Читать книгу Im Wasser sind wir schwerelos - Tomasz Jedrowski - Страница 5
Prolog
ОглавлениеIch weiß nicht, wovon ich heute Nacht wach wurde. Nicht vom Ast der Kastanie, der gegen mein Fenster schlug, und auch nicht von Pani Koleckas Husten im Zimmer nebenan. Nicht mehr. Vielleicht waren es die Geister dieser Geräusche, aufgewirbelt vom Wind und über den Ozean getragen, um an mein Bewusstsein zu klopfen. Vielleicht. Sicher weiß ich nur: Mein Körper ist ausgelaugt wie ein fremdes Land nach einem Krieg. Und dennoch kann ich nicht mehr einschlafen.
Ich denke an dich. An das Gesicht, das mein Gedächtnis heraufbeschwören kann, mit seinen groben Konturen und zarten Details, mit den graublauen Augen, derselben Farbe wie die Ostsee im Winter. Ich denke an dein Gesicht, während ich aufstehe und in der Dunkelheit vom Bett zum Fenster gehe, die auf dem Boden herumliegenden Kleider wie unfertige Gedanken. Dann fällt mir der gestrige Abend ein, und ein eiskalter Schauer lässt mich wie angewurzelt innehalten. Das Radio lief, eine Musiksendung wie jeden Tag nach der Arbeit: Irgendetwas Leichtes wurde gespielt, ich erinnere mich nicht mehr, was. Ich stand in der Küche und suchte nach dem Kaffee, als die Musik aufhörte.
»Wir unterbrechen die Sendung wegen einer Sondermeldung«, sagte die Moderatorin mit ihrer schönen, weichen Stimme. »Heute Morgen, am dreizehnten Dezember, wurde über die Volksrepublik Polen das Kriegsrecht verhängt. Es folgt wochenlangen Streiks und Unruhen seitens Demonstranten, die Demokratie fordern, und dem kometenhaften Aufstieg der ersten unabhängigen Gewerkschaft Solidarność.« (falsch ausgesprochen) »In einer vom Fernsehen übertragenen Ansprache kündigte die Regierung eine Reihe drastischer Maßnahmen an: Schulen und Universitäten wurden geschlossen, ebenso die Landesgrenzen, für die Bevölkerung wurden Ausgangssperren verhängt. Wir halten Sie über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden.«
Die Musik setzte wieder ein.
Ich kann dir nicht annähernd sagen, wie mir in diesem Moment zumute war. Es war die reinste Form von Lähmung. Vermutlich hat mein Körper abgeschaltet, bevor mein Verstand reagieren konnte. Keine Ahnung, wie ich ins Bett kam.
Ich zünde mir eine Zigarette am Fenster an. Die Straße draußen ist leer, der nächtliche Regen schimmert auf dem Asphalt und spiegelt die zweistöckigen Häuser und flackernden Neonreklamen. »24 hours«, verspricht der Hamburger-Laden ein Stück weiter unten. »Wanda’s Greenpoint Convenience«, flüstert rot-weiß ein anderes Schild. In der Ferne heulen Polizeisirenen. Bizarrerweise klingen sie genauso wie zu Hause. Sobald ich eine höre, richten sich die Haare auf meinem Unterarm auf. Die Sirenen erinnern mich an die Nacht, als derselbe schrille Ton die Luft einer weit entfernten Stadt zerriss. Bevor diese Stadt ein Schemen wurde, ein kurzes Thema in den Nachrichten. Bevor die Einsamkeit mich umhüllte wie nachtblauer Teer.
Ich weiß nicht, ob ich möchte, dass du all das irgendwann liest, aber ich weiß, dass ich es aufschreiben muss. Weil du schon zu lange in meinen Gedanken bist. Seit jenem Tag vor zwölf Monaten, als ich in ein Flugzeug stieg und durch die dicken Wolkenschichten über den Ozean flog. Ein Jahr, seitdem ich dich gesehen habe, ein Jahr, das sich angefühlt hat wie die Vorhölle – ein Jahr, in dem ich mich selbst belogen habe. Und jetzt, da ich hier in der schrecklichen Sicherheit Amerikas festsitze, während unser Land auseinanderfällt, bin ich es leid, mir weiterhin vorzumachen, ich hätte dich aus meinen Gedanken gelöscht. Manche Dinge lassen sich nicht durch Schweigen löschen. Manche Menschen haben große Macht über einen, ob man es nun will oder nicht. Das begreife ich jetzt allmählich. An manchen Menschen, manchen Ereignissen verzweifelt man. Sie sind wie Guillotinen, die das Leben zweiteilen, in das Tote und das Lebendige, das Davor und das Danach.
Am besten beginne ich mit dem Anfang – oder zumindest mit dem, was ich dafür halte. Inzwischen ist mir klar, dass wir nie viel über unsere Vergangenheit gesprochen haben. Vielleicht hätte das manches geändert, vielleicht hätten wir uns dann besser verstanden, und alles wäre anders gekommen. Wer weiß das schon? Wie dem auch sei, wahrscheinlich habe ich dir nie von Beniek erzählt. Er kam ein Jahrzehnt vor dir. Ich war neun, genau wie er.