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Kapitel 1 – Chewbacca
ОглавлениеIch war sieben Jahre alt und fühlte mich zu dick und zu kräftig. Und ich war recht dick und kräftig. Ich hatte auch einen schiefen Schneidezahn und unglaublich viele Haare auf dem Kopf. Viel zu viele. Modell: Chewbacca!!!
Ich fand mich cool. Na ja, andere nicht so. Ich weiß noch: Ich bin aus der Klasse raus, und da standen sie, die Monster, die Zombies, die Voldemorts der Schule, die Herren der vierten Klasse. Jedenfalls waren sie das für mich.
Ich wollte gerade den Gang runter, um aufs Klo zu gehen. Da stellt sich mir einer von denen in den Weg. Er kam mir vor wie ein Riesenaffe.
Groß und breitbeinig stand er vor mir. Wie ein Cowboy im Western. Er roch aus dem Mund. Ich weiß es noch, als ob es gestern erst gewesen wäre. Ich kriegte seinen Atem ins Gesicht, so nah kam er mir. Es roch nach einer Mischung aus Banane und Nutella. Eklig wie Kotze.
„Na, wo willst du denn hin?“
Bei dem Wort „hin“ überkam mich eine galaktische Übelkeit. Allein dieses Wort. „Hin.“ Das hat bei mir gereicht. Die Grenze meiner Belastbarkeit war damit durchbrochen. Ich sah nur noch verfaulte Sachen. Ein Feuerwerk von Verfaultem. Ich habe versucht, diesen üblen Hauch durch starkes Pusten in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen. Das war schwer.
Aber es funktionierte. Der üble Geruch traf eine Fliege, die im gleichen Moment wie tot sanft zu Boden glitt. Sie war hin. Auf ihrem Grabstein würde bestimmt so ein Spruch stehen:
Riechst du verfault aus dem Munde, geht selbst ’ne Fliege wie ich zugrunde.
Ich habe dann schnell auf die Frage geantwortet, um zu vermeiden, dass der Kerl vor mir noch mal was fragt. Einen zweiten Hauch hätte ich nicht überlebt, und ich wollte mich nicht übergeben, denn ich hatte mein Lieblingsshirt an. Mein Spiderman-T-Shirt.
„Ich muss was erledigen“, sagte ich. Diese Antwort verwirrte den Kerl vor mir irgendwie. Er drehte sich zu den anderen Typen um, die mir auch alle wie Affen vorkamen. „Hey Leute“, rief er ihnen zu, „der Pisser hier wird gerade frech.“
Die vier Typen kamen dann tatsächlich rüber und stellten sich neben ihn. Jetzt hatte ich eine ganze Horde Gorillas vor mir. Was war das denn?
„Also, du kleiner Scheißer, wenn du hier durch willst, dann musst du ganz nett darum bitten, ansonsten passiert was“, sagte der Oberaffe.
Mir schossen zwei Gedanken durch den Kopf. Erstens: Zum Glück kam in seinem Satz nicht wieder das Wort „hin“ vor. Und zweitens: Wenn ich jetzt mache, was der von mir will, dann wird das länger so laufen. Wahrscheinlich für immer und ewig. Was also sollte ich jetzt tun?
Dann hatte ich eine coole ldee und habe Folgendes geantwortet: „Also, unser Lehrer, der Herr Kaiser, und wir, also seine Schüler, also auch ich, also wir arbeiten gerade an einem Projekt. Wir untersuchen das Verhalten der Schüler untereinander. Also, ob sie nett zueinander sind, oder ob jemand geärgert wird. Aus diesem Grund hat Herr Kaiser überall in den Fluren Kameras aufgebaut, die kann man zwar nicht sehen, aber die sind da. Und jetzt, also jetzt hat er mich rausgeschickt, um zu testen, ob die funktionieren. Hey, ihr seid jetzt im Fernsehen. Jetzt seid ihr berühmt!“
Der Planet der Affen vor mir wurde sichtlich nervös. Die schauten wild hin und her, suchten die Kameras und grummelten irgendwas vor sich her. Der Oberaffe war leicht blass geworden. Er drehte seinen hirnlosen Schädel wieder in meine Richtung und fing an zu ... na ja, nennen wir es mal sprechen. „Hey, das war doch nur Spaß“, sagte er. „Wir wollten nix Böses von dir.“ Die anderen Typen nickten plötzlich zustimmend und gingen langsam zur Seite. Der Weg für mich war frei. Es fehlte nur noch, dass sie sich verbeugten.
Mir war diese geniale Notlüge so selbstbewusst über die Lippen gegangen, dass ich sie fast selber geglaubt habe. Immer wieder musste ich darüber nachdenken, warum mir das so schnell eingefallen war. Ich glaub, die Sache ist klar: Erstens war ich schon damals ein kreativer Geschichtenerzähler, und zweitens war meine Blase in dem Moment wahrscheinlich so voll, dass mein Hirn sich ganz schnell vorm inneren Ertrinken retten wollte.
Jedenfalls hatte ich durch diesen für die Menschheit kleinen, aber für mich großen Erfolg irgendwie Mut gefasst. Es hat mich total bestärkt. Ich musste andauernd auf mein Spiderman-T-Shirt schauen, während ich auf dem Klo saß, und habe gedacht: „Hey, wie wäre es, wenn ich jetzt auch ein Superheld wäre!“ Na ja, ich kann natürlich nicht fliegen oder Autos hochheben, aaaaber ich kann laaaabern und ich habe spontane Ideen. Also müsste eigentlich Laberman auf meinem T-Shirt stehen. Mit einem großen „L“ als Logo und mit Feuer drum rum. Mit meinem wehenden Umhang würde ich auf dem Schuldach stehen und alle durch mein hammermäßiges Gelaber aus solchen miesen Situationen retten. Laaaaaaber...maaan, der Retter aller Unterdrückten!!!
Jeden Tag nach Schulschluss musste ich mit der Bahn nach Hause fahren. Eine Station vor meiner Schule stiegen Schüler von einer Hauptschule ein. Schüler einer anderen Schule in der gleichen Bahn mit Grundschülern – das ist wie ein Piranhabecken mit einem winzig kleinen verletzten Fisch. Die haben nur auf den Moment der Schwäche gewartet. Die haben das gerochen.
Apropos riechen. Mich hat immer gewundert, wie sich auf dem kurzen Weg von deren Station zu unserer, also in nur 40 Sekunden, das Innere der Bahn in einen großen Waldarm verwandeln kann. Wenn die Türen aufgingen, hätte eigentlich so ein Zischgeräusch ertönen müssen. Als ob ein Monsterwal sich erleichtert und seinen innersten Dampf ablässt. Eine Mischung aus Achselschweiß und Füßen, gepaart mit Rauch und einer Prise Rülps. Genau, die Bahn roch nach einem einzigen, riesigen Walfurz.
Selbst die mitfahrenden Rentner im Innern versuchten, durch die kleinen Kippfenster nach frischer Luft zu schnappen. Aber das machte nicht viel Sinn, denn dieser Walfurzdampf klebte wie Kleister an den Plastiksitzen. Haste dich einmal draufgesetzt, war der Geruch an dir. Selbst der Altkleidercontainer hätte deine Klamotten wieder ausgespuckt.
Aber da musste man durch. So zwängte ich mich durch die stinkenden Piranhas vorbei an Turnbeuteln in Nasenhöhe. Die waren teilweise noch warm. Die meisten hatten lustige weiße Kreise drauf. Man hätte denken können, dass es ein neuer Trend ist, aber es waren Schweißränder.
Ich versuchte, mich immer an einer Haltestange festzuhalten, denn der Fahrer der Bahn, der immer derselbe war, war bei allen gefürchtet. Er saß entweder stets wie betrunken da oder wollte als Erster mit seiner Bahn die Schallmauer durchbrechen, so schnell fuhr der durch die Kurven. Der dachte wahrscheinlich: Schienen plus Menschen gleich Achterbahn.
Einmal hat er so krass gebremst, dass einer Rentnerin hinten die dritten Zähne rausgeflogen sind. Und das mit so einer Wucht, dass die Eckzähne ihres Gebisses sich in die Plastikverkleidung der Sitze gebohrt hatten. Kommentar eines Schülers: „Boaahhhh, krass Alter, haste das gesehen? Wie ein Wurfstern von ’nem Ninja, hohoho.“
Der Fahrer hatte den Spitznamen „Godzilla“. Ich war mir sicher, dass er auch am Strom angeschlossen war, so wie die Bahn. Er war mindestens zwei Meter groß und hatte Hände wie Bratpfannen. Er war der Einzige, vor dem die Schüler Respekt hatten.
Einmal hatte er mit einem Schubs sieben Schüler gleichzeitig wie Kegel aus der Bahn gewuchtet. Er war so in Rage, dass man munkelte, dass er aus Versehen zwei oder drei Rentner mit rausgeschmissen hat. Danach hatte er sich wieder an seinen Platz gesetzt und so laut „Jetzt ist Ruhe hier!“ gebrüllt, dass die Scheiben beschlugen und ein Lautsprecher aus der Verankerung sprang. Das hatten sich alle Schüler gemerkt.
An der Haltestange angekommen, war die Gefahr noch nicht so richtig gebannt, denn das Plastik war glitschig wie ein Fisch von den ganzen Körperdämpfen. Festhalten war schwierig.
Neben mir stand Chris, ein kleiner schmächtiger Mitschüler. Wir waren umgeben von den anderen Schülern. Selbst ich konnte seine Angst riechen.
Und dann kam der Moment. Godzilla, also der Bahnfahrer, ging in die Eisen und die Bahn stoppte. Doch das Innere der Bahn, also wir, nicht. Ich hielt mich an der Stange fest, und mit der anderen Hand versuchte ich, Chris’ Schulranzen zu packen. Das gelang mir auch, doch unglücklicherweise streifte Chris mit seiner vordersten Haarlocke den Unterarm eines Schulkillers … äh, Schülers.
Plötzlich herrschte Stille. Langsam drehte sich der von der Haarlocke schwerverletzte Schüler zu mir und Chris um.
„Hey, ihr Opfer, ich mach euch platt!“ Der Piranha hat angebissen und ein Piranha kommt selten allein. Chris und ich reichten ihm gerade so an die Brust. Plötzlich schossen fünf bis sechs weitere Piranhas dazu und stellten sich eng um uns herum.
Die Worte „Hey, ihr Opfer, ich mach euch platt“ waren wohl so eine Art Kommando. Nach dem Motto: Hier ist Frischfleisch und ich kann endlich wieder meinen Frust loswerden. Ja, all den Frust darüber, dass ich selber eine Null bin und ich kaum Liebe und Anerkennung bekomme. Chris stand vor mir und zitterte am ganzen Körper. Er hatte schon Pipi in den Augen. Ich fühlte mich auch nicht gerade wohl …
„Ey, du SpongeBob für Arme ...“, damit meinte Tarantula wohl Chris. „Und du Mini-Chewbacca.“ Ah ja, damit meinte er wohl dann mich. „Jetzt habt ihr ein Problem.“
Chris zitterte so heftig, dass die Klammer in seiner Klammerbox, die um seinen Hals hing, wild hin und her sprang. Hörte sich an wie ’ne Maus, die in einer Plastikbox kurz vorm Durchdrehen ist. Das fiel selbst dem Spacken vor uns auf.
„Och, jetzt zittern wir schon. Die Klammer kannste deinem Kumpel geben. Erstens wirst du die gleich nicht mehr brauchen, und zweitens hat der Mini-Chewbacca die Klammer mit seinem schiefen Zahn wohl nötiger.“ Nun war großes überhebliches Gelächter aus dem Piranhaschwarm zu hören.
Irgendwo von hinten kam der nächste Spruch: „Schiefer Zahn vorne, geil Alter, dann kann er die Spinnen aus der Ecke beißen.“ Und wieder folgte eine Symphonie von lautem Piranhagesabber.
Dann musterte Mr. Präsident des Schulpacks uns von oben bis unten. „Haben eure Eltern keine Kohle? Was sind das denn für Klamotten? Hat Mama die selber genäht?“
Wieder Piranhalachen. Chris war jetzt kurz davor, loszuplärren. Ich war innerlich auf 290 und überlegte blitzschnell, was wir machen konnten. Ich hatte auch weiche Knie, aber wir mussten aus dieser Situation irgendwie raus, und ich konnte Chris nicht im Stich lassen. Prügeln? Auf keinen Fall. Jetzt irgendwas Beleidigendes sagen? Unklug. Also Hilfe holen, irgendwie Hilfe holen.
Und dann machte es boom in meinem Chewbacca-Schädel. Die Lösung ist Godzilla, der Herrscher der Schienen. Klar, vor dem hatten die ja Respekt. Ich nahm all meinen Mut zusammen und schrie: „Hiiiiilfeee Feuer, Hiiiilfeee Feeeueeer!!!!“
Zum Glück waren wir nicht weit von Godzilla entfernt. Alle drehten sich um. Mein Geschrei war so laut, dass ein Mann seine Kopfhörer aus den Ohren nahm und mich anstarrte. Eine Oma zuckte zusammen und brüllte vor Schreck einfach mit.
Der Oberpiranha wollte gerade ausholen und mir oder Chris eine verpassen, da bremste die Bahn voll ab und die Piranhas flogen regelrecht nach hinten. Dann wurde es ruhiger.
Doch nicht lange, denn man hörte aus der Ferne dumpfe schwere Schritte in unsere Richtung kommen. Kurz darauf kam die Frage: „Was ist hier los?“ Die Stimme war tief und laut und für mich sooo beruhigend, denn ich wusste: Yeaahhh, Godzilla is in the House!!! Hätte niemals gedacht, mich zu freuen, wenn ein Monster kommt.
Die Piranhas standen etwas weiter von uns weg. Dazwischen jetzt Godzilla, schnaubend. „Jemand hat um Hilfe geschrien, warum?“
Das war mein Einsatz: „Die Typen wollten uns schlagen.“ Godzilla drehte seinen Kastenkopf zu mir rüber und schaute mich mit seinen blutrot funkelnden Augen an. Dann schaute er langsam zum Schwarm der Verdammten rüber. Ich guckte Chris an und grinste, denn ich ahnte, was jetzt kommt, denn selbst Godzilla begriff recht schnell, worum es hier ging.
Godzilla riss die Tür der Bahn mit einem heftigen Ruck auf. Es zischte. Wir wollen ja den Walfurzgeruch nicht vergessen. Dann hob er seine bratpfannengroßen Pranken, und wie Hulk in seinen besten Jahren schaufelte er den lästigen Piranhaschwarm ins Freie. So ähnlich wie die Szene bei „Free Willy“ am Ende, nur nicht so nett.
Da lag nun der Schwarm. Zuckend und mit Schmerz erfüllt. Er lehnte sich noch einmal raus und brüllte: „Bei mir gibt es keinen Ärger in der Bahn, ist das klar?“ Dann riss er die Tür wieder zu, stampfte nach vorn in sein Cockpit des Grauens und wir rollten sanft weiter. Bis zur Station, wo Chris und ich raus mussten, herrschte Stille im Waldarm. Es roch auch nicht mehr so streng, denn der Rausschmiss der Honks hatte genug Luft in die Bahn gelassen.
So, und dann waren wir endlich da. Chris und ich stiegen aus. Als ich an der Tür, die offen stand, an Godzilla vorbeikam, schaute ich ihn an und sagte: „Danke für die Hilfe.“
Godzilla drehte seinen riesigen Schädel zu mir rüber und sagte halb schnaubend: „Kein Thema, Kleiner. In Zukunft steigt ihr von der Grundschule vorne bei mir ein und die anderen Schüler hinten, dann kann nix passieren.“
Dann schloss sich die Tür und Godzilla rollte mit seinem Walfurzkoloss von dannen. So war es dann auch. Bis zum Ende der Grundschule sind die anderen und ich vorne bei Godzilla eingestiegen. Und es ist nie wieder was passiert. Ich schwöre.