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Kapitel 3: Dosengeheimnisse
ОглавлениеDas Landleben sei schön, sagt man. Mit frischer Luft, erdigen fröhlichen und pausbackenen Menschen. Zugegeben, es zeigte sich bei mir damals den Hauch einer Enttäuschung. Die lila Kuh war ein Trugschluss, die Hühner blieben auf ihren Eiern sitzen und die Luft roch zwar meist intensiv, aber selten frisch. Die Kuhglocken vertrieben die viel gerühmte Stille, gehörten aber als traditionelle Festlichkeit zur ländlichen Tageszeremonie, wie "Stille Nacht" zum Weihnachtsabend. Man legte Wert auf Ruhe und Ordnung und setzte diese auch kompromisslos mit einer Ausgangsperre für Jugendliche durch, damit diese ab 21:00 Uhr nur noch dem Gebimmel der Kirchenglocke, dem Rauschen der Autobahn und dem Rattern der Eisenbahn zuhören konnten. Obwohl mich dies selbst noch nicht tangierte, sahen die hiesigen Eingeborenen in mir doch immer noch ein süsser kleiner Fratz, glaubte ich darin die Wirkung von homöopathische Dosen der kleinkarierten Ackerfelder in ihren Köpfen zu sehen. Vielleicht war ich aber auch einfach noch zu klein, um die Erhabenheit des Erwachsenenverhaltens zu sehen und zu würdigen.
Das Land hatte aber durchaus seine schönen Seiten. Die langen Schulwege boten eine angenehme Abwechslung zum tristen Schulalltag. Im Winter, wenn man viel zu früh zur Schule musste, konnte man noch auf einen Blick auf ein Reh oder einen Fuchs hoffen. Die Strassen, Häuser und Plätze waren viel grosszügiger ausgelegt und an manchen Tagen konnte ich so weit blicken, dass ich glaubte, meinen Rücken weit entfernt zu sehen.
An diesem frühen Morgen lag ich bäuchlings auf der Erde und schaute den Feuerbauchmolchen beim Tauchen zu. Ich selbst hatte einen kalten Bauch, der Frühling wartete noch auf bessere Zeiten. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb waren die Molche ziemlich zutraulich und sahen in stoischer Ruhe meiner Hand zu, wie sie sich im Wasser kühlte. Ein winziger Bach speiste den Weiher und nachdem er sich einen Moment ausgeruht hatte, floss er in kleinen Wellenstössen über das gegenüberliegende Ufer weiter. Es war ein kleines besinnliches Plätzchen am Waldrand und wir verbrachten oft unsere Zeit hier. Nur hie und da wurde, wie in diesem Augenblick, die Ruhe durch nervöse Schritte unterbrochen. Thomas war in Zeitnot.
"Wie kannst du nur so seelenruhig auf das Wasser starren! Die Schule fängt in zehn Minuten an!"
Ich stellte mir fünf Ausrufezeichen vor, die an mir vorbei schwebten, packte eines und stocherte damit gleichgültig im Wasser herum. Meine Handlung beruhigte ihn offenbar. Thomas setzte sich neben mich und nahm einen Plastiksack mit belegten Broten aus seinem Rucksack. Fein säuberlich legte er die Brote auf den Stein. Ich schaute misstrauisch hinüber. Thomas pausierte selten in seinem Stress und sein Essen teilte er schon gar nicht. Stumm legte er sich ebenfalls auf den Bauch, füllte den Sack mit Wasser und zog mit einer blitzschnellen Bewegung einen Molch aus dem Weiher in den Sack.
Triumphierend hielt er den Plastiksack in die Höhe und ignorierte dabei, dass der Sack nicht ganz dicht war.
"So, wir können weiter! Wir nehmen ihn nach Hause und da kannst du ihn so lange bewundern, wie du willst. Natürlich erst nach der Schule." Sein Arm wurde nass.
"Dein Arm wird nass" antwortete ich. "Du glaubst also, ein Molch in einem Aquarium ist das Selbe wie einer in freier Natur?"
Thomas dachte nach.
"Naja, es ist definitiv der gleiche Molch."
Natürlich hatte Thomas recht und lag aber trotzdem falsch. Es war der gleiche Molch, aber ob sein Verhalten in einem Aquarium das Gleiche wäre? Und wäre es für mich das Gleiche? Ich versuchte mich zu erklären: "Ein Molch zittert doch immer einen kurzen Moment, bevor man ihn fängt."
"Ja, das stimmt."
"Stell dir vor, dieses Erschaudern wäre eine Geschichte. Seine Geschichte. Die Geschichte eines Molches, der sein Leben liebt. Wie lange würde er noch Zusammenfahren, wenn er im Aquarium lebte? Wie lange würde er uns seine Geschichte erzählen?"
Thomas schwieg und sah den Molch an.
Ich fuhr weiter: "Vor ein paar Monaten war ich mit meiner Mutter im Zoo. Ich fand es toll, die Tiere, die ich bis da nur aus der Schule kannte, einmal in Echt zu sehen. Da kamen wir zum Elefantenbullen, der in einem einzelnen Gehege abgetrennt von der Herde sein Dasein fristete. Die Geschichte, die er erzählte, war unmissverständlich. Er wippte vor und zurück, immer an der gleichen Stelle. Er bewegte seinen Mund ohne Grund, schaute mit stumpfsinnigem Blick an einen mir unbekannten Ort. Ich schaute mich um. Und weisst du was? Jedem Tier fehlte etwas. Alle schienen von den kleinen Käfigen und der vorhandenen Nahrung träge und dösten mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Der Überlebenswille oder gar Lebenswille fehlte komplett."
Ich kam richtig in Fahrt.
"Und weisst du, was ich am Erstaunlichsten fand?"
Thomas sah mich fragend an.
"Als wir dann mit dem Zug heimfuhren und ich die Menschen beobachtete, wie sie mit geschlossenen Augen auf der Sitzbank dösten, kamen sie mir wie die Tiere im Zoo vor. Sie haben ihren Platz, ihre Nahrung und nennen dies dann Leben. Dabei fehlt es doch an etwas." Das Wort lag mir auf der Zunge und wie so oft, schloss Thomas meine Gedanken: "Du meinst die Leidenschaft zu Leben." Und als er seine Worte sprach, leerte er den Inhalt des Plastiksackes wieder in den Teich zurück.
Wir sahen beide zu, wie der Molch tapfer unter den Stein schwamm. Kein Molch war jemals so hoch in der Luft gewesen und wieder zurückgekehrt. Er hatte bestimmt viel zu erzählen.
"Und deine Mäuse?" hackte Thomas nach.
Mir wurde plötzlich bewusst, wie spät es war und ich fing an zusammenzupacken. "Was soll mit denen sein? Du, wir müssen gehen! Sonst kommen wir zu spät."
"Sie sind ebenfalls gefangen. Haben sie die Leidenschaft zu leben noch oder leiden sie schon?"
"Keine Ahnung" murmelte ich vor mich hin, packte meinen Rucksack und lief los. Thomas sprang mir hinterher.
"Wie meinst du, keine Ahnung?"
Ich seufzte: "Ich habe sie vor drei Monaten ausgesetzt. Nach dem Zoo-Besuch taten sie mir leid und ich wollte ihnen die Freiheit schenken."
Thomas hatte schon mit jungen Jahren die Fähigkeit, mittels rhetorischen Bemerkungen und Fragen, die Menschlichkeit seines Gesprächspartners aus den Adern zu pressen, so dass sie sich sichtbar vor den eigenen Füßen als ölige Pfütze sammelte.
"Vor drei Monaten lag doch noch Schnee..."
"Ich habe sie im Wald ausgesetzt!"
"Es waren Feldmäuse..."
"Ich habe ihnen Nahrung für zwei Monate dagelassen!"
"Apropos Nahrung. Wusstest du, dass es viele Waldkäuze gibt, hier auf dem Land?"
"Ich habe ihnen eingeschärft, dass sie aufpassen sollen!"
"Lass mich zusammenfassen: Zwei Feldmäuse aus der Stadt, die noch nie in der freien Natur waren, setzt du mitten im Wald mit einer Packung Nahrung aus. Wahrscheinlich noch um Silvester, wo es in der Nacht nur so kracht und ballert."
Ich wurde rot. Thomas' offene, direkte, laut-überlegende, leicht ironische Art konnte manchmal ziemlich gemein sein. Er beliess es dabei. Seine Lippen verrieten das zurückgehaltene Lachen, welches ich ihm aber nicht übel nahm. Die Schule hatte längst begonnen, trotzdem rannten wir zum Schulhaus.
"Lukas, du kommst zu spät!" tadelte Frau Graf. Es setzte mich immer wieder in Erstaunen, dass nur ich einen Verweis erhielt. Thomas gelang es meist, auf eine mir mysteriöse Weise, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Natürlich war er immer aktiv während der Schulstunde, streckte brav mit dem Finger auf und hatte sich in der Klasse schön integriert. Aber was hatte das schon zu bedeuten. Irgendein gut gehütetes Geheimnis musste es sein, sonst wäre ich längst darauf gekommen. Im Gegensatz zu Thomas, hatte ich mich an meinem ersten Schultag nach den ersten zehn Sekunden mit Frau Graf angelegt. Meine Füsse steuerten automatisch Richtung Fenster, als mich Frau Graf zurückrief und auf einen Platz weiter vorne zeigte. Die Bänke waren so gestellt, dass wir in Vierergruppen arbeiteten und mein Platz in Richtung der Wand stand, welche kreativ mit Buchstaben und Zahlen beschmückt war. Wenn man bei einzelnen Zeichen von Kreativität sprechen wollte. Mein Hinweis, dass ja nicht ich zum Fenster laufe, sondern meine Füsse, ich damit also keine Kontrolle habe, wurde von der Klasse mit einem Lacher quittiert. Frau Graf schickte mich mit einem strengen Blick an meinen mir zugedachten Platz und ich sinnierte darüber, ob Lehrer Lehrer wurden, weil sie keinen Humor hatten oder der Humor verschwand, weil sie Lehrer wurden. Damals kamen mir die ersten Gedanken über die Fantasielos-Zone. Eine These, die ich beständig weiterentwickelte und mit frühen zwölf Jahren als Theorie ausformulierte. Jedes Schulzimmer hatte eine Fantasielos-Zone, dessen Quelle offensichtlich in der Lehrperson lag. Die Strahlen der Ordnung und Struktur breiteten sich kreisförmig aus, was dazu führte, dass die Wandtafel den schädlichen Auswirkungen direkt ausgesetzt war und ihre ursprünglich farbige Form einem gefährlichen Schwarz-Weiss-Denken wich. Die erste Reihe der Kinder wurde strategisch so besetzt, dass sich die Wellen der Langeweile ungehindert darüber hinweg fortbewegen konnten. Sie wurden in den Zeugnissen mit dem Prädikat tadellos quittiert und funktionierten als reziproke Funktion eines Wellenbrechers. Der hinterste Teil eines Schulzimmers war anfangs Schuljahr eine ruhefreie Zone, die sich je näher dem Fenster, zur Ideen und Einfallszone wandelte. Um den eigenen Einfluss zu erhöhen, rotierte Frau Graf die Kinder in einem regelmässigen Abstand. Nur ich durfte weiterhin als Wellenbrecher mein Dasein an vorderster Front fristen und nahm die Herausforderung als kleiner Fels in der Brandung an.
Dies hatte natürlich auch seine Vorteile. Eines rotierenden Tages sass mir plötzlich ein Mädchen gegenüber. Natürlich war mir Prisca schon früher aufgefallen. Eines ihrer Merkmale war ihre aussergewöhnliche Schönheit mit ihren feinen Zügen. Jeder Junge in der Klasse konnte dies bestätigen. Dazu kam ihre Ruhe und Höflichkeit, so dass sie, zum meinem Glück, viel in der ersten Reihe eingesetzt wurde. Prisca fiel insbesondere dadurch auf, dass sie nicht auffiel. Sie war so wunderbar unsichtbar sichtbar, dass ich mich fast in Verwandtschaft mit ihr fühlte. Nie kam ein böses oder abschätziges Wort und alle achteten sie.
Mein stationärer Aufenthalt in der Reproduktivitäts-Ebene hatte aber auch Nachteile. Ich kam immer wieder mit schweren Jungs zusammen. Landjungs, die wirklich was auf dem Kerbholz hatten, mit denen nicht zu spassen war. Stefan sah zwar nicht aus, wie ein schwerer Junge, was ihn aber nicht daran hinderte, einer zu sein. Stefan sah so aus, als würde er jeden Moment zerbrechen. Seine Hautfarbe hatte einen fahlen ungesunden Ton und seine näselnde emotionslose Stimme hatte einen Hang zum Wahnsinnigen. Einen dürren Körper, mit dünnen Armen und Beinen unter einem übergrossen Kopf machte ihn zu einem beliebten Sujet als Strichmännchen. Seine wässrigen blauen Augen besassen einen gemeinen Schlag, die andere Menschen eingehend musterten, aber nicht die Stärken, sondern deren Schwächen fanden. Eine seiner Begabungen war harmlos auszusehen. Eine weitere Begabung war zu merken, wann meine Gedanken abdrifteten. Kreativ war seine Begabung, mich wieder zurück in die Realität zu holen. Tatsächlich war Stefan ein Kind voller Begabungen und wenn wir einen Despoten in unserem Land gesucht hätten, wäre er der ideale Kandidat gewesen. Andere Kinder gaben bei der Berufswahl interessante Dinge wie: Pilot, Feuerwehrmann, Detektiv oder Oberdampfschiffseeseilanbinder an, Stefan wählte Diktator aus. Dabei stand Diktator nicht mal als Auswahl zur Verfügung. Stefan war fleissig daran, seine tyrannischen Fähigkeiten weiterzubilden und als Trainingscamp hatte er unsere Klasse ausgewählt. Eine Armee, die ihm zur Seite stand, hatte er in Form einer Ein-Personen-Streitmacht, die den Namen Andreas hatte und im unbeschäftigten Zustand auch auf diesen hörte. Jeder für sich war nicht ernst zu nehmen. Hier ein Strichmann, der gerne etwas ausgefüllter wäre und dies mit niederträchtigem Verhalten verwechselte. Da ein für sein Alter grosser und gutmütiger Junge, der bei den Tests den grössten Teil der Zeit für seinen Namen benutzte und dafür von Frau Graf einen Punkt bekam. Zusammen beherrschten sie ergänzenderweise die gesamte Klasse.
So vergingen die Tage mit ereignislosen Ereignissen, was nichts anderes bedeutet, als Ereignisse, die man lieber dem Meer der Erinnerung überliess, in der Hoffnung eines Tages ein wunderschönes Korallenriff zu erblicken.
Die Tage wurden länger und heisser. Der Morgen zeigte fern am Horizont zu Gewitter entschlossene Wolken und ich tat frohen Mutes meine Schritte Richtung Schule. Einer meiner Schulwege führte an einer alten Mühle vorbei, die längst im Ruhestand war und trotzig der Zukunft entgegenblickte. Der Schutzwall in Form eines breitflächigen Buschwerks hinderte die Sicht in vergangene Zeiten, was mich aber nicht davon abhielt, einen Blick darauf zu werfen. So kroch ich zwischen Sträuchern und Hecken herum und wäre fast mit einem riesigen Spinnennetz zusammengestossen. Ein kleiner Regenbogen, gespannt im Unterholz mit Licht und Tautropfen, hielt mich davon ab. Das Schöne an Regenbögen ist, mit welcher Persönlichkeit sie für einen erscheinen. Wäre ich damals an den Büschen vorbeigelaufen, es hätte keinen Regenbogen gegeben. So sass ich da und entdeckte die Spinne am Rand des Netzes, geduldig auf Bewegung wartend. Ein kleiner, unentschlossener Käfer betrat die Bühne und steuerte in einer Zickzack-Spur auf die Spinne zu. Sein Ende war für mich besiegelt und doch griff ich nicht ein. Jeden Moment musste er das Netz berühren oder die Spinne eine Reaktion zeigen. Da krabbelte er unberührt unten durch und meine Angst vor Spinnen löste sich auf.
An diesem Morgen wurden die Plätze rotiert, was dazu führte, dass Patricia und Stefan zusammen mit mir an einem Gruppentisch sassen. Ich hatte einen meiner beschwingten Momente, beflügelt durch mein Erlebnis im Busch. Die freien Gruppenarbeiten ermöglichten mir ungehinderten Kontakt mit Patricia und offensichtlich gefiel es ihr. Stefan machte einen verwirrten Eindruck, welcher ihm gut stand und ich ihm dies in meiner offenen Freundlichkeit auch sagte.
In der Pause bereitete ich meine zukünftige Zirkuskarriere als Artist vor und balanciert auf einem schmalen Stück Mauer. Plötzlich stand Stefan neben mir und gab mir ohne Vorwarnung einen Stoss. Meine offene Freundlichkeit interpretierte es als Schulterklopfen und ich fragte "Ja?" Da sah ich, dass Andreas ebenfalls mit von der Partie war, was nur Ärger bedeuten konnte. Ich gab meinen wackeligen Grössenvorteil auf und stieg von der Mauer.
Der Anfang einer Schlägerei hat immer eine Vorgeschichte. Meine mit Stefan war, dass ich ihn nicht ganz für voll nahm, was aber nicht an ihm lag. Das Leben war mir zu wichtig, als es nur Ernst zu nehmen. Sein Ärger beruhte demzufolge auf einem Missverständnis und ich war zuversichtlich, seine Verwirrung etwas zu entwirren. Die Wahrheit wurde dann aber, wie so oft, von einer blanken Faust gestoppt und unser Intermezzo endete in peinlich kurzer Zeit. Andreas hielt meine Arme hinter meinem Rücken, Stefan bearbeitete ungehindert meine Bauchgegend. Und je länger es dauerte, desto unsicherer wurde ich, was den Grund anbelangte. Irgendwann schien sich Stefan ausgetobt zu haben und trat einen Schritt zurück. Er sagte drei Worte: "Sie gehört mir!" und ich antwortete, der aktuellen Lage pflichtbewusst: "Du kannst sie haben." Natürlich wusste ich nicht, was er mit sie meinte, aber immerhin entging ich so weiteren Schlägen.
Die Pause pausierte und wir sassen wieder zu dritt an unseren Tischen. Die Butterseite lag zwar nun auf dem Boden, trotzdem versuchte ich, etwas von der vorbeschlagenen Stimmung in der Gruppe zu verbreiten. Mein erster Witz wurde mit einem Fusstritt und bedeutungsvollem Gesicht unterbrochen und da erst begriff ich: Stefan meinte Prisca.
Eine leichte Übelkeit kroch in meinen Magen und liess mich verstummen. Die zwei passten zusammen, wie die Faust aufs Auge. Prisca und Stefan, das war Wasser und Motorenöl oder schlimmer: Himmel und Hölle. Und ich schien mitten drin. Ein strahlender Held, der eine Prinzessin vor dem Drachen retten musste. Ein jeder Held tat dies natürlich in völlig uneigennütziger Weise und so spannte ich die ersten Fäden für einen grösseren Plan. Stefan bewegte sich mit seinen für uns unangenehmen Aktionen geschickt in der Grauzone, welche die Erwachsenen zwar sehen, aber nicht reagieren liess. Ich war bei weitem nicht der Einzige, den es traf, aber geriet nun offenbar in den direkten Fokus. Da ich mich schon längst nicht mehr auf die Erwachsenen verliess, musste ich mir selber helfen.
In der nächsten Pause traf ich mich mit den grössten Opfern von Stefan, in der Hoffnung seine ärgsten Feinde anzutreffen. Mein Genie hatte in kürzester Zeit einen bestechend einfachen Plan entwickelt, dessen Fundament, wie oftmals in der Kriegsgeschichte, die Quantität war. Jeder beeindruckende Plan braucht eine bildträchtige Karte, so schnappte ich mir einen Ast und zeichnete in den Sand.
"Wir erschrecken Stefan mit einem Windrad?" interpretierte Lars mein Gekritzel.
"Was sind das für Kreise? Sieht wie ein Garten mit Kopfsalat aus..."
Guido blickte mich fragend an. Der Wind des bevorstehenden Gewitters und die spielenden Kinder, die pausenlos über den Sand rannten, machten es mir nicht einfacher. Ich liess meinen Ast fallen und erklärte es mündlich: "Wir warten zu viert auf dem Nachhauseweg bis Stefan und Andreas auftauchen und dann verprügeln wir sie."
"Und für was ist das Windrad?" fragte Lars. Ich seufzte: "Das sollte die alte Mühle am Bach sein."
"Aber die hat doch gar kein Windrad!"
Leicht genervt entgegnete ich: "Ich hatte gehofft, so erkennt ihr sie leichter als Mühle."
"Und was hat das Ganze mit Kopfsalaten zu tun?"
Guido kratzte sich am Kopf. Ich gab es auf. Mit meinen Schuhen wischte ich die Karte im Sand weg.
"Wir überraschen sie, in dem wir uns verstecken. Thomas, Guido und ich kümmern uns um Andreas und du Lars hältst Stefan so lange fest, bis wir Andreas ausser Gefecht gesetzt haben."
"Aber Stefan kann Judo!" jammerte Lars. Offenbar waren die ärgsten Feinde auch die grössten Feiglinge.
"Dann nimm doch ein Windrad und blas ihm damit ins Gesicht. Stefan zerfällt ja schon in seine Einzelteile, wenn du ihn nur anstarrst!"
"Zugegeben, Stefan hast du am besten gezeichnet." Guido starrte immer noch auf die verwischte Karte.
Am Schluss waren wir uns einig, dass ich für Stefan verantwortlich war und vereinbarten eine Schweigepflicht, um den Überraschungseffekt nicht zu verderben.
Ein Donnergrollen liess uns in den Büschen aufschrecken.
"Wer war das?" zischte ich zwischen den Ästen hervor. Guido zeigte vorsichtig mit dem Finger in den Himmel. Tiefschwarze Wolken kamen direkt auf unser Versteck zu und verstärkten das mulmige Gefühl, welches sich je länger je mehr ausbreitete. Lars fluchte wegen einem Spinnennetz und Guido packte seinen Regenschutz aus. Der einzige, der wirklich Ruhe bewahrte, war Thomas. Ich spürte seinen Widerwillen. Natürlich fand er das Verhalten von Stefan nicht in Ordnung, obwohl er selbst nie behelligt wurde, aber dies musste nicht bedeuten, dass wir auf demselben Niveau zurückschlugen. Ich wusste, er war nur hier, um mich zu unterstützen. Jeder in unserer Gruppe hing seinen eigenen Gedanken nach und versuchte sich selbst Mut zuzusprechen. Ich erinnerte mich an jede Gemeinheit, die mir Stefan jemals angetan hatte. Ich ging die Turnstunden durch, in denen er mir mit Absicht ein Bein gestellt, ein Ball ins Gesicht geworfen oder mit dem Hockey-Schläger eins übergebraten hatte. Was mich aber wirklich in Rage brachte, war die Vorstellung, Prisca könnte ihm gehören. Genau in diesem Moment hörte ich zwei Menschen auf dem Trottoir und hielt gespannt den Atem an. Ich sah Stefan drei Meter an mir vorbeigehen und mein Adrenalin rauschte in den Ohren. Ich sprang auf, schrie die üblichen Dinge wie: "Nieder mit dem Diktator!" und trat nicht sonderlich geschickt, aber mit grosser Entschlossenheit in den Kampf. Ich warf Stefan von hinten auf den Boden und setzte mich ohne zu zögern auf ihn drauf, währenddessen sein Kopf mit meiner Faust bearbeitet wurde. Ich konnte leider nur genau einen Schlag ausführen, als mich eine gewaltige Kraft von ihm weghob und meine Arme eisern hinter meinen Rücken hielt. Irgendetwas schien schief zu laufen. Ich schaute mich verzweifelt um. Es fehlte die Quantität! Dabei war sie das Fundament meines Planes. Meine Kameraden hatten mich im Stich gelassen. In der Zwischenzeit war Stefan aufgestanden und putze sich ruhig die Hände an seiner Hose ab.
"Wen suchst du? Oder bist du Trottel schon wieder am Träumen?" Ich schluckte einmal leer, was gab es da zu erwidern. Zu wissen, dass die drei Feiglinge dieses Schauspiel im Versteck mitbekamen, war bitterer, als Stefans abgelatschten Sprüche.
Langsam kam er auf mich zu, hob die Faust und schlug genau einmal zu. Er wusste, wie weit er gehen konnte, ohne die elterlichen Konsequenzen tragen zu müssen und so kam ich mit einer blutigen Nase davon. Danach liessen sie mich alleine und der Himmel öffnete zu allem Überfluss seine Schleusen. Ich schaute nicht mehr in den Büschen nach, sondern lief langsam nach Hause. Meine Nase tat schon nach kurzer Zeit nicht mehr weh und der Regen hatte das Blut aus dem Gesicht gewaschen. Ich erinnerte mich an die Theorie unserer Affenvorfahren und fragte mich, warum ich den Schmerz immer noch fühlte, obwohl es nicht mehr weh tat. Irgendwie war hier der Körper dem Geist weit voraus. Die Bilder von Stefan kamen wieder und wieder und steigerten sich zusammen mit dem Gewitter zu einem feuchtnassen Inferno.
Das Gewitter fauchte mit ganzer Kraft in den späten Abend hinein und kratzte am Fenster. Jener Donner grollte tief in meinen Gedanken und die Blitze hinterliessen schmerzhafte Gedankensprünge. Die Welt war nicht gerecht. Selbst wenn wir Menschen versuchten, sie dazu zu machen. Und letzten Endes musste jeder auf seinen eigenen Beinen stehen. Meine Gedanken drehten sich zwischen Rache und Selbstmitleid im Kreis. Es musste ein neuer, besserer Plan her. Einer mit Qualität und nicht verschwindender Quantität. Einer, der Stefan ein für allemal in seine Schranken wies.
Mein Kenntnismangel in Racheakten zeigte sich in der Ideenlosigkeit der nächsten Stunden. In einem Haufen von zerknäulten nicht brauchbaren Entwürfen schlief ich erschöpft ein.
Stunden später schrak ich aus dem Schlaf auf. Der Traum und die Kleider klebten noch schweissnass an mir und ich schaute mich desorientiert um. Wie es sich für eine Nacht gehörte, schaute sie finster aus schwarzen Löchern. Mein Traum war kein psychologisches Meisterstück: Stefan wollte sich die ganze Zeit Prisca greifen und ich versuchte ihn vergeblich daran zu hindern, aber immerhin brachte er mich auf eine Idee. Der Schwachpunkt von Stefan, und sicherlich vielen zukünftigen Männern, war Prisca.
Ich stieg aus dem Bett und machte mich mitten in der Nacht an die Arbeit. Ich suchte nach einem passenden Geschenk für ein Mädchen und glaubte sie in einer kleinen Süssigkeitenbox mit sauren Drops gefunden zu haben. Mit einiger Mühe klebte ich einen Papierstreifen mittels Tesa-Film um die Box herum und schrieb den banalen Satz: "Ich liebe dich, Lukas" drauf.
Den freudschen Verschreiber fiel mir natürlich sofort auf und so strich ich meinen Namen durch und ersetzte ihn mit Stefan. Nun hörte sich der Satz etwas seltsam an, als ich ihn laut vorlas. "Ich liebe dich, Stefan." Mein Magen drehte sich und rebellierte. So kritzelte ich weiter und strich Stefans Namen durch, schrieb Prisca hin und ergänzte mit einem "von Stefan". Das Endergebnis sah zugegebenermassen etwas provisorisch aus, aber ich war ganz zufrieden. Ich riss den Zettel wieder von der Box und machte mich an die zweite Version. Den Satz kriegte ich mit der Vorlage problemlos hin, die Box selbst sah aber langsam etwas ramponiert aus, was mir aber gerade recht war. Sie sollte nicht zu sehr imponieren.
Bilder einer abweisenden Prisca und eines enttäuschten Stefans stiegen langsam in mein Bewusstsein und verbreiteten die verdiente Ruhe. Mich auf das Bett legend, spann ich den Faden weiter und versuchte mir das grimmige Gesicht von Prisca vorzustellen. Trotz eigenen Grimassen und Grummeln lächelte meine gedankliche Prisca unentwegt. Ich hatte sie nie grimmig erlebt und konnte sie mir deshalb so nicht vorstellen. Sie lächelte als sie den sauren Drop in den Mund nahm. Sie lächelte als sie den Zettel las und sie lächelte als sie Stefans unwissendes Gesicht sah. Schlimmer noch, Stefan lächelte ahnungslos zurück. Zu allem Überfluss nahm Prisca eine Süssigkeit und schenkte sie Stefan.
Aus lauter Frust erlaubte ich mir ein, zwei Drops aus der Box zu nehmen. Da sie aber zusammenklebten, war danach die halbe Dose leer. Ich sass da, die Süssigkeiten stiegen mir sauer auf und ich wusste nicht mehr weiter. Ich durfte nicht aufgeben, jeder Held erlebt schliesslich hin und wieder einmal eine Durststrecke. Um dann sogleich ein grösseres Wagnis einzugehen. So formte sich ein neuer Plan, ein grandioser Plan. Ein kühner Plan, der wenn nicht schon in die Realität, in die Geschichte eingehen würde.
Ich leerte die restlichen Süssigkeiten aus und faltete einen weiteren Zetteln hinein, welcher folgende Zeilen enthielt: "Du lehrst mich das Fliegen, Lukas" Die Süssigkeiten wurden ungegessen wieder hineingelegt und ich prüfte kurz, ob mein Versteck einem ersten Blick standhielt. Zufrieden ging ich nochmals Priscas Lächeln durch. Nachdem sie also Stefan ein Lächeln und was Süsses geschenkt hatte, schaut sie nochmals genauer in die Box und findet einen weiteren Zettel. Das verwirrte Gesicht wandelte sich in das Lachen, welches vom gestrigen Morgen nachhallte. Und so lebten wir glücklich bis ans Ende unserer Tage. Ich schlief beruhigt mit dem Gedanken ein, dass Märchen doch was Gutes hatten.
Der neue Tag kündigte sich mit einem hoffnungsvollen blauen Himmel und hellroten Kondensstreifen an. Mein Ärger auf Stefan war mit dem Gewitter weitergezogen. Zurück blieb ein leicht nervöses Herzklopfen und die Dose, die ich fest in den Händen hielt. Die Luft roch nach feuchtem Gras und die Regenwürmer flüchteten, überrascht von der Sonne, in die Erde.
Überzeugt einen Schatz in den Händen zu halten, lief ich feierlich, ohne Umwege und viel zu früh in die Schule. Wie so oft, wenn man einen Schatz in den Händen hält, schaltet sich der Verstand vollkommen aus und geht auf ein kognitives Standby. Dabei formt sich eine neue Realität um den materiellen oder körperlichen Wertgegenstand, die sich keinen Deut um die Wirklichkeit schert. Nicht anders lässt sich erklären, dass ich ohne zu zögern die trojanische Dose unter Priscas Bank platzierte und das erste Mal überpünktlich in der Stunde sass. Frau Graf war sichtlich erstaunt und schien wieder ein bisschen mehr an die Wirkung von Gebeten zu glauben.
Sobald der Schatz sich dann der eigenen Kontrolle entwand und im Fluss der Dinge vor sich hin dümpelte, versuchte der Verstand mit einem gewaltigen Adrenalinausstoss die verlorene Zeit einzuholen. Mehrere Gedanken zwängelten darum, gedacht zu werden und behinderten sich gegenseitig. Gefühle hatten es da einfacher, da sie nicht vom Gehirn aufgehalten wurden, sondern, ungehemmt von Kausalitäten, einfach wirken konnten. So versuchte der Angstschweiss meinen Körper zu kühlen, der auf dem Stuhl sitzend Hochleistungssport betrieb. Fluchtgedanken vermischten sich mit Totstellgedanken und mein faszinierender Gesichtsausdruck hinterliess ein Fragezeichen in Thomas´ Gesicht, als er mich sitzen sah. Jeden Moment erwartete ich die Entdeckung der Dose. Ungeduldig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her und wollte Prisca anschreien. Meine gedankliche Zukunft hörte beängstigenderweise beim Finden der Süssigkeiten auf. So hatte ich meinen ersten Herzstillstand schon mit jungen Jahren, als Prisca ein Schulbuch unter dem Tisch hervorkramte und dann plötzlich die Hand unten liess. Mit einem Stirnrunzeln holte sie Dose hervor.
"Fräulein Graf, was ist das?" fragte Prisca. Mein Stuhl erschien mir plötzlich sehr bequem und ich rutschte in die angenehmste und tiefste Ecke. Frau Graf schob ihre Lesebrille hoch, studierte die Süssigkeiten-Verpackung und fragte danach mit zögerlicher Stimme: "Stefan, hast du dazu etwas zu sagen?"
Die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen hat zuweilen seltsame Auswirkungen auf Personen. Stefan schien sich darin zu sonnen und gleichzeitig einen flüchtigen Sonnenbrand davon zu tragen. Wahrscheinlich war es für ihn ein eigentümliches Gefühl, folgende Worte zu sagen und sie gleichzeitig auch so zu meinen: "Ich war es nicht!"
Dieser, nebst "Ich habe Hunger!" und "Wann ist Pause?", oft ausgesprochene Satz, zeigte keine grosse Wirkung auf Frau Graf. Vermutlich hatte er sich bereits durch übermässigen Gebrauch abgenützt.
"Es steht dein Name drauf!" beharrte Frau Graf. Stefan blieb bei seiner Version der Wahrheit: "Ich habe keine Ahnung, woher diese Verpackung stammt."
"Wir sprechen nach der Stunde noch miteinander."
Frau Graf versuchte einen strengen Blick in Richtung Klasse zu werfen, traf aber daneben.
In der Zwischenzeit ging ich sämtliche Fluchtpläne durch, was aber nicht sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Thomas musste nur kurz in meine Richtung schauen, daraufhin war für ihn die Sachlage klar. Ich wunderte mich, weshalb nicht alle anderen auf die gleiche Idee kamen. Die Peinlichkeit war praktisch greifbar. Theorien über Modeerscheinungen, welche Süssigkeiten für das weibliche Geschlecht ungeniessbar machen, strömten ungefiltert durch meinen Kopf und der Gedanke an meinen persönlichen Zettel, vorgelesen von Frau Graf war schlicht undenkbar. Prisca hatte sich nicht an meinen Plan gehalten. Allgemein war die Realität ziemlich unberechenbar. Die Leidenschaft war offenbar ein schlechter Ratgeber. Auch wenn sie einen an eine andere Person denken und handeln lässt, insgeheim handelt man ausschliesslich für sich selbst.
Ich hatte Glück. Frau Graf hielt Diät und unterbrach sie erst am Abend, um sich ein paar verbotene Süssigkeiten zu genehmigen. Kurze Zeit später kam das Gerücht auf, dass ich dahinter steckte, es wurde aber weder bestätigt noch dementiert. Zumindest war es ein Erlebnis, welches in der Klasse für Gesprächsstoff sorgte. Stefan liess mich ab diesem Vorfall in Ruhe und Prisca ignorierte mich weitestgehenst. Damit konnte ich leben.