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II

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Markus Reddig, ein feingliedrig wirkender Mann von 32 Jahren, mit schmalem, etwas zu großem Kopf und schwarzem Haar, trug deutliche Spuren seiner nächtlichen Schreibertätigkeit im Gesicht. Er war seit Wochen hauptsächlich damit beschäftigt, alte Ratsakten regestenartig zusammenzufassen, das Verzeichnis der umfangreichen Ratssammlung auf Abgänge zu überprüfen und Urkunden zu archivieren. Damit er diese im Rechtsstreit mit dem Herzog existenziell wichtige Arbeit überhaupt bewältigen konnte, nahm er sich Stapel von Papier in seine Wohnung im Breiten Tor mit, sodass er auch dann arbeiten konnte, wenn er nicht zu schlafen vermochte. Seine Schreibstube im Rathaus lag im Zwischentrakt zwischen Ratsdiele und Gebeinkapelle. Ein großes Schreibpult mit einer Unschlittlampe, ein kleiner Tisch und zwei Stühle, mehr war nicht drin. Das kam seinem vormals geistlichen Stand sehr zupass und gemahnte ihn an seine Zelle im Kloster der Franziskaner am Köketurm. Der Goslarer Stadtschreiberposten wurde traditionsgemäß an Priester oder Ordensleute vergeben, da man diesen am meisten vertraute. Inzwischen war diese Regel gelockert, es gab auch schon einmal vertrauenswürdige Weltliche auf dem Posten. Der Stadtschreiber war Protokollführer bei allen Sitzungen der Räte. Doch diese Regel, das wusste Reddig inzwischen, hatte mit der Wirklichkeit wenig zu tun.

Er schritt trotz seiner fühlbaren Gliederschwere, unausgesetzt gähnend und verzweifelt bestrebt, die eiserne Klammer der Müdigkeit abzustreifen, durch den Laubengang am Gerichtsraum bis zur Tür des Sitzungszimmers. Der Erweiterungsbau des Rathauses roch noch immer neu. Man hatte den Beratungsraum bewusst so platziert, dass es keine Möglichkeit gab, die Oberen der Stadt zu belauschen.

In der letzten Zeit entbehrte man des Stadtschreibers bei Sitzungen sehr oft. Die Herren wollten unter sich sein und keinerlei Aufzeichnungen für den Chronisten hinterlassen. Es genügte nicht, dass Reddig klopfte. Mit beiden Fäusten hämmerte er gegen die Tür, bis sie endlich aufging und der Bürgermeister des gerade amtierenden neuen Rates erschien.

»Ihr seht ja fürchterlich aus!«, sagte Johannes Weidemann in besorgtem Tonfall. Er war nicht eben groß, doch seine gedrungene Gestalt glühte vor Kraft. Das rötlichbraune Haar passte zu seiner vom Wetter gegerbten Haut – sein zweites Gewerbe neben dem Bergbau war der Fischfang. Der Rat selbst war ein gewichtiger Kunde bei ihm …

»Was gibt es denn so Wichtiges?«

Der erste Bürgermeister machte ein finsteres Gesicht. Drinnen in der reich ausgemalten Ratsstube saßen etliche, aber bei Weitem nicht alle Ratsmitglieder auf ledergepolsterten Archivtruhen beisammen. Der enge Rat war ein Auswahlgremium, das in Zeiten der Gefahr rascher handeln können und die Stadt vor Unheil bewahren sollte. Man konnte nicht immer mit den sechs Dutzend Köpfen des weiteren Rates debattieren, wenn Not am Mann war.

Reddig räusperte sich: »Ich hoffe sehr, Herr Bürgermeister, dass Sie den gewaltsamen Tod eines Rats- und Grubenherrn als wichtig genug für die Störung erachten …«

Er hatte die Botschaft mit ungewollter Theatralik und einer unbeabsichtigten Süffisanz verlauten lassen. Im Grunde mochte er Weidemann, auch wenn dieser eine Unnahbarkeit an den Tag legte, die auf viele abschätzig wirkte. Seit März war er im Amt, hatte erst Dienstag nach Reminescere auf die Privilegien geschworen und dirigierte den Rat doch bereits spürbar in eine neue Richtung. Er war einer der Vollmächtigen, die Luthers Forderungen unterstützten, gab in Sonderheit der Gemeine größeren Raum für ihre Interessen. Schon zwei Ratsherren hatten aus Protest gegen Weidemanns Kurs ihr Amt niedergelegt. Einer war gar mit seiner Familie aus der Stadt fortgezogen. Doch gerade jetzt, wo der papst- und kaisertreue Herzog vor der Stadt lag, der es seinen Herren gleichtat und Luther hasste wie die Pest, wäre Goslar mit jedem anderen als Weidemann verloren gewesen.

Auch der zweite Bürgermeister, Joachim Wegener, der nun in der Tür erschien, um zu sehen, was es gab, war von diesem Schlag. Wie ein Gegenbild zum volleren, kernigen Weidemann wirkte Wegeners sehnige, dürre Gestalt. Er sah wohl auf den ersten Blick schwach und zerbrechlich aus, doch nun spannten sich seine Muskeln sichtlich.

Weidemann machte große Augen: »Was, Herr Reddig? Wer ist tot?«

Der erste Bürgermeister wirkte gereizt. Die Sitzung verlief wohl nicht so, wie gedacht. Es ging um die abtrünnigen Gewerken der Grube des Stifts Neuwerk – um dies zu erraten, brauchte Reddig keine große Hilfe.

»Sebastian Walberg wird wohl den Ratssitzungen dauerhaft fernbleiben …«

»Walberg?«, fragte Wegener entgeistert dazwischen. »Sprecht nicht in Rätseln!«

Reddig machte eine wirkungsvolle Pause, bevor er verkündete: »Der Bergmeister vom Neuwerk-Schacht fand ihn bei Sonnenaufgang tot, mit einem Pfeil im Leib, nicht weit vom Wachturm droben. Mit der schnellen Glocke kam die Botschaft. Ein Bote des herzoglichen Bergrichters Schmidt übermittelte dessen Begehr, es möge einer kommen, den Leichnam abzuholen.« Weidemann verneinte gestisch und sagte doch gleichzeitig:

»Ja!«

Man sah, dass es in ihm arbeitete. Kaltblütig und mit einer Gefasstheit, die Reddig nur bewundern konnte, erklärte er: »Bevor dies geschieht, sollte jemand aufs Göpelplateau zum Wachturm hinauf, um zu sehen, ob man noch Indikationen findet, die auf den Mörder hindeuten.«

»Ich bin ganz Eurer Ansicht«, pflichtete Wegener seinem Ratskollegen bei. »Kommt doch einmal mit in unsere gute Stube, Herr Reddig. Ich möchte, dass Ihr die Reaktionen der Herren beobachtet, wenn Herr Weidemann das bekannt gibt. Neid ist eine Todsünde und war schon für viele tödlich. Walberg hatte viele Neider. Versteht Ihr, was ich meine? Als Sohn Florian Walbergs war er schon von Natur aus reich … sozusagen. Doch er hat seine Zeit nicht vergeudet und sein Vermögen immer weiter vermehrt. Wie tragisch, dass er keine Erben hat. Jetzt erbt wohl der Rat, an den herrenloses Vermögen verfällt …«

Reddig betrat hinter den beiden Bürgermeistern den grottenartigen, bunt bemalten Raum. Die Obersten der Stadt saßen unter vielen modisch gekleideten Kaisern, Sibyllen sowie der Leidensgeschichte Jesu und hatten offensichtlich diejenigen unter ihnen, die mit dem Herzog paktierten, bislang vergeblich zur Vernunft bringen wollen. Die übel verbrauchte Luft im Raum hätte man schneiden können. Reddig bemerkte Hermann Marquard, den Kämmerer sowie den zweiten Syndikus Doktor Kurt Mechtshausen. Auch sah er schließlich noch Henning Cabbus, den Worthalter der Gemeine – des weitaus größeren Rates jener Normalbürger, die weder zu den Grubenbesitzern, zunftpflichtigen Handwerkern, Kaufleuten oder Krämern zählten, die aber in Gottes Namen auch irgendwie im Rat vertreten sein mussten, damit sie keinen Aufstand machten.

Walbergs drei Mitgewerken von der Grube Neuwerk hatten sich in den voraufgegangenen Disputen verteidigt, so gut sie konnten. Aber gegen die Verachtung der anderen kamen sie nicht an. Alle in diesem Raum lebten mehr oder minder vom Bergbau, und kaum einer war bestrebt gewesen, für schlechte Zeiten andere Einnahmequellen zu erschließen. Jetzt war der Ausnahmezustand da, und niemand wollte es hinnehmen, dass sich ein paar abseits stellten und mit dem Herzog auf schlechte Geschäfte einließen, während die Mehrheit zusetzen musste.

Weidemann rief: »Walberg ist tot! Es steckt ihm ein Pfeil im Leib!«

Einige der Herren sprangen auf.

»Was? Wie das? Herr im Himmel! Gott sei bei uns! Jesses!« Für den Moment war alles vergessen, worüber sie noch eben debattiert hatten. In den Köpfen brodelte es. Was sollten sie mit dieser Botschaft anfangen? Der Stadtschreiber Reddig hatte sie überbracht. Was hatte denn der jetzt hier verloren, wo man kein Protokoll haben wollte? War das nun der Anfang vom Ende? Hatte der Herzog vor, sie alle, nacheinander, von Scharfschützen ermorden zu lassen, um die Stadt zu übernehmen? Hirnrissiges schoss ihnen durch die Köpfe. Erst Weidemanns dunkle Stimme, jetzt unnatürlich gefasst – so, wie man es von einem ersten Bürgermeister erwartete –, ernüchterte sie wieder.

»Herr Reddig berichtet, dass der dicke Berg-Schmidt verlangt, wir sollten flugs den Toten holen lassen, der oben bei den Werken liegt.«

Reddig hatte die Mienen der Anwesenden genau studiert. Walbergs Mitgewerken am Neuwerk, seine Miteigentümer und Kompagnons, hoben sich in ihrer Blässe deutlich von den Übrigen ab. Heinrich Wachsmut, Simon Raschen und Henning Heinze kamen ihm kreideweiß vor. Hatten sie Angst, die nächsten zu sein?

Reddig flüsterte Wegener seine Beobachtung zu. Derweil mischten sich weiter Entsetzensrufe und Äußerungen der Klage. Der schwere Johannes Barnabas Achtermann und der noch schwerere Zacharias Papen hatten die Köpfe zusammengesteckt.

Papen, krebsrot vor Aufregung, sprach laut: »Wir sollten uns nicht beifallen lassen, des Herzogs rechtliche Hoheit über den Rammelsberg dadurch anzuerkennen, dass wir schnurstracks dem Ansinnen eines dahergelaufenen, sogenannten Bergrichters willfahren! Ich schlage vor, dass sich eine Abordnung hinaufbegibt, um die Sache vor Ort zu untersuchen! Die Sechsmannen des Rates haben nach wie vor die Hoheit über alle Gerichtsdinge am Berg. Das müssen wir dartun und unter Beweis stellen!«

Der zweite Bürgermeister Wegener signalisierte Zustimmung. »Ich denke, dieser Antrag ist berechtigt: Wer ist dafür? Ich bitte um Handzeichen.«

Einstimmig wurde beschlossen, nach Papens Vorschlag zu verfahren.

Weidemann sagte: »Ich glaube, wir können auf eine aufwändige Wahl verzichten. Wer ist gewillt hinaufzufahren?«

Man einigte sich ohne große Umstände auf eine im Kern sechsköpfige Abordnung, zu welcher die Gewerken des Neuwerkes unwidersprochen hinzutraten – Sebastian Walberg war nun einmal ihr Kompagnon gewesen.

Weidemann sagte zu Reddig, dessen Aufgabenkreis umstandslos auf den eines Ratsdieners erweiternd, weil Baer nicht da und Eile geboten war: »Schickt zu Damian Baader, dem Stadtchirurgen, damit er uns begleitet. Es muss einer dabei sein, der das Funktionieren des Organismus besser versteht als wir. Und es ist nötig, dass auch Ihr mit hinauffahrt. Kurt Mechtshausen muss ebenfalls mit, weil in diesem Casus heikle Bergrechtsfragen berührt sind. Falls der Bergrichter eine Lügengeschichte aus unserem Auftauchen macht, soll es in Esslingen eine angemessene Erwiderung geben. Lasst am besten also den Prozessionswagen anschirren, damit alle Platz haben.«

»Mit Verlaub, Herr Weidemann«, wandte Reddig ein, »der Prozessionswagen ist für die steile Fahrt über die Erzabfuhr viel zu schwer. Wir bräuchten mindestens zwölf Pferde … Zwei von den großen, flachen Höhlenwagen mit Pritschen und Planen wären wohl eher geeignet.«

»So nehmt denn in Gottes Namen zwei Planwagen! Aber legt Polster auf die Pritschen und tragt Sorge, dass nur alles schnell geschieht!«

Die Bestie im Turm

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