Читать книгу Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 4 - Tobias Fischer - Страница 3

Eine Diebin in der Nacht

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Die Schatzkammer der Ramers füllte nahezu den gesamten Ostflügel des Palastes aus. Diamanten, seltene Münzen, antike Becher, Vasen und Waffen ruhten in Hunderten gläserner Vitrinen, angestrahlt von kleinen Scheinwerfern. Eine solche Fülle an Kostbarkeiten hatte Tom noch nie in seinem Leben gesehen. Vor Staunen stand ihm der Mund offen.

»Alles, was die Könige Talassairs irgendwann geschenkt bekamen oder kauften, ist hier ausgestellt. Da drüben findet Ihr die Diademe von Königin Mary, der Frau von König Spencer. Es sind an die dreihundert Stück, zu jedem festlichen Anlass ein neues. Sie sind alle aus den edelsten Metallen gefertigt. Was sie besonders wertvoll macht: Es handelt sich um zwergisches Meisterhandwerk. Solche Kostbarkeiten findet man sonst nirgendwo in Elderwelt – und in Fernwelt schon gar nicht«, erklärte Farin voller Stolz.

König Floyd nahm von den Schätzen seiner Vorfahren keinerlei Notiz. Fast gelangweilt stand er zwischen den Vitrinen und winkte ab, wenn sein Auge doch einmal auf ein glitzerndes Schmuckstück fiel. »Lauter alter Krempel. Hey, Tamara, ich schenke Ihnen die ganzen Diademe meiner Urgroßmutter. Die würden Ihnen sehr gut stehen«, meinte er, begeistert ob seines neuen Einfalls.

Tamara ignorierte ihn einfach. Tom fiel auf, wie Farin bei den Worten seines Lehnsherrn zusammenzuckte und missbilligend den Kopf schüttelte.

Veyron flitzte derweil von einer Vitrine zur anderen. Zuletzt gab er ein frustriertes Stöhnen von sich. »Wir werden Stunden brauchen, um den Niarnin hier zu finden. Farin, löschen Sie die Lichter! Wenn die Beschreibung des Edelsteins korrekt ist, dann müsste er als Einziger im Dunkeln leuchten«, rief er.

Farin protestierte. Wenn er die Lichter abschalte, dann würde auch das Alarmsystem ausgehen. Das sei alles aneinandergekoppelt.

Aber Floyd machte einen königlichen Befehl daraus. »Mach die Lichter aus, Farin, sofort! Dein Souverän befiehlt es!«

Farin strafte seinen König mit einem weiteren, missbilligenden Blick, dann ging er auf Zwergisch murmelnd hinüber zu einer Wand und öffnete eine Tür (sie war Tom gar nicht aufgefallen, so perfekt war sie in die Wand eingebettet). Dahinter lag ein großer Sicherungskasten. Farin legte einen großen, roten Schalter um. Auf einen Schlag erloschen alle Lichter. Es war jetzt nahezu vollständig dunkel im Palast, nur das Sternenlicht fiel durch die großen Fenster.

Doch da war noch eine weitere Lichtquelle in der Schatzkammer.

Als hätte jemand ein kleines Feuer angezündet, glühte etwas inmitten des Raumes. Eilig näherten sie sich der entsprechenden Vitrine. Tom hörte Floyd vor Schmerzen aufschreien. Der König hatte sich an einer Kante gestoßen und verfluchte das ganze Gerümpel hier drin. »Ich lass hier unverzüglich alles rausschmeißen und unter das Volk verteilen!«, schimpfte Floyd.

Tom musste kichern. Geschieht ihm ganz recht, dachte er.

Endlich erreichten sie die Vitrine. Sie war klein, unscheinbar im Vergleich zu den vielen anderen. Eine alte, rostige Drahtschere, ein nicht minder rostiges Bajonett, ein zerfledderter Notizblock und ein Klappmesser lagen darin. Alle Gegenstände waren im Kreis um einen Edelstein angeordnet, faustgroß und kantig. Er glühte wie eine Flamme, glutrot und leicht flackernd. Sein warmes Licht strahlte in ihre Gesichter.

»Das Juwel des Feuers«, flüsterte Tom ehrfürchtig.

Er bemerkte das Staunen in den Augen der anderen. Sogar Floyd war sprachlos. Tom berührte vorsichtig das Vitrinenglas. Es war warm und vibrierte leicht. Zweifellos war dieser Zauberstein dafür verantwortlich. Eine gewaltige Macht musste in ihm stecken.

»Der Niarnin, der letzte Nuyenin-Stein. Als Gurzark ihn aus dem Grab Berenions stahl, muss er seinen Wert erkannt haben. Er hat ihn mit Absicht aus Elderwelt fortschaffen lassen. Dort, in jenen Stollen unter der einsamen Hütte im Sumpf, wähnte er ihn in Sicherheit vor jedem Zugriff. Durch Zufall – oder Vorsehung – fiel er den Fünfzehn in die Hände. Anders als Gurzark erkannten sie seine Macht nicht und hielten ihn schlicht für einen außergewöhnlichen Edelstein. Darum haben ihn die Abenteurer auch so leichtfertig an Julian Ramer verschenkt. Dieser hielt ihn zunächst ebenfalls lediglich für ungewöhnlich und sperrte ihn weg. Ihm war wohl Zeit seines Lebens nicht bewusst, dass das Juwel aus Elderwelt kam und zu den mächtigsten Zaubersteinen der Welt gehörte. Es wurde zu einem Familienerbstück, zu einem schönen, leuchtenden Edelstein, der in der Masse der Kostbarkeiten jedoch kaum Beachtung fand. Hier haben wir es nun, das Juwel des Feuers«, schlussfolgerte Veyron.

Floyd schnippte mit den Fingern, das selbstgefällige Lächeln war ihm vergangen. Farin trat erwartungsvoll an die Seite seines Königs.

»Farin, lass den Stein sofort in den Palast Nummer Vierzehn bringen und streng bewachen. Ich will den Nuyenin-Stein Tag und Nacht in meiner Nähe wissen, niemand darf ihn berühren oder ansehen. Lass ihn sofort verhüllen und fortschaffen«, befahl der König ungewöhnlich streng.

Farin verbeugte sich unterwürfig und eilte dann nach draußen.

Veyron schüttelte unzufrieden den Kopf. »Das wird Nemesis nicht davon abhalten, weiter hinter dem Stein her zu sein. So sehr Sie sich auch anstrengen mögen, er ist hier auf Talassair nicht sicher. Nemesis weiß, wo er den Stein finden kann. Er wird kommen und ihn sich holen«, warnte er.

Floyd setzte gerade zum Widerspruch an, als es hoch über ihnen plötzlich knallte und klirrte. Alle blickten erschrocken auf. Eines der großen Fenster war zerbrochen, und eine menschliche Gestalt stand hoch über ihnen.

Tom erkannte sie zuerst. »Es ist Jessica! Es ist die Vampirin!«, schrie er.

Als hätte er damit das Kommando gegeben, sprang Jessica nach unten. Tamara packte Tom und riss ihn zurück. Die Vampirin landete in ihrer schwarzen Lederkluft genau auf der Vitrine. Glassplitter flogen wie Geschosse durch die Luft, der Tisch brach zusammen. Veyron und Floyd hechten im letzten Moment zur Seite. Jessica erhob sich im gleichen Augenblick, den Niarnin zwischen ihren behandschuhten Fingern. Sie bestaunte das leuchtende Juwel für einen kurzen Moment, dann steckte sie es in den Ausschnitt ihres Anzugs. Sie machte den Reißverschluss zu, und mit einem einzigen, gewaltigen Satz war sie außer Reichweite. Tamara sprang auf und setzte über eine andere Vitrine hinweg, um sie anzugreifen. Jessica rannte in die Schatzkammer davon, schnell wie eine Pistolenkugel. Tom sah sie in der Dunkelheit geschickt wie ein Eichhörnchen die Mauer hochklettern. Noch ehe er die anderen warnen konnte, war sie schon wieder oben am zerbrochenen Fenster und hüpfte nach draußen.

Das Licht in der Schatzkammer ging wieder an. Tom war für einen Moment geblendet. Er entdeckte Veyron beim Sicherungskasten. »Schnell nach draußen, vielleicht können wir sie noch einholen«, rief sein Pate und rannte los, dicht gefolgt von Tamara.

Tom war noch immer ein wenig verwirrt und schockiert. Wie um alles in der Welt konnte sie nur fliehen? Jemand muss sie befreit haben. Vielleicht Nemesis oder einer seiner Agenten, dachte er.

»Farin? Farin! Lass die Armee auf diese Vampirfrau los! Bringt sie zur Strecke! Dieses Weib hat mir einen höllischen Schrecken eingejagt! So was muss verboten werden!«, schimpfte Floyd soeben voller Entrüstung los.

Tom rannte nach draußen, stieß dabei beinahe mit Farin und den Soldaten der Palastwache zusammen. »Wo ist Veyron hin?«, fragte er.

»Hintereingang, da drüben, dann um die Ecke«, rief Farin im Vorbeilaufen und wedelte mit der Hand in die entsprechende Richtung.

Tom stürmte los. Er sollte wirklich die Beine in die Hand nehmen, wenn er seinen Patenonkel noch einholen wollte.

In Hauptstadt wurde Großalarm gegeben. Sirenen begannen zu heulen. Auf den Dächern hoher Gebäude wurden riesige Scheinwerfer eingeschaltet, die ihre Lichtkegel in den Nachthimmel richteten oder hinaus auf die Küste, von wo am wahrscheinlichsten ein Angriff erfolgen würde. Polizisten standen auf den Straßen, ließen ihre Pfeifen trillern und forderten die Menschen auf, nach Hause zu gehen. In Hauptstadt herrschte ein reges Nachtleben. Seit fünfzig Jahren hatte es keinen solchen Alarm mehr gegeben.

»Invasion, Invasion, Invasion!«, schrien einige aus der Menge.

»Maresia ist gekommen!«

Im Nu brach Panik aus. Leute sprangen von den Stühlen auf, stießen sich gegenseitig um, jeder versuchte, so schnell wie möglich zu seinem Auto zu gelangen. Die vielen Straßencafés leerten sich schlagartig, das hysterische Kreischen und Schreien der Menschen vermischte sich mit dem lauten Geheul der Alarmsirenen.

Tom erwischte Veyron gerade noch rechtzeitig am Hintereingang des Palastes. Tamara war den beiden voraus und rannte bereits die Straße runter.

»Wie sollen wir Jessica überhaupt finden? Das ist doch aussichtslos«, schrie Tom, um den Lärm zu übertönen.

Veyron packte ihn am Arm und zerrte ihn hinter sich her. Sie liefen die Stufen des Palastes hinunter, hinaus auf die Straße. Vor ihnen parkte ein schneeweißes Polizeimotorrad, ein uraltes Modell aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts. »Aufsteigen, Tom. Ich weiß genau, wohin sie will. Wir fangen sie ab«, rief Veyron, als er sich auf die Maschine schwang.

Tom sprang hinter ihm auf und hielt sich fest. Ein Polizist entdeckte die beiden. Mit gezogenem Knüppel kam er auf sie zu. Veyron trat den Kickstarter durch. Die Maschine machte einen gewaltigen Satz nach vorn und schoss schlingernd auf die Straße hinaus.

Der Polizist brüllte ihnen hinterher. »Diebe! Plünderer! Haltet sie auf!«

Der Lärm des Alarms, ließ seine Worte untergehen. Im Nu hatten sie den armen Mann weit zurückgelassen. Sie jagten wie eine Rakete die Straße hinunter, vorbei an der rennenden Menschenmenge und Oldtimern, die in panischer Angst gestartet wurden und kreuz und quer herumfuhren, alle Verkehrsregeln vergessend.

Tamara, die in heller Wut vorausgerannt war, willens, Jessica um jeden Preis aufzuhalten, staunte nicht schlecht, als sie ihre beiden Reisegefährten mit einem Polizeimotorrad davonschießen sah. Sie blickte sich kurz um und entdeckte eine zweite Maschine, die gerade von einem anderen Beamten gestartet wurde, um Tom und Veyron zu verfolgen. Tamara rannte hinüber. Ohne ein Wort zu sagen, packte sie den Polizisten und zerrte ihn von seiner Maschine. Mit einem einzigen Schlag war der Mann bewusstlos. Sie sprang auf das startbereite Motorrad und gab Gas. Veyron und Tom waren weit vor ihr, doch nirgendwo eine Spur von Jessica Reed. Tamara vertraute jedoch darauf, dass Swift wusste, was er tat.

Tatsächlich: Gar nicht so weit vor Veyron konnte sie eine schwarz gekleidete Frau die Straße runterrennen sehen. Mit der Kraft einer Löwin stieß Jessica andere Passanten beiseite und schleuderte sie in die Tischgruppen der Straßencafés.

Tamara holte alles aus dem Motorrad raus, was in der alten Kiste steckte. Sie mussten um jeden Preis der Welt verhindern, dass die Vampir-Diebin das Juwel des Feuers zu Nemesis brachte. Was für eine Ironie, dachte sie bei sich. Noch vor einer Woche war ich die Terroristin, stets auf der Flucht vor der Polizei – jetzt jage ich selber einer gefährlichen Feindin hinterher.

Auch Floyd setzte alles an das Ziel, sein Juwel zurückzuholen. Er hatte Großalarm für ganz Talassair ausgegeben, eine Maßnahme, die für gewöhnlich nur im Fall einer Invasion vorgesehen war. Darum machte sich neben den nur mit Knüppeln bewaffneten Verkehrspolizisten jetzt auch die Armee Talassairs kampfbereit. In der Stadtkaserne wurden altertümliche Jeeps und die ganze Panzerflotte des Königs startklar gemacht. Alte Shermans, deutsche Panther- und Tiger-Panzer und jede Menge andere Museumstücke wurden bemannt. Sie rollten, bereit für eine Schlacht, die es gar nicht gab, aus den Garagen. Ohne Rücksicht auf Verluste wurden Mauern durchbrochen, Gärten und Zäune niedergewalzt. Das ganze Inselreich war in heller Aufregung. Vor der Küste glaubte man, schon die Galeeren Maresias zu sehen, andere meinten dagegen, es seien wohl eher Piraten oder Sklavenjäger. Alles nur wegen einer einzelnen, frechen Diebin, die in ihren Händen nicht weniger hielt als das Schicksal ganz Elderwelts.

Dieser Tatsache waren sich auch Tom und Veyron bewusst. Jessica war nur noch ein paar Meter vor ihnen. Sie rannte, als wäre ein Rudel Fenriswölfe hinter ihr her. Tom konnte gar nicht fassen, dass irgendjemand so schnell sein konnte.

Das hängt sicher mit ihren vampirischen Kräften zusammen, sagte er sich. Wie sie es überhaupt mit ihr aufnehmen wollten, war ihm ein Rätsel, aber Veyron hatte hoffentlich eine Idee.

»Sie will zum Hafen«, erkannte sein Pate in diesem Moment.

»Will sie ein Boot stehlen?«

»Nein, aber von dort aus kennt sie den Weg zurück zu Nemesis. Jeder andere Fluchtweg würde nur in die Irre führen. Sowie die Sonne aufgeht, müsste sie sich auf Talassair verstecken. Darum will sie um jeden Preis zum Hafen, das ist der einzige Weg für sie. Sobald wir sie einholen, springst du ab und wirfst dich auf sie. Sie wird stolpern und stürzen, dann haben wir sie«, gab Veyron zurück.

Tom hielt das für vollkommen verrückt und schüttelte energisch den Kopf. »Auf keinen Fall! Springen Sie doch selber!«, schimpfte er.

Veyron drehte leicht den Kopf und wollte eine Antwort geben, doch dazu kam er nicht mehr.

Im selben Moment durchbrach ein paar Blocks vor ihnen ein riesiger Tiger-Panzer eine Hausmauer. Ziegelsteine flogen durch die Gegend, Staub wirbelte auf. Es knallte infernalisch laut, eine Explosion sprengte direkt vor ihnen einen Krater in den Boden. Veyron bremste scharf ab, stellte das Motorrad quer. Beinahe wären sie gestürzt, doch Veyron behielt die Kontrolle. Der riesige Panzer drehte mit knirschenden Ketten herum, feuerte gleich noch einmal, hinein in ein Haus, dem es die halbe Wand wegsprengte. Die Panik auf den Straßen wurde noch größer, die Leute rannten verzweifelt hin und her.

»Panzer! Floyd hat den Verstand verloren. Er wird uns alle umbringen, dieser Irre!«, stieß Tom voller Schrecken hervor.

Veyron beschleunigte und nahm die Verfolgung wieder auf. Jessicas Vorsprung war gewachsen. »Floyd ist in Panik, und seine Truppen sind es auch. Die schießen auf alles, was sich bewegt. Lass uns Jessica schnell einfangen, bevor diese Narren die ganze Stadt zerstören«, sagte Veyron finster.

Weit vor ihnen bog Jessica in eine Seitenstraße und war verschwunden. Die Panzerfahrer, selbst von Panik erfüllt und mit der Situation vollkommen überfordert, verwechselten die Steuerhebel. Anstatt der Vampirin zu folgen, nahmen sie die falsche Richtung. Donnernd krachten sie in das nächste Haus und brachten es fast zum Einsturz. Veyron musste dem riesigen Panzer scharf ausweichen. Tom schrie der Besatzung wütend zu, was er von ihnen hielt – nämlich reichlich wenig.

Der klägliche Auftritt von Floyds mächtiger Panzerwaffe verschaffte Tamara dagegen die Zeit, zu den anderen aufzuschließen. Sie raste eben an Tom und Veyron vorbei, legte das Motorrad in die Kurve und schoss in die Seitenstraße, in der Jessica verschwunden war. Weit vor ihr bog die Vampirin in eine andere Straße ein. Tamara beschleunigte noch einmal, holte weiter auf. Sie jagte um die nächste Ecke und …

… musste eine Vollbremsung hinlegen, um nicht in die Seite eines Oldtimers zu krachen. Der irrsinnige Großalarm hatte dafür gesorgt, dass sich so ziemlich alle Automobile der Insel gleichzeitig auf der Straße befanden. Die Leute wollten alle sofort nach Hause, und zwangsläufig musste es zum Stau kommen. Zwischen den Fahrspuren war gerade noch Platz für einen Menschen – oder eben ein Motorrad.

Tamara gab Vollgas und schloss recht schnell zu Jessica auf. Die Vampirin sah sie kommen. Mit einem wütenden Fauchen packte sie im Vorbeilaufen den nächstbesten kutschenähnlichen Oldtimer und riss ihn herum. Tamara staunte, welche Kraft Jessica besaß. Sie wich dem Fahrzeug aus und war wieder hinter der Vampirin her. Jessica stieß weitere Autos um, als wären sie nur Spielzeug.

Tamaras Killerinstinkte waren jedoch geweckt, unbarmherzig war sie auf der Jagd, nichts konnte sie aufhalten. Blitzartig wich sie allen Hindernissen aus und kam immer näher an Jessica heran. Die Vampirin sprang über ein Auto hinweg, packte es mit aller Kraft und warf es aufs Dach. Tamara konnte es einfach nicht glauben. Sie stellte ihre Maschine quer und entging dem tödlichen Zusammenprall nur um Haaresbreite. Jessica rannte weiter, sprang auf das nächste Autodach, von dort gleich zum nächsten und immer so weiter, rasend schnell, als wäre das nichts weiter als ein leichter Hürdenlauf.

Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig brausten inzwischen Tom und Veyron heran. Die Leute sprangen voller Panik und mit lauten Ausrufen zurück. Veyron drückte pausenlos die Hupe, kümmerte sich aber nicht weiter um die Flüche und Verwünschungen, die man ihnen hinterherrief. Sie sahen Jessica von einem Auto zum nächsten springen, schnell und elegant wie eine Raubkatze. Veyron streckte die Hand aus und erwischte eine kleine Holzstange, die vor einem Café stolz die grüne Fahne Talassairs flattern ließ. Er riss sie aus und drückte sie Tom in die Hände. »Stoß ihr damit zwischen die Beine, wenn wir nahe genug sind. Keine Sorge, sie wird sich nur ein paar Knochen brechen. Vampire halten so etwas locker aus, ich hab es selbst erlebt«, rief er.

Tom klemmte sich die Stange wie eine Lanze unter den Arm und konzentrierte sich ganz auf Jessica. Sie näherten sich ihr Meter für Meter, und er machte sich für den Stoß bereit. Jessica blickte kurz in ihre Richtung, die Zähne fletschend. Plötzlich sprang sie hoch in die Luft, und weit über Veyron und Tom hinweg. Elegant wie ein Flughörnchen landete sie an der Mauer eines hohen Wohngebäudes und krallte sich in den Putz. Veyron hielt an, um ihr interessiert zuzuschauen.

»Eine clevere Alternative. Ich weiß allerdings bereits, was sie vorhat«, sagte er und beschleunigte wieder.

Tom war jetzt vollkommen verwirrt. »Wo fahren Sie denn hin? Sie klettert das Haus hinauf! Wenn Sie das Dach erreicht, erwischen wir sie niemals«, jammerte er, wütend darüber, wieder einmal nicht in Veyrons Pläne eingeweiht zu werden.

»Das Ziel ist immer noch der Hafen, wir brauchen nur ein wenig Vorsprung, das ist alles!«, erwiderte sein Pate schnell.

Tamara versuchte dagegen eine andere Strategie. Sie fuhr um das Gebäude herum, als Jessica die Hausmauer hinaufkletterte, und gelangte in den Hinterhof. Genau wie sie sich gedacht hatte, befand sich dort eine Rettungsleiter. Tamara sprang vom Motorrad und hastete, so schnell sie konnte, die Sprossen hinauf. Sie wusste, wie schnell Jessica im Klettern war. Wenn sie vor ihr auf dem Dach sein wollte, brauchte sie alle Kraft und Geschwindigkeit.

Ein Schatten kam um die Hausecke, schnell wie ein Tier, doch zweifelsfrei von menschlicher Gestalt. Jessica! Sie machte einen gewaltigen Satz und landete auf der Rettungsleiter. Blitzschnell hangelte sie sich nach oben. Tamara musste sich richtig anstrengen, um mitzuhalten.

»Reed! Jessica, stopp!«, rief sie schwer schnaufend. Die Vampirin hielt für einen Moment inne und blickte nach unten. Tamara kletterte ihr so schnell entgegen, wie sie konnte.

»Geben Sie auf, Sie können nicht entkommen! Noch haben Sie niemanden getötet oder ernsthaft verletzt. Geben Sie auf, dann wird man Sie gnädig behandeln!«

Jessica erwiderte Tamaras Blick voller Furcht. »Sie kennen Nemesis nicht. Er wird mich töten, wenn ich ihm dieses Juwel nicht bringe«, winselte sie.

Tamara kletterte weiter. Jessica war nur noch ein paar Meter über ihr. »Die Elben können Ihnen helfen, ich weiß es. Es ist noch nicht zu spät«, erwiderte sie.

Jessica verharrte regungslos, zögernd, mit ihrer Angst ringend. Im nächsten Moment wurde ihr Gesichtsausdruck wieder kalt, die Angst hatte gesiegt. Sie kletterte weiter. »Nein, mir kann niemand helfen. Ich bin eine Ausgestoßene, genau wie Sie. Glauben Sie wirklich, dass Sie jemals Vergebung finden werden, wenn Sie in die Menschenwelt zurückkehren? Sie sind eine Terroristin! Sie sind doch überhaupt erst Schuld daran, dass alles so weit kommen musste«, zischte die Vampirin.

Mit einem letzten Satz sprang sie aufs Dach, doch Tamara war dicht hinter ihr. Sie warf sich nach oben, bekam ihren rechten Stiefel zu fassen. Jessica strauchelte und landete hart auf dem Dachbeton. Tamara setzte ihr sofort nach, sprang hoch in die Luft, die Fäuste geballt.

Jessicas Reaktionen waren jedoch schneller als die jedes Menschen. Sie rollte zur Seite. Wie eine Sprungfeder katapultierte sie sich in die Luft, landete auf ihren Füßen und rannte davon. Tamara trat nach ihr, doch sie erwischte nur Luft. Jessica sprang vom Rand des Daches, hinüber auf das nächste Gebäude.

Tamara schnaufte, nahm Anlauf und warf sich in die Luft. Sie schrie vor Anstrengung. Es war ein Sprung, der all ihre Kraft kostete. Krachend landete sie auf dem anderen Hausdach. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch sie verzog keine Miene. Jessica, die dem Ganzen überrascht zugesehen hatte, wirbelte herum und rannte weiter. Tamara hetzte ihr hinterher, aber die Vampirin war zu flink.

Mit einem gewaltigen Satz, als hätte sie nur das Gewicht einer Feder, sprang sie einfach auf das nächste Hausdach und Tamara – erfüllt von ihrem unerbittlichen Instinkt – stürmte ihr hinterher. Erneut brauchte sie alle Kraft, um den Abstand zwischen den Dächern zu überwinden. Er betrug gut und gerne fünf oder sechs Meter – einer Leistungssportlerin wären kaum mächtigere Sprünge gelungen. Im Gegensatz zu Jessica, die solche Anstrengungen kaum zu belasten schienen, schwitzte Tamara inzwischen aus allen Poren. Ihre Muskeln brannten und zitterten. Sie keuchte ungläubig, als sie sah, wie die Vampirin sofort weiter auf ein drittes Dach sprang und dabei einen Abstand von fast zehn Metern überwand.

Hier ist Schluss, dachte Tamara erschöpft. Eine solche Distanz konnte sie selbst mit den letzten Kraftreserven unmöglich überwinden.

Jessica stoppte urplötzlich und blieb ratlos am Rand des flachen Dachs stehen. Sie stand auf dem letzten Gebäude in einer langen Reihe mehrstöckiger Wohnhäuser. Dahinter fiel die Dachlinie dramatisch ab. Die Hauptstadt ging in eine flache, fast ländlich anmutende Wohngegend mit kleinen Häusern und großen Gartenanalgen über. Neue Hoffnung keimte in Tamara. Wenn die Polizei oder Floyds wahnsinnig gewordene Armee schnell genug waren, hatten sie die Vampirin hier in der Falle.

Jessica schien das ebenfalls zu begreifen. Anstatt aufzugeben, tat sie nun etwas vollkommen Unerwartetes. Sie zog sich aus, riss sich die schwarze Lederkluft vom Körper und schlüpfte aus ihren Stiefeln, bis sie nur noch in Unterwäsche auf dem Dach stand. Tamara verstand nicht, was die Vampirin damit bezwecken wollte. Die Zwerge werden sich davon sicher nicht verführen lassen, egal wie gut du aussiehst, dachte sie verwirrt.

Dann streckte Jessica die Arme aus, Tamara schrak zurück. Arme und Finger der Vampirin wuchsen rasend schnell in die Länge. Schwarzer Dampf trat aus den Poren ihrer hellen Haut, umgab sie wie ein Nebel. Aus diesem wuchsen nun Flughäute, die sich zwischen den immer länger werdenden Fingern und den Knien der Vampirin spannten. Die Verwandlung dauerte keine Minute. Aus Jessica war eine dämonische Kreatur geworden, teilweise noch menschlich, teilweise eine gigantische Fledermaus. Tamara war zu schockiert, um irgendetwas zu tun. Sie stand da wie eine Salzsäule und sah zu, wie die Vampirin ihre finale Flucht vorbereitete.

Plötzlich flog hinter Jessica die Dachluke auf. Tamaras Herz hüpfte vor Aufregung. Beinahe erwartete sie die bewaffneten Soldaten des Königs, doch heraus schoss ein weißes Polizeimotorrad. Auf dem breiten Sattel saß ein grimmig dreinschauender Veyron Swift, hinter ihm ein vollkommen verängstigter Tom Packard.

Veyron hatte einfach die Tür des letzten Wohngebäudes eingefahren und war dann mit Vollgas das Treppenhaus hinaufgeholpert. Tom wäre fast abgeworfen worden wegen der ganzen Rüttelei. Aber jetzt standen sie auf dem Dach, Jessica Reed gegenüber – in einen wahrhaftigen Albtraum verwandelt.

»Fahren Sie das Monster über den Haufen«, rief Tamara vom anderen Dach herüber.

Veyron wandte sich an Tom. »Halt dich fest, das wird ungemütlich«, warnte er den Jungen.

Er ließ die Bremsen los. Wie eine Rakete schossen sie vorwärts; das Motorrad stieg auf, raste auf Jessica zu. Tom sah noch, wie die Vampirin an den Rand des Daches sprang. Mit einem einzigen Schlag ihrer Schwingen hob sie sich in die Lüfte, glitt in die Nacht hinaus, den leuchtenden Niarnin zwischen ihren Fußkrallen. Veyron drückte sofort die Bremsen durch, griff nach hinten, packte Tom und stieß ihn vom Sattel, gleichzeitig sprang auch er selber ab. Das Motorrad schleuderte über den Rand des Daches und stürzte in Tiefe, wo es mit lautem Knall in seine Einzelteile zersprang.

Tom rappelte sich auf und schaute Jessica hinterher. Veyron kam zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir können nicht immer gewinnen, Tom«, meinte er so gelassen wie möglich.

Tom stieß Veyrons Hand zurück und wirbelte zu ihm herum. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da labern? Jessica wird Nemesis den Niarnin bringen, und der wird damit ganz Elderwelt unterwerfen! Wie können Sie da noch ruhig bleiben?«

Veyron ignorierte seinen Einwand und ging zurück zur Dachluke, wo er auf Tom wartete. »Aufregung bringt uns nicht weiter. Im Übrigen habe ich noch nicht aufgegeben. Ganz im Gegenteil, alles entwickelt sich in die richtige Richtung. Jetzt komm, wir müssen mit Floyd reden und uns mit Tamara treffen. Wir dürfen keine Zeit vertrödeln«, ließ er ihn wissen und verschwand nach unten.

Tom folgte ihm zögernd. Er fragte sich, wie um alles in der Welt sie Nemesis jetzt noch aufhalten sollten.

Eine Viertelstunde später war der Großalarm vorbei, die Panik in der Hauptstadt legte sich.

Tamara, Veyron und Tom wurden auf der Straße von einem Armeefahrzeug aufgelesen und zurück zum Palast gebracht, wo König Floyd bereits auf sie wartete. Farin erstattete soeben Bericht über die Verluste (nicht einen Mann) und die Schäden (jede Menge) die der Einsatz der Panzergarde nach sich gezogen hatte. Floyds stets gut gelauntes Gemüt verkehrte sich ins Gegenteil. Er wurde mürrisch und wortkarg, immer wieder beschwerte er sich über die desolate Leistung seiner Panzerwaffe. »Eine einzelne Diebin in der Nacht, besiegt die gefürchtete Armee Talassairs. Was für eine Blamage, was für eine Blamage! Stellt euch vor, das wird in Elderwelt bekannt! Dann haben wir morgen an den Stränden das Piratengesindel und übermorgen die Landungstruppen Maresias«, grummelte er.

Da half auch Veyrons Einwurf nicht, dass sie es mit einem Vampir zu tun hatten. Noch weniger gefiel es dem narzisstischen König, als er hören musste, dass Jessica mit dem Niarnin entkommen war. Das blieben jedoch nicht die einzigen schlechten Nachrichten in dieser Nacht.

Captain Viul und Toink kamen mit einem alten Jeep angebraust. Sofort wurden sie von der Palastgarde zum König vorgelassen. Viul berichtete, wie Jessica aus dem Gewahrsam hatte entkommen können. »Sie hat ihre Fesseln nicht zerrissen, sondern sie wurden gelockert. Keine Ahnung, wie sie das ohne fremde Hilfe bewerkstelligen konnte. Aber ich schwöre, es war niemand bei ihr. Für meine Crew lege ich die Hand ins Feuer, da war kein Einziger, der den Gepäckraum betreten oder mit der Gefangenen gesprochen hätte. Reed muss sich auf eigene Faust befreit haben. Wir haben ihr natürlich noch das Betäubungsmittel verabreicht, aber die Wirkung hat offenbar nach Einbruch der Dunkelheit nachgelassen. Als es Nacht wurde, hat sie die Stahlseile einfach abgestreift, eines der Bullaugen zerschlagen und ist nach draußen geschlüpft. Wir hörten zwar den Lärm, aber sie war zu schnell, um ihr zu folgen oder sie gar aufzuhalten. In der Nacht sind Vampire den Menschen einfach überlegen«, meinte der Captain der Silberschwan finster. »Vielleicht waren wir ein wenig zu selbstsicher, als wir sie gefangen nahmen. Bei Vampiren gibt es sowieso nur eine Sicherheit: einen Pflock durchs Herz, dann ist Ruhe im Karton!«

Veyron hob nur kurz die Augenbrauen, als er das hörte. Er schien nicht einverstanden zu sein. Tom teilte jedoch die Auffassung des Piloten. Sie hätten Jessica töten sollen, als sie die Gelegenheit dazu hatten. Jetzt würde sie ganz Elderwelt ins Verderben stürzen.

Toink wusste zu vermelden, dass die Schäden an der Silberschwan wieder behoben waren. Er wollte sofort nach Sonnenaufgang starten und die Verfolgung der Vampirin aufnehmen.

»Nutzlos, da sie sich am Tag sicherlich verstecken wird. Dennoch müssen wir jetzt aktiv werden. Floyd, machen Sie Ihre Schiffe auslaufbereit, sammeln Sie Ihre Armee, schicken Sie sie zu den Messerbergen. In wenigen Tagen könnten sie an der Küste ausschiffen und innerhalb von ein paar Stunden die Messerberge erreichen«, sagte Veyron entschlossen. Er schien im Augenblick der Einzige zu sein, der einen Plan verfolgte.

Als Floyd das hörte, riss er entsetzt die Augen auf. »In den Krieg ziehen? Ausgeschlossen, Veyron, vollkommen ausgeschlossen«, protestierte er.

Tamara bedachte den König von Talassair mit einem verständnislosen Blick. »Was? Sie haben die fortschrittlichste Armee ganz Elderwelts. Es gibt nichts, das Ihnen gefährlich werden könnte. Es reicht, wenn Sie drei Panzer schicken, vielleicht noch hundert Mann mit Gewehren. Sie könnten eine ganze Armee Schrate aufhalten oder in die Flucht schlagen«, rief sie zornig.

Floyd ließ sich jedoch nicht erweichen. »Es ist verboten! Talassair darf seine Waffen nur zur Verteidigung des eigenen Reiches benutzen. So will es der Vertrag mit den Simanui. Ich habe nicht vor, der erste König zu sein, der ihn bricht«, entgegnete er säuerlich und wandte sich ab.

Tamara wollte ihn packen und anschreien. Es war eine Stunde größter Not, und Floyd ließ sie alle hängen.

Veyron hielt sie mit einem vorsichtigen Griff an die Schulter zurück. »Ich bin sicher, die Simanui würden in diesem Fall eine Ausnahme machen, da Nemesis sich einer unfassbar mächtigen Technologie bedient«, meinte er halblaut.

Floyd wich weiter zurück und schüttelte energisch den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Nein, nein, nein! Nemesis hat jetzt den Niarnin. Wenn er ihn in die Schlacht führt, könnte er meine Flotte versenken und meine Panzer in Erdspalten verschwinden lassen. Talassair wäre dann allen anderen Völkern schutzlos ausgeliefert. Tut mir leid, aber in diesem Fall bin ich ganz froh um diesen Vertrag«, erwiderte er. Wie ein störrisches Kind verschränkte er die Arme.

Veyron seufzte. »Ich habe nicht die Zeit, hier stundenlang zu diskutieren. Es liegt bei Ihnen, ob Sie uns helfen wollen oder nicht. Aber zumindest sollten Sie uns die Silberschwan noch einmal leihen. Wir müssen zu den Messerbergen, zum Lager der Elben. Ich hoffe, dass Nagamoto inzwischen Unterstützung rufen konnte«, sagte er mit bewundernswerter Ruhe ob Floyds Verweigerungshaltung.

Der König drehte sich überrascht zu ihm um. »Wer wäre denn verrückt genug, euch zu helfen?«, fragte er skeptisch.

Jetzt wurde Tom richtig sauer. Floyd war nicht nur ein selbstverliebter, größenwahnsinniger Irrer und Narzisst, sondern auch noch ein bodenloser Feigling. »Das Imperium Maresia, die werden helfen«, antwortete er an Veyrons Stelle.

Floyd machte große Augen. Er schien einen Moment darüber nachzudenken, wog ab, ob man ihn veralberte. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »In Ordnung, nehmt die Silberschwan«, ranzte er und drehte ihnen beleidigt den Rücken zu.

Trotzdem war Veyron noch höflich genug, ihm zu danken und sich zu verabschieden. Tom dagegen ignorierte Floyd, den er jetzt noch viel weniger mochte als zuvor.

Nur Tamara hielt es für notwendig, sich ihm einmal mehr zuzuwenden. »Sie halten Ihren Ururgroßvater Julian für einen Feigling, weil er in der Versorgungsabteilung diente, anstatt sich für die Front zu melden. Aber er ging immerhin auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Sie dagegen verkriechen sich hinter den Küsten Ihrer Insel, obwohl Sie Tausende, vielleicht sogar Millionen Leben retten könnten. Denken Sie daran, wenn Nemesis mit seinen Armeen an den Stränden Talassairs landet.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Captain Viul und Toink verbeugten sich kurz vor ihrem Lehnsherrn. Anschließend folgten sie eilig ihren Passagieren. Floyd starrte ihnen eine Weile entrüstet hinterher. Verständnislos wandte er sich an seinen Schatzkanzler. »Sag mir, Farin, warum drehen denn plötzlich alle durch? Wieso beleidigen mich diese Individuen? Mache ich irgendetwas falsch? Lieben mich die Leute etwa nicht mehr?«

»Aber Eure Majestät werden doch von allen Leuten geliebt, so heldenhaft und furchtlos, wie Ihr seid. Wahrhaftig: Ihr seid der größte König, den unser Reich bisher hatte«, grollte Farin mit einem gehörigen Schuss Sarkasmus in der Stimme.

Floyd legte die Stirn in Falten. Seine Gedanken behielt er für sich.

Veyron verzögerte ihre Abreise, weil er am nächsten Tag noch einmal ins Palastmuseum zurückkehren und sich eine Kopie der Schatzinventur Julian Ramers sowie Zusammenfassungen der Biografien der Fünfzehn beschaffen wollte. Tom blieb bei Toink und Captain Viul, half ihnen bei einigen kleineren Reparaturen und ließ sich verschiedene Funktionen des Flugschiffs zeigen. Tamara war nicht sonderlich gesprächig, sie ärgerte sich immer noch über Floyd, über Jessicas Flucht und über Veyron, der die Abreise ihrer Meinung nach vollkommen unnötig hinauszögerte. Es fiel ihr sehr schwer, sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen.

In der folgenden Nacht, in der Tom nicht gut schlief, hörte er sie mehrmals aus ihrer Koje kriechen und im Salon auf und ab gehen. Sie verließ das Flugzeug und ging im Hafen spazieren, bis sie Stunden später zurückkehrte und sich wieder schlafen legte. Tom kam es so vor, als bildete sie sich ein, Elderwelt ganz allein retten zu müssen.

Gleich nach Sonnenaufgang war es dann endlich so weit. Die Silberschwan startete die Motoren, glitt über das Wasser und erhob sich in den Himmel. Sie ließen das Inselreich rasch hinter sich und flogen hinaus über die Weiten des Meeres. Floyd sahen sie nicht wieder, der blieb lieber schmollend in seinem Palast.

Die Stunden vergingen elend langsam. An Bord herrschte gedrückte Stimmung, niemand redete viel. Tom bekam nur am Rande mit, wie sich die Erwachsenen unter anderem auch über das Wüstenland Nagmar unterhielten und wie lange Jessica dorthin brauchen würde.

»Nehmen wir an, sie schafft mit ihren Flügeln an die 120 Kilometer in der Stunde, dann hätte sie das Festland gegen Mitternacht erreicht. Mit Segelflug könnte sie weitere 600 Kilometer zurückgelegt haben, ehe der Morgen anbrach und sie sich verstecken musste. Sie dürfte also bereits gestern vor Sonnenaufgang das Imperium Maresia erreicht haben. Letzte Nacht hatte sie noch mal zehn Stunden, um per Segelflug gut und gerne 1000 Kilometer zurückzulegen. Somit befindet sie sich jetzt etwa irgendwo im Lande Achaion. Inzwischen wird Nemesis ihr seine Giganthornissen entgegenschicken, die legen in der Stunde gute 500 Kilometer zurück, das schaffen sie mit Pausen viermal an einem Tag. Wenn Nemesis sie in Staffeln einsetzt, die von geheimen Stützpunkten starten, dann kann er Jessica noch heute Nacht bis nach Nagmar schaffen. Dort wird sie ihm schließlich den Niarnin übergeben«, erläuterte Veyron.

Er saß zusammen mit Tamara und Toink im Salon. Sie studierten einige Landkarten, die sie dem Navigationsbedarf der Silberschwan entnommen hatten. Tom fand das alles uninteressant, auch Toinks Beschreibung des Wüstenlandes brachte ihn nicht viel weiter.

»Es ist eine schier endlose Wüste aus rotem Sand östlich der letzten zivilisierten Länder«, sagte er. »Nagmar bedeutet in der Sprache der Wüstenvölker ›das Blutmeer‹. Kein Mensch, kein Zwerg und auch kein Elb kann dort überleben.«

Außerdem war Nagmar zu weit weg, und sie hatten weder die Zeit noch den Treibstoff, um dorthin zu fliegen und nach Nemesis’ geheimer Festung zu suchen.

Frustriert von der Tatsache, dass Nemesis diesmal gewonnen hatte, zog sich Tom wieder in die Schlafkoje zurück. Er machte rasch die Augen zu, träumte von Fabrillian und auch von Nagmar, dessen ausgedehnte Wüstenlandschaft aus rotem Sand und ebenso rötlichen Felsen bestand.

Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 4

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