Читать книгу Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 2 - Tobias Fischer - Страница 3

Das Auge im Himmel

Оглавление

Tom konnte es immer noch nicht so recht glauben. Er steckte tatsächlich mitten in einer Flugzeugentführung! Bisher war dieses Abenteuer ja bloß eine Hatz um die halbe Welt gewesen, auf der Suche nach einem magischen Edelstein und einem japanischen Manager. Jetzt befand er sich mitten in einer lebensbedrohlichen Angelegenheit. Es gab keine Möglichkeit zur Flucht oder Gegenwehr. Voller Furcht vor dem, was als Nächstes geschehen könnte, beobachtete er die drei schwer bewaffneten Krieger in der Businessclass, wie sie auf und ab marschierten. Kalt und grausam funkelten ihre Augen die Geiseln an. Die Fluggäste schauten lieber auf den Boden oder aus dem Fenster, als den Blicken der Terroristen zu begegnen. Allein Veyron Swift blätterte gelangweilt in einer Bordzeitung. Tom verstand nicht, wie jemand so abgebrüht sein konnte. Sein Pate musste ein Psychopath sein, das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel. Er fragte sich, ob Veyron Swift überhaupt in der Lage war, irgendwelche Gefühle zu empfinden, oder ob er sie nur mit der eisernen Disziplin, die er stets beschwor, geschickt verbarg – trotz der Hitze, unter der sie alle litten.

Die Terroristen hielten das Flugzeug jetzt seit etwa einer Stunde in ihrer Gewalt, hatten aber bisher nichts verlautbaren lassen, was sie mit der Entführung bezweckten, weder Forderungen noch ihr Ziel. Dafür hatten sie die Temperaturregler auf Maximum gestellt. Jedem Passagier lief das Wasser übers Gesicht. Die Terroristen erlaubten niemandem, sich das Hemd aufzuknöpfen oder seinen Pullover auszuziehen. Wer um Wasser bat, der wurde zusammengebrüllt und mit der Waffe bedroht. Für Tom kam das alles dem Begriff Hölle sehr nahe.

Es waren drei, die in der Businessclass Wache schoben: der grimmige Riese, ein junger Araber mit einer hässlichen Narbe im Gesicht und eine dürre Hexe mit grünen Augen und eingefallenen Wangen. Der Schweiß auf ihren bloßen Oberarmen ließ ihre gestählten Muskeln nur noch deutlicher hervortreten, und das zeigte Tom, dass sie es hier mit echten Kämpfern zu tun hatten. Sie trugen kugelsichere Westen und hatten sich – einer nach dem anderen – militärische Kampfhosen, ärmellose Shirts und Stiefel angezogen. Vermutlich, um sich von den Passagieren besser abzuheben oder um Furcht zu verbreiten.

Die Wirkung verfehlte es jedenfalls nicht. Tom hatte eine Mordsangst. Ihm wollte keine Möglichkeit einfallen, wie man diese Verbrecher überwinden könnte. Er beobachtete die drei Terroristen genau und betete dabei, dass sie ihn irgendwie übersahen. Er war mit Abstand der jüngste Passagier an Bord, und aufgrund seiner geringen Körpergröße fiel er wahrscheinlich sofort auf. Hoffentlich ließen sie ihn in Ruhe.

Die Glastüren zur First Class öffneten sich, und eine weitere Terroristin marschierte herein. Auch sie hielt ein Gewehr in den Händen. »Alles herhören!«, rief sie und hob ihre Waffe. Im Nu besaß sie die ungeteilte Aufmerksamkeit sämtlicher Passagiere. »Wir schließen die leeren Ränge. Also, alle Mann aufstehen und nach vorn aufrücken!«

Zögerlich schnallten sich die ersten Passagiere los, standen auf und schlurften eingeschüchtert in Richtung First Class. Die Hexe und der Araber schubsten die Leute auf die ihnen zugedachten Sitze. Wer zu lange brauchte, den riss der Riese auf die Beine und stieß ihn vorwärts. Toms Nachbar auf der anderen Seite des Ganges, Dimitri, beförderten die Kerle eine Reihe vor ihnen grob in den Sitz. Ohne Regung ließ er sich das gefallen. Veyron und Tom waren freiwillig aufgestanden und schnurstracks zu ihren neuen Plätzen gegangen; Veyron saß wieder auf der Seite zum Gang, Tom direkt neben ihm.

»Jetzt wissen wir, was deine neue Freundin beruflich macht«, raunte er ihm zu.

Tom verstand für einen Moment nicht, und Veyron nickte in Richtung der Terroristin. Tatsächlich! Er erschrak, als er sie wiedererkannte, sein Objekt Nr. 1. Er hoffte aufzuwachen, doch er befand sich nicht in einem bösen Traum, sondern in der Wirklichkeit. Am liebsten hätte er jetzt angefangen zu schreien, verkniff es sich jedoch lieber. Vor Veyron wollte er sich keine Blöße geben und diese Sache durchstehen wie ein Mann – was natürlich ein blödsinniger Gedanke war, aber er war ja erst vierzehn.

»Du musst keine Furcht haben, Tom«, raunte Veyron leise. »Die Chancen stehen gut, dass wir das alle unbeschadet überstehen. Das sind keine religiösen Fanatiker, sondern sie verfolgen ein politisches Ziel. Entweder die Freilassung von Häftlingen oder Lösegeld. In der Regel gehen solche Entführungen unblutig aus.«

Tom sah ihn verwundert an. Veyron zeigte noch immer nicht die geringste Spur von Angst. Stattdessen entdeckte er Zuversicht in dem schmalen, markanten Gesicht seines Paten. »Und was, wenn nicht? Was ist, wenn die uns alle umbringen wollen?«

»Nur die Ruhe. Sorgen würde ich mir im Augenblick nur um Nagamoto machen«, gab Veyron zurück.

Ein harter Schlag traf ihn an der Schulter. Es war der Gewehrkolben von Toms Ex-Objekt-Nr. 1. »Ruhe«, blaffte sie.

Tom zuckte zusammen, hoffte, dass sie Veyron nicht gleich erschoss. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, aber sie hielt dem Vorwurf in seinen vor Angst geweiteten Augen nicht lange stand. Schnell schaute sie in eine andere Richtung. Nachdem alle Passagiere umquartiert waren, nickte Ex-Objekt-Nr. 1 den drei Wächtern zu und kehrte in die First Class zurück.

Veyron wartete, bis auch die anderen Terroristen außer Hörweite waren, ehe er sich wieder Tom zuwandte. »Denk nach, Tom: Wir wissen, dass Flammenschwert-Joe hinter Nagamoto her ist. Er will ihn umbringen, davon können wir ausgehen. Jetzt wird ausgerechnet das Flugzeug entführt, mit dem Nagamoto nach Europa fliegt. Ein wenig zu zufällig für einen echten Zufall, oder?«

»Wollen Sie damit sagen, Flammenschwert-Joe hat diese Entführung arrangiert? Glauben Sie, es ist einer von den Terroristen?«

»Es ist noch zu früh, um darüber zu spekulieren, aber von Ersterem können wir ausgehen. Er steckt ganz sicher dahinter. Mir ist nur noch nicht klar, auf welche Weise er Nagamoto beseitigen will. Vielleicht ist eine Bombe an Bord des Flugzeugs versteckt, und diese Entführung ist nur ein Alibi. Womöglich haben die Terroristen die Anweisung, ihn als erste Geisel zu erschießen, vielleicht werden sie sogar für seine Ermordung bezahlt. Wir müssen auf alles gefasst sein.«

»Was können wir tun? Wir haben keine Chance. Nicht gegen diese Gorillas.«

»Wir warten auf den richtigen Moment, Tom. Mehr Möglichkeiten haben wir im Moment nicht. Wenn …« Veyron brach ab, als sich die dürre Hexe näherte.

Tom starrte zu Boden. Er hatte keine Ahnung, von welchem richtigen Moment Veyron da sprach, doch er vertraute darauf, dass sein Pate ihm den schon mitteilen würde – oder aber sie konnten gar nichts tun, und dies war ihre letzte Reise. Als sich die Hexe wegdrehte und in die andere Richtung marschierte, schaute ihr Veyron kurz hinterher. Mit einem spitzbübischen Lächeln wandte er sich wieder an Tom. »Ist dir das aufgefallen?«

»Dass sie aussieht, als könnte sie einen Vierzehnjährigen zum Frühstück vertilgen?«

»Nein. Sie ist auf dem linken Ohr taub. Sehr wahrscheinlich ist daher auch ihr Gleichgewichtssinn gestört. Das können wir nutzen, wenn’s drauf ankommt.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Beim Vorbeigehen hat sie das Pärchen hinter uns böse angefunkelt, weil sie geflüstert haben. Das Pärchen links von ihr hat auch geflüstert, aber sie hat die beiden nicht einmal bemerkt. Sie konnte sie nicht hören. Da hätten wir schon einmal einen Ansatz, auf dem wir unsere Strategie aufbauen können«, sagte Veyron und rieb sich kurz die Hände.

Tom wollte nichts mehr davon hören, er hatte einfach nur Angst. Dachte Veyron etwa an einen Gegenangriff? Wenn ja, musste die Hitze seinen Verstand durchdrehen lassen. Das wär ja glatter Selbstmord.

In der First Class stand Alec vor seinem Publikum, vierzig verängstigten Passagieren, die kein Wort sagten und auf den dunkelblauen Teppichboden starrten. Keiner besaß den Mumm, aufzustehen und von ihm Rechenschaft zu verlangen. Das bestätigte ihn in seiner Auffassung, dass auf der Welt nur zwei Sorten von Menschen existierten: Schafe und Wölfe. Die einen ließen sich herumtreiben, folgten brav und gedankenlos der Herde. Doch die Wölfe, so wie er einer war, die nahmen sich, was sie wollten. Wölfe folgten keinen Regeln außer ihren eigenen.

Alec wartete, bis Tamara aus der Businessclass zurückkehrte und ihm bestätigend zunickte. Alles war unter Kontrolle. Er zog einen kleinen Zettel aus der Hosentasche und las vor: »Diese Maschine befindet sich jetzt in der Gewalt des Roten Sommers. Es wird Ihnen nichts geschehen, solange Sie den Anweisungen der Kämpfer des Roten Sommers Folge leisten und soweit Ihre Regierungen die von uns gestellten Forderungen erfüllen. Es lebe die Freiheit, es lebe die Gerechtigkeit!«

Die letzten Worte rief er laut aus, und alle anwesenden Mitglieder – Tamara, Otto und Johan – wiederholten sie wie einen wilden Schlachtruf. Alec lächelte vor Genugtuung, als er sah, wie die Schafe unter den Rufen zusammenzuckten. Am liebsten hätten sie sich bestimmt unter den Sitzen versteckt – mit zwei Ausnahmen: eine junge Manager-Tussi, die nur gedankenverloren auf den Boden starrte, und ein japanischer Manager mittleren Alters, der interessiert zuhörte. Als Einziger wagte er es, Alec direkt anzuschauen.

Keuchend drehte sich Alec weg. Irgendwie konnte er den stechenden, herausfordernden Blick dieses Mannes nicht länger ertragen. Ihm kam es so vor, als würde dieser Kerl in seine Seele blicken und die Abgründe finden, die er so sorgfältig vor seinen Kameraden verbarg.

Ich weiß, wer du bist und was du bist, schien ihm der Manager in Gedanken zuzurufen. Das war zwar sicher nur Einbildung, dennoch: Er musste etwas dagegen unternehmen.

Alec ärgerte sich über seine eigene, fast panische Reaktion und ballte die Faust. Saß da etwa ein Wolf mitten unter den Schafen? Nun, er würde diesen Passagier später disziplinieren, jetzt musste er sich erst einmal das Gehör der Welt verschaffen. Er ging ins Cockpit zurück, wo die beiden Piloten miteinander tuschelten, und klopfte mit der Pistole gegen die Tür. Das brachte sie zum Schweigen.

»Hier sind Ihre Anweisungen«, blaffte er Captain Hotchkiss an und reichte ihm einen zweiten Zettel, den er aus der Hosentasche gekramt hatte. »Sie ändern den Kurs jetzt nach Südost und werden Somalia ansteuern. Auf dem Zettel stehen die genauen Koordinaten, die Geschwindigkeit und die Flughöhe. Geben Sie mir die Flugkontrolle«, befahl er.

Hotchkiss reichte ihm widerstandslos den Kopfhörer. Alec setzte ihn auf und sprach ins Mikro. »Kontrolle, habe ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit?«

»Wir hören, 327.«

»Hier spricht der Rote Sommer. Dies sind unsere Forderungen: Sie werden die Freilassung unserer Gesinnungsgenossen in Chile, in Deutschland und in Kanada veranlassen, die dort ungerechterweise inhaftiert wurden. Weiter werden Sie fünfzig Millionen Dollar auf ein noch zu nennendes Konto überweisen. Werden diese Forderungen nicht erfüllt, beginnt Roter Sommer mit der Tötung der Geiseln an Bord dieses Flugzeugs. Sie haben von jetzt an zwei Stunden bis zur Tötung der ersten Geisel. Sollten unsere Forderungen bis dahin nicht erfüllt sein, töten wir zu jeder vollen Stunde eine weitere Geisel. Ergänzende Forderungen folgen zu gegebener Zeit«, sagte Alec so emotionslos, wie er es zustandebrachte. Er nahm den Kopfhörer ab und gab ihn Hotchkiss zurück. »Führen Sie die Kursänderung jetzt durch, Captain«, befahl er und verließ das Cockpit. Im Crewbereich rief er Johan. Der hochgewachsene Schwede kam herangeeilt. Alec deutete ins Cockpit. »Du sorgst dafür, dass die beiden Hübschen da drin keinen Unfug anstellen. Achte auf die Kursangaben. Erschieß den Kopiloten, wenn sie uns bescheißen.«

Johan nickte und wuchtete seinen muskulösen Körper in das kleine Cockpit. Alec zündete sich genüsslich eine Zigarette an. Diesen Moment des Triumphs musste er auskosten, alles lief großartig. Jetzt war es Zeit, sich um diese andere Sache zu kümmern. Mit entschlossenen Schritten kehrte er in die First Class zurück.

Jessica hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Zusammengekauert saß sie in ihrem Sessel, die Kleidung klebte an ihrem durchgeschwitzten Körper. Verstohlen blickte sie immer wieder die drei Terroristen an, die pausenlos auf und ab marschierten. Alle in der First Class waren mucksmäuschenstill und ertrugen die brütende Hitze, so gut sie konnten. Besonders schlecht ging es den sieben jungen Punkrockern. Sie hingen angeschnallt mehr tot als lebendig in den Sitzen, grün im Gesicht. Mit den Händen schienen sie Fliegen zu verscheuchen, die es gar nicht gab. Jessica wagte vorsichtig einen Blick nach hinten. Nagamoto saß noch immer aufrecht, die Miene trotzig. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, ansonsten schien es ihm sehr gut zu gehen. Jessica bewunderte ihn für seine Disziplin und das Selbstbewusstsein, den Terroristen nicht die Befriedigung zu verschaffen, ihn zu demütigen. Sie wünschte sich, ebenfalls solche Tapferkeit zu besitzen.

Die Tür zum Crewbereich öffnete sich. Der Anführer der Terroristen trat heraus, frech eine Zigarette rauchend und der Hitze und dem Schweiß nicht achtend. Er hielt einen Fetzen Papier in der Hand, den Jessica als Passagierliste identifizieren konnte. Die Mistkerle hatten drei Flugbegleiterinnen der First Class schon gleich nach der Übernahme dazu gezwungen, sämtliche Passagierlisten auszuhändigen.

»Mr. Tatsuya Nagamoto«, sagte Alec laut und sah sich mit theatralischem Ernst in der First Class um. Niemand regte sich. »Geboren am vierten Juli 1961 in Osaka, Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns Energreen Corporation«, fuhr er fort, diesmal mit Abscheu in der Stimme. Er wartete auf eine Reaktion.

Tatsächlich erhob sich Nagamoto und trat hinaus in den Gang. Alec staunte nicht schlecht. Es war genau jener japanische Geschäftsmann, der seiner Einschüchterung zuvor so frech standgehalten hatte. Nun, jetzt würde er diesem steinreichen Schnösel ein bisschen Respekt beibringen – mit Gewalt, Alecs liebstem Verständigungsmittel gegenüber diesem Manager-Abschaum. Er schnippte mit den Fingern, und Tamara und Otto traten an Nagamotos Seite.

»Roter Sommer hat entschieden, dass die westlichen Regierungen zwei Stunden Zeit haben, die Forderungen der Gerechtigkeitsliga zu erfüllen. Geschieht dies nicht, wird eine erste Geisel getötet. Ich bin sicher, Mr. Nagamoto, Sie sind gern bereit, sich in diesem Fall für die anderen Passagiere zu opfern«, verkündete Alec. Er konnte die diebische Freude, die ihm das bereitete, nur schwerlich verbergen. »Ihr Tod erkauft den anderen eine weitere Stunde.«

Nagamoto sagte nichts darauf. Furchtlos stand er in der Mitte der Kabine, sah Alec in die Augen und regte keinen Muskel. Ärger stieg in Alec hoch, glühende Verachtung und heißer Hass gegen dieses geldgeile Wesen, das es tatsächlich wagte, sich noch frech als Mensch zu bezeichnen. Nicht einmal jetzt, im Angesicht des Todes, konnte Nagamoto seine Furcht zeigen, sondern spielte noch Spielchen mit seinen Peinigern. Dazu dieser Blick, dieser die Seele durchdringende Blick …

»Sie machen einen großen Fehler«, sagte Nagamoto schließlich.

Alec musste grinsen. Eine leere Drohung, ein Akt der Verzweiflung. Nun, der Sack würde schon noch sehen, wie wenig ihm das nutzte.

»Sie haben überhaupt einen großen Fehler gemacht. Aber jetzt besiegeln Sie Ihr Ende, das Ende Ihrer Leute und den Tod vieler Unschuldiger. Sie sind keinen Deut besser als jene, die Sie hassen und verachten«, fuhr Nagamoto ungerührt fort.

Alec lächelte nicht mehr. Ja, es stimmte: Dieser Kerl hatte in seine Seele geblickt! Er wusste nicht, warum, aber Nagamoto schien über seine Schwächen und Fehler Bescheid zu wissen. Selbst wenn er sich das nur einbildete, allein der Gedanke daran ließ ihn wütend werden. Schnell trat Alex vor und verpasste Nagamoto einen Fauststoß in den Magen. Der wehrte sich nicht, wich nicht zurück, knickte nur mit einem leisen Keuchen ein. Doch fiel er nicht, richtete sich stattdessen wieder zu voller Größe auf. Grimmige Entschlossenheit erfüllte sein Gesicht.

Alec war kurz davor zurückzuweichen. Etwas war an Nagamoto, das ihn ängstigte. Eine Kraft und Macht, wie er sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Noch einmal schlug er zu, wollte Nagamoto auf dem Boden sehen – er wollte ihn sogar unbedingt auf dem Boden sehen. Erneut knickte der Manager kurz ein, nur um sich gleich wieder aufzurichten. Otto packte ihn fester, und Alec schlug ein drittes Mal zu, doch jetzt prallte seine Faust auf gestählte Bauchmuskeln, die keinen Zentimeter nachgaben. Seine Finger schmerzten.

Plötzlich trat Tamara zwischen Nagamoto und Alecs erneut ausholende Faust. »Das reicht, Alec! Otto, schaff Nagamoto in die Crewtoilette«, befahl sie streng.

Widerstandslos ließ sich Nagamoto vorwärtsstoßen. Alec kochte vor Zorn und folgte Otto. Tamara war dicht hinter ihm. Sie schloss die Verbindungstür. Im gleichen Augenblick packte Alec sie am Revers und drückte sie gegen die Wand. Regungslos nahm sie seinen Zorn und seine Grobheit hin. Sie kannte ihn, sein hitziges Gemüt und seine Leidenschaft für Gewalt.

»Wage es nicht noch einmal, mir vor Geiseln oder sonstwem zu widersprechen«, zischte er, Mordgier in den Augen.

»Du verlierst die Beherrschung, du brauchst einen kühlen Kopf. Was wolltest du damit beweisen?«, entgegnete sie kalt.

Alec schnaubte, drückte sie noch fester gegen die Wand. »Nagamoto ist ein Drecksschwein! Ein verfluchtes, kapitalistisches Drecksschwein, der Menschen ausbeutet und die Leute um ihre Ersparnisse bringt!«

»Schön. Dann richten wir über ihn wie über die anderen, über die wir schon Gericht gehalten haben. Aber wir werden ihn nicht aus Lust an der Gewalt quälen oder töten! Wir sind besser als die!«

Otto tat so, als würde er nichts mitbekommen. Er schubste Nagamoto in die Crewtoilette, machte die Tür zu, schlug den Türknauf ab und zog den Stift heraus. »Der Sack ist eingesperrt«, verkündete er und beendete die Diskussion zwischen seinen Anführern.

Alec ließ Tamara endlich los. Er trat einen Schritt zurück. Sie war so eiskalt und beherrscht, wie er hitzköpfig und brutal war. Sein Ärger war jedoch noch nicht zur Gänze verraucht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das konnte er spüren. »Was ist los mit dir? Mensch, Tamara! Du hast bei unserer letzten Aktion, diesem Überfall auf die Polizeistation, einem Bullen mitten ins Gesicht geschossen. Eiskalt, ohne zu zögern! Wirst du jetzt weich?«

»Das war etwas anderes«, murrte sie, doch Alec konnte sehen, wie sie ihm auszuweichen versuchte. Es ärgerte und verletzte sie, das erkannte er.

»Willst du aussteigen? Du brauchst es nur zu sagen!«

Nun war sie es, die wütend wurde. »Wir ziehen das durch! Aber mit kühlem Verstand! Wir sind nicht die neue Kopfgeldjägertruppe von diesem Fellows oder seinem ominösen Auftraggeber! Wir folgen unseren Idealen; ohne sie sind wir nicht anders als all die Gescheiterten vor uns. Wir haben geschworen, deren Fehler nicht zu wiederholen«, gab sie zurück, die Stimme erhoben und fauchend – wie eine Tigerin, die man in die Enge getrieben hatte.

Alec beruhigte sich wieder; er hatte sich nicht in ihr geirrt. Das alte Feuer loderte immer noch in ihr, es musste nur gelegentlich geschürt werden.

Im Cockpit war die Auseinandersetzung kaum zu hören, doch war sie laut genug, um Johan nach draußen zu locken. Er schloss die Tür hinter sich, als er erkannte, dass sich seine beiden Anführer zankten. Davon sollten die Piloten nichts mitbekommen und eventuell eine Schwäche ausloten.

Hotchkiss und sein Kopilot Grant waren allein. Genau auf so einen Moment hatten sie gewartet. »Okay, was ist der Plan?«, fragte Grant. Er war ganz aufgeregt und ließ die Tür nicht aus den Augen.

»Diese Banditen sind gut organisiert. Sie haben einen mächtigen Verbündeten außerhalb des Flugzeugs. Hast du die Waffen gesehen? Fabrikneu. Wie zum Teufel haben sie die an Bord gekriegt? Vollkommen unmöglich, es sei denn durch Korruption. Wenn wir landen – egal wo – werden die sich aus dem Staub machen. Die haben alles genau geplant und vorbereitet«, schlussfolgerte Hotchkiss.

Grant stimmte brummend zu. Plötzlich fiel ihm etwas am Abendhimmel auf. Noch war die Sonne nicht ganz untergegangen; sie hatten einen freien Himmel vor sich, der nur langsam von Rot zu Violett und danach in Schwarzblau überging. Grant glaubte jedoch, in der Ferne einen Blitz zu sehen, und das ohne jede Wolke in der Nähe! Das Unwetter hatten sie bereits viele hundert Meilen hinter sich gelassen. Wieder durchzuckte ein Blitz in auffällig blaugrüner Färbung den Himmel. Dann noch einer und gleich darauf ein weiterer. »Siehst du das? Was ist das? Ein Wetterphänomen? Ist es das Gleiche, das in den vergangenen zwei Wochen schon ein paar unserer Kollegen beobachtet haben?«

Hotchkiss suchte konzentriert den Himmel ab. »Ja, sieht so aus. Aber schau nur, es sind viele Dutzend dieser Blitze. Was immer das für ein Phänomen ist, es wird heftiger. Sollen wir ausweichen oder durchfliegen, was meinst du? Unsere Supersonic wurde für schlechtes Wetter gebaut, die kann alles aushalten. Wahrscheinlich sind es Spannungen zwischen den Luftschichten. Für uns keine Gefahr, unser Baby ist vollkommen antistatisch.«

Die beiden Piloten blickten sich einen Moment lang an, dann fällten sie ihre Entscheidung.

»Wir bleiben auf Kurs. Im schlimmsten Fall werden wir ein wenig durchgeschüttelt. Wir retten niemanden, wenn wir einen Umweg machen und irgendwann aus Spritmangel ins Meer stürzen«, sagte Grant.

»Das wird diese Kerle mächtig ärgern«, erwiderte Hotchkiss.

Sein Kopilot sagte nichts darauf. Es war an jedem selbst, stillschweigend die Tragweite ihrer Entscheidung auszuloten. Sie hatten sich dem unheimlichen Blitzgewitter schon deutlich genähert, als sich die Cockpittür wieder öffnete.

Johan kehrte zurück. Gebannt starrte der Terrorist nach draußen, angesichts der mächtigen Blitze kaum in der Lage zu reagieren. »Was ist das da vorn? Warum fliegen wir darauf zu?«, herrschte er die Piloten an und hob sein Gewehr.

»Das ist bloß ein Wetterphänomen. Wenn wir darum herumfliegen, verbrauchen wir zu viel Treibstoff«, erklärte Hotchkiss. Er versuchte, so sachlich wie möglich zu klingen.

»Dann können Sie Ihrem Boss erklären, warum wir irgendwo im Persischen Golf notwassern müssen«, fügte Grant kaltschnäuzig hinzu.

Johan funkelte ihn zornig an. Hotchkiss gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Keine Sorge, Mann. Sie fliegen mit der Supersonic. Die wurde für so ein Wetter gebaut.«

Johan schien das jedoch nur wenig zu beruhigen. »Ich muss mit Alec reden. Sie tun nichts, sonst erschieße ich Sie!«, tat er seinen Entschluss kund und verließ das Cockpit. Bevor er die Tür schloss, warf er dem grünblauen Blitzgewitter einen letzten, skeptischen Blick zu. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Jessicas Furcht wollte einfach nicht weichen. Noch immer befand sich ein Terrorist in der First Class, auch wenn der brutale Anführer und die schwarzhaarige Frau die Kabine inzwischen verlassen hatten. Wahrscheinlich, um sich wegen irgendetwas mit den anderen abzusprechen. Nagamoto war eingesperrt. Jetzt gab es niemanden mehr, der diesen Verbrechern Widerstand entgegenbrachte.

Der furchtlose, unbezwingbare Nagamoto. Jessica begann, ganz neuen Respekt für ihn zu empfinden. Sie hatte gesehen, wie er dem Blick des Terroristen begegnet war und wie der Lump vor seinem letzten Faustschlag zögerte. Es stimmte: Nagamoto besaß eine Ausstrahlung, die andere kleinlaut werden ließ, sogar Terroristen. Jetzt war er jedoch weggesperrt wie ein gefährliches Tier. Jessica fühlte sich überhaupt nicht mehr beschützt, war vollends der Furcht preisgegeben. Als würde das an Unglück nicht schon genügen, begann die Maschine plötzlich zu zittern. Durch die Fenster konnte sie sehen, dass sie sich einem Unwetter näherten. Überall flammten grelle Blitze auf, ein stetiges Donnern und Grummeln drang von draußen herein.

In diesem Augenblick geschah etwas, mit dem sie niemals in ihrem Leben gerechnet hätte.

John Fizzler schnallte sich los.

Schwankend erhob er sich und trat hinaus auf den Gang. Der Musiker zitterte wie Espenlaub, die Angst stand ihm in sein leichenblasses, glattes Milchgesicht geschrieben. Er schwitzte wegen der unerträglichen Hitze. Dennoch stand er da und rührte sich nicht vom Fleck – was ihm schließlich die Aufmerksamkeit des Terroristen einbrachte.

»Hey«, fauchte der wütend, packte sein Gewehr mit beiden Händen und stampfte auf Fizzler zu.

Jessica sah dem jungen Punk an, dass er am liebsten davonrennen wollte. Eine unbekannte Macht schien ihn jedoch an Ort und Stelle festzuhalten.

»Setz dich sofort wieder hin, du Penner! Setz dich hin! Setz dich hin! Setzt du dich verflucht noch mal endlich hin!«, brüllte der Terrorist. Er stand nun direkt vor Fizzler, ihre Nasen nur Zentimeter voneinander entfernt. Der Kerl war fast einen Kopf größer, dennoch rührte sich der schmächtige Punkrocker nicht. Stattdessen brüllte er zurück. »Du blödes Arschgesicht! Es gibt hier an Bord eine schlimmere Macht als dich oder jeden deiner beschissenen Kumpel!«

Der Terrorist war zwar trainiert, jetzt war er jedoch zu überrascht, um schnell genug zu reagieren. Mit einem abscheulichen Heulen stürzte sich Fizzler auf ihn, sprang ihn wie ein Raubtier an. Er packte das Gewehr mit beiden Händen, versuchte, es an sich zu reißen. Der Kämpfer stolperte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Ganz seiner neu entdeckten Raubtiermanie entsprechend, biss Fizzler zu, dem Terroristen in den Hals. Blut spritzte zwischen seinen Zähnen hervor, der Kämpfer stieß einen lauten, heulenden Schmerzensschrei aus.

Gerade in diesem Moment kam Johan aus dem Cockpit zurück. Durch die offene Tür sah er Otto stürzen und Blut spritzen – entsicherte sein Gewehr und stürmte vorwärts. Er brüllte, doch der irre Punk ließ sich nicht vertreiben. Johan zielte, bereit, Fizzler das Leben aus dem Leib zu pusten.

Jessica reagierte mehr instinktiv als bewusst. Sie sah den Hünen heranstürzen. Schnell wie der Blitz streckte sie ihr rechtes Bein in den Gang und brachte den Terroristen zu Fall. Im gleichen Augenblick sprangen die anderen Mitglieder von Fiz-Fish-Ass auf und warfen sich brüllend auf Johan und Otto, ihren Leadsänger unterstützend, wo sie nur konnten.

Es kam zu einem wilden Gerangel. Die Punks rissen den Terroristen büschelweise die Haare aus, droschen mit aller Gewalt auf sie ein – wie eine Horde tollwütiger Affen. Jessica wagte nicht, genau hinzusehen, aber sie konnte erkennen, wie Fizzler seine dürren Finger in das Gesicht des hakennasigen Terroristen krallte. Mit einem irren Fauchen quetschte er Hakennase die Augen. Der schrie gellend auf und wand sich zur Seite, ein Blut quoll aus seiner rechten Augenhöhle.

Johan hatte mehr Glück. Er trat mit den Füßen um sich, hielt die Punks auf Distanz. Nur der Drummer hockte direkt auf ihm und versuchte, ihm die Waffe aus den Händen zu ringen. Johan ließ sie los, packte dafür den Kopf des Drummers mit beiden Händen. Mit einer ruckartigen Bewegung hatte er dem Aufständischen das Genick gebrochen. Jetzt schaffte er es, seine Waffe in Anschlag zu bekommen, und gab drei Schüsse ab.

Einer traf in die Stirn des Keyboarders, die anderen beiden erwischten Ira Fisher in der Brust, durchbohrten seinen Körper und schlugen knallend in die Decke ein. Alle Passagiere – und auch Johan – hielten die Luft an. Nichts passierte. Fishers Körper hatte die Geschosse schon so weit abgebremst, dass sie die Hülle des Flugzeugs nicht beschädigen konnten. Der Punk sackte tot zusammen. Die verbliebenen vier Mitglieder der Band ließen sich durch den Tod ihres Leadgitarristen und der anderen beiden indes nicht entmutigen. Wieder stürzten sie sich johlend auf Johan und Otto, und wieder brachte der schwedische Killer sein Gewehr in Anschlag.

Keinen Herzschlag später wurden alle in die Luft gehoben, als die Supersonic von einer unsichtbaren Faust getroffen wurde.

Einer Bombe gleich schlug Otto in die Deckenverschalung ein. Im nächsten Moment prallte er wie ein Gummiball auf den Boden und dann gegen die Kabinenwand. Es knackte schaurig. Leblos wie ein nasser Sack blieb sein Körper liegen. Johan landete irgendwie zwischen zwei First-Class-Sesseln, auch die überlebenden vier Rocker von Fiz-Fish-Ass schleuderten gemeinsam mit den Leichen ihrer Bandmitglieder wild herum. Ottos Gewehr wurde zu einem gefährlichen Geschoss, das Köpfe traf und Platzwunden verursachte, bis es in Richtung Businessclass davonsauste. Im Durchgangsbereich traf es Alec auf die Brust und schickte ihn mit einem Keuchen zu Boden.

Auch im übrigen Flugzeug wurden Gegenstände und Terroristen herumgewirbelt wie Laub im Sturm. Tabletts, Bücher, Becher, lose Gepäckstücke, alles wurde zu Geschossen. Jeder zog den Kopf ein, wenn er es konnte. Das Auf und Ab der Supersonic, als wäre sie das Lieblingsspielzeug im Maul eines Hundes, schleuderte die Menschen in ihren Sicherheitsgurten herum. Überall das panische Geschrei der Passagiere und das wütende Fluchen der Terroristen.

Tom sah eine Videokamera auf sich zukommen. Er duckte sich, schaffte es nicht ganz, und das Geschoss streifte seine Stirn, wo es einen blutigen Striemen hinterließ. Veyrons Reaktion war blitzartig. Mit beiden Händen schnappte er sich die Kamera. Anstatt sie jedoch auf den Boden zu legen oder zwischen den Beinen einzuklemmen, zielte er in die Richtung, wo sich die drei Terroristen an Sesseln festklammerten. Er traf den Riesen am Hinterkopf. Tom sah, wie der Kerl nach vorn kippte und aufschlug.

»Einer weniger. Hoffentlich halten diese Turbulenzen noch ein wenig an. Die sind wirklich hilfreich«, schrie Veyron zu Tom, um das panische Geschrei der Passagiere zu übertönen.

Tom schüttelte nur den Kopf. »Sie haben doch echt einen Schatten«, entgegnete er heulend.

Über Veyrons Gesicht huschte nur ein vergnügtes Lächeln.

Im Cockpit kämpften Hotchkiss und Grant um ihr Flugzeug. Es verlor rasend schnell an Höhe, stieg dann ebenso schnell wieder. Mal kamen gewaltige Winde von der Seite, mal von oben, mal von unten. Überall irrlichterten die seltsamen Blitze um die Supersonic. Die elektrischen Systeme protestierten, der Stall-Alarm heulte und hupte ununterbrochen.

»Wir verlieren sie! Wir schmieren ab!«, brüllte Grant gegen all den Lärm im Cockpit an.

»Mehr Schub«, befahl Hotchkiss, während er mit der Steuerung kämpfte. »Schalte die automatische Steuerhilfe aus! Wir brauchen die volle Kontrolle!«

»Hier folgt ein Luftloch auf das andere! Die Tragflächen werden abbrechen«, schrie Grant, doch zum Glück war es noch nicht so weit.

Es gab kein bekanntes Wetterphänomen, das diesem hier glich, da waren sich die beiden Piloten einig. Doch das nächste Wunder ließ nicht lange auf sich warten.

Schlagartig hörten die furchtbaren Turbulenzen auf. Gebannt starrten sie nach draußen. Vor ihnen schmolzen alle Blitze zu einem leuchtenden Energiebalken zusammen. Er war riesig, etwa an die zweihundert Meter lang, dabei aber unglaublich schmal. Plötzlich faltete er sich wie das Lid eines Auges auseinander. Ein nahezu kreisrunder Ring aus blitzender Energie entstand. Die Fläche dazwischen schien wie aus Spiegelglas gemacht, hauchdünn und zerbrechlich. Grant und Hotchkiss konnten sogar ein schwaches Spiegelbild ihres eigenen Flugzeugs sehen, das direkt auf sie zukam.

Schließlich durchstieß die Supersonic jene glatte, von leuchtender Energie gesäumte Fläche. Die Oberfläche schien nicht nachzugeben, dennoch gab es keinen spürbaren Widerstand. Lediglich ein energetisches Kribbeln ging durch ihre Körper, als sie das Phänomen durchflogen. Bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnten, waren sie komplett hindurch. Ein neues Rütteln und Schütteln ging durch das Flugzeug, machte deutlich, dass die Luftloch-Passage noch nicht vorüber war, jedoch weitaus schwächer als zuvor. Überhaupt schien das Phänomen auf der anderen Seite des Auges viel weniger schlimm zu sein. Im Nu waren sie heraus aus den Turbulenzen, hinter ihnen verflüchtigten sich das Auge und die sonderbaren Blitze, als hätte es sie nie gegeben.

Die Supersonic flog ruhig durch den nächtlichen Himmel, schwach hinter ihnen ein letzter Abglanz des Sonnenuntergangs.

»Die elektronischen Geräte sind hinüber«, keuchte Grant.

Der Höhenmesser funktionierte einwandfrei, ebenso die Anzeigen für die Geschwindigkeit und auch sämtliche LED-Bildschirme. Das Bodenradar war jedoch im Eimer, zeigte anstelle der Weiten des Atlantiks jetzt plötzlich Berge und Wälder. Das Navigationsradar war ebenfalls vollkommen unbrauchbar. Die Zahlen rannten unkontrolliert rauf und runter. Lediglich die Himmelsrichtungen Nord, Süd, West und Ost ließen sich bestimmen. Eine genaue Position war für den Bordcomputer nicht auszumachen, der Funk war ausgefallen. Alles war still auf der anderen Leitung, genauso still waren all die Satelliten, mit denen die Supersonic ununterbrochen in Verbindung stand. Die entsprechenden Anzeigen zeigten nur statisches Rauschen. Hotchkiss stieß einen derben Fluch aus und verwünschte ihre vorherige Entscheidung. Bis Sonnenaufgang reichte der Treibstoff noch, danach würden sie schon sehen, wo sie sich überhaupt befanden. Ohne die Geo-Satelliten war eine Orientierung jedenfalls unmöglich.

Johan kam wieder zu sich, übersät mit blauen Flecken. Sein rechter Arm schmerzte wie die Hölle, vermutlich gebrochen. Blut lief ihm übers Gesicht. Die Nase war wohl auch hin. Mit einem Fluch rappelte er sich auf – nur, um die Schmerzen in beiden Beinen zu registrieren. Der Angriff dieser verfluchten Punks und das Herumschleudern hatten ihm ganz schön zugesetzt. Aber noch war er fit genug, sich wieder um seine Aufgaben zu kümmern. Er sah sich um, fand seinen toten Kameraden mit verdrehtem Hals am Boden liegen, nicht weit von den drei toten Punks entfernt. Auch seine Waffe lag dort. Er humpelte hinüber, hob sie auf und machte sich auf den Weg ins Cockpit. Zahlreiche Passagiere waren verletzt und bewusstlos, vielleicht auch tot. Das konnte er nicht genau feststellen. Er stieß die Tür zum Crewbereich auf und gleich darauf die zum Cockpit. Mit der unverletzten Hand drückte er seine Waffe Hotchkiss ins Gesicht.

»Was zum Teufel haben Sie getan? Ich bringe Sie um!«, brüllte er.

Hotchkiss ignorierte ihn, schloss die Augen und machte sich bereit, seine Strafe zu empfangen. Johan war jedoch nicht der Einzige, der wieder zu sich kam. Auch Fizzler erwachte. Sofort stand er auf und ging zu dem anderen bewusstlosen Terroristen. Es war der Anführer. Er bückte sich, nahm das Gewehr, das unter dem linken Arm des Typen lag, und entsicherte es. Anstatt dem Schwein einen Schuss durch den Kopf zu verpassen, drehte sich Fizzler um. Schnurstracks marschierte er auf den Crewbereich zu und verschwand in der Bordküche.

Jessica sah fassungslos, wie sehr der junge Punk am ganzen Körper zitterte. War es Furcht? Doch seine Schritte zeugten von einer grimmigen, mörderischen Entschlossenheit. Sie erahnte schon, was Fizzler vorhatte, und wollte ihn davon abhalten. Für ihren Geschmack war genug Blut geflossen. Obwohl sie ihn abstoßend fand, würde ihn ein weiterer Angriff auf die Terroristen gewiss nur selbst das Leben kosten. Sie flehte ihn an, es bleiben zu lassen, doch Fizzler hörte gar nicht zu.

»Ich werd’s tun, ich tu’s ja schon«, jammerte er und sah zu einem Unsichtbaren auf, der neben ihm zu stehen schien. Schritt für Schritt näherte er sich dem Cockpit. Die Tür stand weit offen, ausgefüllt von der breitschultrigen Gestalt Johans. Fizzler hob die Waffe, unschlüssig was er tun sollte. Wimmend wandte er sich an den Unsichtbaren. »Mein Meister, mein Herr, bitte … Ja, ja, Ich mach ja schon!«

Fizzler drückte den Abzug durch.

»Es tut mir leid«, schrie er, fuhr mit dem Schnellfeuergewehr von links nach rechts und rauf und runter, so lange, bis das Magazin leer war.

Johan wurde in den Rücken getroffen, in den Hals und in den Hinterkopf. Er stürzte augenblicklich nach vorne, begrub die Schubregler und die Hebel für die Landeklappen unter sich. Fizzlers Kugeln richteten jedoch noch weitaus größeres Unheil an. Sie durchsiebten die Rückenlehnen von Hotchkiss und Grant, durchtrennten Kabel und Leitungen, schlugen in die Armarturen ein, ließen Bildschirme platzen und Anzeigen erlöschen.

Grant öffnete seinen Sicherheitsgurt und sackte sofort zusammen. Auf seiner Brust wuchsen vier dunkelrote Flecken, die sich immer weiter ausdehnten. Seine rechte Hand streifte den Sidestick, drückte ihn nach vorn. Die Nase der Supersonic hob sich, nur um gleich darauf zu sinken; steil zu sinken.

Reflexartig wollte Hotchkiss zur Seite greifen, um seinen toten Kopiloten vom Sessel zu ziehen und die Kontrolle über das Flugzeug zurückzugewinnen. Doch nichts geschah. Seine Hände blieben, wo sie waren, rührten sich keinen Millimeter. Hotchkiss brüllte vor Verzweiflung, als er begriff, was geschehen war. Eine der Kugeln hatte sein Rückenmark getroffen. Alles unterhalb des Halses war gelähmt.

Die Supersonic sank immer weiter, rauschte unaufhaltsam dem Erdboden entgegen. Sie stürzten ab, und Hotchkiss konnte nichts dagegen tun.

Der Moment der Ruhe währte nicht lange. Die Passagiere kamen wieder zu Bewusstsein, ebenso die Terroristen. Tom beobachtete sie alle, Veyron tat das Gleiche. Am Boden blieb lediglich der Kerl, den Veyron mit der Videokamera getroffen hatte. Die dürre Hexe kümmerte sich jetzt um ihn, setzte ihn in einen Sitz und versuchte, ihn aufzuwecken. Plötzlich erklang Maschinengewehrfeuer aus dem vorderen Flugzeugbereich, nur einen Moment später kippte die Supersonic scharf nach unten. Diesmal hielt sie die Richtung. Einige Passagiere begannen von Neuem zu schreien. Toms Herz schlug wie verrückt, er atmete scharf aus. Sie stürzten ab!

Veyron schnallte sich los und stand auf. Tom traute seinen Augen nicht. »Was haben Sie vor?«, schrie er voller Angst und Verzweiflung.

Als Antwort griff Veyron zur Seite, öffnete Toms Sicherheitsgurt und zog den Jungen nach draußen auf den Gang. »Retten, was zu retten ist«, antwortete er und kämpfte sich vorwärts.

Die Hexe sah die beiden kommen, hob ihre Waffe und stellte sich ihnen in den Weg. Veyron ließ sich zu Boden fallen, schlitterte ihr entgegen und grätschte in ihre Beine. Tom sah den spindeldürren Körper der Hexe vom Boden abheben. Sie schrie auf, doch es half ihr nichts. Mit voller Wucht prallte sie in die Glastür. Sie splitterte unter dem Gewicht der Terroristin, die vor Schmerz keuchte und reglos zu Boden rutschte. Tom wusste nicht, ob sie tot oder nur bewusstlos war, aber es war ihm auch egal. Veyron befand sich schon in der First Class, rappelte sich wieder auf und hangelte sich an den Sitzen weiter nach vorne. Er kam am Anführer der Terroristen vorbei, der gerade den Kopf hob. Ein Fußtritt Veyrons beförderte ihn jedoch sofort wieder ins Land der Träume.

Hinter Tom war auch Dimitri aufgestanden. »Was hat dein Dad denn vor? Was tut er denn da?«, rief der Blogger aufgekratzt.

»Er ist nicht mein Dad!«, giftete Tom ihn an. Das wollte er auf keinen Fall hören! »Und ich glaub, er will das Flugzeug fliegen.«

Plötzlich wurde Dimitri grob gepackt und zu Boden gedrückt. Eine blutjunge Terroristin, kaum älter als er, stürzte sich auf ihn. Gnadenlos drückte sie ihm ihre Pistole ins Genick. »Nicht schießen, nicht schießen! Wir retten nur das Flugzeug«, schrie er die Terroristin an.

Tom erreichte endlich die First Class. Er entdeckte die vielen Toten und überall das Blut. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Schnell folgte er seinem Paten. Tom kam gerade an den Toiletten der Crew vorbei, als er aus einer der Kabinen ein heftiges Hämmern hörte. Er wollte den Menschen, sicher ein Crewmitglied, befreien und fummelte nach der Klinke. Die Tür war verschlossen, der Öffner fehlte.

»Zurück mit dir«, rief der Eingesperrte plötzlich.

Tom sprang zur Seite. Im nächsten Augenblick zersplitterte die Tür, als hätte jemand ein Katapult darauf abgefeuert. Heraus trat Nagamoto, mit blauen Flecken übersät, aber ansonsten vollkommen gesund. Er sah Tom finster an, anschließend eilte er nach vorn ins Cockpit, wo Veyron an dem toten Terroristen zerrte, der noch immer auf den Schubhebeln lag, und ihn unter größter Anstrengung nach draußen zu ziehen versuchte. Nagamoto kam ihm zur Hilfe. Die Maschine sauste immer noch dem Erdboden entgegen. Durch die Fenster konnte Tom schon deutlich riesige Berge und Wälder ausmachen. Er schauderte, als er das ganze Blut auf den Armaturen erblickte. Trotzdem trat er näher und schlüpfte hinter die Lehne des Kopilotensessels.

Kaum war der Kopilot weit genug nach draußen geschafft, als Veyron schon über seinen toten Körper hinwegsprang und sich in den Sessel setzte.

»Volle Schubumkehr, die Hebel in der Mitte«, rief der bewegungsunfähige Pilot.

Veyron tat, wie ihm geheißen. Äußerlich blieb er ganz ruhig, als würde er nie etwas anderes tun, als abstürzende Flugzeuge zu retten. Die Supersonic bockte und schüttelte sich, als die vier riesigen Triebwerke plötzlich in die andere Richtung schaufelten.

»Vorsichtig die Nase hochziehen«, keuchte Hotchkiss.

Veyron zog gefühlvoll am Sidestick. Es änderte sich gar nichts! Toms Herz raste. Die Bäume waren schon zu sehen, sie wurden immer größer. Endlich, ganz leicht, hob sich die Nase der Maschine. Sein ganzes Gewicht schien sich in seine Füße verlagern zu wollen. Er krallte sich im Gästesitz fest. Nagamoto, der hinter ihm die Leichen nach draußen schaffte, rutschte im Crewbereich aus und stürzte. Tom starrte durch die Cockpitfenster, auf die die Baumkronen zurasten – auf gleicher Höhe wie das Flugzeug. Es gab einen furchtbaren Knall, Alarmsirenen begannen zu heulen.

Der Pilot fluchte laut. »Es hat die Triebwerke drei und vier erwischt. Sie sind in die Bäume geraten! Sie brennen! Wir müssen notlanden, oder wir explodieren in der Luft«, rief er aus.

Veyron schaffte es endlich, die Supersonic über die Baumwipfel hinwegzuziehen. »Hier ist überall Wald«, sagte er so ruhig wie möglich.

»Backbord ist eine Lichtung, groß genug für einen Landeversuch«, japste Hotchkiss.

Veyron kippte die Supersonic heftig auf die linke Seite, worauf er vom Piloten ermahnt wurde, dass dies hier kein Jagdflugzeug wäre.

»Und ich bin kein Pilot«, gab Veyron scharf zurück.

Er korrigierte die Drehung ein wenig. Tom schaute wieder zurück in die First Class. Nagamoto schleifte einen wimmernden Punk am Kragen nach hinten, drückte ihn in einen Sessel und befahl ihm, sich anzuschnallen. Er selbst tat genau das, und auch Tom klappte den Gästesitz aus und legte den Gurt an. Von weiter hinten konnte er die anderen Terroristen herannahen sehen. Da war wieder sein Ex-Objekt Nr. 1. Blut lief ihr aus einer scheußlichen Platzwunde unterhalb des Haaransatzes übers Gesicht. Sie entdeckte das Chaos in der First Class, packte ihren bewusstlosen Anführer und hievte ihn auf einen freien Sitz. Nachdem sie ihn angegurtet hatte, setzte sie sich neben ihn und hielt ihn fest. Tom fand es erstaunlich, dass sie mehr darum bemüht war, ihren Kameraden zu retten, als sie einfach alle mit der Waffe niederzumähen.

Veyron saß derweil ganz konzentriert hinter dem Steuer, lenkte die Supersonic wieder in eine gerade Flugrichtung. Langsam gingen sie tiefer.

»Landeklappen ausfahren. Der Hebel links von Ihnen«, befahl Hotchkiss. Ein Rumpeln ging durch die Maschine, sie hob sich ganz leicht. Die Baumkronen kamen wieder gefährlich nahe. Der Pilot schien nichts dagegen zu haben. »Fahrwerk ausfahren«, befahl er.

Veyron zog den entsprechenden Hebel. Äste und Blätter peitschten gegen die Tragflächen, doch Veyron hielt den Kurs. Die Lichtung lag deutlich sichtbar vor ihnen.

»Sie müssen ganz gerade anfliegen, die Maschine darf kein bisschen seitwärts stehen. Wenn Sie aufsetzen, dann tun Sie das mit dem Heck, stellen Sie die Nase steil«, rief Hotchkiss.

Veyron tat sein Bestes. Ein Schlag nach dem anderen jagte durch den Flugzeugrumpf, als sie durch die Baumkronen pflügten. Endlich war die Lichtung unter ihnen, und der Erdboden schoss heran.

Veyron zog am Sidestick, stellte die Nase der Maschine hoch und zählte die Sekunden. Es vergingen keine zwei. Das Flugzeug schlug auf. Tom brüllte aus Leibeskräften, um seine ganze Anspannung und Angst endlich rauszulassen. Der Aufprall war gigantisch, ebenso der infernalische Lärm, der folgte. Eine gewaltige Explosion jagte durch die Maschine. Tom konnte den Korridor hinunter Feuer sehen, das sich durchs Flugzeug fraß. Ein grausiges Kreischen und Brechen erfüllte die Supersonic. Auf einmal spürte er frischen Wind. Als er aufblickte, war die First Class verschwunden, alles schien sich zu drehen. Schlagartig wurde die Welt schwarz.

Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 2

Подняться наверх