Читать книгу Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 3 - Tobias Fischer - Страница 3
Die Weiße Königin
ОглавлениеDie Schrate drängten sich immer näher um sie, johlten, jubelten und schwangen ihre Waffen. Einige der abscheulichen Kreaturen schlugen bereits vor, wie man die Gefangenen am besten abmurksen könnte. Man sollte sie nicht erschlagen, sondern von den Fenrissen zerfetzen lassen. Dafür holten sie einige der riesigen Monster aus dem Gebüsch und lockten sie mit bösartigen Versprechungen in den Festungshof. Mordgierig fletschten die Bestien ihre Zähne.
Aus dem Festungsturm zerrten die Schrate Alec, die Jacke zerfetzt und viele blutige Striemen im Gesicht. Widerstandslos ließ sich der Anführer des Roten Sommers durch die kreischende Meute führen.
Tamara konnte es immer noch nicht fassen. Ausgerechnet Alec hatte sich versteckt, ausgerechnet er, der schießwütigste und gewissenloseste unter allen Kämpfern des Roten Sommers. Die Schrate stießen ihn zu den anderen Gefangenen. Auch jetzt zeigte er kein Zeichen des Widerstandes. Ein Schrat brachte seine Pistole, schleuderte sie ihm mit einem verächtlichen Grunzen vor die Füße. Alec wagte es nicht, sie aufzuheben. Tamara bedachte ihn mit vorwurfsvollen Blicken, die er nicht zu erwidern wagte und stattdessen beschämt zu Boden starrte.
Das chaotische Geschrei der Schrate wurde von neuem Lärm unterbrochen. Knattern und Brummen erfüllte die Luft. Über den Baumkronen erschien eine Giganthornisse, größer als alle bisherigen, mindestens sieben Meter lang. Eine Königin. Sie senkte sich herab, nur wenige Meter von den vier Gefangenen entfernt. Die Schrate machten ihr respektvoll Platz. Sofort kehrte Ruhe ein.
»Der Herr ist gekommen«, verkündete der Hauptmann ehrfürchtig. Alle Schrate reckten die Köpfe in die Richtung des Dunklen Lords.
»Und hier ist Nemesis«, raunte Veyron.
Auf dem Rücken der Hornisse, gleich hinter dem riesigen Kopf, saß eine finstere Gestalt, zweifellos menschlich und einen schwarzen Anzug tragend. Der Kopf war unter einem dunklen Kapuzenumhang verborgen, die Hände steckten in schwarzen Handschuhen mit eisernen Fingerkrallen. Das Gesicht war von einer spiegelglatten, konturlosen, eisernen Maske geschützt. Allein seine bösen Augen leuchteten aus zwei schmalen Schlitzen.
Tamara hob ihre Pistole und zielte. Sie würde dieses Monster, das für den Tod ihrer Kameraden verantwortlich war, umbringen. Ohne jeden Zweifel würde diese Tat ihr eigenes Leben fordern, doch wenigstens täte sie einmal etwas Richtiges. Nemesis schien ihr Vorhaben allerdings vorherzusehen. Er ballte eine Faust, und sogleich begann Tamaras Pistole zu zittern. Sie musste sie mit aller Kraft festhalten, damit sie nicht einfach davonflog. Mit einem Knall zersprang die Waffe in ihre Einzelteile. Tamara keuchte überrascht, stolperte und fiel zu Boden. Entgeistert starrte sie den zerstörten Griff an. Ein entsetzter Ausruf von Tom ließ sie wieder aufblicken.
Zwei Schrate, gezeichnet von vielen Schlachten, der eine größer, der andere kleiner, führten Jessica heran. Ihr Gesicht war ausdruckslos und leichenblass. Die blauen Augen blickten verloren drein, starrten ins Nichts. Ihre Bewegungen waren langsam, wirkten wie ferngesteuert.
»Sie haben sie umgebracht«, keuchte Tom fassungslos.
Tamara hielt das für unmöglich. Leichen konnten nicht mehr gehen, und es waren ihre eigenen langen Beine, die Jessica trugen.
Dann sprach Nemesis. Seine Stimme war ein giftiges Zischen, erfüllt von purer Boshaftigkeit, kein bisschen menschlich. Dennoch glaubte Tamara, diese Stimme schon einmal gehört zu haben – es war noch gar nicht so lange her.
»Wer sich mir anschließt, der wird verschont«, rief er den Gefangenen zu.
Nagamoto rührte keinen Muskel, auch Veyron und Tom taten nichts dergleichen, darum blieb auch Tamara einfach am Boden sitzen. Neben ihr lagen Xenia und Dimitri. Sie bewegten sich nicht mehr. Niemals würde sie sich dem Mörder der beiden anschließen.
Plötzlich trat Alec vor. »Was springt für mich dabei heraus?«, fragte er.
Der Dunkle Lord wandte sich ihm zu und begutachtete ihn einen Moment. »Unvorstellbarer Reichtum und große Macht, Alec McCray. Und Bedeutung. Es wird in ganz Elderwelt niemanden geben, der sich deines Namens nicht erinnern wird«, zischte Nemesis. Er streckte die Hand in einer auffordernden Geste aus.
Tamara schaute ihren Anführer voller Entsetzen an. »Nein, Alec! Das kannst du nicht tun. Siehst du nicht, was das für einer ist?«, fragte sie voller Verzweiflung, doch Alec schenkte ihr nur ein höhnisches Lachen.
»Besser, als hier zu sterben. Du kannst ja bei deinen neuen Freunden bleiben. Mal sehen, wie viel sie dir nutzen, wenn dich diese Kreaturen zerhacken. Ich dagegen entscheide mich fürs Weiterleben«, erwiderte er kalt und bedachte vor allem Nagamoto mit einem verächtlichen Blick.
Die Schrate ließen Alec bis zur Giganthornisse durch. Dort ging er tatsächlich auf die Knie und verbeugte sich vor seinem neuen Herrn. Tamara war zu schockiert und enttäuscht, um überhaupt irgendwie zu reagieren.
Nemesis quittierte diese Geste der Unterwerfung mit einem zufriedenen Nicken. Er wandte sich an seine Ungeheuer. »Wir sind hier fertig. Sammelt ein, was ihr brauchen könnt. Tötet die Gefangenen, habt euren Spaß mit ihnen!«
Die Schrate, bislang ehrfürchtig still, wurden wieder lebendig. Dieser letzte Befehl zauberte ein schiefes Grinsen auf ihre Mäuler.
»Ich werd’ zuerst der dreckigen Amazone die Kehle durchschneiden. Schauen wir mal, wie lang sie blutet«, fauchte der große Hauptmann. Er kam nach vorn, in den Händen zwei scharfe, gebogene Messer. Er leckte sich mit seiner schwarzen Zunge über die Lippen.
Im nächsten Augenblick stak ein Pfeil in seinem Hals und schickte ihn gurgelnd zu Boden.
Jeder erschrak, die Gefangenen wie auch die Schrate. Aus allen Richtungen zischten jetzt Pfeile heran, ein jeder brachte den Tod in die Reihen der Unholde. Kreischend und heulend stürzten sie durcheinander, den Befehl ihres Herrn vollkommen vergessend.
Nemesis auf seiner Riesenhornisse trieb sein Tier an und packte die teilnahmslose Jessica. Noch bevor Nagamoto oder Veyron der armen Frau zur Seite eilen konnten, hatte er sie schon zu sich auf den Sattel gezogen. Der Sturm der schlagenden Hornissenflügel hinderte die beiden am Näherkommen. Das gewaltige Biest hob sich in die Lüfte.
Tamara hechtete nach vorn, schnappte sich Alecs Pistole, wirbelte herum und schoss. Der Zorn brodelte in ihr. An nichts anderem war sie interessiert, als sich zu rächen. Alec hatte sie alle verraten und dem Tod überlassen, nur um seine eigene Haut zu retten. Sie erwischte zwei Schrate, die den Verräter in Sicherheit bringen wollten. Ihr dritter und letzter Schuss traf Alec in den Rücken. Mit einem gellenden Aufschrei stürzte er, aber noch war er nicht tot. Sie hörte ihn vor Schmerzen schreien, sah, wie er sich mit den Händen durch das Gras zog. Ihr Treffer hatte seine Wirbelsäule verletzt.
Tamara war wild entschlossen ihm den Rest zu geben, doch im nächsten Moment packte die Giganthornisse Alecs Körper und verschwand im Himmel. Nemesis entkam mit seiner Beute und scherte sich nicht mehr weiter um das Schicksal seiner abscheulichen Krieger, die jetzt zum Großteil bereits tot oder sterbend im Gebüsch lagen. Die Schrate rannten, doch noch immer schwirrten Pfeile aus dem Unterholz, erwischten sie im Rücken und ließen sie zu Boden gehen.
Endlich zeigten sich die Angreifer. Große Männer und Frauen sprangen aus dem Gebüsch, Köpfe und Gesichter unter dunkelgrünen Kapuzen verborgen, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Einige zogen lange Schwerter und setzten den Schraten zu Fuß nach. Leichtfüßig wie Gazellen sprangen sie durchs Unterholz, jedes Hindernis problemlos überwindend. Die Streiche ihrer Schwerter waren genauso tödlich wie ihre Pfeile. Als Nächstes galoppierten Reiter mit ihren Pferden über den Festungshof, feuerten aus dem Ritt Pfeile auf Schrate und Fenrisse. Die riesigen Bestien heulten, stürzten mit durchbohrten Kehlen tot zur Seite. In nicht einmal zwei Minuten war der Kampf vorüber.
Die Schrate und der Großteil ihrer unheimlichen Angreifer waren in den Wäldern verschwunden, nur die vielen scheußlichen Leichen auf dem Festungshof kündeten noch von der Schlacht.
Einer der Reiter kehrte zurück, zusammen mit einer Schar Fußvolk. Er nahm die dunkelgrüne Kapuze ab. Ein schönes, aber strenges, jugendliches Gesicht blickte ihnen entgegen, die Augen eisblau und das dunkle Haar lang und gepflegt. Trotz seiner Jugend wirkte der Reiter stark und erfahren. Sein strenger Blick gebot Ehrfurcht und Respekt. Auf sein Handzeichen hin nahmen auch die anderen fremden Krieger ihre Kapuzen ab und enthüllten ebensolche Antlitze von herber Anmut, aus denen eine ewige Jugend zu leuchten schien.
»Elben«, entfuhr es Tom begeistert. »Echte, richtige Elben!«
Der Reiter trieb sein Pferd bis auf einen Meter an die vier Menschen heran. »Seid gegrüßt, Meister Nagamoto. Es ist schön, wieder einem Simanui zu begegnen. Doch gilt dies nicht für Eure Begleiter. Menschen sind im Waldland nicht willkommen!«, rief er in fehlerfreiem Englisch mit einem angenehmen, melodischen Unterton.
Nagamoto trat vor und deutete eine Verbeugung an. »Ihre Anwesenheit war nicht ihre Entscheidung, Faeringel, Herr der Jäger Ihrer Majestät, der Königin des Volkes der Talarin. Wir sind alle Opfer jenes Hexenmeisters, den Eure Leute soeben verjagt haben.«
Der Reiter, Faeringel, schien überrascht. Er verbeugte sich knapp. »Verzeiht, Meister Simanui. Als wir Euch in den vergangenen Tagen folgten, gewannen wir den Eindruck, dass einige Eurer Begleiter keine hehren Absichten verfolgten. Es liegt jedoch nicht an mir, über sie zu richten. Die Königin hat befohlen, sie im Palast vorzuführen«, sagte er und schenkte dabei vor allem Tamara einen skeptischen Blick. Danach wandte er sich an seine Leute. »Untersucht die Toten. Vielleicht erhalten wir so Aufschluss, wie die Schrate in diese Wälder gelangen konnten und welch neuartige Bestien sie mitgebracht haben.«
Die Elbenjäger verbeugten sich und machten sich lautlos in alle Richtungen davon.
Tamara löste sich von den anderen und humpelte dorthin, wo Dimitri und Xenia Hand in Hand am Boden lagen, ein Lächeln auf den Lippen. Tamara brach in die Knie und begann zu schluchzen. Diesmal kämpfte sie die Tränen nicht wieder fort, sondern weinte einfach drauflos. Veyron, Tom, Nagamoto und ein paar Elben eilten zu ihr.
»Warum hat es die beiden erwischt und nicht mich? Sie waren noch so jung und naiv. Sie bekamen nie die Chance, ihr Leben zu leben. Ausgerechnet jetzt, wo Xenia endlich jemanden gefunden hatte, dem sie vertrauen konnte. Aber ausgerechnet ich bin übrig geblieben, als Letzte des Roten Sommers. Dabei hätten es diese beiden doch so viel mehr verdient.«
Faeringel stieg von seinem Pferd. Er trat an die beiden reglosen Körper heran, bückte sich und untersuchte sie.
Veyron bedachte dagegen Tamara mit prüfenden Blicken. »Sie sind selbst schwer verletzt, Miss Venestra. Zumindest deutet der immer größer werdende Fleck auf Ihrem Hemd darauf hin«, erkannte er.
Tamara sah an sich herab. Tatsächlich. An ihrer Hüfte breitete sich ein Blutfleck aus. Sie zog das Shirt hoch, eine tiefe, blutende Wunde kam zum Vorschein. Dieser letzte Schrat hatte sie also doch noch mit dem Schwert erwischt. Jetzt, wo ihr diese Verletzung bewusst wurde, sackte sie zusammen. Tom und Nagamoto eilten an ihre Seite.
Sie spürte den brennenden Schmerz und die Auswirkungen des Blutverlusts. Allmählich begann sie, das Bewusstsein zu verlieren. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich wach halten.
»Jemand muss ihr helfen«, rief Tom voller Panik, aber Tamara schob ihn grob zurück.
»Nein, es ist besser, wenn ich jetzt sterbe. Was soll ich hier noch? Alle Menschen, die ich kannte, sind tot. Ich wäre allein in einer Welt voller Feinde«, keuchte sie.
Nagamoto baute sich vor ihr auf und reichte ihr die Hand. »Noch sind Sie nicht allein, Tamara. Es gibt hier zumindest drei Menschen, die in Ihnen mehr sehen, als Sie selbst in sich zu erkennen glauben. Für heute sind genug Menschen gestorben!«
Zögerlich ergriff Tamara seine Hand, und er zog sie hoch. Es war fast unmöglich, seinen gebieterischen Worten nicht Folge zu leisten. Zwei Elbenjäger warfen ihr einen Umhang über die Schultern und stützten sie.
Faeringel erhob sich wieder, musterte Tamara streng und bestimmend. »Wir werden Euch verarzten. Anschließend bringen wir Eure Freunde zum Palast der Königin. Ihr irrt Euch, Lady Tamara. In ihren Leibern steckt noch Leben, doch es bedarf mächtigerer Heilkunst, als wir sie hier besitzen, um sie zu retten. Ich denke, ich vermag die beiden am Leben zu halten, bis wir sie der Königin übergeben können.«
Eine Schar Elben kam herbei, die Bahren aus Holz mit sich führten. Vorsichtig betteten sie Dimitri und Xenia darauf. Tamara wollte nicht getragen werden. Sie begnügte sich damit, sich die Wunden säubern zu lassen. Die Elben träufelten eine goldene Flüssigkeit darauf, verbanden sie danach mit den Blättern eines wohlriechenden Krauts und einer Stoffbandage. Anschließend gaben ihr die Elben einen dunkelgrünen Umhang, in den sie sich einwickelte.
Veyron nutzte derweil die Zeit, um sich die zahllosen Schratleichen genauer anzusehen, ihre Waffen zu untersuchen – und auch die toten Fenrisse. Wie ein Kind am Weihnachstabend zwischen seinen Geschenken hin- und hereilte, so hüpfte nun Veyron voller Aufregung mal hierhin, mal dorthin. Er roch an den Leichen, zupfte ihnen die Haare aus, schnitt mit dem Taschenmesser Fetzen aus ihrer Kleidung. Mit seinem Smartphone (es hatte alle Strapazen wundersamerweise unbeschadet überstanden) untersuchte er Haut und Kleidung der toten Ungeheuer (mit einer Vergrößerungsglas-App, wie Tom annahm). Er sah ihm eine Weile interessiert zu und wartete, bis sein Patenonkel zu ihm zurückkam.
»Sehr aufschlussreich. Ich glaube, ich kann jetzt alle losen Fäden miteinander verknüpfen. Außerdem darf ich sagen, dass aufgrund meiner jüngsten Erkenntnisse Eile angebracht ist. Wenn wir eine vollkommene Katastrophe für Elderwelt – und auch für die Unsrige – abwenden wollen, müssen wir das Juwel des Feuers vor Nemesis finden. Wir haben in diesem Wald viel zu viel Zeit vertrödelt. Lasst uns die Sache jetzt endlich von der richtigen Seite anpacken«, sagte er, erfüllt von neuem Tatendrang.
Tom wandte sich an Nagamoto, um ihn zu fragen, wo sie nun eigentlich hingingen.
Der Simanui grinste begeistert. »Nach Fabrillian, ins letzte große Reich der Elben.«
Nachdem Tamara verarztet war, wurden die Toten bestattet. Said und Carlos legten sie in zwei tiefe Gräber und markierten sie mit großen Felsblöcken. Blitzschnell hatten die Elben auf Nagamotos Geheiß Inschriften in die Felsen gemeißelt, die kurz und knapp Auskunft über die Toten gaben.
Für Tom war es einer der traurigsten Tage seines Lebens. Eigentlich hatte er geschworen, die ganzen Terroristen für alle Zeit zu hassen, jetzt ging es ihm dennoch irgendwie nahe. Vielleicht lag es an dem langen und letztlich verlorenen Todeskampf, den Carlos durchlitten hatte, vielleicht aber auch an den Tränen, die Tamara vergoss. Ihr Gesicht war kreidebleich, aller Lebensmut schien sie verlassen zu haben. Tom hoffte, dass es nur an den von den Schraten verursachten Verletzungen lag. Wenn sie leiden, sind doch wieder alle Menschen gleich, dachte er trübsinnig.
»Nun liegen also im Hof von Ferranar zwei weitere Krieger begraben«, sagte Nagamoto nach einer Weile.
»Den Tod vor Augen haben sie ihr Leben hingegeben, um die Wehrlosen zu schützen. Das soll uns allen eine Lehre sein, dass selbst in der tiefsten Finsternis noch immer ein Rest von Licht zu finden ist. Manchmal geht dieses Licht einen Irrweg, bis es zutagetritt. Auch wenn es dann nur kurz scheint, so leuchtet es dafür oft umso heller. Dies ist eine würdige Grabstätte für Said und Carlos, ein Ort, an dem schon viele Schlachten gegen die Mächte der Finsternis geschlagen wurden. Hier nahmen die alten Simanui ihren Ursprung, genauso wie der neue Orden. Nun lasst uns aber aufbrechen. Zwei weitere Seelen bedürfen der Rettung!«
Nagamoto winkte einigen Elben, die im Hintergrund standen. Sofort eilten sie herbei, einen weiteren Felsblock in den Händen, den sie nun neben die Gräber stellten. Er besaß ebenfalls eine Gravur, und Nagamoto übersetzte die elbischen Schriftzeichen:
Dieser Stein steht zur Erinnerung an Harry Wittersdraught, John Fizzler und Claude. Ihre Leiber ruhen in keinen Gräbern, doch sollen sie nicht vergessen sein.
Die Elben wollten auch einen Stein für Jessica und Alec aufstellen, aber Nagamoto lehnte dies ab, da Jessica vielleicht noch immer am Leben war – als Gefangene von Nemesis. Gegen ein Andenken an Alec verwehrte sich Tamara.
»Der soll erst ein Grab bekommen, wenn ich ihn dort hineinbefördert habe«, brummte sie voller Verachtung.
Faeringel ließ ein paar seiner Männer zurück, um auch die toten Schrate zu bestatten. Ihre Leiber wurden auf einen großen Haufen geworfen und in Brand gesteckt.
Tom sah dieses Feuer jedoch nicht mehr, lediglich die große schwarze Rauchsäule, die zwischen den Bäumen in den Himmel stieg. Für ihn und die anderen ging die Reise weiter. Die Elben setzten sie auf vier Pferde und führten sie auf einem schmalen Pfad, der bald steil an der Seite eines Berges hochführte, in den Wald hinein. Dabei sprachen die Elben kein Wort, kümmerten sich dafür aber um Toms Bein. Es tat wegen des Fenris-Bisses immer noch weh, doch die Elben träufelten einfach ihr magisches, goldenes Elixier darauf. Schon bald waren sämtliche Schmerzen verschwunden. Die Reise dauerte bis in die Abendstunden. Zum vierten Mal seit ihrer Bruchlandung versank die Sonne im Westen Elderwelts und schickte eine rote Glut über das Land.
Veyron berichtete Nagamoto den ganzen Weg über von seinen Erlebnissen in der Menschenwelt. Wie ihn das Verschwinden von Floyd Ramer auf die Spur Elderwelts gebracht, wie er Rashtons Romane als Wegweiser und Informationsquelle genutzt, wie er Kobolde auf einem Schrottplatz entdeckt hatte und danach als Monster-Detektiv tätig geworden war.
Nagamoto hörte sich alles geduldig an. Hie und da ergänzte er Wissenslücken durch ein paar Kommentare. Schließlich kam Veyron zu der Stelle, wo er von Professor Darings Schicksal erfahren hatte. »Ihr Mentor wurde ermordet, daran besteht leider nicht der geringste Zweifel. Er wurde von einem glühend heißen Schwert erstochen, mitten durchs Herz. Das Sonderbare war nur, dass Daring sich nicht zur Wehr gesetzt hat. Dabei verfügte er durchaus über eine gleichartige magische Waffe wie Sie. Die ist übrigens spurlos verschwunden, aber ohne jeden Zweifel war sie nicht die Tatwaffe. Ich glaube auch nicht, dass Nemesis das Schwert gestohlen hat«, berichtete Veyron.
Nagamoto schwieg lange. Tom konnte nicht erkennen, ob er wütend oder traurig war, oder ob er überhaupt etwas fühlte. Aber seine Augen schienen plötzlich um Jahrzehnte gealtert. »Der Professor war ein meisterhafter Schwertkämpfer. Wenn er sich ohne Gegenwehr töten ließ, verfolgte er damit eine bestimmte Absicht. Ihre Vermutung war, dass er mir eine Information zukommen ließ, nicht wahr? Tatsächlich habe ich auf wichtige Nachrichten gewartet, sie jedoch niemals erhalten. Sie erwähnten bereits das Juwel des Feuers, genau darum ging es. Der Professor war dem Juwel auf der Spur, doch er kam nicht mehr dazu, mir mehr zu verraten. Über den Aufenthaltsort des Juwels weiß ich so viel wie Sie«, erwiderte er.
Veyron machte ein enttäuschtes Gesicht, doch dann schnippte er mit den Fingern. »Natürlich! Der Brief! Es muss in diesem Brief stehen.«
Rasch erzählte er Nagamoto von dem Briefumschlag, den er auf Darings Schreibtisch gefunden und heimlich eingesteckt hatte. Ein einfacher, weißer, aber sehr teurer Umschlag, darin ein Schreiben, das Daring mit Zaubertinte verfasst hatte.
»An wen war der Brief adressiert?«, fragte Nagamoto neugierig.
»Es stand nur ›an die Weiße Königin‹ darauf. Ist das Ihr Codename? Das frage ich mich nämlich schon seit dem Tag, als ich diese Anschrift las. Die Weiße Königin ist eine Schachfigur«, sagte Veyron.
Nagamoto lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Sie werden der ›Weißen Königin‹ schon bald selbst begegnen. Sie ist die Herrin der Talarin und Königin dieses Landes. Sie hat uns Faeringels Jäger geschickt und auch sonst sicherlich alles getan, um uns zu helfen. Sobald wir bei ihr sind, werden wir hoffentlich mehr über das Juwel des Feuers erfahren«, verkündete er mit feierlicher Stimme.
Tom war richtig aufgeregt. Die Wunder in diesem Land nehmen einfach kein Ende. Zuerst zeigt uns Elderwelt seine Schrecken und jetzt seine hellen Seiten. Ich fange an, mich hier richtig wohlzufühlen, dachte er. Er konnte sehen, dass auch Veyrons Begeisterung bei der Nachricht über das bevorstehende Treffen mit der Königin der Elben erneut erwachte.
Es war später Nachmittag, als sie bei einem großen Wasserfall anhielten, dessen Wasser von hoch oben aus einer Felsspalte herabstürzte und den Weg in die Täler als reißender Gebirgsbach fortsetzte. Die Elben halfen den Reitern von den Pferden und gingen ganz nah an die Felsen heran. Die Kaskade donnerte vor ihnen in die Tiefe, feine Gischt benetzte ihre Gesichter. Tom leckte sich über die Lippen. Wirklich erfrischend, eine wundervolle Wendung, dachte er vergnügt. Die Elben führten sie an den Felsen entlang, so dicht, dass sie fast in den Bach abzurutschen drohten. Geschickt schlüpften sie durch eine kleine Nische im Gestein hinter die tosende Wasserwand. Nagamoto folgte als Nächster, dann machten es ihm Veyron, Tom und Tamara nach.
Klitschnass fanden sie sich in einer mit schimmernden Lämpchen erhellten Höhle wieder. Die Elben führten sie tiefer hinein. Tom stellte fest, dass sie auf einem hölzernen Steg marschierten, neben dem ein gurgelnder Bach in die Tiefen der Höhle rauschte. Der Wasserfall versorgte also gleich zwei reißende Gewässer. Es ging immer weiter hinunter, und das Felsgestein veränderte sich mit jedem Meter. Zunächst war es nichts weiter als grauer Granit, der in der Dunkelheit schwarz erschien. Das Licht der Lampen (in denen keine Flammen loderten, sondern sie schienen mit leuchtenden Kristallen gefüllt zu sein) fiel auf Einschlüsse von Bergkristall. Es wurden immer mehr davon, bis schließlich die Tunnelwände gänzlich kristallen waren, das Licht tausendfach brachen und reflektierten, so hell, als wäre es Tag. Der Tunnel weitete sich zu einer riesigen Höhle, und der Bach mündete in eine große Grotte inmitten der unwirklichen Kristalllandschaft. Das Licht der Lampen ließ gewaltige Tropfsteine aufleuchten und die Wände und Decke in allen Farben des Regenbogens glitzern. Falls jemand ein Paradies an Rubinen, Saphiren, Juwelen, Diamanten und Kristallen suchte, in dieser Grotte würde er fündig. Tom war überwältig, ebenso Veyron. Für einen Moment konnten die beiden keinen Schritt mehr tun. Hinter ihnen blieb sogar Tamara stehen, pures Staunen erfüllte ihr blasses, von Schwäche gezeichnetes Gesicht.
»Die Regenbogengrotte«, sagte Nagamoto. »Enfuithgrodh, wie sie in der Sprache der Talarin genannt wird. Kommt, die Boote warten bereits auf uns.«
Der Holzsteg endete in einer steilen Treppe, die bis ans Ufer der Grotte führte, wo mehrere große Holzkähne an einer Anlegestelle vertäut waren. Elben mit langen Ruderstangen warteten dort auf sie. Die Kähne waren lang genug, dass einer ausreichte, um sie vier und Faeringel aufzunehmen. Faeringels Männer bestiegen die anderen Boote, dort wurden auch die Bahren von Xenia und Dimitri untergebracht. Auf einen elbischen Befehl hin, den Tom natürlich nicht verstand, wurden die Taue gelöst. Die Fährmänner stakten die Boote durch das dunkle Gewässer.
»Es ist eine Reise von drei Tagen unter den Himmelmauerbergen hindurch. Wir fahren durch die Grotte, die den Eingang in eine lange Höhle bildet, durch die man unter dem Gebirge hindurchgelangt. Überschreiten können wir die Berge kaum, nicht mit so spärlicher Ausrüstung und Kleidung. Selbst die niedrigsten Gipfel der Himmelmauerberge liegen noch 4000 Meter über dem Meeresspiegel, die höchsten übertreffen sogar den Mount Everest unserer Welt«, klärte Nagamoto die anderen auf.
Die Fahrt durch die unterirdische Glitzerwelt verlief fast vollkommen lautlos. Kein Lüftchen regte sich hier unten, kein Flattern von Vögeln oder Fledermäusen, kein Summen und Sirren von Insekten. Niemand sagte ein Wort. Nachdem auch nur noch vereinzelt ein paar Lämpchen den Weg wiesen, wurde es um die Boote herum zudem recht dunkel. Stunden vergingen wie Tage, und die Tage glichen einer Ewigkeit. Sie alle verloren jedes Zeitgefühl. In der fast vollkommenen Stille schliefen sie bald ein und wurden nur kurz wach, wenn der Kahn schaukelte oder sich jemand räusperte.
Sie verließen die Regenbogengrotte und kamen in ein Höhlenlabyrinth, in dem die Edelsteinkolonien anderen fantastischen Kristallformationen wichen, die dank des Lichts der Elbenlampen in der Finsternis bläulich schimmerten.
Tamara schlief die ganze Fahrt über, lag zusammengekauert, schwitzend und zitternd im hinteren Bootsteil, drehte sich mal hierhin, mal dorthin. Sie bekam Fieber, und der Kampf gegen die Wunden zehrte ihre Kräfte auf. Veyron und Tom beobachteten sie voller Sorge, auch Faeringel schenkte ihr ihre Aufmerksamkeit. »Schratwaffen sind oftmals giftig. Sie werden nie geputzt und kommen mit allerhand Dreck und Unrat in Berührung. Die Wunden haben sich entzündet. Unser Trank vermag, den Tod von ihr fernzuhalten, doch um sie zu retten, braucht es die Heilkunst des Palastes. Außerdem liegt ein Schatten auf ihr, der ihre Genesung verhindert. Ich vermag nicht zu erkennen, was es ist, doch ich sehe den Kampf in ihrem Inneren«, meinte der Elb mit unheilschwangerer Stimme.
»Es ist der Widerstreit ihres Gewissens, der jetzt seinen Höhepunkt erreicht«, erklärte Veyron. »Sie war einmal erfüllt von Idealismus, von der Vision einer besseren Welt. Dafür wollte sie kämpfen, für die Freiheit der Menschen. Doch nach und nach zerbrachen ihre Träume. Was von der Freiheit übrig blieb, war nur bittere Wahrheit. Die hehren Ziele verkamen zu einem Schönreden des Wirklichen, um damit den Kampf, dem sie sich verschrieben hatte, weiter zu rechtfertigen, obwohl er längst verloren war. Keinem einzigen Menschen brachte sie die Freiheit, jedoch zahlreichen den Tod. Sie wurde zu einer Gejagten, gefürchtet und gehasst, anstatt geliebt und verehrt zu werden.
Welcher normale Mensch wird schon gerne gehasst und verachtet? Die letzten Menschen, die ihr noch Liebe und Verständnis entgegenbrachten, sind jetzt tot oder liegen im Sterben. Wir können uns nicht vorstellen, wie viel Kraft sie das alles gekostet hat, wie viele Nächte sie wach gelegen haben muss. Pausenlos drehten sich ihre Gedanken um ihr Tun, doch solange jemand bei ihr war, der für die gleichen Ideen einstand, kam ihr der Kampf nicht gänzlich sinnlos vor. Nun ist alles dahin – wie soll sie jetzt weiterleben? Für was soll sie noch kämpfen? Welchen Sinn macht es überhaupt noch, auf dieser Erde zu weilen?
Verdient Tamara Venestra daher nicht unser Mitleid? Hat sie denn nicht auch ein Recht darauf, geliebt und geachtet zu werden?«
Tom betrachtete seinen Paten aus großen und überrascht aufgerissenen Augen. Plötzlich bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er Tamara gestern noch den Tod gewünscht hatte. Unter keinen Umständen wäre er bereit gewesen, ihr zu vergeben. Jetzt aber, wo er sah, welche Gedanken seinen Paten beschäftigten, kam er sich selbst kaltherziger vor, als er es Veyron je vorgeworfen hatte.
Er musste schlucken, bevor er sagte: »Ich habe geglaubt, Ihnen sei das Schicksal der Menschen völlig egal. Für Sie gäbe es immer nur knallharte Fakten und Informationen. Doch jetzt …«
»Jetzt siehst du mich um Tamara unsichtbare Tränen vergießen. Ja, so ist das mit mir. Veyron Swift leidet im Stillen, einsam und für sich selbst. Um mich herum geschieht so viel Unrecht. Menschen sterben, ich stehe nur daneben und analysiere, kalt und unnahbar – und doch leide ich immerzu. Ich leide und trauere still und verborgen, niemals darf ich mich offen meiner Trauer hingeben, mein Verstand verbietet es. Es würde meine Urteilskraft zu stark beeinflussen. Ich würde meine Unabhängigkeit verlieren und damit die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.« Er lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und sog die kühle Luft der Höhle ein. »So schön diese Höhle auch ist, sie trübt meine Gedanken. Ich fange an, mich der Melancholie hinzugeben. Ich brauche Informationen, Tom. Informationen, um meinen Verstand daran zu wetzen. Das ist es, wofür ich geschaffen bin. Ruhe und Frieden, diese Dinge liegen mir nicht.«
Die Reise mit den Booten führte sie an zahlreichen weiteren Anlegestellen vorbei, welche die Talarin in dem Labyrinth unterhielten. An einer von ihnen frischten Faeringels Leute ihre Vorräte auf und versorgten die Wunden der Verletzten. Der golden schimmernde Heiltrank bewirkte zumindest bei Tom wahre Wunder. Der Fenris-Biss war im Nu verheilt, nur ein paar rote Punkte blieben auf der Haut zurück. Veyron und Nagamoto bekamen Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten und sich einige der wunderschönen Kristallformationen genauer anzusehen. Nach kurzem Schlaf ging die Reise weiter. Dreimal legten sie solche Stopps ein, bis die Boote an einer letzten Anlegestelle festmachten. Sie lag in einer relativ schmucklosen Grotte, in der nur wenige Edelsteineinschlüsse im Felsgestein glitzerten. Von dort aus mussten sie erneut eine hölzerne Treppe erklimmen und kamen endlich wieder ins Tageslicht. Für Tom schien es eine Ewigkeit her zu sein, tatsächlich hatten sie jedoch nur drei Tage in der Finsternis verbracht.
Jetzt standen sie auf der anderen Seite der Himmelmauerberge. Zum ersten Mal konnten sie das Gebirge in seinem ganzen gewaltigen Ausmaß bestaunen. Wie ein Ring schien es das ganze Land zu umschließen, lediglich im Südwesten waren keine Berge zu sehen. Die Wälder wuchsen bis an die Schneegrenze, darüber die mächtig emporragenden Gipfel, überzogen von der weißen Pracht. Zu Füßen der titanischen Berge und ihrer großen Wälder lagen die Ländereien Fabrillians. Das ganze Land war eine hügelige Ebene, nur hier und da erhob sich eine Anhöhe oder unterbrach ein See die Hügellandschaft. Sie sahen Wiesen, die einem Teppich gleich über dem ganzen Land lagen. Weiter südlich ging das saftige Grün in ein regenbogenbuntes Blumenmeer über, während der ganze Norden des Landes nur aus Wäldern bestand.
Nachdem sie einen stundenlangen Abstieg zurücklegt hatten, kamen sie zu einem weiteren Fluss, diesmal groß und breit. Er führte in Schlangenlinien von den Bergen im Norden nach Süden, bis er mit dem Dunst des Horizonts verschmolz. Am Ufer des Flusses standen weitere Boote für sie parat, größer als die in der Höhle und auch von anderer Form, lang und schmal. Jedes Boot war mit sechs Rudern ausgestattet. Die Elben setzten sich an die Riemen, während Faeringel am Heck das Steuer übernahm. Als alle an Bord waren, legten die Boote ab, und sie ruderten den Fluss hinunter. Die Reise ging nun weitaus schneller voran, fast schon im Eiltempo.
Obwohl es bereits Mitte August war, standen in Fabrillian die Felder noch immer in voller Blütenpracht. Tausende Bienen und daumenlange Hummeln sowie Schmetterlinge, groß wie die Tatzen eines Bären, tanzten um die Boote, eilten von einem Blumenhain zum anderen. Nirgendwo fand sich in diesem wunderbaren Land ein Zeichen von Tod und Verderben. Veyron meinte zu Tom, dass hier eindeutig ein Zauber am Werk sei, der dieses Land jung und lebendig hielt. Tom dachte jedoch nicht an Zauberei, sondern daran, hier den Rest seines Lebens zu verbringen. Kein Land, von dem er wusste, konnte es mit der vielfältigen Schönheit Fabrillians aufnehmen.
Soweit das Auge reichte, zogen sich ausgedehnte Lavendelfelder über die abfallende Hügellandschaft, unterbrochen von einigen Flecken Rosa, Rot, Weiß, Gelb, Blau und Violett. Faeringel ließ ihn wissen, dass Fabrillian das elbische Wort für Blumenreich war. Tom fand, dass es keinen besseren Namen für dieses Land gab. Dies war das Paradies, von dem die Menschen seit jeher träumten, verborgen hinter einem unsichtbaren Vorhang, obendrein von einem unüberwindbaren Gebirge umzingelt und so von allen anderen Ländern Elderwelts abgeschirmt.
Am frühen Abend – sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatten sicher an die 300 Kilometer zurückgelegt – erreichten sie endlich Fanienna, die große Hauptstadt Fabrillians. Hinter ihren Mauern teilte eine gewaltige Klippe das ganze Land von Ost nach West und fiel fast dreihundert Meter senkrecht in Tiefe.
Als wären sie aus purem Gold, erhoben sich im hellen Sonnenschein die ersten Gebäude der Stadt aus dem Grün eines weiten Waldes. Das Boot hielt in einem kleinen Hafen, nur wenige hundert Meter außerhalb der Stadt. Hier wurde der Fluss breit und bildete einen See. Die Hafengebäude waren relativ einfach gehalten, aus weißem und silbrigem Holz gebaut, doch so schön und kunstvoll, wie es nur Elben verstanden. Das Boot wurde von einigen blau gekleideten Elben an die Kaimauer gezogen und vertäut.
»Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter«, verkündete Faeringel und sprang auf die Mauer. »Der Fluss verlässt diesen See in viele Richtungen, durch die Stadt können wir mit dem Boot nicht fahren. Aber der Weg ist nicht weit. Nun kommt, die Königin erwartet uns bereits.«
Eine breite, gepflasterte Straße führte nach Fanienna hinein, zunächst um den See herum und danach direkt in die Stadt, dem Lauf eines kleinen, flachen Flusses folgend, den die Talarin Lendafon nannten, Mittelfluss, da er die Stadt in zwei Hälften teilte. Weitere, kleinere Straßen mündeten von Osten und Westen auf die Hauptstraße. Üppige Gartenanlagen lockerten die Bebauung auf, außerdem unterteilten zahlreiche kleine Bäche und Nebenläufe des Lendafon die Stadt. Das Sonnenlicht brach sich in den Fensterscheiben der Häuser und ließ sie in allen Farben des Regenbogens schillern. Fast alle Gebäude bestanden aus hellem Sandstein. Mit mathematischer Präzision stieß Linie auf Linie, und Kante lag an Kante. Die Fassaden vieler Häuser waren kunstvoll verziert, besonders die Ecken. Aus manchen hatten Steinmetze Statuen herausgemeißelt, andere waren rund geschliffen oder zum Dach hin abgeschrägt. Giebelspitzen entfalteten sich wie Lilienblüten, Windbretter bildeten das verschnörkelte Astwerk von Wein und Efeu nach. Die meisterhaft geschnitzten Balkonbrüstungen waren schwer beladen mit Kästen voller Blumen. Kübelgeranie in allen Farben erreichten beachtliche Größen. Ihre vielen Verzweigungen und Blütendolden hingen stockwerktief nach unten. Nicht wenige Häuser waren sogar ganz und gar von Heckenrosen, Blauregen oder Wein eingesponnen, nur die Fenster blieben frei. Zu fast jedem Grundstück gehörte auch ein Garten, großflächig und bestanden mit großen Bäumen, Sträuchern und noch mehr Blütenpflanzen. Weigelie, Rhododendron und Bougainvillea standen in Fanienna noch immer in voller Blüte. Viele der kleineren Häuser hatten die Elben einfach um die großen Bäume herumgebaut. Nichts liebte das Volk der Talarin mehr als die Natur, und man brachte ihr die höchste Ehrerbietung entgegen. Niemals fällten sie einen stolzen Baum zugunsten eines Bauplatzes. Ähnlich verhielt es sich mit der Straßenführung. Nichts folgte in Fanienna einem geraden Lauf, sondern die Wege wanden sich hierhin und dorthin, das Pflaster war unregelmäßig und bucklig, von dicken Wurzeln zerfurcht. Die Elben geboten dem Wachstum in ihrer Stadt keinen Einhalt.
»Das ist die Stadt aus meinen Träumen. Hier bin ich schon einmal gewesen, in der ersten Nacht nach der Bruchlandung«, rief Tom begeistert.
Alle schenkten ihm einen verwirrten Blick. Allein Nagamoto grinste breit und meinte halb im Scherz: »Du musst eine außerordentlich starke Bindung zu Elderwelt besitzen, wenn du bereits von Fanienna träumtest, ehe du von dieser Stadt wusstest.«
Zahlreiche gemauerte Brücken führten über die sieben Nebenläufe des Lendafon, welche die Stadt in ebensoviele Bezirke aufteilten, die wiederum nach den Flussarmen benannt waren: Ennananth, Meliananth, Huidinanth, Talasadur, Giurinanth, Throminhuindh und Isgarinant, frei übersetzt: Klippenbach, Mühlbach, Entenbach, Waldwasser, Heckenbach, Brücklauf und Splitterbach. Alle fließenden Gewässer liefen am südwestlichen Ende der Stadt wieder zu zwei größeren Armen zusammen und stürzten in Form gigantischer Wasserfälle über die Klippen, die den schlichten Namen »der Bruch« trugen. Und dort, auf der äußersten Klippe des Bruchs stand der Palast der Königin Fabrillians.
Das Palastareal war riesig, im Grunde nichts anderes als ein Wald, dessen Lichtungen in Gärten umgewandelt worden waren. Durch sie führte die einzige gerade Straße der Stadt – und auch die Einzige, die nicht gepflastert, sondern von Sand und Kiesel bedeckt war. Faeringel, die Bahrenträger, Tamara, Nagamoto, Tom und Veyron fanden sich nun allein auf dieser Straße wieder, denn die übrigen Talarin verabschiedeten sich an dieser Stelle in ihrer Heimatsprache. Faeringel dankte ihnen für ihren Einsatz und entließ sie.
Tom entdeckte auf manchen Lichtungen verspielte Korbbauten, unter denen Bänke und Tische standen, auf einer anderen Lichtung ein wunderschönes Badehaus mit vergoldetem Dach und weißen Marmorstatuen an seinen drei Eingängen. Auf halber Strecke zum Schloss zweigten zwei weitere Wege von der Straße ab, der eine nach Westen, der andere nach Osten führend. Sie aber beschritten weiter den geraden Weg nach Süden und näherten sich dem Hauptpalast. Dessen Zentrum bestand aus einem gigantischen Kuppelbau, mindestens so groß wie das Pantheon in Rom. Die Kuppel bestand aus Hunderten schillernder Fenster, die im abendlichen Sonnenschein in allen Farben des Regenbogens funkelten. Links und rechts des Hauptbaus gingen zwei halbrunde Palastflügel ab, jeder fast einhundert Meter lang, drei Stockwerke hoch, mit langen Reihen aus Fenstern und begrünten Balkonen an der Fassade. Die Dächer beider Flügel waren flach; oben wuchsen üppige Gärten, deren Bewuchs zu allen Seiten über den Rand des Daches quoll und bis in die Fenster des obersten Stockwerks hing. Der kreisrunde Platz vor dem Zentralgebäude wurde gesäumt von Statuen großer Persönlichkeiten der Talarin. Redner, Musiker, Dichter, Maler, Philosophen und Bildhauer waren darunter, jedoch keiner der Könige und auch keiner der anderen großen Helden vergangener Jahrtausende. Eine Treppe mit dreiunddreißig Stufen führte zu den großen Türen des Palastes.
Faeringel stieg sie als Erster hinauf. Er öffnete mühelos, als erfordere dies kaum Kraft, die kristallenen Türflügel und hieß Nagamoto, Veyron und Tom eintreten. Tamara wollte ebenfalls hineingehen, doch die Elben hielten sie zurück. Rat suchend blickten sie ihren Anführer an. Faeringel machte ein unglückliches Gesicht, doch schließlich erlaubte er ihr einzutreten. »Nur ungern lassen wir jemanden zur Königin, der von einem Schatten befallen ist. Aber ich will Meister Nagamotos Vertrauen in Euch ehren«, erwiderte er und trat zurück.
Tamara humpelte hinein. Hinter ihr schloss Faeringel lautlos die Kristalltüren.
Das Innere des Palastes stand dem Äußeren an Pracht in keiner Weise nach. Der Kuppelbau war nahezu vollkommen leer, abgesehen von zwei gewaltigen Bäumen, die dort wuchsen. Sie waren von der gleichen silberstämmigen Art wie die Baumriesen in den Wäldern auf der anderen Seite der Himmelmauerberge, nur viel kleiner (obwohl sie immer noch an die vierzig Meter in die Höhe ragten). Ihre Kronen lagen direkt unter der riesigen Glaskuppel. Hunderte winziger Lampen hingen im Geäst und strahlten in goldenem Schimmer. Zwischen den beiden mächtigen Stämmen lag das Treppenhaus des Palastes, von dem aus sich die Korridore in die hinteren Räumlichkeiten verzweigten.
Dort, auf der obersten Stufe stand sie, die Königin der Talarin. Girian Riangen Tarnuvilian.
Tom verschlug es fast den Atem. »Die Königin«, keuchte er, »die Königin aus meinen Träumen!«
Sie war wohl die schönste und erhabenste Frau, die er je erblickt hatte. Ihr liebreizendes Gesicht besaß in ihrer immerwährenden Jugend keinerlei Makel, die Haut vornehm blass, glatt und ebenmäßig. Sie wirkte wie aus Porzellan, geformt von einem göttlichen Bildhauer, ebenso schön wie zerbrechlich. Ihre eisblauen Augen waren durchdringend, so tiefgründig und geheimnisvoll, dass man sich bei ihrem Anblick sofort darin zu verlieren drohte. Dunkles Haar umrahmte ihr Gesicht in sanften Wellen und fiel ihr bis auf die Hüften. Sie trug ein langes, weites Gewand aus rotem Stoff, vielfältig und kunstvoll bestickt, der mit dem Wechsel von Licht und Schatten mal in dunklem Weinrot, mal leuchtend orangefarben schimmerte und um ihre anmutigen Formen floss. Bei ihren Bewegungen raschelte das Gewand kaum und sah aus, als würde sie den leibhaftigen Herbst am Körper tragen.
In ihrer Begleitung befand sich ein junges Mädchen. Tom erkannte in ihr die Elbin aus dem Wald. Er zupfte Veyron am Hemdsärmel und nickte in Richtung des Mädchens. Veyron verstand und zwinkerte ihm nur kurz zu.
Königin Girian kam die Treppen herunter – für Tom war es mehr ein Schweben, denn ihm fehlten die Worte, die ihre Bewegungen besser beschreiben könnten. Nagamoto verbeugte sich. Tom machte es ihm sofort nach, auch Veyron, und sogar Tamara neigte das Haupt vor ihr.
Die Königin lächelte gütig. »Es ist nicht notwendig, vor mir zu knien, Meister Simanui. Ihr gebt Euren Freunden ein schlechtes Beispiel. Tatsächlich sollte ich mich vor Euch verneigen, wo Ihr in den vergangenen Tagen so viel Kummer und Not erleiden musstet. Nun denn, ich heiße Euch alle in meinem Haus willkommen«, sprach Girian. Ihre Stimme war wie Gesang, hell und freundlich, aber auch voller Weisheit. »Darf ich Euch mit Imri bekannt machen? Sie war im Wald spielen, als sie auf die Absturzstelle eurer Flugmaschine stieß. Von da an hat sie euch beobachtet und ist euch gefolgt. Sie hat meine Jäger alarmiert. Hätten wir geahnt, dass sich solch schreckliche Wesen in den Wäldern aufhalten, hätten wir schneller gehandelt. Es ist bedauerlich, dass so viele sterben mussten«, fuhr Girian fort. Einen Moment stand echte Trauer in ihrem Gesicht. Kurz danach lächelte sie wieder, gütig und mitfühlend.
»Für eine Weile wollen wir Euch daher Ruhe und Erholung anbieten, denn ich sehe den rastlosen Geist, der in allen Menschen wohnt und den es nach Taten und Eile verlangt.« Sie blickte zu Veyron und danach zu Tom. Ein wissendes Lächeln umspielte ihre roten Lippen. »Ich glaube, mich an dich zu erinnern, Tom. Ich denke, wir sind uns schon begegnet, nachts in unseren Träumen. Und für Euch, Meister Veyron, gibt es vielleicht einige wichtige Dinge zu erfahren, bevor Ihr Eure Fahrt fortsetzt – wenn Ihr die Geduld dafür noch aufbringen wollt. Meine Diener haben für Euch Zimmer hergerichtet. Die Bäder stehen bereit, und das Wasser wurde vorgeheizt. Kleidung, die Eurer Welt entspricht, liegt für Euch parat. Sicherlich seid Ihr alle hungrig. Ich habe Essen und Trinken auf die Zimmer schicken lassen«, sagte sie.
Tom wurde rot im Gesicht; verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. Er war diesem wunderschönen, fabelhaften Geschöpf doch nur in seinen Träumen begegnet, das konnte sie doch unmöglich wissen, oder? Aber bei den Zaubern der Elben konnte man sich nie sicher sein. Der Blick aus Girians wunderbaren blauen Augen streifte ihn, und ein strahlendes Lächeln legte sich über ihre Züge.
Doch, sie weiß es. Sie war wirklich in meinen Träumen, dachte er. Schließlich blickte die Königin zu Tamara. Tom fiel auf, dass die Terroristin sofort den Kopf wegdrehte und zu Boden starrte.
Girians Lächeln wurde traurig und mitfühlend. »Ich sehe, es gibt einige Wunden zu heilen, vor allem die Unsichtbaren, gegen die kein Elixier der Welt hilft. Seid ohne Sorge, Tamara Venestra. Eure Freunde sind bei meinen Heilern in den besten Händen. Derweil bitte ich Euch, dass Ihr Imri in den Krankenflügel begleitet. Auch Eure Wunden bedürfen der geschulten Heilkunst des Palastes. Obwohl unser Elixier Euch die Kraft zurückgegeben hat, so verblieb dennoch einiges an Schrat-Gift in Eurem Blut«, sagte sie.
Imri trat vor und reichte Tamara die Hand. Die Terroristin zögerte einen Moment, sah zu Nagamoto, ihr Blick rat- und hilflos. Der Simanui nickte auffordernd. Widerwillig ergriff Tamara Imris Hand und ließ sich fortbringen. Girian trat zurück, und aus dem Schatten der Bäume erschienen einige elbische Diener, alle festlich gekleidet. Sie baten Veyron und Tom, mit ihnen zu kommen. Nagamoto dagegen stieg mit der Königin und zwei Dienerinnen die Treppen hinauf. Sie hatten wichtige Dinge zu besprechen, während sich die anderen ausruhen sollten.
Im Westen des Palastwaldes stand ein weiterer prächtiger Bau der Elben. Anders als der Hauptpalast war er in rostroten, herbstlichen Farben gehalten. Hier wurden die Gäste der Königin und auch alle Bedienstete untergebracht. Hinter dem knapp zweihundert Meter langen Bau lagen zwei weitere Wirtschaftsgebäude, äußerlich kleinen Schlössern gleich, doch im Inneren befanden sich die Ställe, Werkstätten und Krankenzimmer des Palastes. Dorthin wurden Tamara, Xenia und Dimitri gebracht, während Tom und Veyron im Gästepalast unterkamen.
Toms und Veyrons Zimmer (jeder hatte ein eigenes) lagen im zweiten Stock mit fantastischem Blick nach Süden auf den Bruch. Ihre Zimmer lagen nebeneinander und waren durch eine Tür miteinander verbunden. Jedes hatte sein eigenes Badezimmer, wo eine dampfende Marmorwanne bereits ihrer müden Glieder harrte. Sogar fließend Warmwasser und Seife gab es, was Tom dem eher mittelalterlich anmutenden Lebensstil der Elben gar nicht zugetraut hätte. Fast eine Stunde lag er in der Wanne, bis seine Haut nur noch aus Runzeln bestand. Dann sprang er aus dem Wasser, trocknete sich mit wunderbar weichen Handtüchern und schlüpfte in einen ebenso weichen, samtenen Bademantel. Barfuß ging er hinüber in Veyrons Zimmer, nasse Fußspuren hinterlassend.
Veyron kam ebenfalls gerade aus dem Bad, frisch rasiert und sogar die Haare zum ersten Mal, seit Tom ihn kannte, gekämmt. Veyrons Bademantel war der eines reichen Gutsherrn aus einem schweren, weinroten Stoff geschneidert und aufwendig mit Zierrat und goldenen Fäden bestickt.
»Da fühlt man sich doch gleich wieder sehr viel menschlicher, nach einem Bad – vor allem nach so einem Bad. Nun, ich würde sagen, wir haben uns genug ausgeruht. Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Die vergangenen Tage waren wir durch Terroristen, Giganthornissen und Fenriswölfe abgelenkt. Nemesis ist immer noch dort draußen, und jetzt, da wir ihm entkommen sind, wird er nicht untätig bleiben. Er muss etwas unternehmen, die Frage ist nur: was? Wo setzen wir unsere Strategie am besten an? Sind wir in der Lage, vorauszusehen, was er als Nächstes tun wird?«, fragte Veyron mehr sich selbst als Tom.
Tom seufzte. Er hatte auf ein wenig Urlaub und Erholung gehofft, aber es war ja fast klar, dass sein Pate nach nichts anderem verlangte, als endlich wieder in Aktion zu treten. Effizienz, wie er das nannte. Vielleicht ist er ja gar kein Mensch, sondern ein Roboter, dachte Tom, während er Veyron dabei zusah, wie dieser auf und ab hastete und beständig vor sich hinmurmelte.
»Was wird er tun? Was wird er tun? Was wird er tun?« Das machte er bestimmt eine Minute lang, ehe er endlich stehen blieb und mit den Fingern schnippte. »Informationen, Tom! Halten wir uns an die wenigen Informationen, die wir haben. Fakt eins: Nemesis besitzt einen eigenen Durchgang nach Elderwelt. Einen Durchgang, der nicht einer der alten Durchgänge dieses Zaubervolkes – der Illauri – ist. Nagamoto hat sie ganz klar beschrieben. Nemesis’ Durchgang ist also zweifellos künstlicher Natur, wie bereits vermutet. Er kontrolliert ihn, vermag ihn bei Bedarf an- und abzuschalten. Auf diese Weise kann er unentdeckt von Elben und Simanui in unsere Welt reisen. Fakt zwei: Wir sind ihm entkommen. Er weiß nicht, ob wir nicht mehr über das Juwel des Feuers wissen als er«, fasste er zusammen. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich Idiot! Ich Idiot!«, rief er dabei immer wieder. »Natürlich! Jetzt ergibt das alles erst einen Sinn! Ich war ein solcher Idiot, Tom! Dabei hätte ich es doch sofort wissen müssen, als er sich uns zum ersten Mal zu erkennen gab. Die Lage ist noch brenzliger, als ich bisher angenommen habe. Tom, er weiß bereits, wo das Juwel des Feuers sein könnte. Er ist nahe dran, ganz dicht sogar. Darum hat er Jessica nicht getötet, sondern sie lebend gefangen und verhext. Er braucht sie, um an das Juwel heranzukommen. Er leitet jetzt die letzten Maßnahmen seines großen Spiels ein und bringt seine Figuren in Stellung.«
Tom dachte kurz darüber nach und schüttelte voller Skepsis den Kopf. »Sie hätten mehr essen sollen. Ihr Verstand arbeitet nicht mehr richtig. Was Sie da sagen, macht überhaupt keinen Sinn«, erwiderte er müde.
Veyron schenkte ihm einen missmutigen Blick. »Du irrst dich – wie üblich. Es ist dein Verstand, der hier nicht richtig arbeitet. Oder aber du bist wegen deiner Stielaugen für die Königin für alles andere blind geworden, was um dich herum geschieht.«
Tom wurde knallrot vor Verlegenheit. Da war er wieder, der alte, gemeine Veyron Swift aus 111 Wisteria Road. Er wollte etwas erwidern, winkte aber nur verärgert ab.
Veyron setzte seinen Monolog ungerührt fort. »Dennoch: Nemesis zögert und wartet ab. Er weiß nicht, was wir alles wissen. Es besteht für ihn immer noch die Gefahr, dass wir ihn aufhalten – was wir auch tun werden, soweit wir es vermögen. Zuerst muss er uns entweder loswerden oder erfahren, was wir wissen. Also muss er handeln, abweichend von seinen eigentlichen Plänen und schnell obendrein. Ich wette mit dir, dass ihm dabei Fehler unterlaufen werden. Wenn nicht ihm, dann zumindest seinen Handlangern. Doch zuerst müssen alle Karten auf den Tisch, um genau zu planen. Tom, hol bitte den Brief, den ich dir anvertraut habe.«
Tom weitete überrascht die Augen. Der Brief von Professor Daring! Den hatte er ja total vergessen. Zuletzt war er im Flugzeug in seinem Besitz gewesen. Aber er hatte die Jacke ausgezogen und sie in die Gepäckablage gestopft. Und die war jetzt …
»Ich fürchte, den Brief gibt’s nicht mehr, Veyron. Er war in meiner Jackentasche, und die Jacke ist wohl hin, mit der Supersonic in Flammen aufgegangen. Oder –? Hey! Vielleicht hat die Jacke ja überlebt. Wir könnten doch zum Wrack zurückgehen und danach suchen«, schlug Tom hastig vor.
Veyron schaute ihn für einen Moment böse an. »Gebrauch deinen Verstand, Tom! Wie wahrscheinlich ist es, dass wir die Jacke in den Trümmern finden werden? Ganz zu schweigen davon, dass wir erst einmal drei Tage lang unter dem Gebirge hindurchmüssten, danach weitere drei bis vier Tage zurück zum Wrack. Eine ganze Woche, Tom, eine ganze Woche. Und wieder zurück zur Weißen Königin, für die dieser Brief bestimmt ist. Wir reden hier von zwei Wochen, zwei Wochen in denen Nemesis halb Elderwelt zerstören kann, was zweifellos seine Absicht ist.«
Tom schaute betroffen zu Boden. »Das hatte ich nicht bedacht«, grummelte er und steckte die Hände in die Taschen des Morgenmantels. Doch was war das? Da fühlte er doch tatsächlich Papier zwischen seinen Fingern – ein Kuvert. Er zog es aus der Tasche und traute seinen Augen nicht: Es war der zerknitterte Briefumschlag des Professors. »Ich glaube, jemand verarscht mich«, murrte er und reichte den Umschlag an Veyron.
Der nahm ihn die Hände, hielt ihn gegen das helle Licht der Lampen und schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Es ist derselbe Umschlag. Ich erkenne es an der Schrift des Professors, sie ist unnachahmlich. Vor allem sind da die zwei Kratzer, wo sein Füllfederhalter noch ein bisschen eingetrocknet war. Es ist genau die gleiche Stelle. So genau kann kaum jemand fälschen«, erläuterte Veyron. Er gab Tom den Umschlag zurück.
»Ich hatte ihn zuletzt in meiner Jacke, ich schwör’s! Moment, nein, das stimmt nicht. In der ersten Nacht, da hab ich ihn auf meiner Brust gespürt. Aber da trug ich eine andere Jacke, welche mir die Terroristen aus dem geplünderten Gepäck gaben. Wie um alles in der Welt, ist so was möglich?«, fragte Tom erstaunt und starrte den Umschlag entgeistert an. Am liebsten hätte er ihn weggeworfen. Dieses Stück Papier war verhext! Mit so was wollte er nichts zu tun haben. Er schaute zu Veyron auf, der nur lapidar mit den Schultern zuckte.
»Du hast Nagamotos Geschichte gehört. Die Simanui verfügen über Zauberkräfte, die ihnen von den Illauri verliehen wurden. Daring war ein Simanui, ein Meister sogar. Ich nehme einmal an, das ist ein besonders ausgefuchster Simanui-Trick. Der Brief wurde dir anvertraut, und dieser Zauber sorgt dafür, dass er dir nicht verloren gehen kann. So ein Zauber wäre in unserer Welt auch bei anderen Dingen ganz nützlich. Den zweiten Zauber, der auf diesem Brief liegt, kann jedoch nur die Weiße Königin für uns brechen. Nämlich die unsichtbare Schrift lesen und uns sagen, was da geschrieben steht«, schlussfolgerte er so kühl und analytisch wie eh und je.
Er nahm Tom den Umschlag wieder ab, ging zur Zimmertür und trat hinaus in den weiten Flur. Ein einzelner Elb in nachtblauer Robe stand dort und hielt Wache.
»Wir haben eine wichtige Nachricht für deine Königin und nur für sie allein. Wir müssen sie unbedingt sprechen. Bitte richte ihr Folgendes aus: Wir haben eine Botschaft von Professor Lewis Daring, dem Simanui-Meister«, sagte Veyron.
Der Elb nickte ernst und entfernte sich. Besonders eilig schien er es jedoch nicht zu haben. Veyron seufzte, als er ins Zimmer zurückkehrte. Tom setzte sich an den Esstisch und probierte von dem Mahl, das für sie bereitstand. Es gab allerhand Köstlichkeiten, viel duftendes Gemüse, auch knusprig gebratenes Geflügel, reichlich Obst und Süßigkeiten aus Sahne und Zucker.
»So schön dieses Land auch ist, offenbar kennt man hier das Wort Eile oder Dringlichkeit nicht. Begreift denn hier niemand, wie ernst die Lage ist?«, beschwerte sich Veyron.
Tom stopfte sich die Backen mit ein paar Keksen voll. »Egal, was es ist, heute können wir sowieso nichts mehr tun. Essen wir besser was. Das wird sonst bloß schlecht«, nuschelte er.
Veyron atmete tief durch. Eher widerwillig setzte er sich an den Tisch und biss in einen Apfel.
Tom behielt recht. Diese Nacht bekamen sie keine Rückmeldung mehr. Satt und zufrieden legte er sich in sein riesiges Bett, das weichste und bequemste, in dem er jemals gelegen hatte. Er schlief rasch ein und träumte zum ersten Mal seit Tagen wieder von zu Hause.
Von mir aus kann sich die Königin noch tagelang mit einer Antwort Zeit lassen, dachte er. Ich habe es überhaupt nicht eilig, von hier zu verschwinden. Soll Nemesis doch bleiben, wo er ist. Heute Nacht wollte er nicht mehr an solche Dinge denken. Morgen würden sie schon sehen, was auf sie zukam.