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Kapitel 1
ОглавлениеDas Waisenhaus lag am Ende einer Sackgasse, wirkte marode und baufällig, überragte jedoch die umliegenden Wohnhäuser deutlich und hing wie ein düsterer Schatten über der Siedlung am Rande von Waltham Abbey, nördlich vom Londoner Stadtkern.Die einstmals Weiß getünchte Fassade war im Laufe der Jahre ergraut, hatte Risse bekommen und fiel in großen Brocken herab , wenn starker Wind an ihr vorüber strich .Das Gelände war von einem hohen Eisenzaun umgeben, der bereits Rost angesetzt hatte und von Efeu überwuchert wurde.Das Areal um das Waisenhaus wirkte ungepflegt, der Rasen war braun und zertreten und in dem kleinen Brunnen vor dem Haupteingang verrotteten die Blätter mehrerer Jahre.Schon seit langer Zeit sprudelte daraus schon kein Wasser mehr.Die Anwohner bemitleideten die Kinder, die hier lebten, denn in ihren Augen konnte es wohl kaum einen trostloseren Ort geben als das Waltham Orphanage.Gelegentlich sah man eines der Kinder über den Rasen laufen , doch Mrs. Carver , die strenge Leiterin des Heimes , war stets zur Stelle und rief es mit strenger Stimme zurück .
Überhaupt gab es im Waisenhaus recht wenige Kinder, zumindest im Vergleich mit einigen Häusern im Süden der Metropole London.Nur sehr selten erschienen die Polizei oder das Jugendamt, um ein elternloses Kind hier unterzubringen.
Wer sich jedoch hierher verirrte, betrat durch die schmale Vordertür einen kalten und leeren Hauptsaal, von dem aus mehrere Gänge und Treppen in die Tiefen des großen Hauses führten.
Direkt am Eingang befand sich eine Pförtnerkabine, doch schon seit Jahren gab es niemanden mehr, der diese Funktion wahrnahm.Staub und Spinnenweben waren inzwischen dort eingekehrt, bedeckten alles mit einer grauen Patina und ließen jeden Putzwilligen angeekelt von seinem Vorhaben Abstand nehmen.
Das Büro von Mrs. Carver lag gegenüber des Pförtnerkabuffs.
Die Tür stand immer offen, damit die Heimleiterin stets ein Auge auf den Eingangsbereich haben konnte.
Sie war Ende Fünfzig, groß und hager, trug ihr ergrautes Haar zu einem festen Knoten gebunden und kleidete sich stets in ein graues Kleid.
Mrs. Carver hasste ihre Arbeit, wie sie auch Blumengärten, Lachen und fröhliche Feste hasste.
Das Leben im Kinderheim hatte sie emotional verdorren lassen, was sie jedoch nie bedauert hatte.
Sie behandelte die Menschen in ihrem Umfeld so , wie sie es verdienten , dachte sie .
Und da niemand Anteil nahm an ihrer schweren Bürde, war es nur natürlich, dass niemand eine freundliche oder gar herzliche Behandlung verdiente.
Nie hatte sie Zeit gefunden für Freunde oder Familie, hatte niemals Urlaub gemacht oder sich einen freien Tag gegönnt, und während sich ihre Kolleginnen genau solchen Dingen zuwandten und irgend wann das Heim verließen , war Mrs. Carver immer vor Ort, immer präsent.
Sie war das Heim, denn sie schien das Haus auch nach Dienstschluss nie zu verlassen, übernahm alle wichtigen Aufgaben und wurde eines Tages zur Leiterin ernannt, weil sich sonst niemand um diesen Posten in diesem heruntergekommenen Heim beworben hatte. Derzeit hatte sie die Aufsicht über sechs Jugendliche, von denen Zwei kurz vor ihrer Volljährigkeit standen und das Heim dann verlassen mussten , wenn sich keine Adoptiveltern finden würden. Das Gesetz sah für solch einen Fall vor, dass die verbliebenen Kinder dann auf andere Heime umverteilt und das Heim dann geschlossen würde. Mrs. Carver machte sich deshalb keine Sorgen, denn solch ein Verhalten war ihrem Wesen völlig fremd, doch es regte sich schon ein gewisses Unbehagen in ihr, wenn sie an die Schließung des Waltham Abbey – Kinderheimes dachte. Sie saß in ihrem Büro und starrte auf ein paar Unterlagen, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen . Diese betrafen die Familie Miller, die sich an das Heim gewandt hatten und einen Jungen adoptieren wollten. Mister Miller war ein wohlhabender Industrieller aus London, seine Gattin arbeitete im Marketingbereich, und beide wünschten sich nun Familienzuwachs. Allerdings sollte der entsprechende Junge so nahe am Erwachsenenalter sein wie möglich, da die Miller’s sich nicht mit dem Gedanken anfreunden konnten , ein kleines Kind erziehen zu müssen. Und es gab nur einen Jungen in Waltham, auf den diese Wünsche zutrafen. Sein Name war Duncan Dafoe und er war ein Findelkind. Jemand hatte ihn vor die Tür des Heimes gelegt, zusammen mit einer Karte, auf der nur dieser Name zu lesen war. Wäre dies nicht in einer Silvesternacht geschehen, so wäre der Junge sicherlich erfroren, denn nur in der Neujahrsnacht war es den Kindern gestattet, nach Einbruch der Dunkelheit das Heim zu verlassen, um das Feuerwerk zu beobachten. Bei dem Gedanken an Duncan fröstelte sogar die kalte Mrs. Carver, denn irgendetwas an dem Jungen flößte ihr Angst ein. Dabei war Duncan ein absolut unauffälliges Kind gewesen, dass nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht hatte und auch nie krank gewesen war, was an sich schon Grund zur Besorgnis gab. Stattdessen war er ein eifriges, lernbegieriges, wissensdurstiges Kind, klug und höflich, aber nie vorlaut oder überheblich. Mrs. Carver hatte Ansichten, besonders in Hinsicht auf Eigenschaften und Vererbung. Ganz klar wurden ihrer Meinung nach Höflichkeit, Anstand und Etikette mit vererbt, denn gute Familien blieben gute Familien , auch wenn ab und an mal ein faules Ei dazwischen war. Doch dieser Grundsatz geriet ins Wanken, denn Duncan, der Findling einer Silvesternacht, wies all diese Eigenschaften auf, aber er bleib dennoch ein Findelkind. Welche gute Familie, welches gute Elternhaus aber setzte seine Kinder aus ? Sie bemerkte eine Bewegung an der Tür und blickte von den Unterlagen auf. Duncan stand dort und schien darauf zu warten, hereingebeten zu werden. Er war groß gewachsen, schlank und hatte glattes braunes Haar, welches lang genug war, um ihm bis vor die Augen zu reichen. Er hatte es sorgsam zu einem Rechtsscheitel gekämmt und seine blauen Augen sahen auf Mrs. Carver. Sie winkte den jungen Mann zu sich und hieß ihn Platz zu nehmen. Duncan gehorchte wortlos und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Die Heimleiterin lehnte sich etwas zurück und fixierte ihn mit einem strengen Blick. >>Duncan, << begann sie schließlich,>> wie du ja weißt, wirst du in knapp zwei Monaten achtzehn Jahre alt. Das Gesetz schreibt vor, dass du dann unser Heim verlassen musst. Du warst immer ein guter und gehorsamer Junge, daher möchte ich dir eine letzte Chance geben, doch noch in eine gute Familie zu kommen. Morgen Vormittag besuchen uns die Miller’s, ein Ehepaar aus London. Sie suchen schon eine ganze Weile nach einem Jungen wie dir. Trotz deiner natürlichen Qualifikationen ist es mir immer noch ein Rätsel, warum sich bisher nie jemand für dich entschieden hat. Ich möchte dich daher bitten, morgen ganz besonders nett zu diesen Leuten zu sein. Ich weiß natürlich, dass du immer ausgesprochen höflich und zuvorkommend zu unseren Gästen warst, aber in diesem Fall muss dir klar sein, dass die Miller’s deine letzte Möglichkeit darstellen, denn ansonsten musst du bald alleine zurechtkommen.<< >>Ich verstehe, Miss Carver, << erwiderte Duncan leise. Die Heimleiterin räusperte sich und beugte sich zu Duncan vor. >>Die Miller’s sind eine gut betuchte Familie, du hättest es nicht schlecht bei ihnen. Sie können dir eine qualifizierte Ausbildung gewährleisten, ein Heim und eine intakte Familie. << Duncan nickte und blickte schüchtern auf seine Knie hinab. >>Kann ich nicht einfach hier bleiben , << fragte er ? Mrs. Carver hatte nicht mit solch einer Frage gerechnet, fühlte sich etwas überrumpelt und versuchte ihre Unsicherheit durch eine schroffe Antwort zu verbergen. >>Das geht nicht, nein, << entgegnete sie kühl. >>Wir dürfen es auch nicht. Das Gesetz sieht so etwas nicht vor, zumindest nicht für Leute wie dich.<< Duncan hob den Blick und starrte völlig ungerührt die Heimleiterin an. >>Leute wie mich , << wiederholte er tonlos ? Mrs. Carver gestikulierte aufgebracht mit den Händen. >>Waisenkinder, Findelkinder, nenn es wie du willst. Sobald du Volljährig bist, musst du diese Einrichtung verlassen und dein Glück selber suchen . Dies ist ein Waisenhaus, kein Armenhaus. Du wirst gehen müssen ! << Duncan nickte und senkte wieder den Blick. >>Wohin soll ich gehen , << fragte er mit besorgter Stimme ? >>Das hat mich nicht zu interessieren, << antwortete Mrs. Carver barsch. >>Geh nach London, such dir eine Bleibe und eine Arbeit. << Wieder nickte Duncan, doch seine Enttäuschung war ihm anzusehen . >>Man muss immer für sich selber sorgen, so ist es im Leben nun mal, << sagte die Heimleiterin , dann entließ sie den jungen Mann mit einer Handbewegung und beschäftigte sich wieder mit ihren Dokumenten. Duncan kehrte in sein Zimmer zurück und ließ sich auf der Kante seines Bettes nieder. Der Raum war nicht sehr groß, enthielt neben dem Bett nur noch einen alten Schrank, in dem der Junge seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Durch eine kleines Fenster drang Tageslicht herein, doch die kleine Kammer schien es zu verschlucken. Ständiges Zwielicht war die Folge, selbst im hellen Sonnenschein des Sommers. Duncan strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte frustriert zu Boden. Das Heim war sein Zuhause, solange er sich erinnern konnte. Doch in zwei Monaten würde alles ein Ende finden, wenn er die Miller’s nicht von sich überzeugen konnte. Er verband nicht gerade schöne Kindheitserinnerungen mit dem Heim, sicher nicht, doch ein anderes Zuhause hatte er nie kennenlernen dürfen. Die anderen Kinder waren zu seiner Familie geworden, auch wenn sie nicht viel mit ihm zu tun haben wollten. In seiner Nähe schienen sie sich immer unwohl zu fühlen, ihnen wurde kalt und sie meinten sogar, leises Flüstern in seiner Gegenwart zu vernehmen. Was Kinder sich manchmal ausdenken können, dachte Duncan und wiederholte damit nur ein Kommentar von Mrs. Carver zu diesem Thema. Er selbst vernahm gelegentlich auch ein Zischen und Knistern, doch er hatte gelernt, es zu ignorieren. Vermutlich waren es nur akustische Täuschungen, mehr aber auch nicht. Er rückte weiter auf sein Bett und stieß dabei gegen seinen einzigen Freund, seinen Teddybären. Dieser war ihm von seinen Eltern mitgegeben worden, denn sie hatten ihn damals mit dem kleinen Duncan in die Decke gewickelt, in der man ihn später vor der Tür des Kinderheimes gefunden hatte. Der Teddy selbst war mit den Jahren verschlissen, das Fell hatte seine braune Farbe verloren und wirkte abgegriffen. Doch Duncan hatte stets jeden Riss sorgsam zugenäht und verschlossen, weshalb der Bär noch beide Arme und Beine hatte. Seine schwarzen Knopfaugen schienen ihn traurig anzublicken, als wüsste er von dem Dilemma, in dem sich sein Besitzer befand. Duncan nahm ihn in die Hände und betrachtete ihn liebevoll. Er hatte nie echte Freunde gehabt, nicht einmal unter den Kindern im Heim, daher stellte dieses Kuscheltier seine Familie dar. Ihm war bewusst, wie seltsam dies war, doch niemandem sonst hatte er sich in der Vergangenheit anvertrauen können. Und sein Teddybär, dem er irgendwann den Namen Luke gegeben hatte, hörte ihm zu. Er war siebzehn Jahre alt und hatte einen Freund, der nur aus Kunststoff und Holzwolle bestand. Selbst in seinen Ohren klang das reichlich verrückt. Er schob das Kuscheltier unter sein Kopfkissen zurück und erhob sich. Nachdenklich betrachtete er sein Gesicht in dem kleinen Spiegel, der neben seinem Kleiderschrank hing. Sein glattes braunes Haar bereitete ihm nie Schwierigkeiten, es schien nie zu zerzausen oder zu verkletten. Und seine Haut war makellos, glatt und blass. Er kannte andere Jugendliche aus dem Ort und wusste daher, wie pickelig man in der Pubertät werden konnte, doch für ihn hatte das nie eine Rolle gespielt. Wenn Mrs. Carver am Sonntag mit den Kindern in die Kirche ging, schienen sich die Blicke der jungen Mädchen nur auf ihn zu richten. Es wunderte ihn jedes Mal aufs Neue, wenn sie zu flüstern und zu kichern begannen, ihn dabei aber weiterhin begafften. Schließlich kannte ihn keines der Mädchen persönlich. Er schob den Gedanken daran beiseite und wandte sich dem Fenster zu. Draußen zogen bleigraue Wolken am Himmel heran, die Regen in Aussicht stellten. Der Herbst hatte das Land noch fest in seinem Griff und seinen rotgoldenen Anstrich auf Bäume und Büsche gleichermaßen. Zu dieser Jahreszeit wirkte das Gelände ringsum das Waisenhaus noch trostloser, noch kälter als zu jeder anderen Jahreszeit. Duncan hatte nie viel Freude an der Aussicht gefunden, die sich ihm durch sein Fenster bot. In einiger Entfernung, hinter den verrosteten Gitterstäben des Zaunes, ragten bleiche Schornsteine empor und warfen ihre düsteren Schatten auf das Umland. Es gab wirklich schönere Flecken in dieser Gegend, das war ihm bewusst. Er genoss die sonntäglichen Kirchgänge, denn sie führten die kleine Gruppe aus dem Waisenhaus an den schönsten Plätzen des Ortes vorbei. Gerade die Waltham Abbey selbst gefiel Duncan, denn sie lag wie eine Insel der Ruhe mitten im Ortskern und strahlte erhaben über die Dächer der umliegenden Häuser hinweg. Die Rasenfläche auf ihrer Rückseite wirkte wie gemalt und flößte jedem Beobachter ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit ein. Er bedauerte es, dass er nie die Gelegenheit erhalten hatte, sich genauer im Ort umzusehen. Das Verlassen des Heimgeländes war allen Kindern untersagt, und Duncan kannte die Strafen, die jemanden erwarteten, der gegen diese Regel verstieß. Sie waren sehr hart, fast drakonisch, und Mrs. Carver kannte kein Pardon, wenn es um Regelverletzungen ging . Ein Flugzeug glitt geräuschlos am Himmel vorüber und ging langsam tiefer. Duncan meinte, einen Vogel auf dem Heck des Flugzeuges zu erkennen, doch dies war sicher nur Einbildung. So gute Augen hatte nun wirklich niemand. Er setzte sich erneut auf sein Bett und schlang die Arme um die Knie . Wie die Miller’s wohl sind, dachte er ? Zumindest waren sie wohlhabend, was natürlich ein interessanter Punkt für die Heimleitung war, denn eine Adoption war kein kostenloses Vergnügen. Duncan mochte noch ein Jugendlicher sein, aber er war nicht dumm. Viele Besucher hatten seine Ruhe und seine schweigsame Ader mit einer gewissen Einfältigkeit in Verbindung gebracht, doch das traf nicht zu. Duncan hatte gelernt, zuzuhören und erst nachzudenken, ehe er den Mund aufmachte. Ihm war durchaus bewusst, dass die Familien, die sich an das Waisenhaus wandten, über Geld verfügen mussten, denn er hatte Gespräche zwischen der Direktorin und den Leuten verfolgt. Mrs. Carver schacherte nicht mit ihnen, das wäre auch undenkbar gewesen, doch sie nannte ihren Preis und schien ihn auch zu erhalten. Manches Mal fühlte sich Duncan an die Händler auf dem Wochenmarkt erinnert, den er gelegentlich mit der Heimleiterin besuchen musste. Einige feilschten, als hinge ihr Seelenheil davon ab, andere wiederum nannten ihren Preis und wichen nicht ein Deut davon ab. Aber in solchen Bahnen konnte man natürlich nicht denken, wenn es um Waisenkinder ging. Immerhin wurden diese nicht wie Ware verkauft. Aber wie sollte er es nun anstellen, dass die Miller’s sich auf jeden Fall für ihn entschieden? Er hatte schon so häufig Familien vergrault, auch wenn er sich die größte Mühe gegeben hatte, nett und freundlich zu erscheinen. Irgendetwas schien die Leute an ihm zu stören, auch wenn sie es nie auf den Punkt bringen und beschreiben konnten. Sie fanden ihn sympathisch, keine Frage, sehr gut erzogen und hübsch, doch es endete immer mit einer Absage an die Heimleiterin. Ganz zu Anfang hatte sich Duncan noch Vorwürfe gemacht, den Fehler oder Makel bei sich zu finden versucht, doch irgendwann hatte er eingesehen, dass das zu nichts führte. Es schien da etwas zu geben, was die Leute störte, doch er konnte nicht feststellen, was es war, also war es müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ein leises Klopfen an der Tür ließ Duncan aus seinen Gedanken aufschrecken. Diese öffnete sich langsam und das schmale Gesicht eines jungen Mädchen’s spähte durch den Spalt in den Raum. Sie hieß Lee Ann, war vierzehn Jahre alt und das einzige Mädchen, das im Waisenhaus lebte. Während die anderen Kinder Duncan mieden, schien Lee Ann seine Nähe geradezu zu suchen. Er mochte das Mädchen, denn sie war eine stille und herzliche Freundin in all den gemeinsamen Jahren geworden. Die beiden saßen häufig zusammen und schwiegen sich an, nicht etwa, weil sie sich nichts zu sagen gehabt hätten, sondern weil jedes Wort überflüssig war. Man konnte sich auch, ohne viel miteinander zu sprechen, verständigen. Lee Ann trat in das Zimmer und schloss die Tür. Sie hatte strohblondes Haar, das Mrs. Carver allerdings immer so schneiden ließ, als wäre sie ein Junge. Mit ihren großen jadegrünen Augen blickte sie Duncan an und setzte sich dann auf sein Bett. >>Morgen kommt wieder eine Familie für dich ? < Duncan nickte und wollte etwas hinzufügen, doch Lee Ann schnitt ihm sofort das Wort ab. >>Was, wenn die dich auch nicht mitnehmen? Musst du dann bald hier weg ? << >>Das müsste ich auch, wenn sie sich für mich entscheiden, << erwiderte Duncan freundlich und setzte sich zu ihr. >>Du weißt, wie ich es meine, << brummte Lee Ann. >>Hast du die Carver gefragt, ob du nicht bleiben kannst ? << >>Ich habe sie gefragt, und sie hat nein gesagt, << antwortete Duncan. Lee Ann verschränkte die Arme vor der Brust und starrte finster. Sie konnte hervorragend starren, dachte Duncan. Es wunderte ihn, dass sich durch ihren bohrenden Blick nicht der Putz von den Wänden löste. Überhaupt war Lee Ann ein sehr ungewöhnliches Mädchen, auch wenn Duncan bisher nicht viele andere hatte kennen lernen dürfen, um besser vergleichen zu können. Sie hatte seine Größe, war jedoch um einiges schlanker als er. Wenn sie zornig wurde, schien es, als würde die Temperatur in dem Zimmer um einige Grad fallen. Und sie wurde häufig zornig, denn die anderen Jungen im Waisenhaus hackten häufig auf ihr herum. Vor allem , weil sie sich gut mit Duncan verstand. Sich mit ihr zu schlagen hatte bisher nur einer gewagt, und dieser Junge hatte übel dafür büßen müssen. Wenn Lee (und nur Duncan durfte sie bei so nennen) wütend wurde, konnte sie zu einem Berserker werden. Mrs. Carver gelang es nicht einmal durch Schläge mit ihrem gefürchteten Rohrstock, Lee von dem Jungen , der sie provoziert hatte, herunter zu bekommen. Erst Duncan’s Eingreifen hatte den Kampf schließlich beendet. >>Ich will nicht, dass du gehst , << verkündete Lee voller Trotz. Duncan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. >>Das liegt wohl kaum in deiner Macht , << entgegnete er freundlich, >> doch ich möchte eigentlich auch nicht von hier fort. << >>Können wir denn nicht weglaufen ?, << fragte Lee. >>Irgend wohin, wo uns Mrs. Carver nicht finden kann ? << Duncan wurde schlagartig ernst. >>Daran darfst du nicht einmal denken, Lee, << erwiderte er. >>Die Polizei würde uns sicher schnell finden, und du weißt, was dann geschehen würde. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt, weder durch Mrs. Carver, noch durch irgend wen sonst. Schlag dir das bitte aus dem Kopf, Lee. << Er sah, wie sich die Augen des Mädchen’s mit Tränen füllten und setzte sich neben sie . Tröstend strich er mit der Hand über ihren Arm und sagte: >>Wenn ich volljährig bin und einen Job gefunden habe, dann komme ich dich holen. Das verspreche ich dir, Lee . Ich gebe dir mein Ehrenwort. << >>Wirklich ?, << flüsterte das junge Mädchen . Duncan nickte und schenkte ihr ein weiteres Lächeln. >>Bevor du Achtzehn bist, werde ich kommen und dich hier rausholen, << sagte er. Ein lauter Gong ertönte plötzlich und hallte durch das Gebäude. Lee fuhr erschrocken zusammen, doch Duncan grinste. >>Abendessen, << sagte er. Als die ersten Strahlen der Morgensonne den Horizont erhellten und einen neuen Tag ankündigten, war Duncan bereits auf den Beinen und war in seine besten Klamotten geschlüpft. Für gewöhnlich erschienen Gäste und interessierte Familien zum Frühstück im Waisenhaus, und Duncan wollte vorbereitet sein. Er kämmte sein Haar ein zweites und drittes Mal, bis es richtig lag, band sich seinen Schlips und zog seinen Anzug an, den er sonst nur für Kirchgänge am Sonntag trug. Dann verließ er sein Zimmer und ging in das Erdgeschoss hinab, wo er auf Mrs. Carver traf, die gerade die Eingangstür aufschloss. Überrascht von seinem frühen Erscheinen betrachtete sie den jungen Mann genau, fand aber nichts an seinem Äußeren, das sie hätte bemängeln können. >>Die Miller’s werden in einer Stunde hier sein, << verkündete sie daher und öffnete die Tür. Erschrocken wich sie zurück, denn direkt vor ihr stand ein Mann mittleren Alters, der gerade die Hand gehoben hatte, um anzuklopfen. Duncan blickte an ihr vorbei und betrachtete den Fremden genau. Der Mann mochte um die vierzig Jahre alt sein, war groß gewachsen und trug einen teuren Mantel. Er hatte schwarzes Haar und einen kleinen Pferdeschwanz, eine silberne Brille auf der Nase und einen Spitzbart am Kinn. Er wirkte sehr gepflegt und ordentlich. Hinter ihm , am Fuß der Treppe, stand eine elegant gekleidete Frau vor einer schwarzen Limousine und lächelte. >>Sie wünschen ?, << fragte Mrs. Carver höflich. Der Mann verbeugte sich leicht vor ihr und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. >>Mein Name ist Jonathan Miller, << antwortete er . >>Wenn sie Madame Carver sind, dann haben wir heute früh einen Termin. Die junge Dame hinter mir ist meine Sekretärin, Miss Piper. Meine Gattin fühlte sich leider nicht gut und konnte mich daher nicht begleiten. << >>Wir hatten sie nicht so früh erwartet, << sagte Mrs. Carver verwirrt und überrascht. >>Nicht ? << Mister Miller schien ehrlich bestürzt. >>Miss Piper, war der Termin nicht für acht Uhr angesetzt ? << Er wandte sich seiner Sekretärin zu, die nervös in ihren Unterlagen blätterte. >>Doch, Sir, war er, << erwiderte sie schließlich erleichtert. Mr. Miller sah wieder zu Mrs. Carver und lächelte wieder. >>Vermutlich ein Irrtum, wie er in den besten Familien vorkommen kann, << verkündete er fröhlich. >>Aber das sollte uns nicht davon abhalten, ihn nicht stattfinden zu lassen. Dürfen wir eintreten ? << Mrs. Carver wich zur Seite und scheuchte Duncan mit einer harschen Handbewegung in ihr Büro. Mr. Miller, dem dies nicht entgangen war, trat an ihr vorbei und folgte ihm. Als Letztes traten die Heimleiterin und die Sekretärin in das kleine Zimmer. >>Ist dies der junge Mann, von dem sie so geschwärmt haben, Verehrteste ?, << fragte Mr. Miller und betrachtete Duncan wohlwollend. >>In der Tat, << antwortete diese knapp. >>Hervorragend, << rief Mr. Miller und klopfte Duncan auf die Schulter, ehe er sich auf den Stuhl setzte, auf dem Duncan Tags zuvor gesessen hatte. Als seine Hand Duncan berührte, schien es dem Jungen, als hätte er in Eiswasser gegriffen. Ein Frösteln durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß und seine Nackenhaare richteten sich auf. Er spürte einen Blick auf sich ruhen und sah zu Miss Piper, die ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte, ehe auch sie sich neben ihren Chef setzte. Ihr kurzes Lächeln vertrieb augenblicklich die Kälte aus Duncan’s Körper und schien sie durch eine wohlige innere Wärme zu ersetzen. >>Es ist bedauerlich, dass ihre Gattin nicht anwesend ist, << verkündete Mrs. Carver in diesem Moment. Mr. Miller hob die Hände und erwiderte: >>Ich kann mich nur nochmals dafür entschuldigen, aber sie fühlte sich wirklich nicht gut. Sie wäre natürlich gerne mitgekommen, aber was soll man machen ? Ich denke, dass meine Anwesenheit ausreicht, um die Formalitäten zu klären. << >>Natürlich , << entgegnete die Heimleiterin und schob einen Stapel Papiere über den Schreibtisch. Miss Piper griff danach und studierte sie eingehend, während Mr. Miller weiter Smalltalk mit Mrs. Carver betrieb. >>Sie haben es sehr schön hier, << sagte er und sah sich in dem herunter gekommenen und staubigen Büro um. Duncan hätte fast laut aufgelacht, doch der eisige Blick von Mrs. Carver unterband dies. >>Danke, << erwiderte sie kühl. >>Nun, Duncan, magst du uns nicht etwas über dich erzählen ? , << fragte Mr. Miller. >>Und setzt dich doch ruhig, hier beißt dich keiner. << >>Noch nicht, << flüsterte jemand, doch außer Duncan schien niemand die Worte gehört zu haben. >>Vielen Dank, Mr. Miller, aber ich stehe lieber, < >>Wie du möchtest, << sagte dieser und lachte dabei, >> aber nenn mich nicht Mister Miller. Jonathan genügt völlig. Andernfalls käme ich mir doch sehr alt vor. << Selbst Duncan schmunzelte, ebenso wie Mr. Miller und Miss Piper, doch Mrs. Carver schien dieser Aufforderung nichts abgewinnen zu können. >>Unsere Kinder sind so erzogen, in Gegenwart von Erwachsenen oder Höhergestellten zu stehen und zu schweigen, << teilte sie ihren Gästen mit. >>Die Papiere sind vollkommen in Ordnung, Mister Miller, << verkündete Miss Piper und unterbrach damit die eisige Stille, die nach Mrs. Carver’s letzter Bemerkung eingetreten war. >>Sehr schön, << sagte Mister Miller und nahm ihr den Stapel aus Dokumenten ab. >>Und, Duncan ? Erzählst du uns etwas von dir ? << Diesmal kam die Aufforderung von Miss Piper, die ihm dabei wieder eines ihrer besonderen Lächeln schenkte. >>Es gibt nicht sehr viel, was ich über mich erzählen könnte, << sagte er. >>Man hat mich in einer Silvesternacht vor fast achtzehn Jahren vor der Pforte dieses Waisenhauses ausgesetzt. Ich war wohl kaum mehr als ein paar Stunden alt, wie Mrs. Carver mir erzählte. Es kam niemals jemand, um sich nach mir zu erkundigen. Nur ein kleines Pappschild lag bei mir, auf dem mein Name geschrieben stand. << >>Sonst war da nichts weiter ?, << hakte Mr. Miller nach. >>Nein, nichts weiter, < >>Traurig, traurig, < >>Aber ich bin mir sicher, dass es dir bei uns auf jeden Fall gefallen wird. << Mrs. Carver schien aus einer Art Starre zu erwachen, denn sie beugte sich vor und fragte : >>Sie wollen also Duncan adoptieren? << >>Natürlich, << erwiderte Mr. Miller, als könne es bei dieser Frage gar keine zwei Meinungen geben. >>Der Junge sollte also seine paar Sachen zusammen packen, denn ich möchte ihn heute noch mitnehmen. Das stellt doch kein Problem dar, oder etwa doch ? << >>Selbstverständlich nicht, << antwortete Mrs. Carver, und ein Ausdruck von Erleichterung huschte über ihr altes Gesicht. >>Geh und pack deine Habseligkeiten, Duncan. Mr. Miller und ich klären nur noch die Details, dann sagen wir Lebewohl. << Zum ersten Mal sah er ein freundliches Lächeln auf den Gesichtszügen seiner Heimleiterin, was Duncan im ersten Moment irritierte, doch dann kam er der Aufforderung nach und kehrte in sein Zimmer zurück. Dort warf er rasch seinen wenigen persönlichen Besitz in einen zerschlissenen Seesack, den er vor Jahren auf dem Speicher gefunden hatte, vergaß auch seinen Teddy nicht dabei und wollte dann schleunigst zurück ins Erdgeschoss eilen, doch Lee versperrte ihm den Weg. Mit verweinten Augen blickte sie ihn an, umarmte ihn dann und drückte ihn fest an sich. Schluchzend flüsterte sie: >>Vergiss mich nicht, Duncan, egal wohin du gehst. << Dann ließ sie ihn los und eilte davon. Duncan blieb einige Augenblicke wie angewurzelt stehen, denn in seinem Inneren schien sich gerade ein großes schwarzes Loch zu öffnen. Er würde von hier fortgehen, dachte er zuerst, doch dann gesellte sich ein zweiter Gedanke hinzu. Du musst Lee Ann zurücklassen. Erst jetzt, in der Stunde des Abschieds, begriff Duncan die ganze Tragweite und Bedeutung dieses kurzen Satzes. Er war mit ihr groß geworden, sie war fast eine Schwester für ihn. Es gab niemanden sonst, dem er so bedingungslos vertrauen konnte. Ein besonderes Band schien sie immer miteinander verbunden zu haben. Doch jetzt musste er sie zurücklassen. Jemand rief von unten aus nach ihm, und das sehr energisch. Benommen ging Duncan hinab in die Empfangshalle, wo Mrs. Carver mit seinem neuen Vater bereits wartete. >>Alles in Ordnung , mein Sohn ?, << fragte Mr. Miller. Duncan nickte und lächelte nur, denn ein Klos im Hals hinderte ihn am Sprechen. Du hast ihr etwas versprochen, schoss es ihm durch den Kopf. Miss Piper, die gerade durch die Tür treten wollte, blieb abrupt stehen, so dass Duncan gegen sie prallte. Sie wandte sich ihm nicht zu, doch er hörte klar ihre Stimme sagen: >>Versprechen muss man halten. << Dann setzte sie ihren Weg fort. Duncan blieb wie angewurzelt stehen. Hatte Miss Piper das wirklich gerade gesagt? Aber wie wusste sie davon? Er hatte Lee Ann ihr gegenüber doch mit keiner Silbe erwähnt. >>Ist noch irgendetwas ?, << hörte er seinen neuen Dad hinter sich fragen . Duncan schüttelte den Kopf und trat in den kalten, aber sonnigen Herbstmorgen hinaus. Die Fahrt dauerte fast zwei Stunden. Duncan blickte immer wieder neugierig durch die getönten Scheiben hinaus und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Er war noch nie außerhalb von Waltham Abbey gewesen und kannte das Land und die Orte, durch die sie fuhren, höchstens vom Namen her. Als sein Magen nach einer Weile laut zu knurren begann, hielten sie an einem Restaurant, in dem sie ein verspätetes Frühstück aßen, bestehend aus Burgern, Fritten und Cola. Miss Piper steuerte den Wagen sicher durch den stärker werdenden Verkehr, hinein in das Verkehrschaos von London. Vor ihnen wuchs die Metropole, aus kleinen Häusern der Vorstadt wurden gewaltige Türme aus Stahl und Glas. Menschenmassen drängten sich auf den Gehsteigen und an den Zugängen zur Londoner U-Bahn. Mister Miller saß während der Fahrt stumm neben Duncan und arbeitete an seinem Laptop. Nur hin und wieder sah er auf und schenkte Duncan ein aufmunterndes Lächeln. Als sie am Parlamentsgebäude vorbei fuhren, presste der junge Mann seine Nase gegen die Fenster, um wirklich alles sehen zu können. Miss Piper quittierte seine kindliche Neugier mit einem amüsierten Lächeln und lenkte den Wagen an den Straßenrand. >>Na los, spring raus und guck es dir genau an, << sagte sie. Mister Miller öffnete die Tür und stieg vor ihm aus. Zusammen überquerten sie die Westminster Bridge und blickten auf Big Ben und das imposante Parlamentsgebäude. >>Interessant, nicht wahr ?, << fragte Mister Miller. >>Ich kenn das alles nur von Bildern aus den Büchern im Waisenhaus, << erwiderte Duncan und bestaunte weiter die prächtigen Gebäude. >>Können wir das dort mal besichtigen, Mister Miller ?, << fragte Duncan schließlich. >>Nur, wenn du mich Jonathan oder Dad nennst, << antwortete dieser freundlich. Duncan nickte. >>Okay, Jonathan,<< sagte er. Dieser klopfte ihm wieder auf die Schulter, doch diesmal verspürte Duncan nichts. Dann wandte sich sein neuer Dad einem Zeitungsverkäufer in der Nähe zu, kaufte eine Tageszeitung und kehrte langsam zum Auto zurück. Duncan blieb noch einige Augenblicke und sog den faszinierenden Anblick in sich auf, dann aber eilte er Jonathan nach und sprang in die Limousine, als sich gerade ein Polizist dem Fahrzeug nähern wollte. Miss Piper fuhr abrupt an und fädelte sich mühelos in den dichten Verkehr wieder ein. Besorgt blickte Duncan zu dem kleiner werdenden Bobby zurück, doch Jonathan sagte: >>Der würde uns nicht behelligen, wenn er wüsste, wer in diesem Auto sitzt. << Duncan blickte ihn an und fragte: >>Was genau machst du überhaupt beruflich? << Sein Dad kratzte sich am Kinn und legte die Zeitung neben sich ab. >>Das ist schwer zu beantworten, denn ich beschäftige mich mit sehr vielen Dingen. Mit lukrativen Geschäften, aber auch mit karitativen Dingen. << >>Mrs. Carver sagte mir, dass du ein Industrieller wärst, << warf Duncan ein. Jonathan sah ihn etwas verblüfft an, dann aber nickte er langsam. >>Ja, in gewisser Weise bin ich das, wenn auch nicht ausschließlich. Ich bin, wie schon gesagt, in vielen Bereichen aktiv. Aber darüber werden wir uns später unterhalten, wenn ein geeigneter Moment gekommen ist. Denn ich schätze mal, du möchtest zuerst dein neues Zuhause begutachten. Duncan sah nach draußen und erkannte gerade noch, wie sie eine Toreinfahrt passierten und vor einer kleinen Villa hielten, die ringsum von Bäumen umgeben war. Ohne eine Aufforderung abzuwarten öffnete er seine Tür und stieg aus dem Auto. Feiner grauer Kies knirschte unter seinen Schuhen, doch von dem erwarteten Stadtlärm war hier nichts zu hören. Wohltuende Ruhe umgab das kleine schmucke Gebäude und den Park, der es umgab. >>Willkommen in deinem neuen Zuhause, Duncan, << sagte Miss Piper, als sie an ihm vorbei und die Treppe hinauf zur Eingangstür ging. Die kleine Villa war weiß getüncht worden, schimmerte leicht im Licht der Herbstsonne und wirkte gut in Schuss. Nirgends bröckelte Putz ab oder zeigten sich Wasserflecken an der Fassade. Jonathan war seiner Sekretärin gefolgt, stand nun im Eingang und rief ihn zu sich. Duncan konnte seinen Blick kaum von dem schönen Haus und der herrlichen Parkanlage abwenden, doch folgte er Jonathan langsam in den Flur. Dieser hatte gerade seinen Mantel an einen Haken gehängt und griff nun nach einer kleinen schwarzen Karte, auf der mehrere rote Knöpfe zu sehen waren. Es piepte leise, dann aber brach es aus allen Ecken des Hauses hervor. Wummernde Bässe ließen Duncan erschrocken zusammen fahren, denn solche Musik hatte er noch nie gehört. Aus dem Waisenhaus kannte er nur die Musik, die Mrs. Carver stets zu hören gewillt war. Mozart, Bach, Beethoven und Händel, damit war er aufgewachsen. Diese Art moderner Musik und ihre pure Lautstärke jagten ihm einen gehörigen Schrecken ein. Jonathan lachte und trat zu ihm heran. >>Das hilft mir beim Entspannen, << rief er ! >>Im Ernst ?, << erwiderte Duncan zweifelnd . Jonathan nickte und verschwand in einem Raum, der neben dem Flur lag und scheinbar sein Büro war, denn Duncan konnte einen großen dunklen Schreibtisch erkennen. Miss Piper erschien wieder und blieb vor dem neuen Hausbewohner stehen. Mit einem Ausdruck von Unmut im Gesicht betrachtete sie Duncan’s Anzug und schüttelte den Kopf. >>Das geht überhaupt nicht,<< verkündete sie schließlich. Sie trat an die Tür des Büros und sagte: >>Sir, was der junge Mann an Kleidung mitführt ist definitiv unangemessen. Wenn sie gestatten, dann würde ich gern mit ihm in die City fahren und ein paar Einkäufe erledigen.<< Jonathan erschien neben ihr, blickte Duncan mit kritischem Blick an und nickte dann nur. Miss Piper trat zu ihm und schob ihn mit sanftem Nachdruck wieder hinaus auf den Hof. >>Wir werden wohl Harrods und einige andere Läden aufsuchen müssen, um aus dir einen echten jungen Gentlemen machen zu können, << sagte sie und öffnete die Zentralverriegelung der Limousine per Fernbedienung. Duncan hatte nur mit halbem Ohr zugehört, denn er hatte ein neues Detail im eh schon herrlichen Garten des Hauses ausgemacht. Einige Meter von ihm entfernt sah er einen Rosenstrauch, der fast so groß wie er selbst war. Und dieser trug noch immer Blüten, und zwar Blaue. >>Ist das alles ein Traum ?, << fragte er und deutete auf den Busch, das Haus und alles um sich herum. Miss Piper’s Lächeln verschwand für einige Sekunden, kehrte dann aber umso strahlender zurück, als sie antwortete: >>Alles hat natürlich seinen Preis, aber das soll nicht deine Sorge sein. Steig ein und lass uns durchstarten. << Duncan sprang sofort zum Wagen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Während der Fahrt in die Innenstadt beobachtete er Miss Piper, denn sie schien so etwas wie ein Kindermädchen für ihn zu sein. Sie mochte wohl Ende Zwanzig sein, auch wenn ihre Augen etwas anderes behaupten mochten. Sie hatte ihr nussbraunes Haar zu einem Dutt gebunden und trug, soweit Duncan das feststellen konnte, kein Makeup. Sie war recht attraktiv, auf ihre besondere Art und Weise. >>Man kann Menschen auch beobachten, ohne sie anzustarren, << sagte Miss Piper plötzlich. Duncan spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg und blickte sofort durch das Fenster nach draußen. Miss Piper lachte. >>Das muss dir nicht peinlich sein, immerhin kennst du mich ja noch nicht sehr lange. Aber wenn du das bei anderen Frauen so machst, könnten die sich vielleicht belästigt vorkommen. Irgendwann wirst du lernen, mit einem Blick Menschen genau betrachten zu können. Dann wird dieses heimliche Starren nicht mehr nötig sein. << >>Mit nur einem Blick ?, << fragte Duncan ungläubig. Miss Piper nickte und lächelte. >>Du bist nicht oft aus dem Waisenhaus raus gekommen, oder ?, << sagte sie nach einer Weile . >>Zur Messe, am Sonntag. Und im Sommer haben wir einen Ausflug gemacht, jedes Jahr. << Duncan blickte weiter aus dem Fenster und beobachtete die Menschen am Straßenrand. >>Arbeiten sie schon lange für meinen Dad ?, < >>Oh, schon seit sehr langer Zeit, << erwiderte sie. >>Und es ist schön, dass du ihn schon Dad nennst. Ich hätte gedacht, dass du mehr Zeit brauchen würdest. Er ist ein feiner Kerl, aber er hat seine Eigenheiten. Aber die wirst du schnell herausfinden. Es wird sich einiges für dich ändern, Duncan, das kannst du mir glauben. << >>Wie meinen sie das, Miss Piper ? << Duncan hatte einen seltsamen Unterton in ihrer Stimme vernommen und wollte es nun genauer wissen, doch Miss Piper ging auf seine Frage nicht ein. Stattdessen fragte sie : >>Vermisst du die anderen Kinder im Heim ? << Das Bild von Lee Ann rückte vor Duncan’s inneres Auge und er spürte einen Stich in der Magengegend. >>Nein, << log er. >>Aha,<< erwiderte Miss Piper und lenkte den Wagen auf einen Parkplatz. >>Wir müssen noch ein kleines Stück zu Fuß gehen, << sagte sie und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. >>Du kannst mich Piper nennen, wie die meisten. Miss klingt so förmlich, und außerdem bin ich nicht verheiratet. Ich nenne dich dann auch nicht Mister Dafoe, in Ordnung ?<< Sie hielt Duncan die Hand hin, in die der junge Mann sofort einschlug. >>Abgemacht, << sagte er . Zusammen stiegen sie aus dem Auto und machten sich auf den Weg zum Kaufhaus Harrods. Obwohl es noch früh am Tag war, hatte sich das Kaufhaus schon mit Menschen gefüllt. Staunend ging Duncan durch die Gänge und betrachtete die Auslagen. Nie zuvor war er in einem Kaufhaus gewesen, erst recht in keinem, das so groß war wie dieses. Hier schien es fast alles zu geben, was das Herz höher schlagen ließ. Piper zog ihn hinter sich her und führte ihn in die Abteilung für Herrenmode, wo sie von einem elegant gekleideten Verkäufer in Empfang genommen wurden. Er lauschte einige Minuten Piper’s Worten, ehe er zwei weitere Herren zu sich rief und ihnen auftrug, gewisse Kleidungsstücke für den jungen Gentlemen und seine Begleitung zu holen. Piper schien dem Verkäufer keine Unbekannte zu sein, denn er erkundigte sich höflich nach dem Befinden von Mister Miller. Es gelang Duncan kaum , ihrem Gespräch zu folgen, doch als der Verkäufer erfuhr, dass es sich bei dem jungen Mann um den Sohn von Jonathan Miller handelte, lächelte er noch freundlicher und half Duncan sogar dabei, einen teuren Anzug anzuprobieren. >>Exzellent, << verkündete er, als Duncan sich ihm und Piper präsentierte. >>Ein Gentlemen durch und durch. Dieser Anzug steht ihnen wirklich, junger Freund. Wie gemacht für sie, wenn ich mir dieses Kommentar erlauben darf. << >>Er kneift etwas, << brummte Duncan. Der Verkäufer wurde blass, trat näher und untersuchte den Anzug genau. >>Und dabei entspricht er genau ihren Maßen, Sir, << sagte er und wirkte dabei regelrecht fassungslos. >>Wo genau, wenn ich fragen darf…sitzt er nicht richtig ?<< Duncan warf Piper einen hilflosen Blick zu, den diese sofort verstand und sich schmunzelnd zurück zog. >>Etwas weiter unten, wenn sie verstehen, << flüsterte Duncan dem Verkäufer erleichtert zu, woraufhin dieser milde lächelte und nichts weiter dazu sagte. Duncan probierte danach noch einige perfekt geschneiderte Anzüge an, entschied sich für Drei und wurde dann von Piper mit Shirts, leichten Hosen und Straßenschuhen eingedeckt. Als er nach fast vier Stunden mit ihr das Kaufhaus verließ, trug er sechs große Tüten mit sich. Piper hatte sich die Anzüge gegriffen und bedachte Duncan mit einem bewundernden Blick. >>Chic und sehr flott, das muss ich schon sagen. Wenn du etwas älter wärst, dann wärst du genau mein Typ von Mann. << Duncan spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, doch Piper lachte und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. Vor einem großen Schaufenster verharrte Duncan und blickte auf das Logo. >>Ein Apfel ?, << fragte er. >>Sieht ein bisschen seltsam aus, oder ?<< Piper zuckte mit den Schultern und zerrte ihn in das Geschäft. Nach einer Viertelstunde verließ er das Geschäft wieder, nun als Besitzer eines modernen Handys und eines ultrakleinen Musicplayers. >>Und woher bekomme ich die Musik dafür? << wollte er von Piper wissen. >>Das erkläre ich dir zu Hause, << antwortete sie und zog ihn in ein Schuhgeschäft. Duncan stöhnte, als er die zahllosen Modelle in den Regalen sah, denn er hatte schon bei Harrods etliche Paare anprobieren müssen. Dann aber fiel ihm auf, dass es sich ausschließlich um Damenschuhe handelte. Beklommen verkroch er sich in eine Ecke des Ladens, während Piper nun ihren Kaufrausch auslebte. >>Schuhe sind für Frauen von Welt das A und O, merk dir das, << teilte sie ihm mit. Duncan nickte, wagte jedoch in Gegenwart so vieler Frauen kaum aufzusehen, geschweige denn , etwas zu erwidern. Es war ihm nicht unrecht, als er schließlich den Laden verlassen konnte. >>Bleib dicht bei mir, << sagte Piper, >> in diesem Gedränge verliert man sich schnell aus den Augen. Ich will nicht ganz London nach dir absuchen müssen. << Als sie schließlich zur Mittagszeit heimkehrten, war Jonathan nicht mehr da. Also war es an Piper, Duncan sein neues Zimmer im Hause Miller zu zeigen. Und dieses Zimmer kam ihm vor wie ein Palast im Vergleich zu der Kammer, die er im Heim bewohnt hatte. Ein dunkelroter weicher Teppich bedeckte den Boden und ließ ihn wie auf Wolken gehen. Zwei große Fenster ließen viel Tageslicht herein, statt es auszusperren. Und sein Bett war keine Pritsche mehr, sondern ein bequemes und großes Nachtlager. Voll von überbordender Freude warf er seine Einkaufstüten zu Boden und sprang, mit dem Rücken voran, auf das Bett. Die Federung war weich und hervorragend, denn es schleuderte ihn wieder empor, so dass er auf den Boden fiel. Lachend rappelte er sich wieder auf und öffnete seinen Kleiderschrank, der sich in der Wand befand. Neben dem Fenster stand ein Schreibtisch, dessen schwarze Glasplatten im Tageslicht glänzten. Darauf standen ein noch verpacktes Notebook und ein schnurloses Telefon. Auf dem Karton lag eine Nachricht von Jonathan: Lieber Duncan, ich hoffe doch, dein neues Domizil gefällt dir. Es ist dein Reich von heute an, niemand wird es ohne deine Erlaubnis betreten. Richte dich ein, wir sehen uns heute zum Abendessen Jonathan Duncan setzte sich an seinen Schreibtisch und packte das Notebook aus. Dann lehnte er sich zurück und starrte aus dem Fenster, hinauf zum Himmel. Ein Märchen war wahr geworden, jedenfalls für ihn. Niemals hätte er zu träumen gewagt, in solch ein nobles Haus zu kommen. Hier bekam er scheinbar alles, was ein junger Mann seines Alters in London haben musste. Zumindest, wenn er sich in den Kreisen bewegte, in denen sich Jonathan Miller bewegte. Es konnte eigentlich nur ein Traum sein, dachte er im Stillen und betrachtete seine neuen Kleidungsstücke und Geräte. Es klopfte an der Tür, und als Duncan sich umdrehte, stand dort Piper und wartete. >>Gefällt es dir ?, << erkundigte sie sich schließlich. >>Es ist echt der Wahnsinn, << rief Duncan und breitete die Arme aus. >>Ich kann kaum glauben, dass das alles jetzt mir gehören soll. Ist meine Mom zu Hause ? Ich würde ihr sehr gern danken für all das .<< Piper verzog das Gesicht und pfiff dabei. >>Naja, Duncan, das ist ein bisschen kompliziert, << erwiderte sie verlegen. >>Und warum ?, << erkundigte er sich . >>Weil es keine Misses Miller gibt, << antwortete Piper achselzuckend. >>Jonathan hat sie erfunden, weil er wusste, dass man ihm nie eine Adoption bewilligt hätte, wenn er nicht verheiratet wäre. Er mag viel Geld haben, aber selbst das ist nicht immer hilfreich. Es gibt da eben gewisse bürokratische Hürden, die selbst Jonathan Miller nicht beseitigen kann. Ich hoffe, du bist nicht zu sehr enttäuscht ? << Duncan war tatsächlich überrascht, aber nicht enttäuscht, wie er feststellen musste. Dann war es eben ein Männerhaushalt, na und ? Was machte das schon ? Ihm ging es hier gut, er würde auch ohne eine Mutter gut zurechtkommen. >>Das ist schon okay, << sagte er. Piper schien erleichtert aufzuatmen, deutete auf das neue Notebook und fragte: >>Darf ich reinkommen und dir beim Einrichten helfen? << >>Klar, komm ruhig rein, << erwiderte Duncan und schob den leeren Karton unter seinen Schreibtisch. Piper nickte und trat zu ihm. >>Mit dem Ding kannst du dir die Musik aus dem Internet laden, wenn du möchtest. Ich schließe schnell alles an für dich. << Duncan, dankbar für ihre Hilfe, erhob sich von seinem Stuhl und ließ Piper darauf Platz nehmen. Er wusste, dass sie beide gute Freunde werden würden. Als Jonathan am Abend heimkehrte, hatte Duncan bereits das Haus erforscht. Es gab eine kleine Bibliothek mit vielen alten Büchern, deren Titel der junge Mann nicht lesen konnte, weil sie in ihm unbekannten Sprachen geschrieben waren. Daneben lag ein Wohnraum, der fast völlig von einem großen Billardtisch eingenommen wurde. Allein im Erdgeschoss fanden sich zwei Badezimmer, in der ersten Etage ebenfalls. Dort hatte auch Jonathan seine Privaträume, die allerdings verschlossen waren. Und dort befand sich auch ein Fernseh- und Musikraum, in dem sich nicht nur ein enorm großes TV-Gerät fand, sonder auch die HiFi-Anlage, die das ganze Haus beschallte. Als Duncan zum Abendessen die Treppe hinab kam, traf er Jonathan vor dessen Büro. >>Wie war dein Einkaufsbummel in der Stadt ?, << fragte er . Duncan erzählte ihm von seinen Erlebnissen und von seinen neuen Gerätschaften. Staunend begutachtete Jonathan den MP3-Player, den Duncan inzwischen mit Musik bespielt hatte. >>So einen hätte ich auch gern gehabt, << beklagte er sich bei Piper. >>Wozu sollten sie denn so ein Ding benutzen, Sir ?, << fragte sie . >>Sie haben zwischen all ihren Terminen doch kaum Zeit zum Essen. Wann wollen sie denn da noch Musik hören? << Jonathan gab es sofort auf, sich weiter zu beschweren und setzte sich an den Esstisch. >>Ich habe uns etwas vom Chinesen kommen lassen, << verkündete Piper und trug ein Tablett herein, auf dem mehrere dampfende Schachteln standen, in denen sich Nudeln befanden. >>Miss Piper, << sagte Jonathan in strengem Tonfall, >> ich wollte den ersten Abend mit unserem neuen Familienmitglied gebührend feiern. Fast Food vom Chinarestaurant gehörte da irgendwie nicht mit hinein. Ich muss mich doch schon sehr wundern. << Piper strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erwiderte: >>Sir, ich bitte um Entschuldigung, aber wenn sie genaue Vorstellungen gehabt haben, dann hätten sie diese auch mitteilen können. Ich hätte dann alles nach ihren Wünschen herrichten lassen können. So aber müssen wir uns mit diesem Mahl zufrieden geben. << Sie ließ sich auf einen freien Stuhl sinken und griff nach den Nudeln. >>Also ich find das Essen klasse, << sagte Duncan. Gierig schlang er die Nudeln in sich hinein und hatte schnell seine zweite Packung aufgegessen, während Jonathan und Piper noch nicht einmal ihre erste Portion geschafft hatten. Satt und rundum glücklich lehnte er sich zurück. >>Du isst wie ein Scheunendrescher, << bemerkte sein Dad mit einem Hauch von Missfallen in der Stimme. >>Du bist doch nicht etwa noch am Wachsen? Wenn dem so ist, dann kannst du demnächst schon wieder einkaufen gehen, weil dir deine ganzen Sachen nicht mehr passen. << >>Ich würde gern auf mein Zimmer gehen, << erwiderte Duncan und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. >>Du brauchst nicht extra zu fragen, << antwortete Jonathan sofort. >>Wenn du müde bist, dann geh ruhig ins Bett. Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir. Ich wünsch dir eine gute Nacht. Ich muss nachher noch im Büro arbeiten, also wundere dich nicht, wenn du unter deinem Zimmer etwas hören solltest. Da liegt leider mein Arbeitszimmer. << Duncan bedankte sich für das Abendessen und wünschte eine gute Nacht, ehe er sich in sein Zimmer zurückzog. Dort zog er seine neuen Klamotten aus und schlüpfte in den Pyjama, den er bei Harrods gefunden hatte. Schlapp und müde ließ er sich auf sein Bett fallen, doch innerlich war er noch zu aufgeregt, um sofort einschlafen zu können. In Gedanken ließ er den Tag und die Geschehnisse nochmals Revue passieren. Wenn man es genau nahm, war er in den sprichwörtlichen Glückstopf gefallen. Er hätte auch in einer Familie landen können, in der man nicht so freundlich und großzügig zu ihm gewesen wäre. Bei den Heimkindern kursierten jede Menge Gerüchte über solche Unglückskinder. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte dies auch alles ein großer Traum sein können. Gut, es gab keine Misses Miller, aber das konnte er verkraften. Und es gab einiges in seinem neuen Zuhause, dass er noch nicht erkundet und gesehen hatte, doch dafür blieb ihm ja noch genug Zeit. Vermutlich würde man ihn eh auf ein Internat schicken, damit er später studieren konnte. Das Heim hatte ihm eine profunde und sehr umfassende Schulausbildung zukommen lassen, doch er musste ja irgendwann auch einen Job suchen, ob er nun der Adoptivsohn von Jonathan Miller war oder nicht. Während er so über seine Zukunft nachgrübelte, fielen ihm schließlich die Augen zu und er schlief ein. Mitten in der Nacht wurde er durch ein Geräusch geweckt. Zuerst dachte er, er wäre wieder im Waisenhaus, doch dann spürte er die weiche Matratze unter sich, das Federkissen und die wohlig warme Bettdecke und erinnerte sich wieder. Schlaftrunken schob er die Decke zur Seite und ließ die Beine über die Bettkante baumeln. Hatte er sich das Geräusch nur eingebildet? Duncan lauschte angestrengt in die Stille des Hauses. Nach einigen Minuten absoluter Ruhe gestand sich Duncan ein, dass er wohl nur geträumt hatte, wälzte sich zurück in sein Bett und griff schon nach der Bettdecke, als er ein leises Stimmengemurmel vernahm. Aha, dachte er, hab ich es mir also doch nicht eingebildet. Er stand erneut auf und lauschte im Zimmer herum, bis er schließlich unter seinem Schreibtisch eine Gitterklappe ausmachte, von der die Geräusche her in den Raum drangen. Auf Zehenspitzen schlich er sich heran, hockte sich auf den Boden und versuchte, das Gemurmel zu verstehen, welches dort aus dem Lüftungsschacht kam. Er erkannte die Stimme von Jonathan, der sich scheinbar mit jemandem unterhielt. >>Wir haben den Jungen in unsere Obhut bringen können, << sagte er zu seinem Gesprächspartner. >>Sehr gut, << erwiderte die Person. Duncan fühlte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, als er die Stimme vernahm. Sie klang heiser und zischelte, vermittelte einem das Gefühl von eisiger Kälte. Jemandem mit solch einer Stimme konnte man sicher nicht trauen, denn in ihr schwangen dunkle Ahnungen mit. >>Zeigt er schon irgend welche Anzeichen ? << >>Nicht im Geringsten, aber es sind ja auch fast noch zwei Monate bis zu seiner Volljährigkeit. Wir sollten nichts übereilen, was den Jungen angeht. << >>Er hat es im Blut, Jonathan! << zischte die Stimme aufgebracht. >>Wir müssen erfahren, was sich in ihm verbirgt, bevor die andere Seite Wind von ihm bekommt! << >>Er ist hier absolut sicher, Sir, dafür habe ich gesorgt, << antwortete Jonathan mit ruhiger Stimme. >>Das Blutritual muss sein, << knurrte die fremde Person. >>Nur so können wir seine Eignung prüfen. Wenn es sein muss, dann zwingt ihn zur Teilnahme! << >>Sir, er ist erst Siebzehn, << entgegnete Jonathan energisch, >> und weist keinerlei Anzeichen für das auf, wonach wir suchen. Ich denke auch, dass wir ihn nicht zwingen sollten. Wenn wir es ihm erklären, dann hilft er uns vielleicht freiwillig. Zwang war in solchen Fällen noch nie hilfreich. << >>Ihr wollt ihn einweihen? Seid ihr von Sinnen?!<< Der Fremde schien nun wirklich zornig zu werden, denn seine Stimme gewann an Schärfe. >>Ich erteile euch den Befehl, an dem Jungen das Blutritual durchzuführen. Wenn ihr euch dazu außer Stande sehen solltet, werde ich einen meiner Diener schicken, der es tut. Und er wird in nichts eingeweiht, dass wir uns da richtig verstehen! Ich erwarte eure Ergebnisse morgen früh, Jonathan!<< Das Gespräch schien damit beendet, doch in Duncan’s Kopf wuchsen plötzlich Furcht und Entsetzen. War dies alles also doch nur Blendwerk? Hatte man ihn mit all diesen teuren Geschenken nur ködern wollen, um… ein Ritual mit ihm durchführen zu können? War er in die Hände einer Sekte geraten? Was hatten sie mit ihm vor? Sollte er vielleicht für ein obskures Ritual herhalten? Nein, dazu wollte er es nicht kommen lassen. Duncan sprang auf und stieß mit dem Kopf an die Platte des Schreibtisches. Benommen sank er wieder zu Boden, krabbelte auf allen Vieren zu seinem Bett und schlüpfte in seine neuen Straßenklamotten und Sportschuhe. Als er Schritte auf dem Flur hörte, hechtete er zum Fenster und riss es auf. Kalte Nachtluft schlug ihm entgegen und vertrieb die letzte Müdigkeit aus seinen Knochen. Es hatte inzwischen zu regnen begonnen und der Park unter ihm glänzte im matten Licht der Großstadt. Neben dem Fenster führte ein Fallrohr vom Dach hinunter in eine Regenwassertonne. Kurzentschlossen kletterte Duncan auf den Fenstersims und griff nach dem Rohr. Es schien fest mit der Wand verbunden zu sein und wackelte nicht. Beherzt griff er nun mit beiden Händen zu und hievte sich aus dem Fenster. Augenblicklich bereute er seine Entscheidung, denn er war nie ein guter Kletterer gewesen. Nun hing er hier an einem Rohr, einige Meter über dem Boden, und wagte kaum, sich zu bewegen. Im Augenwinkel sah er, dass im Flur vor seinem Zimmer Licht angegangen war. Besser fallen als von einem Verrückten in Stücke geschnitten zu werden, jammerte sein Unterbewusstsein. Duncan begann, mit den Füßen unter sich nach Halt zu suchen und fand einen Vorsprung. Langsam kletterte er etwas tiefer und suchte nach einem neuen Halt für seine Füße. Dieses Mal jedoch entglitt seinen Händen das feuchte Rohr, er verlor die Balance und stürzte hinab in die Azaleen, die rings um das Gebäude gepflanzt waren. Sein Rücken protestierte schmerzend, als er sich aufrappelte und sich in den dunklen Park flüchtete. Die Grundstücksmauer ragte nur wenige Meter entfernt vor ihm auf, doch sie war zerfallen und leicht zu erklimmen. Als er sich auf die Mauerkante zog, bemerkte er neben sich eine Steinfigur, einen hässlich anzusehenden Wasserspeier in der Größe eines Kleinkindes. Um besseren halt auf der feuchten Steinmauer zu finden griff er nach der Figur, doch kaum hatte sich seine Finger um den Kopf des Steinwesens gelegt, als dieses sich plötzlich heftig schüttelte, den Kopf drehte und ihn böse mit seinen rot funkelnden Augen anstarrte. Duncan’s Herz rutschte ihm in die Hose und mit einem Aufschrei des Entsetzens fiel er von der Mauer. Doch sein Glück blieb ihm auch dieses Mal treu, denn er landete relativ weich. Als er wieder auf den Beinen war, konnte er im Licht der Straßenlaternen erkenne, dass er auf einer alten Matratze gelandet war, die jemand achtlos hier entsorgt hatte. Der Regen wurde wieder stärker und prasselte in großen Tropfen auf ihn herab. Gehetzt blickte sich Duncan um, sah zu dem nun wieder regungslos dahockenden Wasserspeier auf der Mauer empor und rannte los. Er wollte so schnell wie möglich soweit es ging von diesem Haus und seinen Bewohnern wegkommen. Wie von Furien gejagt sprintete er durch die nächtlichen Straßen London’s, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen. Erst, als seine Lunge wie Feuer brannte und er kaum noch Luft holen konnte, hielt er an und lehnte sich gegen eine Telefonzelle. Kurzschlussreaktion, urteilte sein Kopf und dachte dabei an seine überstürzte Flucht. Unsinn, widersprach Duncan sich selbst. Er war nur knapp einer vermutlich verrückten Sekte entgangen. Wofür es zwar keine Beweise gab, aber immerhin. Duncan starrte verwirrt auf die schwarz glänzenden Pfützen zu seinen Füßen. So hatte er noch nie gedacht, stellte er sachlich fest. Was war das in seinem Kopf? Hatte er sich bei seinem Sturz derart heftig den Schädel angeschlagen, dass er nun Stimmen hörte? Ein interessanter Gedankengang, erwiderte seine neue innere Stimme, wenn auch völlig abwegig. >>Was bist du dann?, << fragte Duncan laut. Der Verstand hinter deinem Verstand, sozusagen, erwiderte die Stimme. Duncan rieb sich die Augen und betastete seinen Kopf, auf der Suche nach Beulen oder anderen Verletzungen. Das ist absolut bekloppt, dachte er. Nicht so bekloppt, wie mitten in der Nacht auf offener Straße Selbstgespräche zu führen, antwortete sein neues Selbst. Das bilde ich mir ein, dachte Duncan und schüttelte verwirrt den Kopf. Das ist nicht real! Wenn du meinst, erwiderten die zweiten Gedanken lakonisch. Duncan sah sich um und stellte fest, dass er sich an das Ufer der Themse geflüchtet hatte. Ein gutes Stück entfernt erhellte Big Ben das Dunkel und tauchte die Straßenzüge in goldenes Licht. Ohne auf seine Umgebung zu achten, trat Duncan auf die Straße. Ein lautes Hupen holte ihn schlagartig zurück ins Hier und Jetzt, grelle Lampen blendeten ihn für einen Moment, dann wurde es schlagartig dunkel um ihn. Ein monotones Summen und Brummen war das erste Geräusch, welches er wahrnahm. Er schlug die Augen auf und blinzelte heftig, denn eine Lampe über ihm schien direkt auf sein Gesicht. Er lag auf einem Bett, das nicht sonderlich weich war und spürte einen Verband an seinem Kopf. Sein ganzer Körper tat weh, von den Füßen aufwärts bis hin zu den Ohren. So etwas hatte Duncan noch nie zuvor gespürt. Selbst seine Haare schienen Schmerzimpulse in sein Gehirn zu senden. Wie konnten bloß Haare so weh tun? Ein kurzer Blick genügte ihm, um die Einzelheiten des Zimmers, in dem er sich befand, wahrzunehmen. Scheinbar befand er sich in einem Krankenhaus. Rechts von ihm war eine graue Tür, die aus dem Zimmer führte. Links von ihm war ein Fenster, welches jedoch hinter einer Jalousie verborgen war, die genau so grau war wie die Tür. Spärliches Tageslicht fiel durch die Rillen der Jalousie und tauchte den Raum in diffuses Halbdunkel. Vor dem Fenster selbst stand ein einfacher Holzstuhl mit Rückenlehne, schwarz und abgenutzt. Genau gegenüber seinem Bett stand ein schmales Regal, in dem einige Krankenhausutensilien lagen. Darunter waren einige Rollen aus Verbandsmaterial, Kompressen, ein Becher mit flachen Holzstäbchen darin, ein kleines graues Männchen und vier Handtücher. Duncan’s Gehirn brauchte einige Sekunden, um die Informationen zu sortieren. Schlagartig war er wieder völlig klar im Kopf, sprang aus dem Bett und ignorierte dabei den aufkommenden Schmerz in seinem Schädel und den Brechreiz in seinem Hals. Sein Blick, seine volle Aufmerksamkeit galten nur dem grauen Männlein, welches im Regal hockte. Mit zittriger Hand deutete er auf das Wesen und stotterte erschrocken: >>Was bist du? << Das Männlein schien darauf gewartet zu haben, angesprochen zu werden, denn es erhob sich nun und klopfte den Staub von seinem grauen Mantel. Der kleine Kopf war haarlos und hatte große Ähnlichkeit mit dem eines Frosches. Auch die Gesichtszüge des Männleins waren denen einer Amphibie recht ähnlich, wenn man bei solchen Tieren überhaupt von Gesichtszügen sprechen konnte. Große Kulleraugen, ein breiter Mund und eine sehr flache Nase, umgeben von vielen Runzeln und Falten, so konnte man das Wesen recht passend beschreiben. Seine kleinen Hände und Füßchen jedoch waren menschlich. >>Aha, << sagte es mit leiser, piepsiger Stimme. >>Was heißt aha?, << erwiderte Duncan nervös. >>Ich habe sie etwas gefragt! << >>Und ich habe dich schon verstanden, mein Junge, << antwortete das Männlein freundlich. >>Aber ich bin erstaunt, dass jemand in deinem Alter mich noch sehen kann.<< Duncan spürte den Scherz zurückkehren, diesmal heftiger als zuvor, und sank wieder auf das Bett. >>Was hat denn mein Alter damit zu tun? << stöhnte er und hielt sich den Kopf. >>Oh, eine ganze Menge. Du scheinst schon aus der Pubertät heraus zu sein? Naja, ist auch egal. Du siehst mich, wie es scheint. Ja, du kannst mich sehen, eindeutig. Bist du vielleicht einer von ihnen? << Bei seinen letzten Worten kniff das Männlein misstrauisch die Augen zu engen Schlitzen zusammen. >>Einer von wem oder was oder welchen?, << brummte Duncan. Die Situation verunsicherte ihn, was ihn zornig machte. >>Na du wüsstest, wen ich meine, wenn du einer von ihnen wärst, << erwiderte das Männlein fröhlich und hüpfte aus dem Regal zu Boden. Mit einem weiteren Satz war es auf dem Bett und sah Duncan fragend an. >>Geh davon aus, dass ich nicht weiß, wen oder was du meinst, << zischte Duncan wütend. Das Männlein zuckte mit den Schultern und ließ sich im Schneidersitz neben Duncan nieder. >>Wenn ich mich zuerst vorstellen darf?<< >>Ich bitte darum, << erwiderte Duncan entnervt. Das Männlein wirkte für einen Moment beleidigt, dann aber winkte es galant mit der Hand durch die Luft und deutete eine Verbeugung an. >>Ich bin Mr. Pipp, meines Zeichens Kobold und Traumbringer, wobei du dir Letzteres sicher schon denken konntest. << Duncan’s Blick ruhte auf dem Männchen, bis er begriff, dass hier eine Erwiderung erforderlich war. >>Duncan Dafoe, sehr erfreut. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprechen, Mr. Pipp. Hatte ich einen Unfall? Wo bin ich überhaupt? << >>Ein wirklich interessanter Punkt, den du da ansprichst, << antwortete Mr. Pipp, >> denn ich dachte, euresgleichen wäre nicht kaputt zu kriegen. Du bist der Erste, dem ich als Patienten in einem Krankenhaus begegne. Und ja, du hattest einen Unfall und befindest dich in einer Klinik im Zentrum von London. Den Namen weiß ich nicht, die sind mir eigentlich auch schnuppe.<< >>Euresgleichen?, << wiederholte Duncan . Mr. Pipp gestikulierte wage mit den Händen. >>Na eben Große von deinem Schlag eben, << sagte er. >>Du kannst mich sehen, obwohl du schon fast erwachsen bist. Und du hast dieses Funkeln in den Augen, als wärst du einer von ihnen. << >>Einer wovon ?!, << rief Duncan lauter als eigentlich beabsichtigt. In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Krankenschwester trat in das Zimmer. >>Fein, sie sind aufgewacht, << sagte sie und öffnete die Jalousie. Grelles Tageslicht drang in den Raum und blendete Duncan. >>Sie wurden angefahren und haben eine unschöne Beule am Kopf davon getragen. Aber wenn sie sich fit fühlen, dann können sie uns heute vielleicht schon nach der Visite wieder verlassen. << >>Ein Autounfall, << sagte Duncan und starrte weiterhin auf das Männlein. Die Krankenschwester schien es nicht zu bemerken, doch so leicht wollte Duncan nicht aufgeben. >>Sie sehen hier nichts, was hier nicht hingehören würde, oder?, << fragte er die Frau. Die Krankenschwester schenkte ihm einen mitleidigen Blick und antwortete: >>Oh, machen sie sich keine Gedanken darum. Nach solch einem Unfall und mit so einer Beule am Kopf kommt es bei manchen Patienten zu Sinnestäuschungen. Wenn sie Dinge sehen, die gar nicht da sein sollten, ist das sicher darauf zurückzuführen. << >>Wir sind also alleine hier? , << fragte Duncan. Die Krankenschwester nickte heftig. >>Ja, junger Mann, das sind wir in der Tat. << Dann verließ sie kopfschüttelnd das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. >>Ein interessantes Gespräch, << bemerkte Mr. Pipp. Duncan starrte ihn sprachlos an. Dann aber sagte er schließlich: >>Wenn sie keine Einbildung sind, warum kann ich sie dann sehen? Ich habe vorher noch nie Kobolde zu Gesicht bekommen, warum also gerade jetzt? << Mr. Pipp kratzte sich hinter seinen kleinen spitzen Ohren und erwiderte: >>Noch nie einen gesehen, wie? Das heißt also, du bist neu. Kein Begleiter bei dir ? Dann würde ich versuchen, andere wie dich ausfindig zu machen. Du findest sie recht schnell, wenn du sie nicht suchst. Sie können dir helfen. << Mr. Pipp erhob sich und sprang vom Bett hinab auf den grünen Linoleumboden. >>Ich finde sie, wenn ich nicht nach ihnen suche?, << wiederholte Duncan . Der Kobold nickte, als müsste Duncan sofort klar sein, wovon er sprach. >>Ähm, eine Frage noch,<< rief Duncan ihm nach. Mr. Pipp blieb stehen und wandte sich ihm wieder zu. >>Ja?, << erwiderte er. >>Ich weiß, die Frage mag sich für sie seltsam anhören, aber was macht ein Traumbringer?<< Der Kobold blickte ihn verwundert an. >>Seltsam, sagst du? Ich bin ein Kobold, und du hältst dich für seltsam? Naja, sei es drum. Zu deiner Frage: Ich bringe Kindern ihre Träume! << >>Was, sie sind der Sandmann?, << entfuhr es Duncan überrascht. >>Nicht der Sandmann, sondern einer von vielen. Klar, dass du den Sandmann natürlich kennst, aber nichts über Kobolde weißt. Das ist typisch für euch Große. Zu deiner Information, junger Freund, Kobolde sind nicht nur kleine Männer mit grünen Hüten, die auf einem Topf mit Gold hocken. << Mit beleidigter Miene watschelte Mr. Pipp von dannen und entschwand, in dem er einfach durch die Wand des Zimmers trat. Das ist doch verrückt, dachte Duncan und griff sich erneut an seinen schmerzenden Kopf. Ich sitze hier auf meinem Bett und unterhalte mich mit einem Kobold, den ich mir einbilde. Nein, sagte eine ihm bekannte Stimme in seinem Kopf, du sitzt hier auf deinem Krankenlager und versuchst dir einzureden, dass du dich nicht gerade mit einem Kobold unterhalten hast. Das ist ein Unterschied. Noch so eine stressbedingte Einbildung, dachte Duncan wütend und überhörte den Einwand seiner zweiten Gedanken. Er erhob sich und trat zu dem Regal, in dem seine Sachen zusammen gefaltet lagen. Nicht ohne Mühe gelang es ihm schließlich, sich anzuziehen. Behutsam öffnete er die Tür und spähte auf den Gang hinaus. Als er sich sicher war, dass niemand sonst zugegen war, ging er zügigen Schrittes zum Eingang des Treppenhauses, lief hinab bis ins Erdgeschoss und verließ das Krankenhaus durch den Vordereingang. Erst, als er sich sicher sein konnte, dass ihm niemand gefolgt war, verlangsamte er seinen Schritt und durchsuchte seine Taschen. Er trug nur sein neues Mobiltelefon, seinen MP3-Player und seinen Jugendpass bei sich. In einer seiner Taschen entdeckte er noch einige Pfundnoten, die ihm wohl Piper am vergangenen Tag untergeschoben hatte. Wohin sollte er nun gehen? Zur Polizei konnte er nicht, diese suchte ihn vielleicht sogar schon als Ausreißer. Auch ins Waisenhaus konnte er nicht zurück, denn Mrs. Carver würde ihn sofort an Mister Miller ausliefern. Wenn du sowieso keine Alternativen hast, dann kannst du auch dem Rat dieses Männleins folgen, sagten seine zweiten Gedanken zu ihm. Und im Grunde stimmte das auch. Solange er nicht wusste, welchen Weg er einschlagen sollte, konnte er sich auf die Suche nach Anderen seiner „Art“ machen, was auch immer das bei einem Kobold heißen mochte. Aber auch hierin lag eine Schwierigkeit. Hatte Mr. Pipp nicht gesagt, dass er sie nur finden würde, wenn er nicht nach ihnen suchen würde? Also wie sollte er solches bewerkstelligen? Wie sollte man jemanden finden, wenn man nicht nach ihm suchte? Widersprach sich das nicht? Duncan’s Kopf begann wieder zu schmerzen, also setzte er sich auf eine Bank und dachte über das Gespräch mit Mr. Pipp nach. Während er so grübelte, vernahm er plötzlich eine piepsige Stimme. >>So eine Sauerei!, << hörte er jemanden rufen. Duncan blickte sich um und bemerkte in dem Mülleimer neben der Bank eine kleine Gestalt. Dieses Wesen glich Mr. Pipp, doch seine Haut hatte eine ungesund wirkende grüne Tönung. Der Mund und die Augen wirkten ebenso froschartig wie bei dem Kobold im Krankenhaus, doch dieser sah verwildert aus, war dreckig von den Zehen bis zum Kopf und schien sich eine dicke Schmeißfliege als Haustier zu halten, mit der das Wesen zu sprechen schien. Als es Duncan’s Blick auf sich spürte, fuhr es erschrocken herum, dann aber streckte es angriffslustig die dürre Brust vor und fragte in flegelhaftem Ton: >>Was glotzt du so, Bengel?! Noch nie jemanden im Müll wühlen sehen? << >>Nein, << antwortete Duncan ehrlich. Das schien den kleinen Burschen aus dem Konzept zu bringen. Nervös huschte sein Blick von links nach rechts und es sagte: >>Was habe ich gerade gefragt? << Als der junge Mann seine Worte wiederholte, warf er sich erneut zornig in die Brust und erwiderte: >>Das war rhetorisch gemeint, klar? Und überhaupt, gehört es sich denn, jemanden beim Müllwühlen zu beobachten? Annabelle und ich mögen sowas nich‘ ! >>Annabelle?, << fragte Duncan irritiert. Der Kobold deutete mit einer Hand auf die Fliege, die sich neben ihm im Abfall niedergelassen hatte und dem Gespräch zu folgen schien. >>Is das ein Problem für dich, dass sie so heißt?, << grunzte der Kobold streitsüchtig. >>Nicht doch,<< erwiderte Duncan sofort,>> auf keinen Fall! Ist ein hübscher Name für eine Fliege. Wie heißt du? << Der Kobold starrte ihn zuerst noch finster an, schien sich dann aber zu entspannen. >>Du kannst mich Trashcan nennen, << antwortete er generös. Duncan kniff die Augen zusammen. >>Wie war das bitte?, << fragte er ungläubig. >>Trashcan, << wiederholte der Kobold. >>Das ist ein sehr…ungewöhnlicher Name. << >>Besser als Euseborius, und viel einprägsamer, << erwiderte Trashcan. >>Auf jeden Fall,<< entgegnete Duncan. Mit jemandem, der in Abfalleimern wühlte und sich selbst Trashcan nannte, wollte er lieber keinen Streit vom Zaun brechen. Annabelle flog auf und summte fröhlich um seine Nase herum. >>Sie mag dich wohl, << stellte Trashcan fest. >>Was verschlägt dich hierher? Ist drüben schlechtes Wetter? << >>Drüben?, << fragte Duncan. >>Auf der anderen Seite, << erwiderte Trashcan und deutete mit dem Daumen hinter sich. >>Geh davon aus, dass ich nicht weiß, wovon du sprichst, << sagte Duncan verständnislos. Trashcan’s Augen funkelten, als er in verschwörerischem Ton fragte: >>Bist du der Junge, den sie suchen? << Ein Ausdruck von Panik huschte über Duncan’s Gesicht, der dem Kobold nicht entging. >>Soso, << sagte er, >>da sucht die halbe Agentur nach ihm, und zu wem verirrt er sich? Zum alten Trashcan. Das ist ja mal was. Aber keine Angst, mein Freund, ich wird dich nich verpfeifen. Stehe selbst nicht auf bestem Fuß mit diesen hochnäsigen Typen, die meinen, die Welt gehöre ihnen. Bin ein alter Rebell, wenn du verstehst. Nieder mit dem Establishment, und so. << Trashcan hob die rechte Hand, zur Faust geballt, empor und grinste frech. >>Aber du musst verdammt gut drauf sein, wenn du ihnen bis jetzt entwischen konntest. Die Agentur hat verdammt gute Spürhunde, die jeden schon auf eine Meile Entfernung ausmachen können. Du kannst dem alten Trashcan ruhig erzählen, was du ausgefressen hast. Ich kann ein Geheimnis für mich behalten und schweigen wie ein Grab. << >>Ich habe keine Ahnung, wovon du überhaupt sprichst, << erwiderte Duncan und blickte sich besorgt um. >>Was zum Teufel ist die Agentur? Und warum suchen die mich? Ich habe überhaupt nichts angestellt oder ausgefressen! << Trashcan sah sich um und rief lauter als nötig: >>Oh, ja, klar! Natürlich hast du nichts angestellt! Blöde von mir, also echt. Aber nun mal im Vertrauen, du weißt es wirklich nicht? << Duncan schüttelte entnervt den Kopf. >>Oh, das ist ja mal was, << erwiderte der Kobold daraufhin verblüfft. >>Bist du etwa ein Neuling? Gerade erst dazu gestoßen? Das würde zumindest deine Planlosigkeit erklären. Aber die halbe Agentur hält sich derzeit hier auf und sucht nach einem flüchtigen Jungen. Man kann von einer recht wichtigen Person ausgehen, wenn sie die Hälfte ihrer Agenten hierher schicken, um denjenigen zu suchen. Zumindest hat der alte Trashcan das gehört. << >>Da kommt man sich wie ein Schwerverbrecher vor, << stöhnte Duncan und vergrub das Gesicht in den Händen. >>Naja, immerhin haben sie dich noch nicht geschnappt, << sagte Trashcan. >>Das ist schon mal viel wert, glaub mir. Drüben sind die Jäger natürlich besser als hier, aber üblicherweise sind sie auch hier erfolgreich. << >>Ich werde also gejagt! << rief Duncan mit wachsender Verzweiflung. Er konnte nicht begreifen, wie er in solch ein Schlamassel hinein geraten war. Kobolde, Jäger und Agenturen, das klang alles viel zu phantastisch und unwirklich. Aber es schien so, als würde es den Kobold beeindrucken, dass man ihn noch nicht gefangen hatte. Trashcan’s Äußerungen nach mussten diese Spürhunde echt Profi’s sein, doch es war ihnen noch nicht gelungen, Duncan ausfindig zu machen. >>Bitte erzähl mir mehr über diese andere Seite, von der du gesprochen hast, << bat er Trashcan. >>Bin ich ein verdammter Fremdenführer?, << erwiderte dieser heftig. >>Es würde mir zu verstehen helfen, << erklärte Duncan hilflos. Trashcan setzte sich auf eine leere Dose und begann damit, an seinen verdreckten Fingernägeln zu knabbern. Als er den Ekel auf Duncan’s Gesicht bemerkte, fing er an, zu schmatzen und widerliche Sauggeräusche zu produzieren. >>Die andere Seite ist eigentlich keine andere Seite, << verkündete er schließlich in schulmeisterlichem Tonfall. >>Sie ist genau da, wo man selber ist, doch nicht jeder kann sie sehen und dorthin gelangen. Sie ist keinen Steinwurf entfernt, so nahe ist sie, doch für die meisten Großen ist sie auf Lebzeiten hin unerreichbar. << >>Deine Beschreibungen wären hilfreicher, wenn sie weniger nebulös wären, << sagte Duncan. Trashcan wirkte auf diese Erwiderung hin beleidigt, doch er fuhr mit seinen Schilderungen fort. >>Diejenigen, die von der anderen Seite wissen, nennen sie auch Schattenbreite, denn viel weiter ist sie nie von einem entfernt. Hast du schon einmal hinter deinen Schatten geblickt? << >>Natürlich nicht, das ist physikalisch gesehen auch unmöglich, << erwiderte Duncan, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. >>Oh, wir haben hier einen Gelehrten. Aber deine Physik kannst du dir an den Hut kleben, mein Bester, soviel taugt sie im wirklichen Leben. Die Schattenbreite ist da zu finden, wo Schatten entstehen. Man tritt beiseite, sozusagen, und dann tritt man nochmal beiseite. Verstehst du, was ich meine? << Duncan schüttelte den Kopf. Trashcan wischte sich mit der Hand über das Gesicht, wodurch er den Dreck nur verteilte, aber nichts davon entfernte. >>Hör zu , << brummte er missmutig, >> so schwer ist es im Grunde nicht. Solange man an etwas glaubt, ist es auch real. Glaube definiert fast alles, er bestimmt Form und Aussehen der Dinge, die man normalerweise nie zu Gesicht bekommt. All diese Dinge haben eine Heimat, und diese Heimat nennt man die Schattenbreite. Und die Agentur sorgt dafür, dass die Großen nichts davon erfahren. Sie sind dafür da, alles geheim zu halten , aber manchmal geht halt was schief. Dann lesen die Großen davon in den Zeitungen und glauben wieder daran. Oder ihre vorhandenen Erinnerungen an eine Sache werden dadurch wieder geweckt. << >>Ich habe noch nie von solchen Sachen gelesen, << erwiderte Duncan ungläubig. Trashcan ließ von seinen Fingern ab und reichte Annabelle etwas von dem, was unter seinen Fingernägeln gewesen war und das Duncan nicht genauer in Augenschein nehmen wollte. >>Nie davon gelesen, wie? Keine Geistergeschichten gehört? Oder Geschichten von Spukhäusern? Solche Sachen meine ich. Und diese regen den Verstand der Menschen an, sie befassen sich dann damit, jeder auf seine Weise. Und solange auch nur ein Mensch diese Geschichten in seinem Kopf trägt, solange wird es mich, die Schattenbreite und alles andere geben. Nebenbei, da kommt ne heiße Braut auf uns zu. << Er grinste anzüglich, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu verbergen. Duncan folgte seinem Blick und erstarrte vor Schreck. Nur noch wenige Schritte entfernt von ihm stand Piper auf dem Gehweg und blickte zu ihm hinüber. >>Können wir in Ruhe reden oder willst du aufspringen und wieder türmen?, << fragte sie und blieb stehen. Duncan, der keinen Fluchtweg für sich mehr sah, nickte wortlos und ließ Piper näher kommen. >>Hey Baby, wie wärs mit uns beiden? , << fragte Trashcan und zwinkerte ihr frech zu. >>Halt du dich da raus, Müllfresser, << gurrte Piper mit gespielt freundlicher Stimme. >>Süße, dein Wunsch ist mir wie immer Befehl, << antwortete der Kobold und wandte sich wieder dem Abfall zu. Piper setzte sich neben Duncan und blickte zum Himmel über London, der inzwischen fast wolkenfrei war, hinauf. >>Warum bist du abgehauen? , fragte sie schließlich nicht unfreundlich. >>Ich habe heute Nacht gehört, was Jonathan und der Fremde in seinem Büro besprochen haben, << erwiderte er heftig und richtete seinen Zeigefinger anklagend auf sie. >>Es war die Rede davon, mich einem Blutritual zu unterziehen. Glaubt ihr etwa, ich lasse mich freiwillig in Scheiben schneiden? Sucht euch einen anderen für eure okkulten Rituale! << >>Ach, so ist das also, << entgegnete Piper gelassen. >>Und du dachtest vermutlich, du wärst bei einer obskuren Sekte gelandet, die junge Männer opfert, um ihr Blut in düsteren Ritualen einer längst vergessenen Gottheit darzubringen.<< >>Ja, so etwas Ähnliches ging mir durch den Kopf! << rief Duncan. >>Und wenn ihr mich von hier verschleppen wollt, schreie ich so laut um Hilfe, bis die ganze Straße sich hier versammelt hat. << >>Das traue ich dir sogar zu, << erwiderte Piper, lehnte sich zurück und löste die Klammer, die ihre Haare zusammen hielten. Langsam glitt eine Woge nussbraunen Haares hinab, mehr sogar, als es der Vernunft nach hätte sein dürfen. Schließlich reichte es fast bis auf den Boden hinab, doch es wellte sich von selbst und schien sich zu bewegen. Trashcan pfiff, und selbst das klang bei ihm anzüglich. Piper’s Blick richtete sich auf ihn, und ihre Stimme war kalt wie Eis, als sie sagte: >>Wenn du nicht sofort verschwindest, dreh ich dir deinen dreckigen Hals um! << Der Kobold begriff nun, dass er es übertrieben hatte, und wurde blass. >>Bitte um Verzeihung, << murmelte er, sprang aus der Mülltonne und verschwand im nächsten Gebüsch. Annabelle umschwirrte Piper noch einmal zornig und folgte ihm dann. >>Dieser grüne Ekelbold ist ein Plage, << sagte Piper verdrießlich. >>Aber ich vermute mal, dass er dir gewisse Dinge erzählt hat. Ich will dir erklären, um was es geht, Duncan, damit du verstehst. Ich bin kein Mensch. Zumindest nicht im eigentlichen Sinne. << >>Aha, << antwortete Duncan misstrauisch,>> und was bist du dann? Die Zahnfee? Ich glaube, in eurer Sekte sollten weniger berauschende Mittel verabreicht werden. << >>Die würden eh nicht bei mir wirken, < >>Weißt du, was ein Avatar ist? Vermutlich nicht, also sag ich es dir lieber gleich. Es steht für Inkarnation oder Verkörperung. Und ich bin ein solcher Avatar, erschaffen von Jonathan Miller. << >>Und was verkörperst du bitte schön? << Duncan‘s misstrauische zweite Gedanken wurden wieder aktiv und gewannen für einen Augenblick die Kontrolle über seine Zunge. >>Genau das, wonach sich mein Schöpfer im Moment meiner Entstehung gesehnt hat, << antwortete Piper ohne Umschweife. >>Eine attraktive junge Frau? << fragte Duncan irritiert. >>Nein, << erwiderte Piper lachend, >> aber danke für das Kompliment. Mein Aussehen ist nur äußere Form und steht, was mich angeht, nicht in Verbindung mit meiner Aufgabe. Er sehnte sich nach etwas mehr Hoffnung und Vertrauen in der Welt. Und genau das kann ich den Menschen um mich herum ins Herz legen. Meine Bestimmung liegt darin, den Hoffnungslosen und im Herzen Einsamen wieder Kraft zu geben, sie zu ermutigen und zu neuen Taten zu beflügeln. << >>Dann hast du sicher ne ganze Menge zu tun. << Etwas Besseres fiel Duncan in diesem Moment nicht ein. >>Ich bin ja nicht für die gesamte Menschheit zuständig, << erwiderte Piper rasch. >>Nur für den Teil, der mit mir in Kontakt kommt, oder mit Jonathan. Ich höre jedes stumme Gebet und jeden Satz, der dem Herzen entspringt. Auch bei dir war das schon einmal der Fall. Der Moment, als du deine Freundin im Waisenhaus zurücklassen musstest. Du hast dich an den Gedanken geklammert, dein Versprechen ihr gegenüber einzuhalten. Dein Herz hat fast gebrüllt, wenn ich dies als Vergleich mal so sagen darf. << >>Sie ist nicht meine Freundin gewesen, << antwortete Duncan erbost, doch in seinem Innersten fühlte er sich seltsamerweise so, als hätte man ihn bei etwas Unanständigem erwischt. Scham wuchs in ihm und er wandte den Blick von Piper ab. >>Und woher weiß ich, dass du mir nicht ein Lügenmärchen auftischst? , << flüsterte er mit heiserer Stimme, um vom Thema abzulenken. >>Naja, du könntest auf deine neuen zweiten Gedanken hören. Oder du nimmst endlich zur Kenntnis, dass du mit Kobolden gesprochen hast, mit Fabelwesen. << >>Das kann alles davon herrühren, dass ihr mir bewusstseinsverändernde Drogen gegeben habt, << konterte Duncan sofort. Piper sah ihn für einen Moment fassungslos an, dann begann sie zu lachen, klar und hell wie ein junges Mädchen. >>Du kannst nicht echt sein, << brachte sie hervor, als sich der Lachanfall etwas gelegt hatte. >>Sowas wie du ist mir noch nie untergekommen. Was willst du denn hören oder sehen, damit du mir Glauben schenkst? Selbst wenn der heilige Petrus jetzt vom Himmel steigen würde, selbst dann würdest du wohl noch an Gott und den Heiligen zweifeln. << >>Warum habt ihr mich aus dem Waisenhaus geholt? << antwortete Duncan ernst. Piper’s Lachen verklang, und mit besorgter Miene sah sie Duncan in die Augen. >>Ich glaube nicht, dass ich dir das erklären sollte, << erwiderte sie. >>Und ich glaube schon, dass du es tun solltest, << antwortete Duncan. Piper holte tief Luft und seufzte. >>Wir haben dich dort raus geholt, weil wir nicht genau wussten, was an dir dran ist. Klingt dämlich, ich weiß, aber manchmal zeigt es sich nicht auf Anhieb, ob ein junger Mensch die Gabe hat. Wir erfuhren, dass deine Geburt mit dem Verschwinden einer ganzen Familie, die unseren Reihen entstammte, vom Datum her zusammen fiel. Wir stellten Nachforschungen an, konnten aber keine klaren Beweise für eine Verbindung erbringen. Also entschlossen wir uns, dich kurzerhand zu adoptieren, ehe die Falschen dich zufällig fänden. Und das Blutritual ist kein Vorgang, bei dem an dir rumgeschnippelt wird, sondern ein Test für mentale und physische Kräfte. Zumindest wissen wir, dass du zu uns gehörst, denn niemand hätte Trashcan sehen können, wenn er oder sie keine von uns ist. Allerdings entsprichst du nicht der Norm. << >>Es gibt Normen für Andersartigkeit?, << rief Duncan. >>Ich bin ein Freak, und ihr habt Kategorien dafür, na hervorragend. << >>Du bist kein Freak, Duncan, << erwiderte Piper heftig, >> und es besteht kein Anlass für so viel Sarkasmus. Du hast eine Begabung, die dich aus der grauen und gesichtslosen Masse aus Menschen hebt. Du bist etwas Besonderes. << >>Ihr wusstet also, wie ich heiße. Konntet ihr so nicht herausfinden, ob ich zu dieser verschwundenen Familie gehöre? Das hätte dieses ganze Theater unnötig gemacht. << >>Hast du auch daran gedacht, dass dich deine Eltern mit einem falschen Namen vor dem Waisenhaus ausgesetzt haben könnten? Wir konnten nicht sicher sein, und in solch einem speziellen Fall muss man schon zu hundert Prozent richtig liegen. Jeder falsche Schritt gefährdet unsere gesamte Welt, das muss dir klar sein. << >>Unsere Welt, << wiederholte Duncan verächtlich. >>Von der habe ich bisher nichts gehabt. Ich durfte in einem Waisenhaus aufwachsen, nur so zur Erinnerung. Da gab es keine Wärme, kaum was zum Lachen und Einsamkeit, soviel man wollte. Warum hat man mich da nicht früher rausgeholt? << >>Du bist das, was man bei uns als Insider bezeichnet, << erklärte Piper geduldig. >>Und die Fähigkeiten, die einen Insider auszeichnen, entwickeln sich erst zur Volljährigkeit hin. Darum bist du auch sowas wie die Ausnahme von der Regel, denn du scheinst schon jetzt gewisse Eigenschaften nutzen zu können. Für einen jungen Menschen ist es außerdem gefährlich, zu früh in unsere Welt einzutreten. Dir muss bewusst sein, dass nicht alle, die die Fähigkeit haben, die andere Seite zu betreten, dies uneigennützig tun. Es gibt unter diesen Leuten einige, die ihre Kräfte nutzen, um damit Böses zu tun. Und diese sind immer daran interessiert, Verbündete zu gewinnen, um ihr destruktives Tun fortsetzen zu können. Sie entführen sogar Kinder, wenn es sein muss, um diese ganz nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Das dabei wenig Gutes entsteht, kannst du dir denken. Und das bringt uns zur Agentur, von der du ja schon gehört hast. Die Agentur funktioniert ein bisschen wie die Nachrichtendienste in der realen Welt. Alle Mitglieder der Agentur sind Insider, und davon gibt es wirklich nicht viele. Sie sorgen dafür, dass unsere Welt verborgen bleibt. Sie wirken nicht nur im Hintergrund, sondern sind aktiv daran beteiligt, unser Geheimnis zu bewahren. Störenfriede, egal von welcher Seite sie kommen, werden von ihnen aufgespürt und in ihre Schranken verwiesen. << >>ich bin also ein sogenannter Insider, <> und dazu ausersehen, einmal für diese Agentur zu arbeiten, um eure Welt zu schützen. << Piper rollte verzweifelt mit den Augen. >>Es ist nicht nur unsere, sondern nun auch deine Welt, begreif das doch. Jetzt, wo du den Blick für alles hast, bist du untrennbar mit der anderen Seite verbunden. In diesem Fall gibt es nur Schwarz oder Weiß, aber keine Grautöne dazwischen. Tut mir Leid, dass so sagen zu müssen, aber es ist nicht so, dass du eine Wahl hättest. Du musst dich damit abfinden. Renegaten kennt unsere Welt nicht, denn so kann es nicht funktionieren. << Duncan starrte ins Leere, als sein Gehirn die Unmenge an Information zu sortieren begann. >>Dann zeig mir die Schattenbreite, << sagte er schließlich und blickte Piper dabei fest in die Augen. Zu seiner eigenen Überraschung wich sie seinem Blick aus und schüttelte den Kopf. >>Kann ich nicht, << sagte sie. >>Neulinge wie du müssen eines der Portale nutzen, denn es ist durch unser Gesetz strengstens untersagt, jemanden von dieser Seite aus in die Schattenbreite mitzunehmen. Doch ich kann dir den Weg zu einem Portal zeigen, wenn du es wünschst. << >>Moment mal, wir wollen nichts überstürzen, << erwiderte Duncan und wedelte hektisch mit den Händen herum. >>Es gibt noch eine Menge Fragen, die ich beantwortet haben möchte. << >>Das glaube ich dir gerne, aber ich bin nicht die Person, die dir deine Fragen beantworten darf. Es gibt keine Akademie für Neulinge, du wirst mit der Zeit an Wissen und Erfahrung gewinnen. << >>Und was passiert, wenn ich zu langsam lerne ?<< >>Dann wirst du sterben, << erwiderte Piper regungslos. >>Das ist auch der Grund, warum es so wenig Insider gibt. Die natürliche Auslese, wenn wir sie mal so nennen wollen, ist hart und endgültig. << >>Echt motivierend, << flüsterte Duncan. Piper erhob sich und ihre Haare rollten sich von selbst dabei wieder auf, so dass sie nur noch die Haarklammer anzubringen brauchte. >>Ich werde dich zu einem Portal bringen, damit du die Schattenbreite betreten kannst. Wenn du einmal dort gewesen bist, dann gibt es kein Zurück mehr. Du wirst die Seiten ganz nach Belieben wechseln können, ohne Portale nutzen zu müssen, doch so bald du die Schattenbreite betreten hast, ist dein bisheriges Leben zu Ende. << Duncan, der begriffen hatte, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, erhob sich und folgte Piper. Schweigend gingen sie in Richtung der Innenstadt. Duncan blickte sich nicht um, sondern trottete einfach hinter Piper her. Es gefiel ihm nicht, in eine Rolle gezwungen zu werden, zumal er nicht einmal wusste, was ihn erwarten würde. Für ein Kind wäre der Gedanke reizvoll, in eine Welt der Märchen reisen zu können, doch nach den bisherigen Erlebnissen hielt er es nicht mehr für sonderlich erstrebenswert. Gut, sein bisheriges Leben hatte nicht gerade Rosen auf ihn herabregnen lassen, doch was konnte er schon gegen das Schicksal und Bestimmung ausrichten? Insgeheim verfluchte er sich dafür, nicht noch weiter geflohen zu sein. >>Du bist ein netter Junge, << sagte Piper plötzlich, >> doch ich muss auch dem Folge leisten, was mein Schöpfer mir aufträgt. << >>Selbstständiges Denken scheint wohl auch per Gesetz verboten zu sein, wie? << >>Es wäre mein Untergang, wenn er mich verstoßen würde, << erwiderte Piper ernst. >>Ich würde wahnsinnig werden und zu einer Gefahr für alle um mich herum. Es gibt solche Einzelgänger, das kann ich nicht verheimlichen, und sie werden von der Agentur aufgespürt und unschädlich gemacht. << >>Wie? , << fragte Duncan. >>Nun, sie werden zu ihrer und unser aller Sicherheit in ein Gefängnis gesperrt, denn ein herrenloser Avatar birgt große Wut und Zorn in sich, da er keine Nähe mehr zur Seele seines Erschaffers hat. Es gibt Wesen, die frei existieren können, wie etwa die Kobolde, aber bei einem Avatar ist das anders. Ohne einen Herren verliert er jeden Respekt vor dem Leben und kann extrem aggressiv werden. << Sie bogen in eine düstere Seitenstraße ein, weg vom Verkehr und den belebten Hauptverkehrsadern. Überquellende Mülltonnen standen am Straßenrand, Ratten huschten durch das Halbdunkel und obszönes Graffiti bedeckte die Wände der Häuser ringsum. Dem Tageslicht schien es auch nicht zu gelingen, die Straße zu erhellen. Die Düsternis war bedrückend und furchteinflößend. Vor einer rostigen Tür blieb Piper stehen und klopfte an. Eine Sichtluke wurde aufgeschoben und das finster dreinblickende Gesicht eines Mannes erschien. >>Was willst du? , << fragte er in harschem Ton. >>Ich bin im Auftrag von Mister Miller hier und soll diesen jungen Neuling durch das Portal führen, << erwiderte Piper gelassen, als würde sie diese Prozedur kennen. Das Gesicht wandte sich Duncan zu und musterte ihn gleichgültig, dann schloss sich die Luke und ein Rasseln und Schnarren erklang, als ein Riegel geöffnet wurde. Die Tür schwang auf und gab den Weg in einen von flackernden Lampen erhellten schmalen Gang frei. Die Tapete löste sich durch Feuchtigkeit von den Wänden und auf dem Boden lag allerlei Unrat. Piper ging hinein, ohne weiter darauf zu achten, Duncan aber versuchte, dem Müll auszuweichen, so gut es ging. Nach einigen Metern gelangten sie an eine Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Ein übler Gestank drang von unten herauf und ließ Duncan erahnen, wohin der Weg führen würde. Und er sollte sich nicht irren, denn die Treppe endete in der Kanalisation. Direkt neben ihnen dümpelte ein grauer Strom vorbei, die Kloake, die die Abfälle London’s aufnahm und fortspülte. Nur ein schmaler und schlüpfriger Steg führte darüber hinweg an der Wand des Tunnels entlang. Nach einigen Minuten veränderte sich die Bauweise und das Material des Abwasserkanals. Die glatten Kacheln und Fliesen der modernen Kloake wurden abgelöst von roten Ziegelsteinen, die bereits vermodert waren und aus denen Moos zu wachsen begann. Eine Bewegung an der Decke des Tunnels erregte Duncan’s Aufmerksamkeit, und als er aufblickte, bemerkte er eine Art Seilzug, an dem eine Gondel in Miniformat hing. Darin saß ein Kobold (schon wieder, schoss es ihm durch den Sinn), der damit beschäftigt war, das Moos von den Steinen zu lösen. Gelegentlich verspeiste er kleiner Fladen davon und schmatzte dabei genüsslich. Angewidert folgte er Piper durch die stinkende Dunkelheit weiter, bis sie schließlich an eine runde Stahltür gelangten. Die junge Frau packte den Griff daran und zog die Pforte auf. Duncan erkannte eine weitere Treppe, die noch tiefer hinab führte. >>Noch etwas tiefer und wir kommen im Keller eines Chinesen raus, << bemerkte er bissig, doch Piper schien es überhört zu haben. Die Treppe führte etwa vierzig Schritte hinab und endete an einer vermoderten Holztür, an der sich schon Holzwürmer gütlich getan hatten. Vorsichtig öffnete Duncan die Tür und war sofort geblendet vom grellen Licht, dass ihm entgegen flutete. Als er sich daran gewöhnt hatte, blickte er voller Überraschung in einen großen Saal, der über und über mit Büchern, Schriftrollen, Aktenordnern und Dokumenten vollgestopft war. In etlichen Metallregalen ruhten eiserne Kisten, in denen Duncan weitere Bücher und Schriftstücke vermutete. Viele der Kisten trugen das Wappen des Königshauses, andere das der britischen Regierung. >>Willkommen im Archiv, << verkündete Piper in geradezu feierlichem Tonfall und schloss die Tür, die knarrend ins Schloss fiel. >>Während des zweiten Weltkrieges schafften die damaligen Oberbefehlshaber alle wichtigen und geheimen Dokumente hier hinunter, damit sie nicht im Feuersturm der Bombenangriffe vernichtet würden. Leider starben die wenigen Menschen, die hiervon wussten, bei genau solch einem Bombenangriff und diese Kaverne geriet in Vergessenheit. Sie bot sich geradezu dafür an, ein Portal in ihr zu errichten, denn hierher hat sich seit Jahrzehnten kein Mensch mehr verirrt. << Duncan staunte noch immer und folgte den Ausführungen Piper’s kaum. Er erblickte im Durcheinander einen uralten Schreibtisch, hinter dem ein unheimlich dürrer, fast kahlköpfiger Mann saß, dessen markantestes Merkmal seine Hakennase war, die wie der Schnabel eines Greifvogels aus seinem Gesicht ragte. Neben ihm stand ein Metallgestänge, an dem ein Infusionsbeutel hing, in dem eine rotbraune Flüssigkeit zu sehen war. Von dem Beutel führte ein Plastikschlauch zu einer Kanüle, die am linken Unterarm des Mannes lag. Die Haut des Mannes war welk und wirkte wie ausgetrocknet. Blaue Venen zeichneten sich überall darauf ab. Im Grunde sah er wie tot aus, nur schien diese Nachricht noch nicht sein Gehirn erreicht zu haben. Der Mann lächelte und offenbarte dabei für sein Alter ungewöhnlich weiße und perfekte Zähne. >>Das ist Piotr Vulczkinski, der Archivar, << flüsterte Piper, doch der Mann schien jedes Wort verstanden zu haben. Er nickte, und als er zu sprechen begann, offenbarte er einen unverkennbaren russischen Akzent. >>Vulczkinski, jawohl. Und bitte keine Scherze mit meinem Namen machen. << Duncan deutet auf die Infusion und erwiderte: >>Ich hoffe, sie sind nicht ernsthaft erkrankt. Hier unten kann man sich sicher schnell den Tot holen, bei all den Bakterien und Keimen. << Eisige Stille legte sich über die Anwesenden. Der Archivar machte ein Gesicht, als hätte Duncan einen für ihn unverständlichen Witz erzählt, ohne dabei zu bedenken, dass sein Gegenüber ein Mensch war, der absolut keinen Humor hatte. >>Letzteres sollte für mich kein Problem darstellen, << erwiderte Vulczkinski mit krächzender Stimme. Duncan verstand nicht und wollte um eine Erklärung bitten, doch Piper zog ihn am Arm zu sich und sagte in ernstem Ton: >>Lass den Unsinn, okay ?! Piotr ist ein Vampir! Das da ist eine Bluttransfusion, auch wenn es sich bei der Flüssigkeit fast nur um Tomatensaft handelt. << Duncan war entsetzt und fasziniert zugleich. >>Ein Vampir, << stammelte er, >>und eine Tomatensaftinfusion?! << >>Auch ein Vampir hat das Recht, als Vegetarier zu leben, wenn er das wünscht, << antwortete Piper gereizt, wandte sich dem Archivar zu und lächelte eines ihrer strahlendsten Lächeln. >>Verzeihen sie, Mister Vulczkinski, er ist ein Neuling und noch feucht hinter den Ohren. Ich hoffe, es geht ihrer Frau gut? << >>Ich denke schon, auch wenn sie sich von ihrem letzten allergischen Anfall noch nicht gut erholt hat und noch etwas wackelig auf den Beinen ist. << Duncan konnte seine Neugier nicht im Zaum halten. >>Wogegen ist sie allergisch? << >>Gegen Holz jedweder Art, << antwortete der Archivar automatisch, >> was vor allem bei der Wahl eines neuen Bettes sehr problematisch werden kann. << Duncan gelang es, nichts darauf zu erwidern. Er wollte den Raum lebend verlassen und nicht an plötzlich auftretender Blutarmut sterben. >>Wollen sie das Portal benutzen? ,<< fragte der Vampir. Duncan nickte, woraufhin Vulczkinski sagte: >>Wundern sie sich nicht, aber es ändert gelegentlich die Übergänge. Man kommt dann nicht unbedingt aus einem Portal, wenn man drüben ist. << >>Das bedeutet was genau?, < Der Alte zuckte mit den Schultern. >>Ist unterschiedlich. Manchmal erscheint man nur einige Meter über dem Boden, aber es hat auch schon Fälle gegeben, in denen die betreffende Person in einem Fluss erschien und zuerst an Land schwimmen musste. << >>Dann sollte ich vielleicht vorgehen, << erklärte Piper. >>Wir müssen durch den Gang dort drüben, um zum Portal zu gelangen. << Sie deutete auf einen niedrigen Gang hinter dem Schreibtisch des Archivars. Duncan zog den Kopf ein und folgte ihr in eine Kammer, die von unzähligen Kerzen erhellt wurde. Allerdings schwebten die Kerzen gut zwei Metern Höhe, so dass Duncan einigen Wachstropfen ausweichen musste, die herabfielen. Das Portal war ein aus grauen Steinen gemauerter Torbogen, der im Zentrum des Raumes stand. Duncan konnte dahinter die Wand der Kammer sehen. Dieser Durchgang hatte absolut nichts Magisches oder Mysteriöses an sich. Piper sah ihn noch einmal an, dann trat sie durch den Torbogen, ohne auf der anderen Seite wieder zu erscheinen. Duncan dachte zuerst an eine optische Täuschung und blickte hinter den Durchgang, betrachtete ihn von allen Seiten, doch er sah nichts außer den stumm dastehenden steinernen Torbogen. Er trat so nahe wie möglich heran und betrachtete die Luft zwischen den Steinen und vermeinte, ein Flirren zu erkennen, als plötzlich eine Hand aus dem Nichts erschien, ihn packte und vorwärts zog. Es war, als würde die Welt zusammen gefaltet und eine Neue entfaltet. Als würde man zwischen mehrere Spiegel treten und sein eigenes Spiegelbild bis in die Unendlichkeit hin betrachten. Dann kehrte die Normalität zurück und Duncan spürte festen Stein unter seinen Füßen. Er hatte während des Übergangs die Augen geschlossen und wagte nun nicht, sie zu öffnen. Es roch nach schmutzigem Wasser, Laub und feuchter Erde. Dazu kam ein Geruch, den Duncan nicht kannte und näher beschreiben konnte. Am ehesten erinnerte er ihn an den Geruch von abgebrannten Feuerwerkskörpern, Schwefel und Schwarzpulver. >>Die kannst die Augen ruhig öffnen, << hörte er Piper neben sich sagen. Duncan kam ihrer Aufforderung nach und fand sich auf einer Straße mitten in London wieder. Er wusste sofort, dass es London war, denn in der Ferne sah er Big Ben aufragen, auch wenn der Turm seltsam verändert wirkte. Als er sich Piper zuwandte, wich er überrascht einige Schritte zurück. Ihre Haare fielen wieder offen über ihre Schultern, doch trugen sie nun die Farbe von Bronze und schienen wieder von ihrem seltsamen Eigenleben erfüllt zu werden. Piper’s Haut war Weiß wie Kreide und nur ihre Lippen glühten in einem tiefen Burgunderrot. Sie bemerkte seine Verwunderung und sagte: >>Hier sind wir alle so, wie wir erschaffen wurden. Unsere Tarnung, die wir in der realen Welt benutzen müssen, fällt von uns ab. Tarnen kann sich in der dieser Welt nichts und niemand. Willkommen in der Schattenbreite! <<