Читать книгу Der Bergpfarrer 253 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 3

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»Du lieber Himmel, wie schaust du denn aus?«

Christel Waldmooser sah ihre Freundin und Kollegin erstaunt an. Hanna wischte sich müde über das Gesicht.

»Frag’ bloß net«, erwiderte sie. »Ich hab’ die letzten beiden Nächte kein Auge zugemacht!«

Christel ging an die kleine Anrichte, die neben dem Fenster des Büros stand, dort hatte die Kaffeemaschine ihren Platz. Die Sekretärin schenkte zwei Tassen ein und reichte eine an Hanna Behringer weiter.

»Was ist denn bloß passiert?«

Die junge Frau winkte ab.

»Passiert ist eigentlich net viel«, entgegnete Hanna. »Bloß, dass ich einen Brief von daheim bekommen hab’ …«

»Schlechte Nachrichten? Was Schlimmes?«, fragte Christel erschrocken.

Hanna trank einen Schluck und nickte.

»Kann man wohl sagen. Meine Schwester, die Lisa, die heiratet in ein paar Wochen.«

Christel blickte sie erstaunt an.

»Mehr net? Und deswegen hattest’ schlaflose Nächte? Ich dacht’ schon, es wär’ sonst was passiert!«

»Ist es ja auch. Ich muss nämlich nach Hause!«

Die Kollegin verstand sofort.

»Auweia!«, entfuhr es Christel. »Du musst zur Hochzeit fahren …«

»Genau, und einen Mann mitbringen, den ich net hab’.«

Die Unterhaltung fand im Sekretariat der Firma »Brandt und Söhne« statt, einem Speditionsunternehmen, das in ganz Europa tätig war. Hier in München befand sich die Zentrale, in der alle Fäden zusammenliefen. Hanna Behringer und Christel Waldmooser teilten sich das Büro. Es war Montagmorgen, kurz nach acht Uhr in der Frühe, und ihr Dienst hatte gerade begonnen.

Glücklicherweise kamen die Firmenchefs, Anton Brandt, sowie die beiden Söhne, Klaus und Manfred, nicht vor neun Uhr ins Büro, und die beiden Sekretärinnen konnten sich noch einen Moment unterhalten.

»Was willst’ denn jetzt machen?«, fragte Christel.

Hanna zuckte die Schultern.

»Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.«

Seit am Samstagmorgen der Brief von ihrer Schwester gekommen war, hatte sie ein nervenaufreibendes Wochenende hinter sich. Hanna hatte stundenlang wach gelegen und hin und her überlegt, wie sie dieser drohenden Katastrophe entgehen konnte.

Doch sie fand einfach keinen Ausweg. Zur Hochzeit ihrer Schwester musste sie nach Hause fahren, und die Familie, besonders die Eltern, erwartete, dass sie Robert mitbrachte, den Mann, dessentwegen Hanna vor drei Jahren ihre Heimat verlassen hatte und nach München gegangen war, um hier mit ihm – gegen den Willen ihrer Eltern – glücklich zu werden.

Nur leider währte dieses Glück nicht viel länger, als ein paar Wochen, denn dann stellte sich Robert Gerke als Frauenheld und notorischer Fremdgänger heraus, und Hanna gab ihm den Laufpass.

Dabei hatte alles so romantisch begonnen. Auf dem Tanzabend in St. Johann hatte sie ihn kennengelernt, und wie bei ihr, versicherte er, war es auch bei ihm Liebe auf den ersten Blick.

Dass das ganz dreist gelogen war, merkte Hanna erst, als es zu spät war. Ihre Eltern hatten gleich keinen guten Eindruck von dem Mann, der es nicht für nötig erachtete, sich bei ihnen einmal vorzustellen.

Zu undurchsichtig war Robert Gerke und auch gegenüber Hanna verstrickte er sich in Widersprüche, wenn er von seinem Beruf als angeblicher Finanzmakler redete, von seinem Haus in der vornehmen Villengegend in München.

Doch Hanna war viel zu sehr verliebt, um über diese Widersprüche zu stolpern. Erst als sie in München ankamen, erfuhr sie, dass die Villa nicht Robert gehörte, sondern dem Chef seines Vaters, bei dem Richard Gerke als Chauffeur angestellt war. Er und seine Frau wohnten in einer kleinen Wohnung über den Garagen, Robert selbst hatte ein möbliertes Zimmer in einem ganz anderen Stadtteil.

Die junge Frau verbarg ihre Enttäuschung und machte gute Miene zum bösen Spiel. Immerhin hatte sie sich mit den eigenen Eltern entzweit, um Robert zu folgen.

Da konnte sie auf gar keinen Fall zurückgehen und sich daheim blamieren!

Hanna suchte sich eine Arbeit. Bisher hatte sie auf dem elterlichen Hof gearbeitet. Nun fing sie in einer Fabrik an und lötete Elektroteile zusammen, die in Waschmaschinen eingebaut wurden. Eine eintönige Arbeit, aber immer noch besser, als auf der faulen Haut zu liegen – so wie Robert.

Der kümmerte sich nicht um Arbeit und lebte schön auf Hannas Kosten. Und dann merkte sie sehr schnell, dass seine Liebe zu ihr stark abgeflaut war. Ja, Hanna kam dahinter, dass Robert sie betrog. In seiner Stammkneipe hatte er den Ruf eines Casanovas, und mehr als einmal sah Hanna ihn mit wechselnden Frauen im Arm.

Klammheimlich packte sie ihre Sachen, schrieb ihm einen Abschiedsbrief und suchte sich eine Bleibe in einer Pension. Sie arbeitete fleißig, besuchte eine Abendschule und machte nach erfolgreichem Abschluss eine zweijährige Ausbildung zur Sekretärin. Mit ihren Englischkenntnissen fand sie rasch eine Anstellung in der Spedition, wo sie seit einem halben Jahr arbeitete.

Beinahe drei Jahre hatte sie nicht mehr an Robert gedacht, und nun wurde er ihr ins Gedächtnis gerufen. Es hatte ungefähr sieben oder acht Monate gedauert, bis sie es wagte, Kontakt mit Zuhause aufzunehmen. Sie schrieb ihrer Mutter einen langen Brief, in dem sie um Verzeihung bat und sich wünschte, doch hin und wieder etwas von den Eltern und der Schwester zu hören.

Tatsächlich kam ein Antwortbrief. Dann ein zweiter. Zuhause wollten sie wissen, wie es Hanna ging. Ob sie glücklich verheiratet sei, wann man mit ihrem und Roberts Besuch rechnen könne.

Hanna ließ sich immer neue Ausreden einfallen, um diesen Besuch hinauszuzögern. Jetzt aber konnte es keinen Grund mehr geben, der die Heimfahrt verhinderte.

»Deine Eltern kennen diesen Robert doch gar net, oder?«, fragte Christel.

Hanna schüttelte den Kopf.

»Sie haben ihn nie geseh’n.«

Die Kollegin kratzte sich am Kopf.

»Das vereinfacht die Sache natürlich«, schmunzelte sie.

Hanna Behringer sah sie nicht verstehend an.

»Wie meinst du das?«

»Ganz einfach«, lachte sie. »Du bringst deiner Familie deinen Mann mit und stellst ihn endlich zu Hause vor.«

Hanna sah die Freundin und Kollegin einen Moment an, als habe Christel den Verstand verloren.

»Wie soll das denn bitt’ schön geh’n? Ich bin net verheiratet und hab’ keinen Mann! Schon vergessen?«

Christel Waldmooser winkte ab.

»Pah«, meinte sie, »heutzutage kann man alles mieten, warum net auch einen Ehemann?«

*

»Ich soll was?«

Hanna wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Ich soll sozusagen einen Mann leasen?«, fragte sie noch einmal.

»Klar. Wieso net? Es gibt da ganz seriöse Unternehmen, die männliche Begleiter vermitteln.«

Hanna Behringer machte ein zweifelndes Gesicht.

»Ich weiß net«, sagte sie, »ist das net ein bissel … anrüchig?«

Ein anderes Wort fiel ihr nicht ein. Doch die Freundin schüttelte den Kopf.

»Überhaupt net. Heutzutag’ gibt’s so viele Frauen in gehobenen Positionen, die haben meist gar keinen Mann, geschweige denn, dass sie verheiratet wären und eine Familie hätten. Denen geht die Karriere über alles. Und nun stell’ dir mal vor, so eine Geschäftsfrau ist aus irgendwelchen Gründen auf die Begleitung eines Mannes angewiesen. Dann nimmt sie eben solch einen Escortservice in Anspruch. Vielleicht ist besagte Dame auch nur einsam in ihrem Hotelzimmer und will eine Theateraufführung besuchen, dann begleitet der Mann sie, und nachher verabschieden sie sich voneinander. Am nächsten Tag erinnert man sich net einmal mehr an den Namen. So unverbindlich ist das alles.«

»Trotzdem. Denk doch mal nur, was so einer alles über meine Familie und mich wissen müsst’, schließlich sind wir ja angeblich seit drei Jahren verheiratet.«

»Du, das sind Profis«, untergrub Christel die Argumentation der Freundin. »Ich an deiner Stelle würd’ es jedenfalls net sofort ablehnen, sondern mich erst mal nach den Konditionen erkundigen. Billig, fürcht’ ich, wird’s nämlich net sein.«

Die Unterhaltung der beiden Frauen wurde unterbrochen, als der Chef mit seinen Söhnen eintraf. Hanna versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, wurde aber immer wieder von dem Gedanken abgelenkt, sie müsse den Eltern einen auch ihr Wildfremden als Ehemann vorstellen.

Hanna war froh, als sie endlich in die Mittagspause gehen konnten. Christel begleitete sie. Doch statt wie sonst in das kleine Bistro zu gehen, das sich auf der anderen Straßenseite befand, lotste die Kollegin Hanna in ein Internetcafé.

»Was sollen wir denn hier?«

Christel Waldmooser lächelte geheimnisvoll. Sie deutete auf einen freien Computer.

»Jetzt wollen wir doch mal schauen, ob so eine Aktion überhaupt finanzierbar ist.«

»Du redest immer noch von einem Begleitservice?«

»Klar, ich hab’s dir angeseh’n, wie’s heut’ Vormittag ständig hinter deiner Stirn gearbeitet hat. Also, wenn du mich fragst, ich find’ die Idee immer noch gut. Jedenfalls immer noch besser, als ohne Ehemann nach Hause zu kommen.«

»Pst! Net so laut!«

Hanna drehte sich vorsichtig um. Die Computer standen an den Wänden des rechteckigen Raumes, in der Mitte befand sich eine Art Rondell mit weiteren Rechnern darauf. An einem davon saßen die beiden Sekretärinnen. Viele Computer waren belegt, aber niemand schaute zu den Frauen hinüber. Die anderen Nutzer, meist junge Burschen, surften im Internet, und keiner kümmerte sich um den anderen.

Christel hatte zwei Milchkaffee und Croissants bestellt und war schon dabei, eine Internetseite aufzurufen. Sie hatte das Stichwort »Begleitservice« in die Suchmaschine eingegeben, und schon Sekunden später standen unzählige Seiten zur Auswahl auf dem Bildschirm.

»So, dann wollen wir mal …«

Fasziniert schaute Hanna zu, wie ihre Freundin die einzelnen Seiten aufrief und durchsah. Kaum eine Firma in diesem Bereich bot nicht auch Begleitungen für einen längeren Zeitraum an. Sogar bis zu sechs Wochen in den Urlaub konnte man – je nachdem – einen Mann oder eine Frau mitnehmen. Dabei wurde ständig darauf hingewiesen, dass es sich bei den Angeboten lediglich um einen Escortservice handele und weitere »Dienstleistungen« nicht in Anspruch genommen werden könnten.

Doch, ach weh, die Kosten!

Schon eine einfache Abendbegleitung kostete ab dreihundert Euro aufwärts. Hinzu kamen die Kosten für Theater- oder Opernbesuche, die Rechnung für Bar- und Restaurantbesuche, sowie Taxifahrten oder ähnliches, die der Kunde zu tragen habe.

Eine Woche Begleitung wurde mit zehntausend Euro veranschlagt – ohne Spesen!

»Du lieber Himmel, wer soll das denn bezahlen?«, fragte Hanna erschreckt.

Christel zuckte die Schultern.

»Na ja, Leute, die so was in Anspruch nehmen, können’s sich freilich leisten. Schad’, die Idee jedenfalls ist net schlecht.«

»Aber leider undurchführbar«, erwiderte Hanna.

»Dann müssen wir uns halt eine preiswertere Variante ausdenken.«

Christel war offenbar von dem Gedanken nicht abzubringen.

»Mir fällt jedenfalls keine ein«, bemerkte Hanna und steckte sich den Rest des Hörnchens in den Mund und trank den Milchkaffee hinterher.

Die beiden Frauen verließen das Internetcafé, um wieder in die Firma zu gehen. Kurz nach ihnen trat ein junger Mann auf die Straße und schaute ihnen hinterher. Ein leises Lächeln umspielte die Lippen des sympathisch wirkenden Gesichts. Der Mann wartete, bis Hanna und Christel um die Ecke gebogen waren, dann folgte er ihnen, wobei er ein fröhliches Lied pfiff.

Kurz vor dem Eingang zur Spedition hatte er sie eingeholt.

»Hallo ihr zwei«, rief Andreas Felber und machte ein gestresstes Gesicht. »Findet ihr net auch, dass die Mittagspause viel zu kurz ist?«

Hanna nickte zustimmend. Der Kollege arbeitete in der Abteilung für Logistik und war verantwortlich, dass ein Lastwagen der Firma, der etwa eine Ladung nach Mailand gebracht hatte, nicht leer wieder zurückfuhr – wenn es denn gerade in der Gegend einen Auftrag gab. Andreas war ein Jahr älter als sie und verhehlte nicht, dass er ein Auge auf Hanna geworfen hatte. Leider waren seine Bemühungen in dieser Hinsicht bisher vergebens gewesen. Mehr als einen gemeinsamen Kinobesuch hatte es nicht gegeben. Dabei war Andreas durchaus eine attraktive Erscheinung. Schlank und sportlich, einen guten Meter achtzig groß und mit ausgezeichneten Manieren. Zwar hatte er auf eine Wiederholung gehofft, doch Hanna machte ihm sehr deutlich, dass sie an einer Beziehung nicht interessiert wäre.

Zu tief saß noch die Enttäuschung, die sie mit Robert erlebt ha­tte, doch davon sagte sie

nichts …

So blieb Andreas Felber nichts anderes übrig, als seine Traumfrau aus der Ferne anzubeten und die Hoffnung nicht aufzugeben.

Und genau diese Hoffnung hatte heute Mittag neue Nahrung erhalten.

»Hast’ einen Moment Zeit?«, fragte er Christel, als sie unten im Flur standen.

Hanna war bereits die Treppe hinaufgegangen. Die junge Sekretärin blieb stehen.

»Was gibt’s denn, Romeo?«, wollte sie lächelnd wissen.

Christel Waldmooser wusste um Andreas’ unerfüllte Liebe zu der Kollegin.

Er kratzte sich ein wenig verlegen am Kopf.

»Tja, also, die Sache ist die …«, begann Andreas zögernd. »Eben, im Internetcafé …, also, ich saß auf der anderen Seite des Rondells.«

Christel ging ein Licht auf.

»Und hast gehört, worüber Hanna und ich uns unterhalten haben.«

Er nickte.

»Also, wirklich net absichtlich. Aber sag’ doch mal, was ist denn das für eine Geschichte? Wieso sucht Hanna einen Mann übers Internet?«

Christel sah sich rasch um, dann zog sie den Kollegen in einen Raum, in dem Computerpapier und andere Dinge gelagert wurde.

»Kein Sterbenswort zu Hanna!«, beschwor sie ihn. »Jedenfalls net, bevor ich mit ihr gesprochen hab’.«

»Bestimmt net«, versprach Andreas. »Aber was ist denn nun mit ihr …?«

Die Sekretärin lächelte verschmitzt.

»Ich glaub’, ich hab’ eben eine wunderbare Idee bekommen«, meinte sie geheimnisvoll.

*

»Ich muss verrückt geworden sein, mich überhaupt darauf eingelassen zu haben!«

Hanna Behringer saß neben Andreas und schüttelte immer wieder den Kopf, als könne sie es nicht fassen, dass sie beide auf dem Weg nach St. Johann waren.

Mit ihm, als ihren Ehemann!

»Beruhig’ dich, mein Schatz«, grinste er und sah sie von der Seite her an. »Net bös’ sein, ich üb’ ja bloß.«

Hanna holte tief Luft und schluckte runter, was ihr auf der Zunge lag. Wie ein böser Traum kam es ihr vor, seit Christel freudestrahlend ins Büro gekommen war und verkündet hatte, sie habe die Lösung für das kleine Problem.

»Andreas Felber?«, hatte Hanna ungläubig ausgerufen. »Nie im Leben frag’ ich den!«

»Brauchst’ auch net«, grinste die Freundin. »Das hab’ ich nämlich schon getan. Er ist einverstanden.«

Hastig erzählte sie von der Unterhaltung, die sie mit Andreas eben noch geführt hatte. Und je mehr sie erzählte, umso natürlicher fand Hanna den Vorschlag. Sie kannte Andreas und mochte ihn. Hätte sie ihn unter anderen Umständen kennen gelernt, hätte sogar etwas aus ihnen werden können. Doch die Wunden, die die Beziehung zu Robert Gerke gerissen hatte, waren längst noch nicht verheilt.

Indes musste sie sich ja auf nichts einlassen, was sie nicht selber wollte. Christel hatte ein erstes Treffen für den Abend in Hannas Wohnung verabredet und versprach, dabei zu sein. Es war schon eine seltsame Situation, Hanna empfand sie sogar als peinlich, als sie zu dritt im Wohnzimmer saßen, und sie zum ersten Mal einem anderen Menschen – von Christel einmal abgesehen – ihre Lebensgeschichte erzählte. Andreas hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, und selbst als sie fertig war, enthielt er sich eines wertenden Kommentars.

»Jetzt versteh’ ich, warum du in der Klemme steckst«, sagte er nur.

»Ich hätt’s lieber für mich behalten«, gestand Hanna. »Aber ich hab’ ja keine andre Wahl.«

Andreas Felber nickte.

»Also, von mir aus – ich bin dabei«, erklärte er.

Hanna war froh, dabei hatte sie noch gar nicht bedacht, was für ein Rattenschwanz von Problemen an dieser ganzen Geschichte hing.

Erinnerte sich daheim wirklich niemand mehr an Robert Gerke? Wie sollten sie und Andreas sich verhalten, wenn die Eltern dabei waren?

Sicher erwarteten sie, dass Hanna und ihr Mann sich wie liebende Eheleute benahmen.

Und wie würden sie das mit dem Schlafen regeln?

Sie konnten doch unmöglich in einem Bett …!

Diese und noch tausend andere Fragen waren inzwischen aufgetaucht. Doch Hanna hatte gar keine Zeit mehr gehabt, darüber nachzudenken. Der Urlaub, der ihr spontan bewilligt worden war, stand bevor, und schließlich waren sie heute Morgen gestartet, nachdem Andreas eine Woche lang die wichtigsten Daten auswendig gelernt hatte.

»Also, ich heiß’ Robert Gerke«, plauderte er nun munter los, während sich das Auto Kilometer um Kilometer dem Wachnertal näherte. »Wir haben uns vor drei Jahren in St. Johann kennengelernt. Deine Eltern heißen Waltraud und Hans Behringer, deine Schwester heißt Lisa. Sie heiratet ihren langjährigen Freund, den Thomas Bergmeister. Der ist von Beruf Schreiner, arbeitet aber seit langem schon bei euch auf dem Hof. Die beiden werden ihn später auch mal übernehmen. Deine Großeltern väterlicherseits leben beide net mehr, bloß die Mutter deiner Mutter erfreut sich bester Gesundheit. Sie heißt Burgl Hofer und verbringt ihren Lebensabend auf dem Behringerhof. Wir haben in München geheiratet und sind immer noch sehr glücklich.«

Andreas ließ einen Moment das Lenkrad los und klatschte in die Hände.

»Na also, sitzt doch.«

Hanna seufzte. Bis hierher stimmte alles, dennoch hatte sie Zweifel, ob das alles so richtig war.

»Und deine Eltern?«, fragte sie.

»Meine Mutter lebt in München, Vater ist vor drei Jahren verstorben.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Falsch! Du bist net mehr Andreas Felber, sondern Robert Gerke!«

»Ach so, ja, entschuldige. Also, mein Vater ist Chauffeur bei Bankdirektor Abendrodt, meine Mutter führt in der Villa den Haushalt.«

Hanna seufzte.

Wenn das bloß gut ging!

Sie waren am frühen Morgen losgefahren und erreichten das Wachnertal am Vormittag.

»Hübsche Gegend«, meinte »Robert« als sie über die Bergstraße fuhren, die zum Behringerhof führte.

Hanna hatte keinen Blick dafür. Sie war viel zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, dass doch noch etwas schiefgehen könne.

Dann war es soweit.

Sie hatten den Bauernhof der Eltern erreicht, und Hanna wusste, dass es ab jetzt kein Zurück mehr gab!

*

»Da seid ihr ja!«

Waltraud Behringer trat aus der Tür und streckte die Hände nach ihrer Tochter aus.

»Madel, das du bloß wieder da bist!«, sagte sie und wischte schniefend eine Träne ab, die ihr über die Wange rollte.

Hanna umarmte sie und gab ihr einen Kuss.

»Hallo, Mama. Es ist schön, wieder daheim zu sein.«

Sie deutete auf Andreas Felber.

»Das ist Robert.«

Seltsam, wie selbstverständlich und flüssig ihr der Name über die Lippen kam!

Die Bäuerin sah ihren Schwiegersohn lächelnd an.

»Grüß dich, Robert«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Willkommen in der Familie.«

Er lächelte ebenfalls.

»Vielen Dank, Schwiegermama, für die herzliche Begrüßung.«

»Ist Vater net da?«, fragte Hanna.

»Vater ist ins Dorf gefahren, ein Ersatzteil für den Traktor besorgen. Und Lisa und Thomas sind in der Stadt, sie mussten endlich los, einen Anzug für den Bräutigam kaufen. Aber jetzt kommt erst mal rein. Oma wartet in der Küche mit dem zweiten Frühstück. Mittag gibt’s erst, wenn Lisa und Thomas wieder da sind. Und heut’ Abend wollen wir grillen. Ich hab’ schon Salate und Saucen vorbereitet.«

Sie gingen ins Haus. Burgl Hofer stand an der Kaffeemaschine. Als sie ihre Enkelin sah, stellte sie die Kanne ab und breitete die Arme aus.

»Hanna! Komm her und lass dich anschau’n.«

Die Großmutter war schon weit über siebzig Jahre alt, aber immer noch sehr rüstig und gut zu Fuß. Jeden Tag machte sie einen Spaziergang und morgens trank sie einen Obstler auf nüchternen Magen.

Ihre Tochter war schockiert gewesen, als sie das entdeckte. Waldtraud vermutete schon, dass ihre Mutter heimlich trank.

»Unsinn!«, widersprach die alte Frau und schüttelte den Kopf. »Das ist gut für den Kreislauf. Solltest du auch machen. Damit wirst’ hundert Jahr’ alt.«

»Na, da kann ich ja noch lang’ auf die Erbschaft warten«, hatte Hans Behringer mit einem Grinsen gesagt, der zufällig Zeuge der Unterhaltung geworden war.

Dann nahm er seine Schwiegermutter in den Arm.

»Komm, lass uns gleich noch einen trinken«, schlug er vor – und handelte sich damit einen bösen Blick seiner Frau ein.

»Hallo, Oma!«

Hanna umarmte sie.

»Wie geht’s dir?«

»Könnt’ net besser geh’n, jetzt wo du wieder da bist. Aber nun lass mich erst mal deinen Mann begrüßen.«

Sie musterte Andreas von oben bis unten. Dann nickte sie zufrieden.

»Respekt«, meinte Burgl Hofer. »Einen feschen Burschen hast’ dir da angelacht. Mit dem wär’ ich auch durchgebrannt.«

»Oma!«, rief Hanna.

»Mutter!«, kam es von Waltraud.

Dann lachten alle und setzten sich an den Küchentisch, auf dem eine große Aufschnittplatte stand. Dazu Butter, Marmelade, Bergkäse und kräftiges Bauernbrot.

»Greift nur zu!«, forderte die Bäuerin ihre Tochter und den Schwiegersohn auf. »Ihr müsst doch hungrig sein, nach der langen Fahrt.«

Hunger hatte Hanna in der Tat. Am Morgen hatte sie nichts essen können, vor lauter Aufregung. Doch jetzt, nach der herzlichen Begrüßung, war alle Anspannung von ihr abgefallen, und ihr Magen meldete sich.

Herrlich schmeckte es, in der heimischen Küche!

Die junge Frau hatte längst vergessen, wie schön es war, im Kreis der Lieben zu essen. Das Brot schmeckte immer noch so lecker wie früher. Oma Burgl buk es seit Jahren, genauso wie Semmeln und Laugenbrezel. Hanna konnte sich nicht erinnern, dass sie diese Sachen einmal beim Bäcker gekauft hätten.

»Ist ja schön, dass es so gut mit eurem gemeinsamen Urlaub geklappt hat«, meinte Waltraud Behringer im Gespräch. »Ich mein’, du, Robert, kannst es dir als selbstständiger Unternehmer ja einrichten. Aber bei Hanna stell’ ich’s mir schon ein bissel schwieriger vor.«

Die junge Frau schluckte, während Andreas sie überrascht ansah. Hanna bemerkte siedend heiß, dass sie etwas ganz Wichtiges vergessen hatten.

Sie hatten nicht über Robert Gerkes Beruf gesprochen!

Sie schüttelte unmerklich den Kopf und bedeutete ihm, nicht weiter darauf zu reagieren. Ihre Mutter ging aber auch nicht weiter auf das Thema ein. Sie schenkte Kaffee nach und forderte die beiden auf, noch mehr zu essen.

»Es ist wirklich alles sehr lecker«, sagte Andreas und lehnte sich zurück. »Aber jetzt geht nix mehr rein.«

Er sah Hanna an.

»Ich würd’ gern’ einen Spaziergang machen, Spatzl«, erklärte er. »Hast’ net Lust, mir ein bissel die Gegend zu zeigen?«

Sie nickte. Doch die Bäuerin machte einen anderen Vorschlag, der Hanna zusammenzucken ließ.

»Wollt ihr net erst mal euer Zimmer bezieh’n?«, fragte sie. »Vater hat extra die Kammer neben dem Dachboden für euch hergerichtet.«

Hanna sah Andreas an.

Schmunzelte er etwa?

Na warte, Bursche, wenn du dir da was ausrechnest, dann bist’ aber schief gewickelt, dachte sie.

Nie und nimmer schlaf’ ich mit dir in einem Bett!

*

Die Kammer erwies sich als recht geräumig. Früher, erinnerte sich Hanna, waren dort alte ausrangierte Möbel, Koffer und Kartons gelagert worden. Jetzt hatte sie einen neuen Anstrich bekommen, eine Lampe hing anstelle der nackten Glühbirne von der Decke, und vor dem großen Fenster hing ein bunter Vorhang. An der Wand stand ein großer Kleiderschrank, rechts hatten Tisch und zwei Sessel Platz gefunden.

Links stand, zu Hannas Entsetzen, das alte Doppelbett ihrer Eltern!

Es war frisch bezogen. Durch das geöffnete Fenster drangen frische Luft und Vogelgezwitscher herein. Es roch noch ein wenig nach der neuen Farbe.

Andreas hatte die beiden Koffer hereingetragen. Er setzte sie ab und schaute sich um.

»Ein richtiges Hochzeitsbett«, meinte er und ging ans Fenster und schaute hinaus.

»Bild’ dir bloß keine Schwachheiten ein!«, versetzte Hanna, froh darüber, dass ihre Mutter und die Oma zwei Stockwerke tiefer in der Küche saßen und die Unterhaltung nicht mithören konnten. »Wenn du denkst, dass wir beide da drin’ schlafen, dann bist’ ganz schön im Irrtum!«

Andreas drehte sich zu ihr um, einen seltsamen Ausdruck im Gesicht, den sie sich nicht erklären konnte. Er trat zu ihr und nahm ihre Hände.

»Was denkst du denn von mir?«, fragte er kopfschüttelnd und mit einem leicht amüsierten Unterton. »Selbstverständlich rechne ich mir nix aus.«

»Dann ist ja gut«, sagte Hanna.

Sie sah ihn an und fragte sich, warum bloß sie plötzlich den Wunsch hatte, von ihm geküsst zu werden …

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Hannas Mutter stand in der Tür und schaute ein wenig verlegen. Im Arm hatte sie einen Stapel Handtücher.

»Ich wollt’ net stören«, entschuldigte sie sich. »Die Handtücher …«

Hanna nahm sie ihr ab.

»Dank’ schön, Mutter«, sagte sie. »Und du störst ganz sicher net.«

Sie deutete auf die Koffer.

»Wenn wir ausgepackt haben, machen wir erst mal einen Spaziergang.«

»Ist recht. Lisa hat übrigens angerufen und gefragt, ob ihr schon da seid. Thomas hat einen Anzug gefunden, und sie machen sich auf den Heimweg.«

»Schön. Ich freu’ mich, die beiden wiederzusehen.«

»Und ich freu’ mich, meine Schwägerin und den zukünftigen Schwager endlich kennenzulernen«, meinte Andreas.

Waldtraud Behringer nickte.

»Gut. Dann lass ich euch erst mal allein’.«

Hanna legte die Handtücher in den Schrank. Ihre Mutter war wieder nach unten gegangen. Sie räumten die Koffer aus und stellten sie anschließend auf den Kleiderschrank, damit sie aus dem Weg waren.

»Du hast wirklich eine nette Familie«, bemerkte Andreas, als sie wenig später über den Hof spazierten. »Zumindest, was ich bis jetzt davon kennengelernt hab’.«

Hanna lächelte. Sie freute sich, wieder daheim zu sein. Und darüber, dass Andreas sich so gut mit der Mutter und der Großmutter verstand. Vielleicht würde der Besuch zur Hochzeit ihrer Schwester doch nicht so schlimm, wie sie es befürchtet hatte. Ihr »Mann« jedenfalls, kam bisher gut an. Ihre Mutter schien Robert nicht mehr übelzunehmen, dass er daran schuld war, dass die Tochter damals mit ihm nach München gegangen war.

»Sag’ mal, wir haben gar net darüber gesprochen, was dieser Robert eigentlich beruflich macht«, sagte Andreas.

»Stimmt. Beim Frühstück wär’s beinah’ schiefgegangen, als Mutter darauf zu sprechen kam. Also, du bist selbstständig und hast eine kleine Firma für Softwareentwicklung.«

Andreas Felber nickte.

»Und der richtige Robert …?«

Hanna machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich hab’ keine Ahnung, womit er sein Geld verdient«, antwortete er. »Vermutlich lebt er auf Kosten einer Frau, die genauso dumm und blind ist, wie ich es war.«

Der bittere Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Andreas nahm ihre Hand, und sie ließ es geschehen.

»Du warst verliebt damals«, sagte er. »Du hast ihm vertraut und bist hereingefallen. Aber jetzt darfst’ dich deswegen net mehr grämen. Vergiss den Kerl einfach.«

Hanna verzog die Mundwinkel.

»Wenn das so einfach wär’«, entgegnete sie. »Du siehst doch, wie auf fatale Weise die Vergangenheit wieder lebendig geworden ist. Ob ich will oder net, Robert Gerke bestimmt immer noch über mein Leben.«

Andreas hielt weiter ihre Hand und drückte sie.

»Aber jetzt bin ich bei dir, und zusammen werden wir die Sache hier überstehen«, sagte er, mit einem zuversichtlichen Lächeln.

Hanna sah ihn dankbar an.

»Ich werd’ auch nie vergessen, dass du das für mich tust.«

Sie standen an der Rückseite des Bauernhauses. Vor ihnen war eine Weide, auf der die Kühe des Hofes standen, weit hinten ragten die Berge in die Höhe. Es war ein Postkartenidyll, und Hanna merkte schmerzlich, wie sehr sie diesen Anblick vermisst hatte. Andreas ließ ihre Hand los und legte seinen Arm um sie. Hanna ließ das geschehen, dankbar für diese Geste. Sie schloss die Augen, und für einen Moment war die Wirklichkeit ausgeblendet und vergessen.

*

Lisa Behringer und ihr Verlobter kamen bald darauf auf den Hof gefahren. Die Schwestern lagen sich in den Armen.

»Schön, dass du da bist!«, sagte die jüngere der Behringertöchter.

Hanna begrüßte ihren zukünftigen Schwager. Thomas Bergmeister strahlte. Ihm und Lisa stand das Glück über die bevorstehende Hochzeit richtig ins Gesicht geschrieben.

»Grüß dich, Hanna«, sagte er und reichte auch Andreas die Hand. »Und du bist der Robert?«

Andreas Felber nickte. Irgendwie war ihm sein falscher Name schon in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie gingen ins Haus. In der Küche war der große Tisch schon für das Mittagessen gedeckt, jetzt wartete man nur noch auf den Bauern.

»Vater hat grad angerufen«, erzählte die Mutter. »Er musste noch in der Werkstatt warten. Aber jetzt ist das Ersatzteil geliefert worden. Er ist auf dem Heimweg.«

»Prima, dann können wir den Traktor ja gleich nach dem Essen reparieren«, freute sich Thomas.

Er sah Andreas fragend an.

»Verstehst du was von Motoren?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf.

»Leider net«, antwortete er. »Da hab’ ich nun gar nix mit am Hut. Aber vielleicht kann ich ja euch trotzdem helfen. Ihr müsst bloß sagen, was ich machen soll.«

Thomas lächelte.

»Net nötig. Aber danke fürs Angebot.«

Er deutete zum Fenster.

»Ich glaub’, der Vater ist schon da.«

Hanna und Lisa stellten zwei große Suppenschüsseln auf den Tisch. Hans Behringer betrat die Küche, ein Strahlen lief über sein Gesicht, als er seine älteste Tochter sah. Hanna flog ihm in die Arme, und sie drückten sich stumm.

»Grüß dich, Madel«, sagte der Bauer, mit belegter Stimme. »Ich freu’ mich, dich zu seh’n.«

»Ja, Vater«, nickte sie, »ich freu’ mich auch.«

Bevor Hans Behringer Andreas die Hand reichte, musterte er ihn einen Moment. Dann nickte er.

»Herzlich willkommen. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen.«

»Grüß Gott«, sagte Andreas und schüttelte die Hand.

»Na ihr zwei«, wandte sich der Vater an die Brautleute, »seid ihr fündig geworden?«

Lisa nickte.

»Obwohl’s gar net so leicht war«, antwortete sie. »Wenn’s nach Thomas ginge, dann würd’ er am liebsten in Jeans heiraten.«

»Die Dinger sind nun mal praktisch«, meinte der Bräutigam.

»Aber doch net zur Hochzeit!«, riefen alle weiblichen Mitglieder der Familie Behringer gleichzeitig.

Bevor gegessen wurde, musste der neue Anzug gezeigt werden. Lisa holte ihn und hängte das gute Stück an die Küchentür. Es war ein schicker Trachtenanzug aus schwarzem Stoff, mit silberfarbenen Motiven verziert. Dezent zwar, aber man konnte immer noch sehen, dass der Träger der Heimat verbunden war und Wert auf Tradition legte.

»Mein Kleid zeig’ ich dir nachher«, sagte Lisa zu ihrer Schwester. »Thomas darf es ja noch net seh’n.«

»Wie war eigentlich eure Hochzeit?«, fragte Oma Burgl beim Essen.

Hanna durchlief es siedend heiß.

»Ach, wir haben nur in einem ganz kleinen Rahmen gefeiert«, rettete Andreas geistesgegenwärtig die Situation. »Bloß mit meinen Eltern und den Trauzeugen.«

Hanna bemerkt, wie ihr Vater die Mutter ansah. Sie ahnte, was in ihnen vorgegangen sein musste, als Andreas seine Eltern erwähnte …

Waltraud und Hans Behringer gehörten zu dem Schlag Menschen, denen solche Ereignisse etwas bedeuteten. Abgesehen davon, dass sie aus moralischen und christlichen Gründen auf eine Hochzeit bestanden. Das war genau der Grund, warum Hanna ihnen vorgeschwindelt hatte, verheiratet zu sein. Den ethischen Werten verbunden, hätten sie es nicht ertragen, wenn ihre Tochter in »wilder Ehe« gelebt hätte.

»Na ja, hier wird’s auf jeden Fall größer«, meinte Thomas.

»Wie viele Gäste habt ihr denn eingeladen?«, erkundigte sich Hanna.

»Ich glaub’, es sind so knapp hundert«, erzählte Lisa.

»Du meine Güte!«, entfuhr es Andreas.

»Das ist hier auf dem Land so«, erklärte Hans Behringer. »Da kommen die ganze Nachbarschaft und das halbe Dorf.«

»Ja, da gibt’s noch reichlich zu tun«, nickte die Großmutter.

Die große Scheune sollte ausgeräumt und als Festsaal hergerichtet werden. Zuerst hatte man überlegt, im Hotel, in St. Johann, zu feiern, doch die jungen Brautleute wollten das Geld lieber sparen und später in den Anbau stecken, der geplant war, um den Eltern ein Altenteil zu schaffen.

Zahlreiche Helfer hatten sich schon gemeldet, die mit anpacken wollten. Zwei Bäuerinnen aus der Nachbarschaft waren für das Kochen und Backen zuständig, und die freiwillige Feuerwehr, in der Thomas und Hans Mitglieder waren, würde für Tisch und Bänke sorgen, damit die Gäste ausreichend Plätze hatten.

»Was kann ich denn noch tun?«, fragte Hanna.

»Wir«, verbesserte Andreas. »Ich helf’ freilich auch mit.«

»Ach, da gibt’s noch genug zu tun«, sagte die Bäuerin. »Das besprechen wir am besten nach dem Abendessen. Bis dahin ruht euch lieber noch ein bissel aus.«

Die Aussicht, gleich mit Andreas nach oben in die Kammer zu gehen, löste sehr gemischte Gefühle in Hanna aus. Noch immer hatte sie keine Lösung für das Problem mit dem Schlafen gefunden.

In ihrer Vorstellung schrumpfte das Doppelbett plötzlich zusammen, und es wurde immer enger darin …

»Ich dachte, Robert und ich fahren nach dem Essen nach St. Johann«, sagte sie rasch, bevor das Thema Ausruhen weiter ausgebreitet wurde. »Mal schau’n, was sich da verändert hat.«

*

»Klar fahr’ ich mit«, hatte Andreas gesagt. »Ich bin sowieso schon ganz gespannt auf das Dorf.«

Hans Behringer hatte gemeint, Hanna solle keine großen Erwartungen haben. St. Johann sei, seit Jahr und Tag, noch genauso, wie damals, als sie fortging.

Und so war es auch. Andreas ging neben ihr und schaute sich neugierig um. Die alten Häuser, mit ihren Lüftlmalereien, begeisterten ihn, ebenso die Kirche, deren schlanker Turm in die Höhe

ragte.

»Wollen wir mal hineingeh’n?«, schlug Hanna vor.

»Gern«, nickte er und stieg neben ihr den Kiesweg hinauf.

Hanna öffnete die Tür, und sie betraten den Vorraum. Erwartungsvoll blickte Andreas durch die Glasscheibe und öffnete die zweite Tür.

»Mensch, das muss man wirklich geseh’n haben!«, entfuhr es ihm.

Hoch über den beiden Besuchern wölbte sich die Decke mit dem herrlichen Fresko. Szenen aus der Bibel waren meisterlich dargestellt, angefangen bei der Erschaffung der Welt, bis hin zur Sintflut und der Arche Noah.

Atemberaubend waren auch die Fensterbilder, die ebenfalls Motive aus dem Alten und Neuen Testament zeigten. Überall standen wunderschöne Heiligenfiguren, von frommen Holzschnitzern geschaffen, die teilweise mit Blattgold verziert waren.

Gold, Rot und Blau die vorherrschenden Farben – die Farben der Könige.

Sie gingen langsam durch den Mittelgang, froh darüber, dass außer ihnen sonst keine anderen Besucher da waren, und sie sich in aller Ruhe umschauen konnten.

»Morgens und mittags schaut’s hier anders aus«, bemerkte Hanna. »Da strömen die Leut’ nur so hier herein.«

Andreas war stehen geblieben. Er nickte.

»Das glaub’ ich gern’, bei dem, was es hier so zu sehen gibt.«

Hanna zog ihn weiter. Sie deutete auf ein Gemälde, das an der Wand unter der Galerie hing. Es war ein Porträt des Gottessohnes. »Gethsemane«, stand auf einem kleinen Schild daneben. Es zeigte Jesus Christus am Abend vor der Kreuzigung, im Gebet versunken. Dem unbekannten Maler war es meisterhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Gesicht des Erlösers wiederzugeben.

»Das muss ein wirklicher Künstler gewesen sein!«, meinte Andreas und schaute sich weiter um.

Eine Skulptur weckte sein Interesse. Auf einem Sockel stand eine Madonna, die so schlicht war, dass genau diese Einfachheit jeden Betrachter ergriffen und stumm dastehen ließ.

»Das ist der größte Schatz, den unsre Kirche zu bieten hat«, erklärte Hanna. »Man weiß net mehr, wer die Gottesmutter geschnitzt hat, das Alter wird auf über dreihundert Jahr’ geschätzt.«

Der Bergpfarrer 253 – Heimatroman

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