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DIE JAPANISCHEN ANGELEGENHEITEN EINES TOTEN GENTLEMANS SELINA HARITZ
ОглавлениеWinsten Colten war ein Gentleman, wie er im Buche stand. Er war stets akkurat gekleidet, Einstecktuch und Taschenuhr in der Weste, das Hemd sorgfältig geplättet und gesteift, der Bart mit Öl gepflegt und frisch gestutzt und selbst die Schuhe frei von Staub.
Sein Gesicht war friedlich. Ich hoffte, dieser Gesichtsausdruck zeugte davon, dass er sich über seinen Tod nicht allzu gegrämt hatte. Das Blut aus der Schusswunde in der Brust würde man aus dem Gehrock nicht mehr entfernen können. Ich sah zu, wie Mister Atkins, meinen – nun ehemaligen – Gast mit einem Helfer zusammen auf die Trage hob. Ich trat zu ihm hin und schloss mit zittrigen Fingern sein Jackett. Selbst die mit dem Union Jack versehenen silbernen Knöpfe waren blank poliert.
»Hatte er sonst noch etwas bei sich, Miss?«, fragte Atkins, als spräche er zu einer trauernden Witwe. »Nein«, antwortete ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Erst, als die Tür hinter den beiden Totengräbern und ihrer schweren Last zufiel, erinnerte ich mich wieder an den braunen Lederkoffer, den Mister Colten zu Beginn unseres Treffens neben der Chaiselongue abgestellt hatte. Wie eine Katze schlich ich um ihn herum, ehe ich mir ein Herz fasste und ihn auf den Schreibtisch hob.
Es klopfte und ehe ich den Zutritt verweigern konnte, war die Türe schon geöffnet und Anne, eines meiner Mädchen, stand im Zimmer. Ich ersparte ihr die Ansprache zum Thema ›Was wäre, wenn ich gerade einen Kunden gehabt hätte‹ und sah sie stattdessen nur stumm an. Der Tod von Mister Colten saß mir noch immer in den Knochen. Sie stellte ein Tablett mit einem Glas und einer Flasche Whiskey vor mir auf den Tisch. Ich betrachtete die zarten Finger, die mir kurz darauf fürsorglich über die Wange strichen: »Soll ich jemanden für Sie rufen, Miss?«
»Ein guter Gedanke! Anne, such doch bitte Mister Morrison und frag ihn, ob er Zeit für mich erübrigen kann.« Ich sah ihre Verwunderung in den großen blauen Augen, sagte aber nichts weiter dazu. »Sicher. Sonst noch etwas, Miss?«
»Nein.« Sie lächelte aufmunternd und mir entging, dass sie den Raum verließ, da ich den Koffer anstarrte. Ich trank entschlossen einen Schluck Whiskey, und als er meine Kehle hinab brannte, öffnete ich das Gepäckstück.
Eine Stunde später saß George-Harker Morrison mir am Schreibtisch gegenüber. Er war bei weitem kein Gentleman wie Mister Colten, doch ich musste ihm zugutehalten, dass er im Gegensatz zu meinem treuen Kunden nicht in diesem Zimmer erschossen worden war. Ich wusste, dass Morrison seinen Revolver, der lässig im Holster steckte, gut beherrschte und auch nicht zögerte, davon Gebrauch zu machen, wo andere es vielleicht noch mit Worten versuchten. Er roch nach Tabak und Lagerfeuer, Whiskey und Pferd. Der Stetson ragte ihm tief in das bartstoppelige Gesicht; die Grundform eines Moustaches ließ sich gerade noch erahnen.
Ich holte die silberne, etwa vierzig Zentimeter hohe goldene Statue aus dem Koffer heraus. Sie bestand aus zwei Tieren. Ein stolzer Kranich, der mit langen Beinen auf dem Rücken einer Schildkröte stand, welche jedoch den Kopf und die Beine eines Drachen hatte. Ich gab sie Morrison, der sie vorsichtig in den Händen hin- und her drehte. »Ein Räuchergefäß«, fasste er seine Gedanken zusammen und strich mit den Finger über die metallenen Federn des Vogels. Er klappte den Flügel des Kranichs beiseite und zeigte mir eine kleine Kammer, in der das Rauchwerk gelegt werden konnte. Ich vermutete, dass der Rauch aus dem Schnabel herausqualmen würde. Mich erwartungsvoll anblickend, stellte er die Statue wieder auf den Tisch und rückte seine Weste zurecht. Ich erzählte ihm, was sich in meinem Zimmer zugetragen hatte:
Es war gegen halb vier, ich half gerade Mary, das Parfüm für den Abend auszusuchen, als es unten im Saloon laut wurde. Zunächst wartete ich ab, ob es sich nur um eine der üblichen Streitereien der Männer handelte, oder um eine Angelegenheit von größerem Ernst. Als dann das erste Glas splitterte, ging ich entschlossen die Treppe herunter. Ein Cowboy drückte den armen Mister Colten dergestalt auf den Tresen, dass lediglich seine Fußspitzen noch den Boden berührten. Der Barmann, Mister Irwing, räumte Flaschen aus dem Weg, anstatt einzugreifen. Ich beschloss, darüber später mit ihm zu reden. Die anderen Gäste beobachteten das Geschehen mit gesteigertem Interesse, niemand jedoch rührte sich. »Aber meine Herren«, ergriff ich das Wort und trat weiter auf sie zu: »Ist das denn wirklich notwendig?« Einige der Gäste lüfteten ihre Hüte, als ich an ihnen vorüberging.
Mister Slater – jetzt, wo er sich zu mir umdrehte, erkannte ich ihn – stellte sein Opfer auf die Füße und hob ebenfalls seinen Hut: »Entschuldigung, Miss.« Er rüttelte etwas an Mister Coltens Weste, um sie wieder notdürftig in Form zu bringen. »Mit uns sind die Pferde durchgegangen.« Ich sah Coltens bleiches Gesicht und war mir sicher, dass mehr hinter der Angelegenheit steckte. »Nachdem das geklärt ist …« Ich beendete den Satz nicht, sondern rechnete anhand der Scherben meinen Verlust zusammen. Die letzten Monate lief es nicht allzu gut und jede Schlägerei riss ein weiteres Loch in meine sowieso schon leere Geldkassette. Mehr als zwei Gläser und verschütteten billigen Whiskey hatte es jedoch nicht gekostet. Also lächelte ich und hakte mich bei Slater unter. Er roch unangenehm schwitzig. »Aber abgesehen von dieser Lappalie eben: Es freut mich, Sie nach so langer Abwesenheit wieder hier zu haben! Wie war die Reise? Sie waren schon etwas weiter fort, oder?« Mit einem Augenaufschlag dirigierte ich Mister Colten nach oben in mein Zimmer, während ich mir und Slater ein Glas Port einschenkte.
Der Westmann trank das Glas in einem Zug leer. »Netter Versuch, mich abzulenken, Miss«, grinste er breit und legte seinen Arm um meine Taille. Er drückte mich an sich; nicht so, dass es unangenehm war, aber doch so, dass ich die unausgesprochene Warnung verstand. »Ich werde hier unten auf ihn warten, keine Sorge.« Damit entließ er mich, gab mir – zu meiner Empörung – einen Klaps auf den Po und bestellte sich noch ein weiteres Glas Port.
Kaum war ich zurück im Zimmer – mein Gast saß kerzengerade auf der Chaiselongue, die Melone in den Händen – platzte es aus mir heraus: »Mein lieber Mister Colten, was haben Sie denn mit diesem Verbrecher zu schaffen?«
»Ach, Miss …«, seufzte er, knetete seinen Hut und sah betrübt zu mir auf. »Ich befinde mich in einer prekären Lage, aber das ist Ihnen sicherlich nicht entgangen.« Erst jetzt fiel mir auf, dass er einen Koffer neben sich stehen hatte; so nah, als wollte er ihn beschützen. Ich setzte mich ihm gegenüber und schlug ein Bein über das andere. Mir war nicht daran gelegen, ihn zu verführen. Mister Colten war noch nie zu mir gekommen, um mit mir zu schlafen. Stattdessen redeten wir viel. Wir diskutierten das Zeitgeschehen, Neuigkeiten aus der alten Welt, Nachrichten aus der neuen. Er wusste stets, wie der aktuelle Goldpreis stand, wo vor Kurzem lukrative Minen eröffnet wurden, oder wo es ein Unglück gegeben hatte. Wir sprachen nie über seine Arbeit – umso mehr erstaunte es mich, dass er diesmal sogleich damit anfing. »Mein Arbeitgeber Hendrix & Garns schickte mich kürzlich zu einer Mine nahe Oath Hallow. Dort angekommen, berichteten mir die Arbeiter über seltsame Ereignisse und Spukgeschichten, die ich es selbst nicht glauben konnte. Ich beschloss, diesen Spuk und seinen Wahrheitsgehalt gründlich zu prüfen, denn bisher hat sich wohl noch jede Spukgeschichte als wissenschaftlich erklärbar erwiesen, wenn man sie nur gründlich erforschte.« Er tippte zur Bestätigung mit seinem Zeigefinger auf die Holzplatte des Tisches und sank dann nach hinten zusammen, um sich erschöpft anlehnen zu können. »Der Vorsteher der Mine, entschuldigt die Wortwahl, Miss, ein schmieriger Typ versuchte mich von meinem Vorhaben abzuhalten. Doch ich wischte die Warnungen beiseite. Ach, Miss …« Er lehnte sich wieder nach vorne und sah mich kummervoll an. »Hätte ich nur auf ihn gehört und mich nicht aufgespielt, um den Männern zu zeigen, was durch einfaches logisches Denken herauszufinden sei.«
Ich beendete meine Erzählung und schenkte mir selbst noch Whiskey nach. Dann sah ich Morrison an: »Er kam nicht dazu, mir zu erklären, was er herausfand, oder wie diese Geschichte endete.« Ich nickte in Richtung des notdürftig geflickten Fensters und dann zu dem Blutfleck auf dem Boden. Verzweiflung überkam mich. Der Gesichtsausdruck von Colten, Augenblicke vor seinem Tod. Als täte es ihm Leid, mich in diese Angelegenheit hineinzuziehen. Außerdem ging mir durch den Kopf, dass ich nicht wusste, wann ich genug Gewinn erwirtschaftet haben würde, um das Fenster ersetzen zu lassen – geschweige denn wie ich den Ruf wieder loswerden sollte, mein Geschäft sei nicht sicher. Ich erstickte die Tränen mit einem weiteren Schluck und fuhr fort: »Ich weiß, dass Slater während des Mordes unten im Saloon saß und auch mit niemandem gesprochen hatte, der in seinem Auftrag …« Ich brach ab und kippte den Rest des Getränks meine Kehle herunter. »Alles, was ich habe, ist der Inhalt des Koffers. Der mir mehr Rätsel aufgibt, als er löst. Und das unbestimmte Gefühl, dass die Jameston-Brüder darin verwickelt sind.« Diese Haderlumpen hatten bei den allermeisten krummen Geschäften der Town ihre Finger im Spiel – in dem anderen Teil war es Morrison. »Ich benötige Begleitung für eine Reise«, sprach ich schließlich zögerlich, mir noch immer nicht sicher, wem ich derzeit trauen durfte. Morrison sah mich kurz an, nickte und hob sein Glas zu einem Toast. »Ich möchte morgen früh aufbrechen«, ergänzte ich. Wieder nickte er, stieß mit mir auf das besiegelte Geschäft an und trank das Glas in einem Zug leer.
Es war mitten in der Nacht, als mich jemand an der Schulter berührte und mir sogleich mit einer großen Hand den Mund zuhielt. Ich roch den alkohol- und tabakgeschwängerten Atem von Morrison direkt über mir. Vor Schreck und Empörung war ich nicht dazu fähig, zu schreien und stattdessen jetzt hellwach. »Die Jamestons wollen Euch besuchen, Miss, besser wir brechen sofort auf«, erklärte er sein ungehöriges Eindringen und half mir aus dem Bett. Er schlich an mein Fenster, um durch den Spalt zwischen den Läden hindurch zu schielen, während ich mir Bluse und Hosenrock anzog. Vorsorglich hatte ich gestern bereits zwei Satteltaschen mit dem Nötigsten gepackt, was unseren Aufbruch wesentlich beschleunigte.
Wir schlichen durch den Hinterausgang nach draußen. Als Morrison mir auf mein Pferd half, knallte es plötzlich, als trat jemand eine verschlossene Tür ein. Ich stellte mir kurz die Frage, wie Morrison in mein Zimmer hineingekommen war. Aber: Details.
Wider Erwarten verließen wir die Stadt nicht im gestreckten Galopp, sondern langsam und leise. Erst als wir in der offenen Prärie angekommen waren, trieben wir unsere Pferde an. Der Gedanke, die Gebrüder Jameston im Nacken zu haben, weckte ungeahnte Kräfte in mir.
Zielsicher lenkte mein Beschützer uns zwischen ein paar Felsformationen, ehe er anhielt und abstieg. »Es ist zu dunkel«, beschied er und half mir von meinem treuen Gefährten herunter. Wenig später saß ich an einem kleinen Lagerfeuer. Morrison hielt mir auffordernd seine geöffnete Hand entgegen und erst, als ich meine hineinlegte, bemerkte ich ihr Zittern. »Die Jamestons sind ein faules Pack. Sie werden erst zum Tagesanbruch losreiten uns zu suchen; außerdem wissen sie nicht, wohin wir unterwegs sind.« Er strich sanft über meinen Handrücken und mir wurde bewusst, dass auch er es nicht wusste. Ich erklärte leise: »Ich möchte nach Desertbrook. Eine Freundin von mir lebt dort. Sie kennt sich mit allerlei seltsamen Dingen aus.« Er nickte: »Wir brechen mit der Dämmerung auf. Schlafen Sie etwas, Miss.« Er bettete meinen Kopf in seinem Schoß und fuhr mir durch die Haare.
Immer wenn ich wach wurde, sah ich ihn über mir sitzen, eine Pfeife zwischen den Lippen und die braunen Augen aufmerksam in die Umgebung gerichtet.
Am Morgen wurde ich vom Geräusch einer kleinen Kaffeemühle geweckt. Morrison hatte die Glut noch einmal zusammengeschoben und kochte in zwei Blechtassen Wasser. Eine Packung Arbuckle‘s Ariosa stand neben ihm. Kurz vor dem Siedepunkt schüttete er das Pulver hinein, wartete kurz und nahm die Tassen mit einer zügigen Bewegung aus der Glut. Anschließend goss er einen Schluck kaltes Wasser aus der Feldflasche nach, damit der Kaffee sich besser absetzte. Schweigend tranken wir und ich streckte mich ausgiebig, um die harte Nacht aus den Knochen zu vertreiben. Der Arbuckle weckte mich zunehmend auf; ein Kanten Brot beruhigte den Magen. Morrison verwischte die Spuren unseres Lagers so gut, dass ich glaube, nur ein Apache hätte noch herausfinden können, dass wir hier waren.
Wir ritten, bis die Sonne fast senkrecht auf uns herunterbrannte. Meine Haut, die sonst eher das Nachtleben und die geschlossenen Gebäude der Stadt zu schätzen wusste, färbte sich zunehmend rot. Wohingegen die meines Begleiters sich daran nicht zu stören schien. Wir hielten an und ich wollte mich gerade erschöpft aus dem Sattel fallen lassen, da schreckte Morrison herum und betrachtete mit abgeschirmten Augen den Horizont. Ich tat es ihm gleich, doch vermochte ich nichts zu entdecken. »Wir werden verfolgt«, kommentierte er lediglich und gab seinem Pferd die Sporen.
Ich war keine geübte Reiterin und so mussten wir nach anfänglicher Eile die Geschwindigkeit meinen Fähigkeiten anpassen. Umso mehr legte sich Morrison ins Zeug, es unseren Verfolgern so schwer wie möglich zu machen. Ich fing an mich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, den Jameston-Brüdern die Tasche von Mister Colten vorzuenthalten, denn nur darum konnte es gehen; jetzt wo der Gentleman tot war. Es war eine Dummheit, mich gegen sie zu stellen. Aber auch eine Sache der Ehre. Ich sah es als letzten Wunsch des Verstorbenen an, dass ich und nicht sie diese Statue besaßen. Außerdem nahm ich es noch immer persönlich, dass sie die Frechheit besessen hatten, einen meiner Gäste in meinem Geschäft zu erschießen.
Morrison trieb uns vorwärts und gestattete uns erst zur Abenddämmerung eine Rast. »Noch so ein Tag und ich gebe ihnen freiwillig dieses elende Räuchergefäß«, kommentierte ich die Entbehrungen; halb im Scherz, halb ernst. Er nickte knapp: »Erlauben Sie, Miss, dass ich uns einem kleinen Risiko aussetze, um die Verfolger aufzuhalten?« Er sah mich dabei nicht an, sondern beobachtete die Umgebung mit zusammengekniffenen Augen. »Bevor ich euch morgen vom Pferd falle, um Himmels Willen: Ja.«
Es war mitten in der Nacht, da hörte ich die Tiere unruhig schnauben. Ich widerstand dem Bedürfnis, mich nach Morrison umzusehen. Das Feuer brannte recht hoch und qualmte heftiger als gestern. Ich presste mich tief in meinen Mantel und versuchte gleichmäßig und leise zu atmen. Kaum hatte ich mich etwas beruhigt, hallte ein Schuss durch die Dunkelheit. Meine Ohren klingelten, so nah war er abgefeuert worden. Die Pferde bäumten sich auf; wieherten. Ich hielt mir den Mund zu, um nicht zu schreien und drückte mich tiefer in den Boden. Ein weiterer Schuss folgte. Ich sah Wolle aus der Decke von Morrison fliegen und im Feuer glühwürmchengleich verbrennen. Die Pferde zerrten an ihren Stricken. Schatten huschten an mir vorbei; ein weiterer Schuss peitschte durch die Nacht und wie ein Stein ging jemand, wohl nur fünf Fuß neben mir, zu Boden. Ich hielt mit zittrigen Fingern meinen kleinen Revolver bereit. Noch ein Schuss, ein Mann schrie auf, blieb aber stehen. Sie ergriffen die Flucht, direkt an mir vorbei. Ich fasste mir ein Herz und betätigte den Abzug. Ich weiß nicht, ob ich traf, denn kaum hatte sich die Patrone auf den Weg gemacht, kniff ich vor meiner eigenen Courage die Augen zusammen.
Die Falle war aufgegangen. Einer der Vier, Frank, der älteste der Brüder, lag tot vor uns im Staub. Ich erkannte ihn an seinem leicht untersetzen Bauch, dem zu kleinen Hut und der schlecht sitzenden Hose. Von den anderen fehlte, abgesehen von einer Blutlache, jede Spur.
Der Rest der Reise verlief, wenn auch in Eile, so doch ohne weitere Zwischenfälle. Wir ritten zum Abend in die Stadt hinein und ich hoffte, dass es Ellen nicht bereits wieder fortgetrieben hatte. Sie neigte dazu – ganz wie ihre Eltern – nicht lange an einem Ort zu verweilen.
Der Saloon von Miss Pinky begann sich zu füllen. Wir gingen, nachdem wir die Tiere vor der Tür angebunden hatten, hinein. Ich hörte das fröhliche, aber falsche Spiel eines HonkyTonk-Pianos aus der Ecke. Einige der müden Goldgräber sahen kurz zu mir und dem grimmig dreinblickenden Begleiter auf und widmeten sich dann schnell wieder ihrem dünnen Bier. Morrisson besaß diese Gabe, so auf Menschen einzuwirken, dass sich niemand traute, ihn länger anzusehen.
Er steuerte die Bar an und bestellte mit rauer Stimme zwei Bourbon. Obwohl der Barmann die Augen hob – es war schließlich nicht üblich, dass eine Dame Alkohol in einem Saloon trank – stellte er uns ohne zu fragen zwei Gläser hin. »Hopkins, seien Sie so gut und schütten Sie den Fusel weg, geben meinen lieben Gästen etwas von der anderen Flasche.«
»Miss Pinky!« Ich strahlte die Besitzerin des Saloons an und wir begrüßten uns herzlich, während Hopkins den Wünschen seiner Hausdame nachkam.
»Was führt Dich her, Liebes? Und wer ist der hübsche Kerl, der Dich begleitet?« Sie drückte mich und führte uns an einen Tisch abseits der üblichen Gäste. Schwer ließ ich mich auf den Stuhl fallen und bereute es sogleich. Jeder Muskel schmerzte. »Das ist George-Harker Morrison, ein alter Freund.« Der Vorgestellte nickte kurz und sah, anders als Männer das üblicherweise taten, Pinky nicht in ihr ausladendes Dekolleté, sondern in die Augen. »Sehr erfreut, sie kennenzulernen, Mister«, antwortete sie und reichte ihm die behandschuhte Hand. Er nahm sie, führte sie kurz, einen Diener machend, an die Lippen und ließ sie dann wieder los. Ich hatte Zeit, Pinkys ausgefallene Mode zu bewundern. Das Mieder saß eng und drückte den Busen dekorativ nach oben, die Röcke stellten ihre Hüften hervor, die Spitze umspielte die blasse Haut. Selbst der Hut mit seinen violetten Federn passte perfekt.
»Wie also kann ich euch helfen, außer natürlich mit einem guten Schluck und einem weichen Bett für die Nacht?« Ich lächelte dankbar. »Oh, ein weiches Bett, das wäre fantastisch!«
»Das sollt ihr haben und ein warmes Bad noch dazu. Wie geht es dem Geschäft?« Ich seufzte: »Ehrlich gesagt, schlecht. Wenn es so weiter geht muss ich die ersten Mädchen entlassen.« Ich mied Morrisons Blick. Ich hatte es ihm bisher nicht erzählt, noch es groß in der Town herumgetrascht. Ich straffte stattdessen die Schultern: »Aber deswegen sind wir nicht hier. Ist Ellen noch bei Dir?«
»Ja, das ist sie, es ist ihr noch nicht warm genug für die Reise. Sie hat die kleine Wohnung unter dem Dach bezogen.« Die Schwingtür öffnete sich und ein paar Goldgräbern kamen lachend und prahlend herein. »Pinky, ich habe Geld gemacht«, dröhnte einer von ihnen. »Schwing deinen hübschen Hintern herüber und lass es mich zwischen deinen Brüsten ausgeben!« Der Sprecher stand mitten im Raum und mein geschulter Blick sagte mir, dass er einen Teil des Geldes bereits im Store für den einen oder anderen Schluck ausgegeben hatte. Wir Frauen nickten uns wissend zu. Pinky rollte kurz die Augen, setzte dann aber ein strahlendes Lächeln auf und verabschiedete sich von uns mit einem Nicken. »Mister Flynn!«, sprach sie den Mann an, hakte sich bei ihm ein und ging, um dem Mann bei seinem Problem behilflich zu sein.
Wir hingegen stiegen, durch den Tumult unbeachtet, die Treppen hinauf bis zum Dach. Ich klopfte an der Tür und wartete auf das ›Herein‹. Es roch nach Kräutern, die in Sträußen unter dem Dachstuhl trockneten. Ellen saß in einem Schaukelstuhl am Fenster, eine grob gestrickte Decke über ihren Beinen und beobachtete die Straße. »Guten Abend. Ich hoffe, wir stören nicht?« Die Angesprochene hob ihren Blick und verneinte mit einer kleinen Bewegung ihres Kopfes. »Was kann die alte Ellen für dich tun, Liebes?« Sie reichte mir zur Begrüßung beide Hände und drückte sie fest. Morrison hob seinen Hut ab und blieb in der Türe stehen.
»Ich habe etwas … geerbt und wollte fragen, ob du mir helfen kannst, es zuzuordnen. Ein Mann wurde deswegen getötet und andere jagen mich nun.«
»Ein Mann …?«, fragte Ellen mit zusammengezogenen Augenbrauen. Trotz ihres Alters war sie noch immer von schnellem Verstand. »Ein Kunde, ja, aber einer, den ich als Freund bezeichne; ein Gentleman noch dazu. Er wurde in meinem Zimmer erschossen«, fügte ich zur Erklärung und Verteidigung an. Zwar lebte Ellen über einem Bordell, aber sie hieß es dennoch nicht gut, dass ich diesem Beruf nachging. »Dann zeig mir mal, was so wertvoll ist, dass dafür getötet wurde.« Ich holte das Räuchergefäß hervor und reichte es ihr in die von Wetter und Alter geprägten Hände.
Sie betrachtete es eine Weile: »Ich schätze, es stammt aus Japan. Der Kranich, oder auch ›Tsuru‹, wie die Japaner sagen, steht auf einer Schildkröte: ›Kame‹. Beides Symbole für langes Leben. Nach einem japanischen Sprichwort lebt der Kranich ein Jahrtausend, die Schildkröte sogar zehn Jahrtausende.« Ich verzog meine Lippen; ›langes Leben‹ hatte diese Statue Mister Colten offensichtlich nicht beschert. »Sie ist», fuhr Ellen fort, »hier im Westen eine Rarität. Aber ich wüsste nicht, warum deswegen jemand derart …« Sie unterbrach sich und betrachtete die filigrane Statue eine Weile mit zusammengekniffenen Augen. Plötzlich fasste sie beherzt an den Kranich und drehte ihn, die Schildkröte festhaltend, gegen den Uhrzeigersinn. Ehe ich erschrocken ausrufen konnte, sah ich, dass die beiden Teile sich voneinander lösten. Fünf weitere Umdrehungen später hatte Ellen den Kranich von seinen Beinen getrennt und zeigte mir den unteren Teil. Er bestand neben der Schildkröte aus zwei hohlen Beinröhren. In der einen Röhre steckte ein gerolltes Papier. Gemeinsam fischten wir es heraus und entrollten es auf dem Tisch.
Ich sog überrascht die Luft ein, als ich eine Ansammlung von japanischen Schriftzeichen sah, die sich um eine kleine, einfache Karte schmiegten. Ellen erhob sich, für ihr Alter erstaunlich geschwind. Sie legte die Decke von ihren Knien über die Stuhllehne und holte ein Vergrößerungsglas aus einem fein verzierten Kästchen. Stehend und im Dämmerlicht, das durch das Fenster hereinkam, betrachtete sie die Schriftzeichen. Morrison hatte sich derweil kaum bewegt. Aufmerksam beobachtete er uns und lauschte auf den immer mehr zunehmenden Lärm, der aus dem Saloon zu uns heraufkam. »Mister«, sprach Ellen ihn unvermittelt an: »Wollen Sie uns wohl unten einen Tee besorgen?« Sie deutete auf die Blechkanne, die auf dem Tisch stand. Der Angesprochene sah zu mir hinüber, und als ich mit den Schultern zuckte, nahm er schweigend die Kanne und verließ uns. Ellen wartete, bis seine Schritte leiser wurden und flüsterte dann: »Traust Du ihm?« Ich ertappte mich dabei, wie ich mir nachdenklich durch die Haare fuhr: »Was den Schutz meines Lebens angeht: unbedingt. Warum? Was steht auf der Schriftrolle?«
»Es ist eine Beschreibung zu einer bestimmten Stelle in einer Mine.« Ellen legte das Pergament in meine Hände. »Damit könntest du vielleicht dir und deinen Mädchen einen ruhigen Lebensabend kaufen, wenn du willst. Oder du kaufst dir dein Leben damit von diesen Jameston-Brüdern frei.«
»Auf keinen Fall!«, fügte ich viel lauter an, als ich es beabsichtigt hatte: »Diese Geier, die sich auf jeden stürzen, der Schwäche zeigt und selbst den Armen noch ihr Brot stehlen. Nein!«
Es klopfte und ich verstummte; wer auch immer dort stand, hatte sicherlich meinen letzten Ausruf gehört. Morrison trat ein und stellte die Kanne auf den Tisch: »Die Jamestons sind in der Stadt.« Ich wurde bleich, hatten wir doch die Pferde direkt vor dem Saloon angebunden. »Gerade sind sie noch beim Arzt.« Dann schwieg er und ich hätte fast ›Was tun wir jetzt?‹ gefragt, doch dann fiel mir ein, dass ich die Auftraggeberin war und er noch dazu nicht wusste, wohin wir wollten. Himmel, nicht einmal ich hatte eine Ahnung. Ellen stand zügig auf. »Ich ziehe mich rasch um und wir reiten los, wenn die Minenarbeiter zuhauf in die Stadt und den Saloon strömen.« Sie wandte sich zu einem Schrank und öffnete ihn. Morrison drehte sich und verließ den Raum, während Ellen zu meiner Überraschung ihr Kleid über den Kopf streifte und sich ein ledernes Fransenhemd mit dazu passender Hose anzog, wie es die Trapper zu tragen pflegten. Dann schlüpfte sie in zwei bequeme Mokassins, zog einen gepackten Rucksack unter dem Bett hervor und lächelte mich an. Sie war wie ausgewechselt.
Wenn es Morrison irritierte, dass Ellen plötzlich eher wie ein Mann aussah, denn eine Dame, so zeigte er es nicht. Er nahm ihr, wie selbstverständlich, die Tasche ab und wir gingen die Treppe herunter. Kurze Zeit später winkte er und wir folgten ihm, als ein Schwung Minenarbeiter in den Saloon hineinkam. Als die Postkutsche draußen vorfuhr, verließen wir das Etablissement. Ellen holte ein Pferd aus dem Stall, das mir den Atem verschlug. Es war ein prächtiges Appaloosa mit bezaubernden Flecken im Fell und einem edlen Gebaren. Seine Augen waren groß und wach, seine Nasenlinie außergewöhnlich gerade. Ellen schwang sich so gekonnt auf den muskulösen Rücken, dass es meine Schätzung über ihr Alter Lügen strafte. Ich hatte mich von den grauen Strähnen in ihrem Haar in die Irre führen lassen.
»So, Ladys«, wandte sich Morrison an uns, als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten. Er zügelte sein Pferd und sah uns auffordernd an. Ich erzählte ihm von unserem Plan. »Wir teilen durch drei«, beendete ich die kleine Rede. Irgendwie fühlte es sich merkwürdig an, mit George so zu verhandeln, als seien wir Fremde. Er brachte sein Pferd näher an meines. Ich konnte seine Mimik nicht deuten. Statt zu antworten, nahm er meine Hand, führte sie an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. Das Geschäft war besiegelt.
Es ging weiter. Ich kam nicht umhin, die geschmeidigen Bewegungen Ellens zu bewundern. Sie glitt mit ihrem Tier eher über den Boden, wo mich jede Unebenheit auf und ab warf. Ich war Ritte in anderen Positionen gewohnt.
»Die Brüder werden uns dicht auf den Fersen sein«, mutmaßte Ellen. »Mister Morrison, kennen sie die Anhöhe, wo der Tadpole Creek in den Wyig River fließt?« Der Angesprochene nickte und Ellen ergänzte: »Ich werde die Brüder in die Irre führen und wir treffen uns dort morgen Abend, in Ordnung?«
Wir blieben noch eine Weile beisammen, bis wir einen Fluss erreichten. Morrison lenkte unsere Tiere hinein und gegen die Strömung an. Ellen hingegen durchquerte den Fluss, ließ ihr Pferd noch einmal aufsteigen, damit es viel Erde aufwühlte, und galoppierte dann mit großen Sprüngen gen Osten. Ich sah ihr nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden war. Sie konnte mit Sicherheit auf sich aufpassen. Das konnte sie immer.
An einer steinigen Stelle verließen wir das Wasser und wandten uns ebenfalls nach Osten. Wir ritten bis zur Dämmerung und schlugen unser Lager in einer Senke auf. Wir hatten ein paar Scheite Holz auf dem Weg aufgelesen, nun brannte ein kleines Feuer gegen die nächtliche Kälte. Morrison röstete in einer gusseisernen Pfanne etwas Bacon mit Zwiebelringen und gab eine Dose Bohnen dazu. Es roch verführerisch und schmeckte fantastisch.
Das angenehme an meinem Begleiter war, dass er nicht dazu neigte, zu quasseln. Andererseits war es für mich eine unangenehme Stille. War ich doch die Geräuschkulisse des Saloons gewohnt, die Pianomusik, die grölenden Betrunkenen, die melancholischen Träumer an der Theke, die Kartenspieler und Halbstarken. Hier war das Schnauben unserer Pferde die einzige Abwechslung.
Ein leichtes Knirschen von Kieseln und leise gesetzten Sohlen, dann die Bewegung von Lederzeug und das Aufklappen von Satteltaschen weckten mich. Vermutete ich zunächst, dass Morrison sich etwas leise aus seiner Tasche nahm, so wurde ich eines besseren belehrt, als ich seinen typischen Tabakgeruch sehr deutlich riechen konnte. Es musste meine Tasche sein, an der er sich zu schaffen machte. Ich war entsetzt! Ich stellte mich schlafend, deutete aber durch ein paar kürzere Atemzüge und eine Drehung an, dass ich wacher geworden war. Tatsächlich erklangen kurz erneut Geräusche bei meiner Tasche, dann entfernten sich Schritte.
Ein Schuss. Ich hörte den Aufschrei eines Mannes und sprang auf, meine kleine Pistole gezückt. Eine Gestalt taumelte auf mich zu, wurde von einem weiteren Schuss zurückgeschlagen und sank mit einem Krächzen zu Boden. Phillip, der mittlere der Jameston-Brüder lag ausgestreckt auf dem Boden, eine große Wunden in seinem Brustkorb. Er starrte ungläubig auf den Kranich in seinen Händen und dann auf das Blut. »Noch zwei», kommentierte mein Beschützer knapp und wand dem Sterbenden das Räuchergefäß aus der Hand. Er wischte es mit seinem Taschentuch sauber. »Dieser vermaledeite Kranich!», entfuhr es mir. »Langsam glaube ich doch, dass der Fluch auf ihm liegt.« Morrision hob seinen Kopf ein wenig und musterte mich, während er mir den nun sauberen Vogel unbeirrt zurückgab. Ich schluckte. Philip war gar kein so übler Bursche gewesen. Er wusste sich gut zu kleiden, wusch sich regelmäßig und für gewöhnlich benahm er sich respektvoll mir und meinen Mädchen gegenüber.
Ich unterbrach meine Gedanken und betrachtete die Statue in meiner Hand mit einer gewissen Skepsis. Könnte es möglich sein? War sie die Ursache für all das? Ich verpackte sie mit einem mulmigen Gefühl. Es musste ja einen Grund für die Unfälle in der Mine und die ganzen Toten der letzten Tage gegeben haben. »Wenn bereits mit Sicherheit zwei der Brüder tot sind, einer vielleicht verletzt, dann frage ich mich», sinnierte ich laut, »wo die anderen Mitglieder dieser Verbrecherbande wohl sind. Hoffentlich nicht bei Ellen.« Morrison berührte mich vorsichtig an der Schulter, dann zog er mich in eine Umarmung. Erst jetzt bemerkte ich das Zittern meines Körpers. Langsam sickerte durch meine verwirrten Gedankengänge hindurch, was ich gerade erlebt hatte. Wir setzten uns ans Feuer und wie in der ersten Nacht bettete er meinen Kopf auf seine Beine, bis ich einschlief.
Ellen erwartete uns unversehrt am vereinbarten Treffpunkt. Scheinbar waren die Jamestons nicht auf unsere Finte hereingefallen, sondern hatten uns bereits dort verfolgt. Vielleicht waren die zwei verbliebenen nach Hause zurückgekehrt. Ellen zuckte über diese Mutmaßungen nur die Schultern. Als Morrison abends noch eine weite Runde um unser Lager drehte, damit wir nicht noch einmal überrascht wurden, fragte sie mich: »Liebes, woher kennst Du deinen Mister Morrison eigentlich? Er macht einen wirklich anständigen Eindruck.«
»George und ich … Ach, das ist eine lange Geschichte. Er gehört nicht unbedingt zu den Männern, die den Sheriff als guten Freund bezeichnen würden. Der ein oder andere Diebstahl hat ihn wohl schon des Öfteren in das Jail gebracht. Eines Nachts, er war Kunde bei mir, gab es einen Überfall auf die hiesige Bank. Man vermutete Morrison dahinter und drohte ihn aufzuknüpfen. Vielleicht war ich damals ein bisschen in ihn verliebt. Und obwohl ich mir nicht sicher war … Ich war damals in seinem Arm eingeschlafen und ich habe einen tiefen Schlaf … Ich sagte also zu seinen Gunsten aus. Und in so einer kleinen Stadt hat mein Leumund einiges an Gewicht. Er kam unbescholten aus der Sache davon.«
»Du weißt also nicht mit Sicherheit, dass er es nicht war?», fasste Ellen die Tatsachen kühl zusammen. »Das ist wahr, wissen tue ich es nicht. Aber ich habe ein gutes Gefühl für Menschen.« Ellen nickte knapp und damit war die Angelegenheit für sie erledigt. Ich jedoch hatte diesen Kloß im Hals. Ich hatte bisher die Tatsache verdrängt, dass der Mann, in dessen Schutz ich mich begeben hatte, vermutlich nicht minder skrupellos war, als die Jameston-Brüder.
Wir ritten weitere ungestörte Tage ostwärts durch die Prärie, bis wir schließlich die auf der Karte verzeichnete alte Mine erreichten. Sie war schon seit mehreren Jahren verlassen. Nur noch Überreste von provisorischen Gebäuden waren zu erahnen. Es schien, als sei dieser Claim recht rasch wieder aufgegeben worden. Wir banden die Pferde etwas verborgen in der Nähe des Eingangs an. Ellen hatte an alles gedacht. Sie holte eine kleine Laterne aus ihrer Satteltasche und entzündete sie, während Morrison die Bretter vom Eingang entfernte.
Wir hatten uns noch im Tageslicht die Karte von Mister Colten genau eingeprägt. Die Gänge waren tief und krumm. Ich fürchtete jeden Moment, dass die morschen Stützbalken unter dem Gewicht der Erde einstürzen würden. Der Untergrund verschluckte unsere Schritte, doch unsere Stimmen wurden dafür seltsam weit getragen. Ich griff nach meiner Pistole und hielt sie fest umklammert; als ob sie mir etwas nützen konnte, wenn ich hier unten verschüttet wurde. So manches Mal spielte der Wind uns einen Streich, indem er unsere eigenen Geräusche dergestalt umhertrug, dass wir – vornehmlich ich – uns davor fürchteten. Wir irrten wohl gut eine Stunde durch die Gänge, ohne eine Ahnung wo die Karte anfing. Endlich kamen wir an eine Stelle, die dem aufgezeichneten Weg ansatzweise glich. Ellen leuchte die Wand ab und ich schrie, als der Lichtkegel der Laterne auf einen blanken Schädel fiel. Halb unter Geröll zerdrückt, lag dort ein Skelett. Ich kann mich an keinen grausameren Anblick erinnern. Nicht einmal der plötzliche Tod des lieben Mister Colten hatte mich derart erschreckt, wie diese unglückselige Gestalt, die – wenn ich die Position des Skelettes richtig deuten konnte – versucht hatte, der Gewalt des Berges zu entkommen, nachdem sie zur Hälfte darunter zerquetscht worden war. Sollte es tatsächlich einen Fluch geben, diese arme Seele hatte er getroffen.
Morrison war es schließlich, der unsere entsetzte Starre durchbrach und sich zu dem Skelett hinabkniete. Er fasste beherzt unter den Torso und holte ein Bündel hervor. Motten flogen daraus auf uns zu; es staubte. Ellen trat näher heran und beleuchtete den Fund. Es glänzte silbrig.
Im Halbdunkeln der Laterne erkannte ich, dass es sich um eine Art Truhe handelte; drei löwenartige Kreaturen waren darum angeordnet. ›Shishis‹, erläuterte Ellen: »Wächter, in der Mythologie. Mir scheint, dies ist auch ein Räuchergefäß.« Morrison versuchte vorsichtig, es zu öffnen, doch der Rand war mit Wachs verklebt, sodass wir entschieden, es draußen im Tageslicht zu versuchen, um nichts zu zerstören. Wir bedeckten den Toten mit weiteren Steinen und improvisierten aus ein paar Holzstücken ein Kreuz, damit er wenigstens hier seine Ruhe fand. Ich sprach ein Gebet für die arme Seele. Das mindeste und einzige, was wir als Christen für ihn hier tun konnten.
Ich holte tief Luft, als wir endlich wieder ans Tageslicht kamen. Die Sonne wärmte meine Haut, es roch frisch und lebendig. Ich blinzelte erleichtert gen Himmel, als ich das Klicken eines durchladenden Revolvers hörte und erstarrte. Kyle, jüngster Spross der Jamestons, und sein Bruder Luke standen nicht weit von unseren Pferden und grinsten hämisch. »Schön die Hände hoch, Ladys. Auch Du, George, keine falsche Bewegung, sonst blas ich der hübschen Miss ein Loch in den Schädel. Wirf deine Revolver her zu mir.« Mit wenigen Schritten war Luke bei mir und packte mich, während Morrison seine Smith&Wessons zu den beiden Gangstern schob. »Also, was habt ihr gefunden?« Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie unsere Satteltaschen geöffnet und durchwühlt hatten. Sie hatten den Kranich bereits.
»Also?« Um seine Drohung zu verdeutlichen, drückte er mir ein Messer an den Hals. Morrison spuckte aus und holte dann, keinen der Brüder aus den Augen lassend, den Schatz hervor. »Du da, Miss. Bring es her», fuhr Kyle Ellen an. Die runzelte die Stirn, brachte ihm aber, wie geheißen, die Schatulle. Er packte das Rauchgefäß mit seiner Hand und drehte es im Licht: »Silber. Dann hat sich unsere Reise doch gelohnt!« Er versuchte, es mit einer Hand zu öffnen, während er mit der anderen noch immer Morrison in Schach hielt. Ich konnte sehen, wie er mit sich rang, das Kästchen sogleich aufzubrechen. Da dies nicht gelang, fesselten sie uns an einen der Bäume und wir mussten hilflos mit ansehen, wie sie die Kiste grob mit einem Messer bearbeiteten, um das Wachs herauszubrechen. Kyle packte schließlich den Deckel und zog ihn auf. Der Schatz gab ein seltsames Geräusch von sich, wie von einer Sprungfeder, und Kyle Jameston ließ das Gefäß fallen. Er hielt sich schreiend das Gesicht. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Ellen, die die ganze Zeit schon an unserer Fessel herumgeknotet hatte, streifte sie ab. Morrison sprang sogleich auf und stürzte sich mit blanken Fäusten auf Luke. Ellen hechtete zu den abgelegten Waffen. Kyle griff nach seinem Revolver und schoss halb blind in Georges Richtung. Ich schrie und Kyle schrie und Ellen schoss zweimal. Kyle fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Dann lief ich los. Morrison lag auf Luke und ich sah Blut auf seinem Rücken. Gemeinsam mit Ellen hob ich ihn vorsichtig herunter und legte ihn auf die Seite. Jetzt sahen wir, dass in Lukes Brust ein Messer steckte, das George ihm wohl im Gerangel aus der Hand hatte wenden können. Ich hielt seinen Kopf in meinen Händen, während Ellen vorsichtig seinen Rücken betastete und sich die Schusswunde näher ansah. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und ich schluckte heftig, um nicht in Tränen auszubrechen. »Was … war … denn jetzt drin?«, flüsterte Morrison. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel.
Ellen stand hastig auf und holte das Kästchen. Zuoberst fanden wir eine kleine Vorrichtung, aus der eine sicherlich 5 Inch lange Nadel auf Kyle geschleudert worden war und ihn ins Auge getroffen hatte. Darunter lagen alte, vergilbte Fotos einer japanischen Familie mit vier Erwachsenen und drei Kindern. Sie standen auf einem Bild vor einer Art Hausaltar, die beiden Räuchergefäße vereint. Unter den Fotografien befanden sich, in Stoff eingewickelt, acht walnussgroße Goldnuggets. »Sehr gut», flüsterte Morrison unter Mühen. »Dann bist du gut versorgt.« Er nickte zufrieden und schloss erschöpft seine Augen. Ich hielt ihn während seiner letzten Atemzüge im Arm und schimpfte leise: »George-Harker, wirst du wohl hier bleiben? Das war nicht Teil des Geschäfts.« Dieser stille Mann war mir mehr ans Herz gewachsen, als ich es mir je hatte eingestehen wollen. Ich schluchzte hemmungslos.
Wir begruben ihn unter einem schönen Baum, stellten ein ordentliches Kreuz auf und beteten für seine Seele. Die beiden Jameston-Brüder hingegen verscharrten wir notdürftig. Sollten die Geier sie holen. Das Gold würde mir und den Mädchen zur Unabhängigkeit verhelfen. Ellen und ich beschlossen, die beiden Räuchergefäße nicht mehr zu trennen, sondern sie in der Bank verwahren zu lassen. Ich glaubte mittlerweile, dass von ihnen wirklich ein Fluch ausging und hoffte, dass er aufhörte, nun wo sie vereint waren. Auf den Pferden sitzend, blickten wir noch einmal zurück. Ich hoffte, dies war die Art von Tod, den George sich immer gewünscht hatte. Ich zog den Hut vor ihm. Einen Gentleman machte nicht nur gute Kleidung aus. »Komm, Liebes», meinte Ellen: »Reiten wir!«