Читать книгу Regionale Morde - Tod eines Wikingers - Tomos Forrest - Страница 6
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FAUST BETRAT EIN GERADEZU chaotisch aussehendes, kleines Büro, das von einem mächtigen Schreibtisch aus dunklem Holz dominiert wurde. Darauf befanden sich Stapel von Büchern, Zeitschriftenausschnitten, ein paar geschlossene Archivschachteln und auf dem dafür wohl extra frei geräumten Platz in der Mitte stand eine Porzellanvase, die der Kriminalrat auf den zweiten Blick als chinesisch einstufte. Auch auf dem Fußboden befanden sich so viele Bücher- und Zeitschriftenstapel, dass nur ein schmaler Weg zum Schreibtisch und dem einzigen Stuhl davor frei blieb.
Frau Dr. von Grüneberg nahm etwas vom Sitz herunter und legte es so geschickt ausbalanciert auf einen anderen Stapel, dass der zwar bedrohlich wankte, dann aber stehen blieb.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Faust! Einen Kaffee kann ich Ihnen leider derzeit nicht anbieten, unsere Cafeteria befindet sich ebenfalls im Umbau, und hier oben ist uns aufgrund der völlig veralteten Leitungen der Betrieb einer eigenen Kaffeemaschine strengstens untersagt worden.“
„Machen Sie sich bitte keine Umstände!“, wehrte Faust ab. „Ich möchte Ihre Zeit auch nicht unnötig in Anspruch nehmen. Was mich neben der laxen Sicherheit Ihres Hauses interessiert, ist natürlich der vollständige Inhalt der aufgebrochenen Vitrine. Können Sie mir bitte ein Verzeichnis zukommen lassen?“
Die Direktorin schickte ihm einen strafenden Blick, nickte aber schließlich bedächtig.
„Die wird Ihnen mein Kustos zukommen lassen. Aber warum interessiert sich der Leiter der hiesigen Mordkommission für einen Einbruchdiebstahl?“
Aha, jetzt scheint sie mich doch besser zu kennen, als zunächst bei der Begrüßung. Das wird sicher eine interessante Unterhaltung!, dachte Faust. Offenbar hat sie mein Urgroßvater doch etwas beeindruckt. Laut entgegnete er jedoch:
„Wenn mit einem gestohlenen Gegenstand eine Straftat begangen wird, die zudem tödliche Folgen hat, dann kommt meine Dienststelle ins Spiel.“
Frau Dr. von Grüneberg schien wie elektrisiert und saß plötzlich mit völlig durchgedrücktem Rücken hinter ihrem Schreibtisch.
„Tödliche Folgen – wie ist das zu verstehen?“
„Soweit mir bekannt ist, wurde bei dem Einbruch neben anderen historischen Artefakten auch die originalgetreue Nachbildung einer Handöx gestohlen.“
„Das stimmt wohl, jedenfalls ist diese Vitrine ja vollkommen ausgeräumt worden. Der Kustos war damit beauftragt, zur Eröffnung eine Ausstellung über die Handelsverbindungen der Frühzeit zu konzipieren. Wir wollten die Verbindung der Hansestadt Braunschweig zu den skandinavischen Ländern aufzeigen und damit dokumentieren, dass wir schon vor der Hansezeit mit den Städten an Nord- und Ostsee Handel trieben. Unsere Magni-Kirche ist dafür bekanntlich ein gutes Beispiel. Der apulische Bischof Magnus wurde besonders von den Friesen verehrt, und dazu kommt, dass in der Weiheurkunde unsere Stadt erstmals im Jahre 1031 urkundlich als Brunesguik erwähnt, und ein guik ist ein ...“
„Handelsplatz, ich weiß, Frau von Grüneberg!“, ergänzte Faust und bremste damit den Redeschwall. „Kommen wir zurück auf die Handöx.“
„Ja, natürlich, ich vergaß Ihren Bezug zum Thema. Es war ja Ihr Vorfahre, der sich damit eingehend auseinandergesetzt hat. Wir haben eigens für die neue Ausstellung eine Nachbildung herstellen lassen, um dem Besucher den Gebrauch zeigen zu können. Es ist doch immer ein Unterschied, ob man nur ein mehr oder weniger gut erhaltenes Axtblatt in einer Vitrine sehen kann oder aber eine vollständige Axt selbst in die Hand nehmen kann.“
Faust nickte mit ernster Miene zu ihren Ausführungen und antwortete dann:
„Und genau das hat jetzt jemand getan.“
„Was meinen Sie?“
„Wir müssen davon ausgehen, dass der Dieb dieser Replika-Axt sie benutzt hat, um damit einem Menschen den Kopf einzuschlagen!“
„Oh mein Gott!“
Die Direktorin hatte unbewusst eine Hand vor den Mund geschlagen und starrte den Kriminalbeamten mit weit aufgerissenen Augen an.
„So liegt jetzt der Fall, und aus diesem Grund bin ich involviert. Ich bitte Sie, alles im Zusammenhang mit der Vitrine und ihrem Inhalt, was für den Mordfall wichtig sein könnte, mir mitzuteilen. Also angefangen von den beteiligten Mitarbeitern, die für die Ausstellung zuständig sind, über die Anfertigung der Reproduktion bis hin zu den am Umbau beteiligten Firmen. Können Sie das bitte veranlassen und mir die Liste noch heute zukommen lassen?“
Faust hatte sich erhoben und legte seine Visitenkarte neben die chinesische Vase.
Die Direktorin starrte darauf und schien sich auf etwas zu besinnen, setzte kurz an, schüttelte dann aber den Kopf und nickte ihrem Besucher zu.
„Selbstverständlich. Ich lasse Ihnen die Auflistung noch heute zukommen.“
Schon beim Eintreten hatte Faust das chaotische Arbeitszimmer rasch überflogen und mit Erstaunen registriert, dass es keinen Bildschirm auf dem Schreibtisch gab, und zwischen den Bücherstapeln schien sich auch kein Laptop zu verbergen. Erledigte die Direktorin alles über ihr Handy oder Tablet?
„Besten Dank. Müssen Sie mir den Fahrstuhl wieder aufschließen?“
Faust stand bereits an der Tür.
Irritiert sah die Direktorin vom Schreibtisch zu ihm auf, schließlich nahm sie ihr Schlüsselbund und eilte dem Beamten mit raschen Schritten voraus. Dabei schlugen ihre sonderbaren Schuhe hart auf dem Steinboden auf, und mit einem irritierten Lächeln starrte Faust auf ihre im Neonlicht seltsam schimmernden Strümpfe und den kurzen Rock, der sich beim Sitzen nach oben verschoben hatte und jetzt mehr von den Oberschenkeln der Dame freigab, als er sehen wollte.
Mit einem kurzen, aber kräftigen Händedruck verabschiedete sie sich von Faust und rauschte davon, noch bevor die Fahrstuhltüren sich hinter ihm wieder schlossen.
Thomas Faust kehrte über den Mitarbeiterausgang zurück, nickte den dort postierten Polizisten freundlich zu und stieg in sein Dienstfahrzeug.
Auf dem Rückweg zur Dienststelle machte er noch einen kleinen Umweg, fuhr in das Parkhaus der Schloss-Arkaden und besuchte das Stadtarchiv im Obergeschoss.
„Oh, Herr Dr. Faust, Sie waren aber schon lange nicht mehr bei uns!“, begrüßte ihn die junge Frau in der Ausleihe. „Soll ich Ihnen das Findbuch bringen?“
„Gern!“, antwortete Faust. „Wenn Sie die Signatur noch auswendig wissen!“
„Aber natürlich!“, lächelte die etwas rundliche Angestellte. „Sie wissen doch, mein Freund und ich machen auch Wikinger, aber nur im Sommer und als Larp-Krieger.“
Faust nickte nur freundlich und dachte: Hoffentlich erzählt sie mir nicht wieder von ihren neuen, im Winter genähten Gewändern. Irgendwann laufe ich schreiend davon!
Er erinnerte sich gut an den Namen der Frau, Ella Luise Mey; begeisterte Teilnehmerin an zahlreichen Larp-Veranstaltungen in Norddeutschland. Bei seinem letzten Besuch hatte sie ihm ohne Punkt und Komma eine Viertelstunde lang von ihrem Besuch in Haithabu und dem berühmten Museum vorgeschwärmt, und Faust musste sie mehrfach unterbrechen, damit er seine Materialen bestellen konnte.
Aber heute ging die junge Frau an das Regal, zog das Findbuch heraus und reichte es ihm. „Heute ist nicht viel los, Herr Doktor. Wenn Sie wollen, lasse ich die gewünschten Unterlagen sofort herausholen, und Sie müssen nicht nach der Mittagspause noch einmal kommen.“
„Das wäre mir allerdings sehr lieb. Ich bin ein wenig unter Zeitdruck!“, antwortete Faust lächelnd.
„Ja, wann sind Sie das nicht, Herr Doktor!“
Die junge Dame schien mit seinem akademischen Grad zu schwadronieren, und der Kriminalbeamte verkniff sich eine Bemerkung, betrat den Lesesaal, in dem zwei ältere Herren in den hinteren Reihen an langen Tischen saßen und eifrig in Urkunden blätterten.
Familienstammbäume, folgerte Faust sofort. Offenbar die Lieblingsbeschäftigung zahlreicher Rentner. Dann fielen ihm seine eigenen, diesbezüglichen Versuche am PC ein, und lächelnd nahm er in der ersten Tischreihe Platz, wo ihm nach wenigen Minuten tatsächlich die erbetenen Materialien vorgelegt wurden.
Faust hatte in erster Linie die Unterlagen seines Urgroßvaters heraussuchen lassen. Er öffnete die erste Mappe und nahm andächtig den Umschlag heraus, der die Reproduktionen alter Fotos enthielt. Seine Lupe steckte in der Innentasche seiner Jacke, er klappte sie auf und vertiefte sich in den nächsten Minuten in die Fotos.
Schließlich zog er sein Handy heraus und hielt es vor die Glasscheibe, damit die junge Frau sehen konnte, was er beabsichtigte.
Sie nickte nur lächelnd, und Faust hielt das Gerät über die Fotos.
Natürlich hatte er einwandfreie Kopien seit längerer Zeit in seinem Haus.
Aber es würde viel zu lange dauern, dort danach zu suchen, denn in seinem Arbeitszimmer sah es kaum anders aus als in dem der Museumsdirektorin. Außerdem wollte er gleich nach der Durchsicht zurück in sein Büro, um die bis dahin eingegangenen Unterlagen zu sichten.
Er wurde bereits ungeduldig von Kriminalkommissaranwärter Jürgens erwartet. Der junge Polizist hatte verschiedene Unterlagen in einer Mappe zusammengetragen und erhob sich beim Eintreten seines Vorgesetzten vom Besucherstuhl.