten immer noch auf ihnen.

»Was soll das werden, Tom? Ist das irgendein weiterer Zaubertrick?«, fragte Li Su. In ihrer Stimme schwang ein deutlicher Vorwurf mit.

Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Brokaris riss sich mit einem wütenden Zischen den Pfeil aus der Schulter und richtete seine Spitze auf Tom. »Ich werde dich damit abstechen, du kranker Irrer! Dafür hab ich mein Leben nicht riskiert!«

»Darf ich alle bitten, einzusteigen? Das Zeitfenster ist sehr knapp bemessen!«, rief Wimille, während er von einem Gastank zum anderen hastete.

Mit einer großen Schraubzwinge drehte er die Ventile auf. Durch große Schläuche rauschte deutlich hörbar das Gas, aber Tom konnte nicht erkennen, wohin. Die Schläuche verschwanden irgendwo auf der anderen Seite der Dau. Er hatte keine Ahnung von Wimilles Plänen, aber er wusste, dass Wasserstoff sehr leicht entzündlich war, und bangte wegen der Fackeln. »Wartet es ab«, bat er die beiden Frauen. »Li Su, bring du die Leute an Bord. Bitte vertraut mir. Morga und Brokaris, ihr kommt mit mir. Ich muss wissen, was die Horde als Nächstes tun wird.« Das konnte er nur außerhalb von Wimilles verrücktem Stoffhaufen herausfinden.

Li Su nickte schweigend, aber ihr Blick blieb anklagend. Sie musste sich auf den Arm genommen fühlen und zutiefst von Tom enttäuscht sein. Vermutlich glaubte sie allen Ernstes, dass er sie hintergangen und ihre Schützlinge ins Verderben geführt hatte.


Zusammen mit Brokaris und Morga marschierte er zurück durch den Tunnel, bis sie wieder in der Halle raus kamen. Tom war erstaunt, welchen Ausmaßes der Haufen aus Leinen war. Sie brauchten eine Weile, bis sie ihn passiert hatten und eine der Leitern erreichten, die an der Rückwand der Therme lehnten. Tom erklomm sie als Erster, die anderen folgten, bis sie oben auf dem Dach des Gebäudes ankamen oder besser dem, was davon noch übrig war. Durch das Entfernen der Dachsparren waren im Mauerwerk unbeabsichtigt regelrechte Zinnen entstanden, hinter denen Tom, Brokaris und Morga jetzt Deckung fanden. Von hier oben ließ sich ganz Seramak beobachten, und auch der Ausblick auf das Kraftwerk im Norden der Stadt war hervorragend. Ein Flammenmeer loderte rund um den abscheulichen Betonklotz auf, schwarze Rauchwolken stiegen dicht an dicht zum Himmelszelt empor.

Morga rieb sich begeistert die Hände. »Bravo! Genau so hab ich mir das vorgestellt. Kommt, lasst uns alles niederbrennen, was der Schwarzen Horde gehört!«, jubelte er.

Jetzt verstand Tom den Grund für die heftige Explosion. Wimille musste einen der gewaltigen Benzintanks gesprengt haben, um die Horde abzulenken. Sie hatten bestimmt einen Angriff auf das Kraftwerk vermutet, das Zentrum ihrer Macht und die Verbindung zur Zaltianna Trading Company. Toms Blick schwenkte hinüber zum riesigen Rundbau des Palastes. Er musste an Ernie Fraud denken – und an Vanessa. Ob sie sich wohl in einem der Türme Turm befand? Er konnte sie nicht hier zurücklassen, in den Händen des verrückten Mordkommandanten! »Ich muss was in Erfahrung bringen. Bleibt ihr hier oben«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

Brokaris packte ihn am Arm und deutete in Richtung Kraftwerk. »Die Horde kommt zurück. Was sollen wir tun?«

Tom schaute hinunter auf die Straße, die Kraftwerk und Stadt verband. In einer perfekten Marschkolonne stampften die schwarz gekleideten Menschen und Schrate heran. Verdammt! Ihm blieb keine Zeit! »Beobachtet sie weiter, ich bin gleich wieder bei euch«, ließ er Brokaris wissen und hastete wieder nach unten, kämpfte sich durch das Gewühl aus Leinenfalten und erreichte die Dau.

»Wimille!«, rief er.

Der stand auf dem Dach der Kajüte und überprüfte einige in Blechdosen steckende Anzeigentafeln. Verstört schaute er auf. »Was ist denn?«

»Wo ist Vanessa? Wissen Sie, was mit Vanessa geschehen ist?«, fragte Tom aufgeregt. Sie durften keinesfalls ohne sie abhauen.

»Wahrscheinlich in den Obergeschossen des Palastes. Dort hat Mr. Fraud seinen Sitz genommen. Alle Indizien sprechen dafür, dass er sie dort als Gefangene hält«, erklärte Wimille so trocken, als halte er einen langweiligen Vortrag.

Sofort war Tom wieder auf der Planke, hastete durch Tunnel und Halle. Sobald er das Dach wieder erklommen hatte, sah er Brokaris einen Feuerball hinunter auf die Straße feuern, mitten hinein in die Marschkolonne der Schwarzen Horde. Männer wurden von der Explosion durch die Luft gewirbelt, ein paar davon blieben liegen.

Sie kicherte boshaft. »Das wird Gashkazz nicht gefallen. Seht nur, wie er sich aufregt, dieser elende Scheißer«, giftete sie.

Unten auf der Straße rannte ein krummbeiniger Schrat hin und her, brüllte wütende Kommandos. Sein hasserfüllter Blick ging hinauf zum Dach.

Morga verkrampfte sich, seine Finger gruben sich in den Stein der Zinnen. »Gashkazz! Gashkazz! Ich komm und hol dich!«, brüllte er.

Der Schrat entdeckte Morga und verengte die Augen im Zorn. Dann umspielte ein boshaftes Grinsen seine hässlichen Lippen, und er eilte davon. Morga wirbelte herum und sprang die Leiter hinunter. Tom fluchte und eilte ihm hinterher.

Brokaris lachte nur, ehe sie ihnen folgte. »Diese Schrate sind irre. Lass ihn doch, dann haben wir mehr Zeit zum Abhauen«, meinte sie.

Tom schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage. Dass wir so weit gekommen sind, verdanken wir auch ihm. Darum kommt er mit uns mit. Basta.«

In der Haupthalle holten sie den Großen endlich ein, und Tom fasste Morga an der Schulter. Brüllend wirbelte dieser herum, die pure Mordlust in seinem monströsen Gesicht.

Gerade noch rechtzeitig brachte Tom das Daring-Schwert zwischen sich und den tobenden Schrat. »Sie werden dich im Nu töten, Morga. Wir sind hier fertig und hauen jetzt ab. Auf geht’s!«, herrschte Tom ihn an.

Morga brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. »Hast recht«, entschied er. »Wir können sie ja später noch abmurksen.«

Von draußen trommelte es gegen das Haupttor, kurz darauf auch gegen einige der Türen.

»Was tun die als Nächstes?«, fragte Tom Morga. Als ehemaliger Hauptmann der Schwarzen Horde wusste er sicher am besten Bescheid.

»Sie holen einen Rammbock. So haben wir diesen Palast letzten Winter auch eingenommen. Drei Schläge, dann ist das Tor hinüber«, knurrte Morga.

»Dann nichts wie weg«, sagte Brokaris, drehte sich um und stolzierte davon, zurück in Richtung Therme. Morga folgte ihr.

Tom war unschlüssig. Musste er nicht wenigstens versuchen, Vanessa zu finden? Hinter ihm knallte es, und er blickte hastig über die Schulter, sah eine Staubwolke vom Tor aufsteigen. Gashkazz und seine Männer hatten sich den Rammbock bereits besorgt. Tom nahm die Beine in die Hand und schloss zu Morga und der Hexe auf. Sie erreichten den Zugang zur Therme und verriegelten die Tür. Von draußen klang der zweite schaurige Knall. Sie mussten raus aus dem Palast. Vielleicht konnte er sich durch einen Hinterausgang irgendwie zu Vanessa schleichen.

»Wie lange, bis sie durchgebrochen sind?«, wollte Tom wissen.

Morga zuckte mit den Schultern. »Sekunden. Gashkazz wird seine Männer teilen. Ein paar nach oben in die Privatgemächer, mehr hinunter in den Kerker, doch die meisten hierher«, erklärte er.

Sie verriegelten auch die zweite Tür. Ein lautes Krachen und Scheppern erklang, gefolgt vom Gebrüll der Schwarzen Horde. Die Mistkerle waren in die Haupthalle durchgebrochen. Die Zeit lief ihnen davon. Tom befiel Panik.

Verzweifelt wirbelte er herum, um wieder zurück zum Schwimmbecken zu flüchten – und erstarrte im gleichen Augenblick. Mitten in der Therme parkte nun ein Luftschiff! Wimille hatte den gewaltigen Leinenberg zu einem annähernd kapselförmigen Flugkörper aufgepumpt, krumm und schief mit zahlreichen Beulen, eingefangen von einem Fischernetz, das mit Stahlseilen an acht Stellen am Boot verankert war. An den Seiten des Rumpfes waren zwei Propeller befestigt, die offenbar aus den Motoren und Schaufeln einer Ventilatoranlage stammten. Langsam begann sich das Luftschiff aus dem leeren Schwimmbecken zu heben, mit Wimille Swift als Kapitän an Steuerrad und Hebeln.

»Hurtig, hurtig«, rief er. »In ein paar Sekunden sind wir in der Luft!«

Tom und Morga sahen sich kurz an, dann rannten sie mit Brokaris los, erwischten einer nach dem anderen die kleine Leiter und hangelten sich nach oben. Li Su nahm sie in Empfang und halfen ihnen an Bord. Das Deck war wie ausgestorben; die Gefangenen waren wohl ins Unterdeck geflüchtet.

Einen Atemzug später brach die Tür der Therme aus den Angeln, und Krieger der Schwarzen Horde stürmten herein. Bei dem Anblick, der sich ihnen bot, blieben einige vor Staunen stehen und starrten nach oben, andere rannten in sie hinein, bis alle durcheinander purzelten. Das unförmige Luftschiff hob sich indessen lautlos aus dem Thermenbau, glitt durch das offene Dach hinaus in die Freiheit.

»Ich bedaure sehr, dass sie so hässlich geworden ist«, rief Wimille Tom zu. »Aber die Zeit war knapp und die Angst der Schneider und Näher greifbar. Einige der verlangten Tücher fielen zu groß aus, andere zu klein. Aber aus Ermangelung an Zeit musste ich mich mit dem zufriedengeben, was die Leute schafften. Immerhin fliegt sie, und die Steuerflossen sollten genügen, um sie auch sicher navigieren zu können«, fuhr er fort.

Tom lachte auf, noch immer fassungslos vor Staunen.

Neben ihm starrte Brokaris auf den bestimmt einhundert Meter langen und zwanzig Meter dicken Auftriebkörper. »Bei den schwarzen Knochen des Dunklen Meisters … Was ist das?«, keuchte sie.

»Ein Luftschiff, Verehrteste. Zwar ein sehr primitives und einfach gebautes Exemplar, aber für den Zweck unserer Flucht ausreichend«, antwortete Wimille, dann grinste er. »Willkommen an Bord der Allianz der Verlorenen

Da fiel Tom noch etwas ein. »Schnell, steuern Sie das Schiff an den Rundbau heran. Wir sind noch nicht komplett. Ich muss Vanessa holen«, rief er.

Wimille nickte nur knapp, kurbelte am Steuerrad und zog an den Gashebeln. Wenigstens erhebt er keine Einwände, dachte Tom. Die beiden Propeller begannen sich schnell zu drehen und ließen das Luftschiff seitwärts schwenken. Das Boot, das als Reisegondel diente, drängte nahe an das Mauerwerk des Rundbaus heran. Tom kletterte über die Reling und suchte sich einen passenden Ort, um hinüberzugelangen. Da, ein Balkon, zwei Meter unter ihm. Das Luftschiff schaukelte, beinahe drohte er zu fallen. Er holte tief Luft und sprang.

Bei der Landung stolperte Tom und stürzte durch die Tür ins Innere des Palastes. Lärm brandete ihm entgegen. Durch das nahe Treppenhaus sah er fünf Kämpfer der Schwarzen Horde heraufstürmen, schnaufend und brüllend: »Wo ist das Flittchen? Wo ist das Flittchen?« Schon bogen sie in den Korridor.

Tom sprang auf, hob das Daring-Schwert und richtete es auf seine Feinde. Blitze schossen aus der Klinge, trafen die ersten beiden Kämpfer und fegten sie zu Boden. Die nächsten beiden trampelten einfach über die Körper ihrer gefallenen Kameraden hinweg, schwangen ihre Äxte und Schwerter. Tom hielt ihnen sein Schwert entgegen, aus dessen Klinge neue Blitze hervorbrachen, die sich einem der Kämpfer durch die Brust brannten. Dem anderen wich Tom einfach aus, parierte seinen Schlag. Funken flogen, als sich die Klingen kreuzten. Die des Schrats zerbrach wie Porzellan. Ungläubig starrte er auf den Stumpf seiner Waffe, während Tom ihm auch schon den Griff seines Schwerts gegen den Kopf hieb. Bewusstlos sackte der Hordling zusammen. Der fünfte und letzte der Krieger stürmte brüllend auf ihn zu, doch ein Blitz aus der Spitze des Daring-Schwerts brachte ihn zu Fall. Ein qualmendes Loch erschien auf seiner Stirn, und er kippte um wie ein gefällter Baum.

Tom atmete tief durch. Kein guter Tag für die Anhänger des Schwarzen Manifests. Aber er war nicht hier, um Schrate und anderes Gesocks zu töten.

»Tom!«, erklang eine gedämpfte Stimme aus einem der angrenzenden Räume. Vanessa! Sie hörte sich verängstigt an.

Tom eilte los. Wo war sie? »Vanessa? Vanessa!«

»Hier«, zischte ihn eine Stimme von der Seite an.

Tom wirbelte herum, aber diesmal war er zu langsam. Gashkazz, in einem der Räume verborgen gewesen, schlug ihm das Daring-Schwert aus der Hand, packte ihn am Arm und schmetterte ihn hart gegen die Wand. Tom blieb die Luft weg, seine Beine knickten ein, er stürzte.

Mordlüstern hob Gashkazz seine eigene Waffe zum Stich. »Hab ich doch gleich gewusst, dass du wegen diesem Prinzesschen noch mal herkommst! Ihr steckt alle unter einer Decke!«, triumphierte der Schrat. Doch schon im nächsten Augenblick schnappte er heiser nach Luft und brach in die Knie. Mit einem erstaunten Keuchen brach er zusammen.

Tom blinzelte verdutzt. In der Seite des Schrats steckte ein Dolch – wo war der hergekommen? Gleich darauf hörte er, wie sein Name gerufen wurde – aus dem Zimmer gegenüber.

»Oh, Tom!«, rief Vanessa. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie zu Tom in den Gang trat. »Er hat gedroht, mir die Kehle durchzuschneiden, wenn ich dich nicht rufe«, jammerte sie.

Als Tom sich auf die Füße gekämpft hatte, fiel Vanessa ihm um den Hals. Er drückte sie fest an sich. »Gott sei Dank, Gott sei Dank! Oh, Vanny, was bin ich froh. Ich dachte wirklich, die Mistkerle hätten dich …«

Weiter kam er nicht. Sie verschloss seine Lippen mit einem Kuss und umarmte ihn nur noch fester. Tom horchte verwirrt in sich hinein, aber er fühlte nicht mehr dieses Kribbeln wie früher, wenn sie ihn geküsst hatte. Lag es an ihrer brenzligen Lage, oder war er wirklich über sie hinweg?

Nach einer langen Weile löste sie sich von ihm und plapperte drauflos. »Oh mein Gott, Tom. Es war alles so furchtbar. Ich hatte solche Angst, aber jetzt bist du da. Und du lebst. Oh mein Gott, du bist wirklich noch am Leben!« Tränen standen in ihren Augen.

Vor Freude, ihn unversehrt zu sehen, oder Erleichterung, dass Rettung da war? Ach egal, dafür war jetzt nicht die Zeit! Verwirrt warf er einen Blick auf den toten Gashkazz. »Moment mal«, sagte er. »Wenn du da drüben warst, wer hat dann diesen Mistkerl niedergemacht?«

»Das war ich«, meldete sich eine fremde Stimme.

Tom wirbelte herum, schob sich erst schützend vor Vanessa, dann hechtete er vor, schnappte sich das Daring-Schwert und riss es hoch. Aus dem Raum, in dem Gashkazz gelauert hatte, trat ein schmächtiger alter Mann. Beim Anblick von Toms Waffe hob er erschrocken die Hände.

»Das ist Dimm! Er ist ein Freund! Tu ihm bitte nichts«, rief Vanessa.

Tom sog scharf die Luft ein – er war drauf und dran gewesen, den Alten zu erschlagen! Was tu ich hier denn nur?, fragte er sich. Durch seinen Körper pumpte das Blut heiß und in heftigem Rhythmus, er fühlte sich wie im Wahn. War er in einem Mordrausch, so wie Morga? Er musste sich zusammenreißen. Schnell steckte er das Schwert in den Gürtel, wo es sich augenblicklich auflöste.

Dimm machte große Augen. »Ihr seid ein Simanui!«, rief er. »Vergebt mir, Meister! Ich bin unwürdig!«

Tom zuckte zusammen. »Was? Ach so, wegen des Schwerts. Nein, das ist eine lange Geschichte. Ich bin kein Simanui«, lachte er, ehe er sich wieder Vanessa zuwandte. Ihr Zittern hatte nachgelassen. »Los kommt. Wir verschwinden. Da draußen wartet unser Taxi«, sagte er, nahm sie bei der Hand und führte sie auf den Balkon. Dimm folgte ihnen zögerlich.


Als Vanessa das Luftschiff entdeckte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Es schwebte neben dem Balkon, sodass der riesige Auftriebkörper über das Kuppeldach des Palastes ragte. Der verrückte Wimille Swift stand am Steuer. Da wurde sie auch schon von zwei monströsen Gestalten an den Armen gepackt und an Bord gezogen. Sie erkannte die irre Hexe mit dem zersplitterten Gesicht und einen riesigen Schrat, ganz ähnlich den Kerlen, die Ernie und der Achte in die Schwarzen Schlächter hatten verwandeln lassen.

»Tom!«, rief sie entsetzt.

Im Nu war er an ihrer Seite und stellte ihr die beiden als Brokaris und Morga vor. Die Hexe grunzte nur abfällig und wandte sich ab, während der Schrat sie, so schien es ihr, zornig anstarrte. Sie mochte ihn jetzt schon nicht. Mit was für Typen ließ sich Tom denn da nur ein? Das war ja schon fast so schlimm wie bei Ernie. Waren denn alle verrückt geworden?

Zuletzt kam Dimm an Bord geklettert.

Morga knurrte und sprang ihn an. »Hat man dich immer noch nicht erschlagen, Opa?«, brüllte er den armen Mann an und packte ihn am Revers.

Vanessa ergriff Morgas Arme. »Lass ihn runter! Er ist mein Freund; er hat mich vor Ernie und den anderen Irren beschützt!«, schrie sie den riesigen Schrat an. Egal, wie groß er war, egal wie stark – sie hatte keine Angst mehr. Mit ihren Fäusten hämmerte sie auf Morga ein.

Freilich beeindruckte den das nicht im Geringsten, doch immerhin vergewisserte er sich bei Tom, was er tun solle. Auf Toms Nicken hin ließ der Schrat den Alten fallen wie einen Sack Kartoffeln, und Vanessa umarmte Dimm sofort schützend.

»Lass ihn bloß in Ruhe!«, herrschte sie Morga an.

Der grunzte nur abfällig und zog von dannen.

»Vanessa, wo ist Ernie«, fragte Tom finster.

Sie erkannte, dass er mit ihrem Ex-Lover noch eine Rechnung begleichen wollte.

»Er hat die Stadt vor vier Tagen verlassen, zusammen mit seiner Todesbrigade. Sie marschieren in Richtung Kishon, das liegt im Norden, jenseits der Wüste Nagmar«, beeilte sich Dimm zu antworten.

Ein gewaltiger Knall ließ sie alle zusammenfahren, ein Donnern und Grummeln wie bei einem Gewitter. Wind kam auf, erfasste das Luftschiff und trieb es vom Palast fort. Wimille kurbelte am Steuerrad und brachte das Luftschiff auf einen neuen Kurs. Im Norden stieg eine gewaltige schwarze Wolke in die Luft, glühende Trümmer regneten vom Himmel.

»Das war das Kraftwerk«, bemerkte Wimille überflüssigerweise. »Während die Arbeiten an der Allianz der Verlorenen so richtig in Fahrt kamen, habe ich die Anlage sabotiert und mithilfe des fünften Wasserstofftanks in eine hochexplosive Bombe verwandelt. Wenn die Schwarze Horde hierher zurückkehrt, werden sie nur noch einen tiefen Krater vorfinden«, erklärte er, als wäre dies das Normalste der Welt, doch dann seufzte er. »Leider bedeutet es auch, dass wir nicht heimkehren können. Die Explosion hat zweifelsohne ebenso den Durchgangs-Apparat der Zaltianna Trading Company zerstört. Selbst wenn nicht – er kann ohne Energiequelle nicht betrieben werden.«

Vanessa stierte Wimille entgeistert an. Sollte das heißen, sie saßen hier in Elderwelt fest? Für immer?

»Es gibt noch andere Durchgänge nach Fernwelt«, rief Dimm. »Man sagt, dass es in Kadingira ein Illauri-Tor gibt.«

Tom schien kurz darüber nachzudenken. Seine Entscheidung fällte er ziemlich rasch. »Mag sein. Das schauen wir uns später an. Jetzt nehmen wir erst einmal Kurs auf Kishon. Wir müssen Ernie aufhalten. Das hat Vorrang.«

»Nein«, widersprach eine resolute Frauenstimme.

Li Su, die chinesische Heilerin, kam aus dem Unterdeck herauf. Vanessa war erleichtert, sie hier zu sehen. Das bedeutete, dass sich Tom nicht nur mit Verrückten und Monstern umgab.

»Wir haben über zweihundert Unschuldige im Bauch dieses Schiffes. Wir müssen sie zuerst in Sicherheit bringen. Nach der Vernichtung ihres Kraftwerks werden die in Seramak verbliebenen Reste der Schwarzen Horde Reißaus nehmen und versuchen, ihren Mordkommandanten einzuholen. Die Horde wird versuchen, die Allianz der Verlorenen zu erobern oder sie zu zerstören, um jeden Preis. Von Seramak aus werden sich die Nachrichten in Windeseile überall in Neoperseuon verbreiten. Dieses Schiff und seine Besatzung sind heute zum Symbol des Widerstandes geworden, ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit für die Kämpfer des Guten, und damit Angriffsziel Nummer eins für alle Anhänger des Dunklen Meisters. Für uns gibt es keine Sicherheit mehr, solange wir uns im Gebiet der Schwarzen Horde aufhalten«, erläuterte sie und presste die Lippen zusammen.

In Vanessas Ohren klang sie wie die Befehlshaberin eines Heeres, nicht wie die sanftmütige Heilerin, als die sie Li Su kannte. Tom schnaubte wütend und ballte die Fäuste. Es war offensichtlich, dass er Ernie jagen und zur Strecke bringen wollte. Jetzt sofort.

»Kadingira ist die Hauptstadt Neoperseuons. Dort liegt das Hauptquartier der Armee des Großkönigs. Wenn wir ihm dieses Wunderschiff zur Verfügung stellen, wird es seinen Truppen einen unvergleichlichen Vorteil gegenüber der Horde verschaffen«, schlug Dimm vor. Er lächelte scheu und spreizte die Hände zum Zeichen, dass er nichts Böses im Schilde führte. »Ihr könnt mir vertrauen. Ich war Zeremonienmeister des Fürsten von Seramak, und Aracha war ein Verwandter von Großkönig Kurasch dem Neunzehnten. Kadingira ist das beste Ziel, das wir im Moment ansteuern können, um diese armen Leute in Sicherheit zu bringen und der Schwarzen Horde zu schaden. Außerdem könnt ihr, die ihr aus Fernwelt gekommen seid, von dort nach Hause gelangen.« Er streckte den Rücken durch und richtete seinen Kaftan.

Vanessa schaute von einem zum anderen. Tom atmete tief durch, gab er nach? Li Su und Dimm flehten ihn mit ihren Blicken förmlich an. Wimille, Brokaris und Morga schienen zu dem Thema keine Meinung zu haben. Vanessa wusste auch nicht so recht, was das Beste war, aber Kadingira hörte sich doch ganz gut an. Sie nickte Tom aufmunternd zu.

»Dann auf nach Kadingira«, seufzte Tom. »Wo liegt das?«

Li Su deutete mit dem Arm dorthin. »Immer nach Süden, hinter der Wüste von Ergian, vorbei am gleichnamigen Gebirge, und dann folgen wir dem Lauf der Zwillingsflüsse nach Osten«, erklärte sie.

Toms Blick folgte ihrer Geste, als läge all das bereits in Sichtweite. »Okay, dann machen wir es so. Ernie kann warten, den finden wir schon wieder. Wir haben immerhin ein Luftschiff! Li Su, zeige Wimille den Kurs«, entschied er.

Die Heilerin verbeugte sich gehorsam und stieg zu Wimille auf die Kajüte. Dimm zog sich ins Unterdeck zurück, wohin ihm Vanessa zögernd folgte. Ohne den alten Mann fühlte sie sich mit Morga und Brokaris unwohl an Deck, und Tom … Der war ihr so fremd in dieser unbekannten Welt.

Der kleine Palastbeamte wurde von etlichen der Gefangenen erfreut begrüßt. »Ihr werdet von Seramak fort und in Sicherheit gebracht«, erklärte er den Leuten.

Erleichterte Seufzer, sogar Schluchzer waren zu hören, Lachen und Weinen. Vanessa wurde warm ums Herz. Sie blickte die Stiege hinauf zu Tom, der eben zum Bugspriet des Luftschiffs trat, mit verschränkten Armen der ungewissen Zukunft entgegenblickend. Jetzt kam er ihr wie ein Anführer vor, genau wie Ernie, aber doch ganz anders. Während der eine lieber Mord und Totschlag beging, versuchte der andere, die Unschuldigen zu retten.

Seltsam, dass ich diesen Zug bei Tom vorher nie wahrgenommen habe, wunderte sie sich. Musste ich dafür wirklich erst durch die Hölle gehen, damit es mir auffällt? Vanny, du bist also doch eine blöde Kuh – genau wie Tom immer gesagt hat.


Die Sonne versank hinter dem Dünenmeer der Wüste von Ergian und kündigte eine schwarze Nacht an, so schwarz wie die Gedanken Ernie Frauds. Ness, ich werde dich umbringen. Eigenhändig! Und es wird mir eine Freude sein.

Er verfluchte das Mädchen, das er noch vor Kurzem über alles geliebt hatte. Was für ein Fehler, was für ein grandioser Irrtum der Gefühle!

Dabei war bisher doch alles so gut gelaufen, seit seine Truppen vor vier Tagen aus Seramak aufgebrochen waren, hoch motiviert. Lachend hatten sie die Strapazen der Reise auf sich genommen, Trinklieder gesungen und sich derbe Witze erzählt. Mit Übermut hatten sie der grausamen Natur der Wüste und der Gnadenlosigkeit ihres Mordkommandanten getrotzt, der ihnen nur untertags ein paar Pausen gönnte, während derer sie sich in ausgehobenen Höhlen vor der größten Hitze schützen konnten. Sie hatten genug Wüstentiere dabei, um schnell vorwärtszukommen: Riesenskorpione und Mantikore, denen die Hitze nichts anhaben konnte. Die Wüste von Ergian zu durchqueren, war keine leichte Angelegenheit und nur mit ausreichend Vorbereitung und Planung zu bewältigen, aber das hatte die Schwarze Horde schon mehrmals geschafft. Ernie war inzwischen ein Spezialist darin, diese Märsche durchzuführen. Die verfluchte Wüste erstreckte sich im Süden vom Ergian-Gebirge durch ganz Neoperseuon, bis sie im Norden an eine doppelte Gebirgsreihe brandete. Doch um die Sache zu erschweren, lag gleich dahinter die Wüste Nagmar mit ihrem roten Sand. Jene mussten sie allerdings nicht durchqueren, sondern waren dem Verlauf des Gebirges nach Osten gefolgt, bis dieses einen Bogen nach Norden machte und Nagmar abschnitt. Der Weg führte zwischen ausgetrockneten Flusstälern und kargen Steppen bis an die Grenze Hattis und ins Land des widerspenstigen Stammes der Chardoni, deren Hauptstadt Kishon schon seit drei Monaten von den Heeren der Schwarzen Horde belagert wurde. Ernies Brigade sollte Kishon den Todesstoß versetzen. Er war bestens vorbereitet.

Sie hatten Schilde und Decken dabei, um sich vor Sandstürmen zu schützen. Die Mantikore besaßen ein Gespür für Wasser, und so fanden sie jedes noch so versteckte Loch. Die Skorpione hatten dagegen einen inneren Kompass und verliefen sich nie. Ernies Krieger waren zäh und ausdauernd. Lange und schnelle Märsche waren ihre Spezialität, und sie mussten nur kurz rasten, um gleich darauf wie Berserker zu kämpfen. Keine Wüste der Welt würde die Todesbrigade aufhalten können. Dafür war alles zu gut geplant.

Doch jetzt das!

Seine Wunderwaffe, sein Luftschiff. Gestohlen. Von Vanessa und diesem Tom Packard. Was für eine bittere Ironie! Bis vor Kurzem hatte er Vanessa zur Gemahlin nehmen, eines Tages mit ihr Kinder haben wollen. Und Tom Packard? Den hatte er in Fernwelt von all den Blödmännern und Arschlöchern noch am liebsten gemocht. Ein netter Kerl, frei von Vorurteilen.

Ha! Was für ein Witz! Gerade Tom Packard, der nette Tom, erwies sich jetzt als der größte Feind der Schwarzen Horde. Ernie hätte das alles nie für möglich gehalten, hatte keine Ahnung gehabt, wer Tom wirklich war. Jetzt kam er sich unendlich dumm vor. Was für eine Chance war ihm da durch die Finger geschlüpft: Einen persönlichen Feind des Dunklen Meisters zu töten, das wäre es gewesen.

»Ich hätte alle beide sofort erschlagen sollen, diesen Direktor Swift ebenso! Verräter, Verräter, allesamt Verräter«, brüllte er, packte den Tisch in seinem Zelt und warf ihn um. Das ist der Krieg, den wir hier ausfechten. Die dummen, verblendeten Idioten, welche die Wahrheit nicht erkennen und treuherzig den wahren Weg, den Weg des Dunklen Meisters, sabotieren, das sind unsere Feinde. Jeder, der nicht dem Schwarzen Manifest folgt, ist unser Feind. Unsere Feinde müssen sterben. Ich werde sie alle umbringen, jeden Einzelnen!

»Beruhigt Euch, Mordkommandant«, mahnte ihn die Stimme des Achten.

Ernie blickte auf. Die schattenhafte Gestalt des Gründers und Anführers der Schwarzen Horde stand neben dem geschlossenen Eingang des Zelts. Er selbst hatte ihm die furchtbaren Neuigkeiten überbracht.

»Ich werde sofort das Erste Bataillon umkehren lassen, um Seramak wieder einzunehmen. Jeden dort werde ich hängen lassen, an den Dachsparren ihrer eigenen Häuser! Die ganze Welt soll mir das büßen. Seramak lasse ich bluten!«, tobte Ernie. Noch nie in seinem Leben war er so betrogen, so hintergangen worden. Dieser Swift, Tom Packard, Dimm, Vanessa – Vacandor hatte mit all seinen Befürchtungen recht gehabt. Es gab entweder den Weg des Schwarzen Manifests oder den Tod.

»Gehen wir ein Stück«, schlug der Achte vor. Auf den Wink seiner Rechten hin flatterte der Eingang des Zelts auf.

Gehorsam folgte Ernie seinem Gebieter nach draußen. Die Nachrichten vom Ausbruch der Gefangenen, dem Tod Gashkazz’ und der Vernichtung des Kraftwerks hatten sich überall im Lager verbreitet. Menschen und Schrate hockten beisammen, gaben sich dem Hass auf ihre Feinde hin und schworen ihnen Tod und Vernichtung.

»Seramak ist unwichtig. Die Zeit drängt, der Dunkle Meister verlangt Fortschritte. Das Rad des Schicksals dreht sich weiter, es bleibt für unsere eigenen Gelüste nicht stehen, Mordkommandant. So viele Ziele müssen zur gleichen Zeit erreicht werden. Kishon muss fallen, so bald als möglich. Ihr werdet Seramak daher vergessen. Zuerst vernichten wir Kishon, und wenn dieses Ziel erreicht ist, dann dürft Ihr Euch wieder Seramak zuwenden«, befahl der Achte, sein verschleiertes Gesicht auf Ernie gerichtet.

Er spürte förmlich, wie die Blicke seines Gebieters in seinen Gedanken forschten. Dem Achten, so mächtig wie einer der verhassten Simanui, konnte man nichts verheimlichen. In der Schwarzen Horde gingen Gerüchte um, dass er einst sogar zu jenem Orden gehört hatte, bis er die Wahrheit herausfand. Darum hatte der Achte die Schwarze Horde ins Leben gerufen, um mit ihr die Welt vor dem Blendwerk des Lichts zu retten. Die Simanui und all die Völker, die sie unterstützten, musste man ertränken. In Blut, Schweiß und Tränen; sehr vielen Tränen. Ernie nickte grimmig. »Dann wird es so geschehen, aber mein Zorn glüht heiß, Gebieter. Ich will mich rächen für diese Demütigung! Ich verlange es!«, sagte er.

Der Achte lachte unter seiner schwarzen Tiara. »Ihr werdet Eure Rache schon noch bekommen, Mordkommandant. Doch bis dahin kühlt Euren Verstand, auf dass er wieder klar denken kann. Dies alles ist eine komplizierte Affäre. Ihr wisst, was auf dem Spiel steht? Niemand steht dem Dunklen Meister näher als ich. Denkt daran: Mit dem Sieg über Kishon erfüllen wir die Siebte Prophezeiung des Manifests«, mahnte der Achte. Seine Stimme war ein Dröhnen, das den Sand in Schwingung versetzte.

Eine Weile stapften sie durch die Wüste, eine hohe Düne hinauf, von deren höchstem Grat aus sie die schier endlos wirkende Weite Ergians unter sich hatten.

»Euer Aufstieg zum achten Schatten des Dunklen Meisters«, fasste Ernie die Aussage der Siebten Prophezeiung zusammen. Er kannte das Schwarze Manifest durch und durch.

Der Achte musterte ihn erneut. »So lautet der Wille des Dunklen Meisters. Die Verräterin unter den Schatten muss fallen, damit der innere Kreis der Dunkelheit wieder vollkommen und unbefleckt ist. Das wird alles entscheiden, Mordkommandant. Habt Ihr den Schwarzen Schlächtern ihre Aufgaben zugewiesen?«

Ernie nickte. »Einen schickte ich los, um die Verräterin zur Strecke zu bringen. Noch hörte ich nichts von ihm, aber der Weg ist weit. Die Nachricht ihres Todes wird sich in Windeseile verbreiten, da bin ich sicher. Eurem Aufstieg zum Schatten wird sie nicht mehr lange im Wege stehen.«

Der Achte schwieg eine Weile und schien über Ernies Aussage nachzudenken. »Gut. Der Rest der Schlächter wird Euch in Kishon erwarten. Sie werden unsere Geheimwaffe sein und zum rechten Moment ins Schlachtgeschehen eingreifen. Marschiert schnell weiter, brecht noch heute Nacht die Zelte ab. Nehmt keine Rücksicht auf Verluste. Diesmal, Mordkommandant, müsst Ihr an die Grenzen der Kräfte Eurer Männer gehen. Die Feinde der Schwarzen Horde sind zahlreich, und ich hörte, dass sie sich sammeln und einen Angriff gegen uns vorbereiten. Der Fall Kishons wird alles entscheiden.« Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte die Düne wieder hinab.

Ernie folgte ihm in respektvollem Abstand.

Dann blieb der Achte noch einmal stehen. »Ich ließ Besuch für Euch herbringen, Mordkommandant. Er sollte Euch die bitteren Nachrichten aus Seramak vergessen lassen. Seht, es brennt Licht in Eurem Zelt«, ließ er Ernie wissen.

Ernies Gesicht hellte sich auf. »Vacandor!«, rief er verzückt.

Der Achte sagte nichts darauf. Er wartete, bis Ernie vor lauter Freude an ihm vorbeigeeilt war, dann folgte er ihm. »Vergnügt euch ein paar Stunden, feiert und genießt es. Für lange Zeit wird es nämlich eure letzte Begegnung sein. Vacandor wird im Morgengrauen wieder abreisen. Doch wenn Ihr vor Kishon siegreich seid, so sei euch beiden dauerhafte Zweisamkeit versprochen. Im Namen des Dunklen Meisters!«, rief ihm der Achte hinterher.

Das war ein Wort! Ernie würde den Achten nicht enttäuschen, sondern Kishon dem Erdboden gleichmachen und jeden in dieser verfluchten Stadt persönlich läutern. Nichts würde vom Volk der Chardoni übrig bleiben. Für Vacandor würde Ernie die ganze Welt niederbrennen. Anfangen wollte er mit Kishon.

Und dann, Tom und Vanessa, seid ihr an der Reihe!

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen: Serial Teil 3

Подняться наверх