Читать книгу Liebe ist kein Grund zum Morden! Berlin 1968 Kriminalroman Band 55 - Tomos Forrest - Страница 6

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Doris lächelte, dann drückte sie ab.

Es war seltsam, dass sie in diesem Augenblick nicht so sehr den Mann sah, auf den sie schoss, sondern ausschließlich sich selbst.

Ihr Lächeln zum Beispiel. Es erschien ihr so leer wie eine Blechdose auf dem Müll, und genauso fühlte sie sich auch: hohl und schmutzig.

Oliver hatte ihr beigebracht, mit einem Revolver umzugehen. Sie hatte wochenlang in seinem Keller mit der Waffe geübt, sie hatte auf Scheiben und Bilder geschossen, aber jetzt, wo es ernst war, bitterer, tödlicher Ernst, kam es ihr so vor, als benutzte sie den Revolver zum ersten Male.

Die Waffe bäumte sich in ihrer Rechten auf wie ein junges, kraftvolles Tier. Doris hasste diese groteske Lebendigkeit, die zum Tode führte, aber noch mehr hasste sie sich selbst.

Doris Winter, die Mörderin.

Ein Erinnerungsblitz erhellte ihr Bewusstsein, und sie sah sich noch einmal als Mädchen im weißen Kommunionskleid, als stolzen Mittelpunkt einer intakten, frommen Familie, als das glückliche Kind, das von Nestwärme, Gläubigkeit und Hoffnungen getragen wurde.

Vorbei! Jetzt zählte nur die Gegenwart, der Augenblick des Terrors, das harte, mitleidslose Krachen des Schusses und seine irreparablen Folgen.

Doris beobachtete, wie der Mann den Mund aufriss, wie sein Körper von dem Geschoss getroffen und herumgerissen wurde und wie sich in seinen hellen Augen blankes Entsetzen formierte. Er begriff, dass er sterben musste, ja, dass er in diesem erstickenden, lähmenden Prozess schon mittendrin war.

Er musste sterben, damit sie leben konnte. Leben wie eine Made im Speck. Das hatte Oliver ihr versprochen.

Doris war es zumute, als müsste sie schreien, aber sie brachte keinen Laut zustande, ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie schoss zwei weitere Male. Sie wollte das Furchtbare schnell hinter sich bringen, nicht nur für sich, sondern auch für Alexander Zweringer, ihr Opfer.

Er war ein Mann der Mittelklasse, ein sechsundvierzigjähriger Angestellter. Ledig, wie Oliver ihr versichert halte. Ein Mann ohne Bindungen, ohne Zukunft.

Zweringer brach zusammen. Er blieb liegen, ohne sich zu rühren. Doris ließ die Waffe sinken. Sie starrte auf das leblose Bündel und hob wie fröstelnd die runden Schultern, als sie das schmale, rote Rinnsal bemerkte, das unter dem Körper des Mannes hervorsickerte.

Ihr wurde übel. Sie fuhr auf den Absätzen herum, hastete in einen Nebenraum und musste sich erbrechen. Danach drängte es sie an die frische Luft.

Sie blinzelte, als sie die Straße erreichte und in den Strom der Passanten eintauchte. Ihr schien es so, als müsste jeder Vorübergehende erkennen, dass sie gezeichnet war, dass Blut an ihren Fingern klebte, aber die wenigen Blicke, die sie trafen, galten ihrer schlanken, biegsamen Figur und den sehr weiblichen Kurven, mit denen sie aufzuwarten vermochte.

Doris kannte diese Blicke, das männliche Begehren mit seinem anonymen Werben, so hatte es auch mit Oliver angefangen, eigentlich ganz harmlos, und nun war sie ihm hörig, jetzt hatte sie sogar für ihn getötet - auch wenn Oliver behauptete und ihr weiszumachen versuchte, dass sie es um ihrer selbst willen getan habe.

Die Umhängetasche schlug bei jedem Schritt schwer gegen ihre Hüfte. Das Gewicht des Revolvers mahnte sie an ihre Aufgabe. Sie betrat eine Telefonzelle und stellte sich mit dem Rücken zum Münzautomaten, um sich davon überzeugen zu können, dass niemand an die Tür trat und mithörte. Sie wandte den Kopf, um Olivers Nummer zu wählen, dann schaute sie wieder auf die Straße.

Das Freizeichen tutete monoton in ihr Ohr. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Warum meldete Oliver sich nicht sofort? Er erwartete doch ihren Anruf!

„Droste“, tönte es endlich an ihr Ohr.

„Ich hab’s getan“, sagte sie und merkte, wie ein Schluchzen an ihrer Kehle zerrte.

„Braves Mädchen“, lobte er. „Du bist sicher, dass er nicht wieder aufsteht?“

„Ganz sicher“, murmelte sie.

„Was sagst du? Ich kann dich kaum verstehen. Die Verbindung ist miserabel.“

„Er ist tot“, sagte sie mühsam. Diesmal schluchzte sie wirklich.

„Du hast es geschafft. Gratuliere!“

„O Gott, Oliver ...“

„Reiß dich zusammen, Mädchen“, sagte er. „Wann kannst du hier sein?“

„Es war schrecklich!“

„Wann kannst du hier sein?“, wiederholte er.

„In einer Viertelstunde.“

„Gut. Bist du sicher, dass nichts am Tatort zurückgeblieben ist, was dich verraten könnte?“

„Nur der Tote.“

„Mach kein Schauerdrama aus dem Ganzen. Du weißt, was ich meine.“

„Ich habe deine Ratschläge befolgt, ich trage Handschuhe und ...“ Ihre Stimme brach. Sie konnte einfach nicht weitersprechen.

„Ich kenne das“, meinte Oliver tröstend. „So ist das beim ersten Mal. Es geht schnell vorüber. Danach bist du ein neuer Mensch, glaube es mir, du fühlst dich den anderen überlegen, und in gewisser Weise bist du's auch. Herrin über Leben und Tod! Ist das nichts? Erst jetzt gehörst du richtig zu uns, Doris. Ich bin stolz auf dich.“

„Bis gleich“, sagte Doris und hängte auf. Sie verließ die Telefonzelle und spürte, wie ihre innere Erregung abklang. Olivers Stimme war wie Balsam gewesen, Doris hatte sich an seinen Worten aufgerichtet.

Sie ging zu ihrem Wagen, der nur zwei Häuserecken von der Telefonzelle entfernt parkte, setzte sich hinein und warf die Umhängetasche mit der Mordwaffe auf den Rücksitz. Dann kurbelte sie die Fenster herunter, auf beiden Seiten. In dem blauen Opel herrschten Backofentemperaturen. Sie startete die Maschine und lenkte den Wagen behutsam in den Verkehrsstrom. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen, Oliver hatte ihr eingeschärft, dass die Konzentration nach der Tat besonders groß sein müsse.

Es war seltsam, wie sehr ihre Erregung mit der zunehmenden Distanz zum Tatort abnahm. Doris schien es fast so, als hätte sie einen bösen Traum durchlebt, als sei Alexander Zweringer gar nicht wirklich tot.

Doris Winter, eine Mörderin? Doch nicht sie, die noch vor drei Jahren fleißig und regelmäßig zur Beichte gegangen war!

Wieder überfiel sie die Erinnerung, die plötzliche Angst, dass die Eltern, die vor drei Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben waren, sie in diesem Moment sehen könnten, von oben herab, entsetzt, schockiert und fassungslos.

„Quatsch!“, sagte sie laut.

Ihre Eltern waren auch keine Engel gewesen, das hatte sich nach deren Tod ebenso schnell wie nachhaltig herausgestellt. Sie hatten einen Berg von Schulden hinterlassen und eine Tochter, die sich plötzlich ohne Halt, ohne Versorgung und ohne Obdach wiedergefunden hatte.

Wenn Oliver damals nicht gewesen wäre ...

Oliver, immer wieder Oliver!

Sie erreichte seine Straße und fand eine Parklücke direkt vor der Nummer 21. Doris Winter blickte flüchtig an der Fassade empor.

Nein, Oliver war nicht am Fenster, aber das hatte sie nicht erwartet, seine Liebe zu ihr war eher fordernd als zärtlich, eher grob als sanft. Immerhin zeigte er ihr manchmal - wie vorhin am Telefon -, dass es ihm keineswegs an Gefühl mangelte und dass er sie gelegentlich mit einem tröstenden Wort aufzurichten vermochte.

Das Haus 21 stammte aus den Tagen der Jahrhundertwende und hatte die Bomben des Zweiten Weltkrieges recht gut überstanden. Es hatte ursprünglich einem Steinmetz gehört, der die Fassade in eine Reklamefläche umfunktioniert und mit den Produkten seines Geschmacks und seiner beruflichen Fähigkeiten verziert hatte - verunziert, wie Oliver meinte. Noch heute lächelten oder grinsten Putten, Teufel und Satyrn in trauter Gemeinsamkeit auf die erstaunt, amüsiert oder gar nicht reagierenden Passanten hinab.

Olivers Wohnung bestand aus vier Zimmern und lag in der zweiten Etage, es war eine geräumige, sehr schick möblierte Wohnung, die kaum jemand in dem alten Gemäuer vermutete, aber Oliver wusste, was er wollte. Er hasste die Sterilität moderner Neubauten und hielt es überdies für gut, von einer biederen, bürgerlichen Umgebung zu profitieren.

Doris hatte es eilig, nach oben zu gelangen, sie stürmte die Treppe hinauf und war ein wenig außer Atem, als sie die Schlüssel aus der Tasche fischte, wobei sie es vermied, den Revolver zu berühren. Sie hasste ihn immer noch, er war ihr zuwider.

Sie schloss die Tür auf, betrat die Diele und rief: „Oliver?“

Er antwortete nicht.

Doris war enttäuscht. Oliver war also weggegangen, vielleicht holte er sich nur Zigaretten, aber in einem Augenblick, wo sie seine Nähe brauchte, sein Verständnis, seine Umarmung, war er nicht da ...

„Oliver“, wiederholte sie, diesmal weniger laut und spontan, eher traurig, aber sie wusste genau, dass sie ins Leere sprach. Sie öffnete die Wohnzimmertür und hielt erschrocken die Luft an.

Oliver lag direkt vor der Couch, sein Gesicht war dem Boden zugekehrt, und er rührte sich nicht. Unter seinem Körper ein Blutrinnsal, das im Zickzack von ihm weglief und in den Fransen des Teppichs versickerte.

Doris schluckte.

Sie sah an diesem Tage zum zweiten Mal ein solches Rinnsal, einen leblosen Körper, und sie wunderte sich, dass sie nicht schrie oder zusammenbrach, sondern dass sie einfach stehen blieb und beobachtete, wie das Blut in den bunten Teppich sickerte.

Endlich setzte ihre Reaktion ein, Doris gab sich einen Ruck, sie stürzte nach vorn und fiel neben Oliver auf die Knie.

„Oliver!“, keuchte sie zitternd. „Mein Gott, Oliver ...“

Sie griff nach ihm, sie wälzte ihn mit einiger Mühe auf die Seite und meinte, dass ihr Herzschlag aussetzen müsste, als sie in seine Augen blickte.

Es waren die Augen eines Toten.

Doris zog ihre Hand zurück, sie zitterte nicht. Doris war auf einmal ganz ruhig, so ruhig wie damals, als sie die Nachricht vom Unfalltod ihrer Eltern bekommen hatte. Sie stand auf, ging in die Küche und setzte sich. Das Fenster stand offen. Aus dem Hof drangen die Stimmen spielender Kinder herauf.

Doris schien es so, als stünde sie erneut vor dem Nichts, sie war in diesen Sekunden scheinbar gefühllos, ein wertloser Mechanismus, der nichts mit sich und seiner Umgebung zu beginnen wusste.

Sie hatte getötet, für Oliver, und nun war er selber tot. Erschossen.

Aber von wem, und warum?

Es klingelte. Doris fuhr heftig zusammen. Nein, sie konnte jetzt nicht zur Tür gehen und öffnen, sie konnte mit keinem Besucher sprechen, ohne sich zu verraten.

Das Klingeln wiederholte sieh.

Doris schloss die Augen. Vielleicht hat man dich beim Nachhause kommen beobachtet, ging es ihr durch den Sinn. Du musst hinausgehen und so tun, als sei alles in Ordnung, und dann musst du Russo anrufen, Olivers Chef. Er muss dir sagen, was zu tun ist ...

Sie zwang sich dazu, aufzustehen. Sie schloss in der Diele zunächst die Wohnzimmertür, ganz leise und behutsam, als dürfte sie einen schlafenden Oliver nicht stören, erst dann, als es zum dritten Male klingelte, öffnete sie die Wohnungstür.

Vor ihr standen zwei Männer. Sie kannte nur den größeren von beiden. Es war Heiko Mannig, Russos rechte Hand. Er war ein großer, breitschultriger Mann, von dem es hieß, dass er ursprünglich als simpler Leibwächter für Russo gearbeitet habe und erst durch seine Heirat mit Giulia, Russos Tochter, zur rechten Hand des Bosses geworden sei. Aber das war gewiss nur die halbe Wahrheit, denn Russo hätte Heiko sicherlich nicht als Schwiegersohn akzeptiert, wenn Heiko außer seinen Muskelkräften nicht noch andere, schätzenswerte Qualitäten besessen hätte.

„Oh Gott - kommt herein, bitte“, sagte Doris mit bebender Stimme und trat zur Seite, um den Männern Platz zu machen. „Es ist etwas Schreckliches, etwas ganz Unfassbares passiert.“

Sie ging voran und öffnete die Wohnzimmertür. Mannig schob sich über die Schwelle. Er stoppte nach zwei Schritten, wandte sich Doris zu und fragte mit leiser, scharfer Stimme: „Warum hast du das getan?“

Doris schluckte. Ihre Augen weiteten sich. „Wie bitte?“, hauchte sie.

„Du hast mich gut verstanden. Warum hast du ihn umgelegt?“

„Aber Heiko ...“

Sie zitterte. Ihr fehlten die Worte. Wie konnte Heiko bloß annehmen, dass sie auf Oliver geschossen haben könnte? Sie hatte ihn doch geliebt, er war für sie der Pol gewesen, um den sich alles drehte ...

Der zweite Mann, ein kompakter Enddreißiger im grauen Flanellanzug, beugte sich über den Toten. „Nichts mehr zu machen“, stellte er fest. „Saubere Arbeit. Er muss auf der Stelle tot gewesen sein.“

Heiko Mannigs Blick klebte förmlich an Doris Gesicht, hart und verschlagen, fragend und prüfend. „Sprich!“, forderte er.

Doris setzte sich. Die Knie versagten ihr erst jetzt den Dienst. „Ich bin vor fünf Minuten nach Hause gekommen, ich habe in der Diele nach ihm gerufen und war enttäuscht, dass er nicht antwortete ...“

Der Mann im Flanellanzug schaute sich im Zimmer um, dann ging er hinaus. Er blieb kühl und geschäftsmäßig, nur Heiko Mannig gab sich wütend.

„Du hast ihn erschossen!“, stieß er hervor und ballte seine Hände. „Wo ist das Geld?“

„Das Geld?“, echote Doris fassungslos.

„Ja, der Koffer mit der Million!“

„Spinnst du?“, hauchte Doris verdattert. Gleichzeitig krampfte eine zusätzliche, neue Angst ihr Herz zusammen. „Oliver hat niemals eine Million besessen ...“

„Stimmt“, sagte Heiko Mannig grimmig. „Es war nicht sein Geld, es gehörte uns.“

Der Mann im Flanellanzug kehrte zurück. Er hielt Doris Revolver in der Hand, mit einem Taschentuch, um keine Prints darauf zu hinterlassen. „Hier“, sagte er zu Mannig. „Riech mal an der Mündung, das ist die Mordwaffe, sie war in ihrer Handtasche. Nicht schlecht, was?“

„Damit habe ich den Auftrag erledigt, euren Auftrag!“, keuchte Doris.

„Was für einen Auftrag?“, fragte Mannig. Er behielt seine drohende Haltung bei. Seine Blicke wichen keine Sekunde von Doris Winters von Furcht und Terror erfüllten Augen.

„Ich habe Zweringer erschossen, Alexander Zweringer.“

„Wer, zum Teufel, ist Alexander Zweringer?“, fragte Mannig verdutzt.

Doris zog die Luft durch die Nase und wunderte sich über den leise pfeifenden Ton, der dabei zustande kam. Sie begriff, dass man sie in eine Falle gelockt hatte.

Nicht nur sie. Auch Oliver war in diese Falle gelaufen.

„Was wird hier gespielt, was ist das für ein Trick, was steckt dahinter?“, fragte sie erregt.

„Das wollte ich gerade von dir erfahren, mit den gleichen Worten“, höhnte Heiko Mannig.

„Es ist besser, wir hauen ab“, mischte sich der Mann im Flanellanzug ein. Er hatte den Revolver auf den Tisch gelegt und musterte die Waffe, als habe er eine abstrakte Zeichnung vor sich, die es zu entziffern galt.

„Abhauen, wie stellst du dir das vor?“, fragte Mannig. „Ich muss das Geld haben, deshalb sind wir hier. Ich kann nicht mit leeren Händen zurückkommen.“

„Wende dich an sie hier“, meinte der Mann im Flanellanzug. „Ich wette, sie hat den Zaster längst aus dem Haus geschafft. Oliver hat den Diebstahl entdeckt und sie zur Rede gestellt. Er hat sie fertigmachen wollen, aber sie hat den Spieß umgekehrt und ihn niedergeschossen.“

„Schau dich nach dem verdammten Koffer um“, forderte Mannig. „Aber zieh gefälligst deine Handschuhe an. Irgendwann wird die Mordkommission hier aufkreuzen und sich für alle Fingerabdrücke interessieren ...“

„Keine Angst“, sagte der Mann im Flanellanzug. „Ich bin doch kein Anfänger.“ Er holte ein paar dünne, helle Lederhandschuhe aus seiner Jackentasche, streifte sie über und verließ das Zimmer.

Mannig baute sich breitbeinig vor Doris auf. Er ließ seine geballte Rechte in die riesige, offene Handfläche der Linken klatschen und sagte drohend: „Du wirst jetzt reden, Baby, oder du wirst am Ende nur noch lallen können - die Wahrheit, versteht sich. Ich prügele sie aus dir heraus.“

„Ihr wisst sehr genau, dass ich dieses Geld weder gesehen noch berührt habe“, sagte Doris Winter schwer atmend. „Ich vermute, dass es niemals existierte - jedenfalls nicht hier, in dieser Wohnung. Oliver hatte keine Geheimnisse vor mir. Wenn es in diesen Räumen einen Koffer mit einer Million gegeben hätte, wüsste ich davon, mein Wort darauf! Dann wäre ich ...“

Sie sprach nicht weiter.

Stimmte es wirklich, dass Oliver ihr gegenüber stets ehrlich gewesen war? Nein, das traf nicht zu, sie wusste es, sie hatte ihn wiederholt beim Lügen ertappt, außerdem hatte Oliver keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm verboten war, gewisse Syndikatsgeheimnisse mit ihr zu erörtern.

Aber er hatte ihr gleichsam den Schlüssel angeboten, der ihr Zutritt zum exklusiven Zirkel von Russos Kreis verschaffen sollte, und sie hatte schließlich zugegriffen, sie hatte auf Olivers Weisung diesen Alexander Zweringer erschossen. Und nun stellte sich plötzlich heraus, dass alles nur ein schmutziger Trick gewesen war, ein fauler Zauber, um Oliver und sie loszuwerden ...

„Dann?“, drängte Mannig.

„Einer von euch hat Oliver erschossen, und ich soll euch jetzt als Sündenbock dienen“, stieß Doris hervor. „Aber eure Rechnung wird nicht aufgehen! Es stimmt, dass ich mit dem Revolver einen Menschen getötet habe, aber nicht Oliver! Die Kugel in seinem Körper stammt aus einer anderen Waffe, das wird die Polizei feststellen.“

Mannig zog sich einen Stuhl heran, ließ sich rittlings darauf nieder und verschränkte die Ellenbogen auf der Lehne.

„Nehmen wir einmal an, du sagst die Wahrheit“, meinte er. „Was würdest du tun, wenn ich dir glaube?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wenn du Oliver nicht erschossen hast, dann war es der Mann, der die Million raubte ...“

„Welcher Mann?“

„Der große Unbekannte“, sagte Mannig. „Wenn ich dir einen Namen nennen könnte, wäre ich nicht gezwungen, dich durch die Mangel zu drehen. Also los. Wenn wir gegangen sind, was wirst du dann tun?“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte sie.

„Abhauen?“

„Wohin sollte ich denn gehen?“

„Eine Million öffnet dir alle Türen.“

„Ich besitze keine Million, und du weißt das sehr genau“, sagte Doris scharf. Sie war bemüht, nicht auf den Toten zu blicken. Es war unfassbar, dass Oliver sich neben ihr im Zimmer befand und doch nichts tun konnte, um sie zu beschützen.

Hatte er sie belogen? War es am Ende so wie nach dem Tod ihrer Eltern? Würde der großen Liebe die tiefe Enttäuschung folgen?

Nun, jetzt ging es nicht um Liebe und Verzweiflung, jetzt stand mehr auf dem Spiel, sie wusste es, jetzt ging es für sie um Leben oder Tod.

Der Mann im grauen Flanellanzug kam zurück. Er öffnete schweigend das Sideboard und warf den Inhalt heraus. Doris schaute ihm fassungslos zu. Binnen einer Minute sah das Wohnzimmer aus, als habe ein Tornado darin gewütet.

„Nichts“, sagte er dazu.

„Ich dachte es mir“, meinte Mannig.

„Was machst du mit ihr?“

„Das versuche ich gerade herauszufinden“, meinte Mannig und biss sich auf die Unterlippe.

‚Das ist alles nur Theater, billige Schmiere‘, schoss es Doris durch den Kopf.

Sie fand keine Erklärung dafür. ‚Sie hatten Oliver abserviert, okay, aber warum waren sie noch einmal zurückgekommen, und was bewog sie dazu, so zu tun, als seien sie hinter einer Million her?‘

„Wann hast du das Haus verlassen?“, fragte Mannig und schaute Doris an.

„Vor drei Stunden. Ich bin direkt zu Zweringer gefahren.“

„Der ominöse Zweringer“, höhnte Mannig.

Doris starrte ihrem Gegenüber in die Augen. Natürlich log Mannig sie an, er musste wissen, wer Alexander Zweringer war. Oder hatte Oliver sie belogen, hatte er sie nur zu seinem willenlosen Werkzeug machen wollen?

„Oliver hat mir gesagt, dass ich diese Chance nützen müsste, dass nur sie mir den Weg in die Organisation ebnet“, sagte Doris.

„In unsere Organisation?“

„In welche sonst? Oliver gehörte zu euch, und nun habt ihr ihn umgebracht! Warum? Mein Gott, warum das alles?“ Sie begann hysterisch zu schluchzen und fing an, den ganzen Umfang ihrer Misere zu begreifen.

Der Mann, mit dem sie seit Monaten zusammenlebte, war tot. Er war erschossen worden, und sie hatte für die Tatzeit kein Alibi.

Wenn Mannig und dieser flanellumhüllte Begleiter, sie schon für Olivers Mörderin hielten, was würde erst die Polizei denken?

Motive ließen sich leicht konstruieren. Streit, Eifersucht, gestohlenes Geld ...

„Sagt mir, was ich tun soll bitte!“, flehte sie.

Mannig erhob sich. „Erwähne niemandem gegenüber unsere Namen oder gar den von Russo. Es ist uns egal, wohin du gehst und was aus dir wird, aber ich muss dich warnen. Falls du uns etwas vormachst und das Geld in deinen Besitz gebracht hast, werden wir das herausfinden und dich aufspüren, egal, wo du untertauchst. Du wärst erledigt, erledigt für immer.“

„Mein Kopf schmerzt, ich weiß nicht ein noch aus“, sagte Doris. „Warum musste ich diesen Mann töten? Wer war dieser Alexander Zweringer? Ich muss es wissen, sonst drehe ich durch!“

Sie schrie die letzten Worte.

„Nicht so laut, verdammt noch mal“, zischte Mannig. „Willst du die Nachbarschaft mobilisieren? Ich kenne keinen Alexander Zweringer und weiß nicht, weshalb Oliver den Kerl loswerden wollte. Aber mir wird immer klarer, dass unser guter Oliver Geschäfte auf eigene Faust gemacht haben muss und dass er dich anlernte, um ihn dabei zu unterstützen. Er hat dich angeschmiert, Baby, aber am Ende war er selber der Angeschmierte.“

„So fühle ich mich auch“, erklärte Doris bitter. „Angeschmiert!“

Mannig erhob sich, er ging zur Tür, dort blieb er stehen und schaute Doris an. „Wenn die Polizei kommt und das Durcheinander sieht - welche Erklärung wirst du ihr geben?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht.“

Mannig grinste dünn. „Dir wird schon etwas einfallen“, meinte er.

„Ich fühle mich wie ausgebrannt.“

„Erkläre ihnen meinetwegen, dass der Killer das Durcheinander angerichtet haben muss. Das wird dich entlasten, denn du hattest schließlich keinen Grund, die eigene Wohnung auf den Kopf zu stellen.“

„Es ist Olivers Wohnung.“

„Du hast hier mit ihm gelebt“, sagte Mannig. „Komm, wir verschwinden.“

Der Mann im Flanellanzug nickte und ging in die Diele, kurz darauf fiel die Wohnungstür hinter den beiden Männern ins Schloss.

Doris war mit dem Toten allein.

Sie überlegte, was zu tun war, aber es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Hatte man sie beim Betreten des Hauses gesehen? Konnte sie es sich leisten, wieder wegzugehen, ohne die Polizei zu unterrichten? Sie war jetzt nicht in der Lage, bohrende Fragen zu beantworten, außerdem musste sie den Revolver aus dem Haus bringen, sonst lief sie am Ende Gefahr, unter Mordverdacht zu geraten, noch ehe Oliver und dieser Zweringer wirklich kalt waren.

Sie nahm den Revolver vom Tisch und brachte ihn zurück in die Küche, wo ihre Umhängetasche lag. Sie verstaute die Waffe in der Tasche und verließ die Wohnung. Sie traf niemand, den sie kannte, und atmete auf, als sie mit ihrem Wagen die Straße verlassen hatte. Sie blickte wiederholt in den Außenspiegel und vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte.

Sie war wieder einmal allein, genau wie damals, als sie ihre Eltern verloren hatte. In ihr machte sich erneut das Gefühl breit, betrogen worden zu sein, betrogen von denjenigen, denen sie ihre ganze Liebe geschenkt hatte, betrogen aber auch vom Schicksal, das ihr immer wieder ein Bein stellte.

In einer scharfen Kurve rutschte die Handtasche mit dem Revolver vom Sitz. Doris lenkte den Opel auf den Parkplatz eines Supermarktes und stoppte. Sie stieg aus, um die Tasche in den Kofferraum zu werfen, es machte sie einfach nervös, den scheußlichen Revolver so hautnahe bei sich zu haben. Sie nahm sich vor, ihn weit draußen vor der Stadt verschwinden zu lassen. Doris stieg aus, trat an das Wagenheck, schaute sich prüfend um und öffnete die Kofferraumklappe.

Ihre Augen rundeten sich erstaunt. Im Kofferraum lag ein mittelgroßer schwarzer Koffer. Doris schaute sich nochmals um. Niemand war in der Nähe, der sie hätte beobachten können.

Doris öffnete den Koffer und gab einen leisen Überraschungslaut von sich. Ihr quollen gebündelte Hundert- und Fünfzig-Mark-Noten entgegen. Die Banderolen waren neutral, die Scheine gebraucht.

Doris fand es plötzlich schwer zu atmen.

Sie wusste, was sie vor sich liegen hatte. Eine Million Mark!

Da war er also: Der Koffer, den Mannig gesucht und nicht gefunden hatte. Sie war damit durch die Gegend gefahren, sie hatte den Wagen achtlos abgestellt, der Kofferraum war nicht einmal verschlossen gewesen, jeder hätte das Geld an sich nehmen können.

Jetzt konnte sie über das Geld verfügen. Eine Million Mark ...

Doris schlug die Kofferraumklappe zu, als sie Schritte hörte. Ihr Kopf zuckle herum, aber die jähe Angst erwies sich als unbegründet. Ein älteres Ehepaar ging, mit Einkaufstüten bepackt, zu einem in der Nähe geparkten Volkswagen. Sie luden die Tüten in das Fahrzeug, starteten kurz darauf die Maschine und rollten davon.

Doris erfasste ein Schwindelgefühl.

Eine Million Mark!

Sie hatte Oliver verloren, dafür aber ein Vermögen gewonnen. Ihr fiel Heiko Mannig ein. Er hatte sie gewarnt. Wenn er herausbekommen sollte, dass sie das Geld besaß, war ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert.

Du musst das Geld verstecken, schoss es ihr durch den Sinn. Es muss für ein paar Wochen oder Monate aus dem Verkehr gezogen werden, du musst warten, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist, dann kannst du dich bedienen und aus dem Vollen schöpfen ...

Sie schloss den Kofferraum ab, setzte sich in den Wagen und fuhr los. Das Schwindelgefühl nahm zu, es steigerte sich zur Übelkeit. Dieser Tag brachte ihr einfach zu viele Aufregungen, erst der Mord an Zweringer, dann die Entdeckung des erschossenen Oliver, und nun der Geldfund, das Millionending.

Wie kam das Geld in den Wagen? Oliver musste es hineingelegt haben, eine andere Erklärung gab es nicht, aber je länger sie darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien ihr diese Version.

Oliver war kein Idiot. Zwar wusste er, dass sie, Doris, unter normalen Umständen nicht daran gedacht haben würde, einen Blick in den Kofferraum zu werfen, aber er hätte eine Wagenpanne nicht ausschließen können, die Notwendigkeit also, an den Reservereifen heranzugehen, außerdem war bekannt, wie gern sich kleine Ganoven daran versuchten, parkende Autos auszuplündern - und sei es auch nur, um Werkzeuge und Reifen zu stehlen.

Aber wenn Oliver den Geldkoffer nicht in den Opel gelegt hatte - wer dann?

Doris verstand es nicht.

Sie zermarterte sich den Kopf über die Hintergründe des mysteriösen Geschehens, fand aber keine Lösung des Ganzen. Wie sie die Situation auch betrachtete, am Ende kam das gleiche heraus: Sie hatte es plötzlich in der Hand, mit einer Million zu jonglieren.

Wie hatte Heiko Mannig so treffend bemerkt? Eine Million öffnete alle Türen!

Würden diese Türen sie ins Paradies führen oder in die Hölle?

Als Doris nach zwei Stunden die Innenstadt hinter sich gelassen hatte, wusste sie auf ihre Fragen noch immer keine Antworten.

Die Million befand sich noch im Wagen, zusammen mit der Tatwaffe, und es galt für beides ein Versteck zu finden, das absolut sicher war.

Vergraben? Das erschien ihr zu riskant. Streunende Hunde konnten das lockere Erdreich aufwühlen und die Entdeckung einem Landstreicher, Förster oder sonst wem zugänglich machen. Vielleicht empfahl es sich, Koffer und Waffe in einen luftdicht verschlossenen Plastiksack zu stecken und in ein Gewässer zu werfen, aber auch das war nicht ungefährlich, denn Angler oder Sporttaucher konnten das Geheimnis lüften, dazu bedurfte es keiner großen Anstrengungen, ein dummer Zufall würde schon genügen.

Was immer Doris Winter auch erwog und austüftelte, war nicht frei von Risiken, sodass sie nach Einbruch der Dunkelheit immer noch ziellos in den Außenbezirken herumfuhr, unfähig, sich von der Million zu trennen, und doch wissend, dass das Geld auf keinen Fall über Nacht in dem Wagen bleiben durfte.

Zwischendurch dachte sie an Oliver, aber er war ihr schon fremd geworden, die Erinnerung an seinen Tod warf Fragen auf, aber keine Schmerzen. Eine Million Mark war, zumindest im Augenblick, ein wundervoller Tröster, wenngleich zuzugeben war, dass dieser Trost seine eigene Problematik hatte.

Doris stoppte an einem Straßenrestaurant und parkte den Opel so, dass sie ihn von einem Fenster aus im Blickfeld behalten konnte. Sie war hungrig, sehr hungrig sogar, und bestellte sich ein T-Bone-Steak mit Beilagen, dazu ein großes Bier.

Als das Essen kam, überraschte es sie, mit welchem Appetit sie sich darüber hermachte, denn nach dem Mord und der damit verbundenen Übelkeit hatte sie gemeint, bis auf Weiteres keinen Bissen mehr schlucken zu können. Sie starrte kauend durch das Fenster auf den Opel und hatte plötzlich eine Idee. Es war eine verrückte Idee, zugegeben, aber wenn sie es richtig anstellte, war es der sicherste Weg, die Million zu konservieren.

Sie würde das Geld zu Bernd Schuster bringen.

Schuster war, das hatte sie von Oliver erfahren, der prominenteste und geachtetste Privatdetektiv der Stadt. Ein Mann seiner Integrität würde wissen, wie das Geld sicher und zuverlässig unterzubringen war, er konnte sich, ohne Verdacht zu wecken, des Bankgeheimnisses bedienen, und er würde im Ernstfall bereit sein, es gegen jeden Übergriff zu verteidigen.

Doris zahlte, verließ das Lokal und fuhr zunächst zur Havel. Doris stieg aus und wartete, bis kein Wagen in der Nähe war, dann warf sie den Revolver, mit dem sie Alexander Zweringer erschossen hatte, in hohem Bogen ins Wasser. Danach kehrte sie in die Innenstadt zurück.

Sie parkte den Wagen unweit des Hauses 21 und überzeugte sich davon, dass hinter den Fenstern von Olivers Wohnung kein Licht brannte. Den Koffer ließ sie im Wagen, weil sie befürchtete, dass Russos Leute in der Nähe waren und ihre Rückkehr beobachteten.

Ihr Herz klopfte, als sie Olivers Wohnung betrat. Es war scheußlich zu wissen, dass sie jetzt mit dem Toten allein war, aber die Aufregung des Nachmittags hatte sich längst gelegt, denn jetzt ging es um andere Probleme. Doris betrat das Wohnzimmer. Ihr Herzschlag stockte und sie meinte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen.

Der Tote war verschwunden.

Liebe ist kein Grund zum Morden! Berlin 1968 Kriminalroman Band 55

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