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Hoffnungsschimmer

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Das Navigationsgerät eingeschaltet, zur Sicherheit die Wegbeschreibung noch ausgedruckt, mache ich mich auf den Weg zu meinem Bewerbungsgespräch. Man weiß ja nie bei den technischen Geräten, die genau immer dann ausfallen, sollte man sie einmal benötigen. Viele Einladungen hatte ich bisher ja noch nicht, trotz der massenhaften Schreiben, die ich bereits verschickt hatte. Nicht, dass es Massenware gewesen wäre. Für manche Bewerbungen habe ich Tage benötigt, bis sie mir gefielen. Leider war das Gefallen dann wohl nur auf einer Seite gewesen, nämlich auf meiner.

»Ab vierzig wird es schwierig eine Arbeit zu finden«, sagte eine Bekannte zu mir. Ich denke, das stimmt so nicht. Ich formuliere das eher so: »Ab fünfundvierzig ist es hoffnungslos noch eine Festanstellung zu erhalten.«

Es ist wahrscheinlicher einen einfühlsamen, netten, unterhaltsamen, humorvollen, fürsorglichen, reichen Mann zu finden, der noch nicht geschieden oder andere Schäden aufzuweisen hat, als eine feste Arbeitsstelle. Dass ich in meinem hohen Alter von 45 Jahren, so kurz vor dem Ende des Arbeitslebens - es sind zwar noch 22 Monate, sorry, nein 22 Jahre bis zum offiziellen Rentenantritt, Tendenz steigend - noch einige Prüfungen sehr erfolgreich bestanden habe, Marathonschwimmen während der Sommermonate absolvierte, mich drei Monate in Kambodscha ehrenamtlich aufgehalten habe, sämtliche Malerarbeiten im und am Haus inklusive der Außenfassade ohne Gerüst selbst erledigte, scheint irgendwie niemanden zu beeindrucken.

An manchen Tagen hätte ich am liebsten, statt meiner drei Seiten Lebenslauf, nur den folgenden Satz an meine potentiellen Arbeitgeber verschickt: »Ich gehe auch gerne jetzt schon in Rente, wenn Sie keinen Menschen mehr über vierzig anzustellen gedenken – das ist kein Problem für mich! Dann habe ich Zeit den »Ironman« auf Hawaii zu gewinnen, um auf dem Rückweg kurz den Mount Everest zu besteigen – selbstverständlich ohne Atemmaske. Danach würde ich, bevor ich nach Hause schwimme, eine Anlaufstelle für ehemalige Taliban in Marjah gründen.«

Auf dieses »Bewerbungsschreiben« würde ich sicher einige Antworten erhalten, von der CIA oder dem KGB, aber keine adäquate Anstellung. Nein, nicht um mich für den Geheimdienst zu werben. Eher, um meine islamistische Verbindung zu checken, da ich das Wort »Taliban« erwähnte. Alternativ würden wohl auch Sanitäter mit einer netten weißen Jacke vorbeikommen. Diese Jacke wird nicht vorne zugezogen, sondern hinten und ist nicht der neue Trend oder Mode Gag von H&N. Abtransport in die Nervenheilanstalt, bevor ich Unheil anrichten oder gar einen unbefristeten Arbeitsvertrag unterschreiben könnte.

Aus diesen Gründen habe ich dann doch von einer derartigen Bewerbung Abstand genommen, zumindest bisher. Leider weiß ich noch nicht, zu welchen Taten ich in Kürze bereit bin. Trotzdem überlege ich ernsthaft, dass eine derartige Vermarktung als Werbestrategie vielleicht doch eine Überlegung wert sein könnte, sollte das bevorstehende Gespräch wieder nicht den gewünschten Ausgang haben.

Man soll sich ja in eine sogenannte USP bringen – »unique selling preposition«. Mit dieser Bewerbung, die mir da gerade eingefallen ist, wäre das geschafft, sofern der Personalchef oder die Personalchefin einen Funken Humor hat. Zugegebenermaßen ist das bei Buchhaltern eher unwahrscheinlich. Denn leider ist die Eigenschaft Humor weder in der Finanzbranche, geschweige denn in Buchhaltungskreisen salonfähig. Gelacht wird, wenn überhaupt im Keller, alternativ in der Toilette, wo es keiner sieht. Vorher wird allerdings die Gretchenfrage gestellt: »Sollen wir lachen oder haben wir schon gelacht?« Das nennt man dann einen Buchungssatz. »Soll an Haben« ... oder habe ich tatsächlich falsche Informationen in all den Jahren als Buchhalterin als richtig interpretiert?

Meinen früheren Kreditkunden bei der Sparbank, habe ich ihren nie enden wollenden, nach jeder Umschuldung wieder auftretenden Soll-Saldo auf dem laufenden Konto folgendermaßen erklärt: »Das ›S‹ am Ende der Zahl heißt ›Soll‹ – und bedeutet eigentlich ›Haben‹ – denn eigentlich sollten Sie ›Guthaben‹ haben, haben aber einen ›Soll‹-Saldo.« Das war damals, als die Arbeit noch sinnvoll war und annähernd Spaß machte. Leider haben die wenigsten Kunden das verstanden. Heute wundere ich mich nicht mehr darüber, denn wenn sie es verstanden hätten, wäre ihr Saldo im Haben und nicht im Soll gewesen. Alles klar? Wenn nicht, ist das auch kein Weltuntergang. Aber all das war einmal.


Ich schüttele die angenehmen Gedanken der Vergangenheit ab und konzentriere mich auf das bevorstehende Gespräch mit Herrn Dr. Dahlmanns. Herr Dr. Dahlmanns nennt sich Finanzvorstand der »Scrooge Digital Download Sàrl«. Ein Unternehmen, welches zu einem der größten Elektrohandelskonzerne weltweit gehört: Scrooge. Zwar kümmert sich diese Tochter »Scrooge Digital Download Sàrl« lediglich um die wenigen Downloadgeschäfte des Konzerns und beschäftigt dementsprechend nur eine Handvoll Leute. Diese »Handvoll« bezieht sich auf die Hand eines Arbeiters im Sägewerk nach einem Unfall – denn wir sind insgesamt nur vier Mitarbeiter inklusive des Finanzvorstandes.

»Super, wenn das klappen würde«, dachte ich nach dem langen, leider auch langatmigen Telefonat mit meinem eventuellen neuen Arbeitgeber. Die Arbeit wäre zwar so überhaupt nicht das, was ich nach der Finanzwelt zu machen gedachte – nämlich einer sinnstiftenden und nicht nur an kapitalistischen Werten ausgerichtete Arbeit - aber zumindest würde ich in einer supermodernen, hypertechnischen Umgebung arbeiten dürfen. Vorausgesetzt, »Mann« entscheidet sich für mich.

Ich sollte in der besagten Firma in der Buchhaltung arbeiten, als einzige Mitarbeiterin und damit auch allein verantwortliche Person. Hatte ich nicht schon lange genug in dem Haifischbecken der Finanzwelt gelitten? Nein, der liebe Gott hat zurzeit keine gütige Phase. Ich hatte schon diverse Kommunikationsversuche mit ihm gestartet, die leider irgendwie einseitig geblieben sind. »Lieber Gott, leider kann ich auch nichts dafür, dass Vorstände der Subprimekrisenbank weder Ahnung noch Einsicht hatten, vielleicht auch nie haben werden. Mich trifft hier keine Schuld – außer, dass meine einzigen jemals erworbenen Aktien von dieser Bank stammten.

Hierfür habe ich aber schon eine Wertberichtigung in voller Höhe bilden müssen – in einfachen Worten: Geld ist weg – hat wohl ein anderer, der schlauer war als ich. (Abschreibungen auf Finanzanlagen an Aktienbestand oder so, kann auch umgekehrt sein – so genau nehme ich das nicht.) Habe Erbarmen mit mir, schicke mich nicht wieder in die Hölle der Buchhaltung zurück.«

Die »Buchhaltung«, auch vornehm ausgedrückt als das »Bilanz- und Rechnungswesen« ... Alleine das Wort fast lautlos in meinem Kopf vor mich hin gesprochen bewirkt, dass ich unverzüglich eine LKW-Ladung Prozac1 benötige. Mein Großhirn bekommt innerhalb einer Nanosekunde vermeldet: »Augen und Ohren an Großhirn: Laaaaangeweile ... Großhirn an Mund und Muskeln: Gähnen, Tiefschlaf vorbereiten«. Auch würde ein mir angehängtes EEG unverzüglich alptraumartige Flashbacks bei Nennung dieses Wortes in meinem Hirn verzeichnen.


Da ich aber von meinem früheren Chef des Öfteren zu hören bekam: »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, verlange ich auch keinen spektakulären Auftritt der Weather Girls wie einst vor der Finanzkrise zu irgendeiner Party der Subprimekrisenbank. Nee, Udo Jürgens tut es vorübergehend dann auch – aber bitte dann nur mit Sahne.

Die Sahne oder die Sahnehäubchen werden hier aber die neuesten technischen Geräte sein, die der Handelskonzern täglich massenhaft an den Mann und die Frau bringt. Nun, ich zwinge mich, das Ganze positiver zu sehen. Ein erster Vorteil des Gelingens dieses Bewerbungsgespräches wäre, dass ich ein wenig Alltagstrott nach dem nicht endenden Bewerbungsmarathon gut gebrauchen könnte. Auch würde ja meine Freistellungsphase im Dezember auslaufen und mir dann die Arbeitslosigkeit drohen. Außerdem wäre ein supertolles Büro mein neuer Arbeitsplatz - mit dem allerneuesten technischen Schnickschnack ein kleines Trostpflaster dafür, dass ich wieder in der Buchhaltung landen würde.

Dabei hatte ich mir vor zwei Jahren geschworen, als ich die Subprimekrisenbank verlassen musste, nie wieder irgendwelche Buchungen durchzuführen oder gar eine Mehrwertsteuererklärung ausfüllen zu müssen.

Es kommt eben im Leben manchmal anders, als man denkt. Oft wird man über einige Umwege, die sich anfühlen wie ein reiner Irrgarten, zum Ziel geleitet. Vielleicht sind diese Umwege so lang, dass man in der Zwischenzeit verstorben ist, was unter Umständen auch von Vorteil sein kann.

Mein Gefühl ist, dass die letzte Variante mein Schicksal sein wird. »Vor dem eigentlichen Ziel ist Topsi Torhaus leider mit Abgabe der Mehrwertsteuererklärung verstorben.«

Aber dann würde ich immerhin mit technischen Neuheiten in der Buchhaltung arbeiten und sterben.


Ich beame mich zurück in die Gegenwart und konzentriere mich auf den Verkehr. Ich fahre entsprechend den Anweisungen des Navigationsgerätes.

Eigentlich kenne ich mich ja im Großherzogtum Luxemburg einigermaßen aus, aber in diesem Ort, der Moderdange heißt, bin ich noch nie gewesen. Der Uhrzeiger bewegt sich schon auf fünf Uhr am Nachmittag und im Dezember heißt das, es graut und auch mir graut es. Zum Glück ist kein Schnee in Sicht, auch wenn der Himmel irgendwie danach aussieht.


»Wenn Sie aus der Stadt kommen, ist vor dem Einkaufszentrum Cactus das Office Center, das Full Service Office Center, kennen Sie ja bestimmt?«, instruierte mich der liebe Herr Dr. Dahlmanns am Telefon.

Meine Stimmbänder wollten spontan die Antwort: »Was? Nie davon gehört!« produzieren, aber mein Großhirn war schneller. »Ja klar, kenne ich – kennt doch jeder, aber in Luxembourg ist mir der genaue Standort gerade nicht greifbar.« Puh, den ersten großen Fettnapf habe ich übersprungen.

So sollte ich eigentlich, den Beschreibungen des Herrn Dr. Dahlmanns folgend, am Zielort angekommen sein. Jetzt frage ich mich nur: »Wo um Himmels willen ist denn dieses weltbekannte Office Center?«

»Sie haben ihr Ziel erreicht«, spricht die nette Frau aus dem Navigationsgerät. Komisch, er sprach doch von einem weltbekannten Office Center, direkt neben dem Einkaufszentrum mit dem Namen Full Service Office Center. Ich hatte mir in meinen Gedanken einen modernen, weißen Bau mit viel Glas oder alternativ einen kompletten Glasbau vorgestellt.

Diese Konstruktionen sind heutzutage sehr gefragt. Wenn es auch etwas schwierig ist, in einem solchen Brutkasten im Sommer erträgliche Temperaturen aufrechtzuerhalten. Selbst bei der Subprimekrisenbank, die nicht gänzlich aus Glas bestanden hat, war die Kleiderfrage im Sommer eine heikle Angelegenheit. An einem Tag waren es 18 Grad Celsius und eine Daunenjacke wäre angebracht gewesen, am nächsten Tag hatte man in der Schaltzentrale die Wettervorhersage nicht richtig gedeutet, und auf einen Schlag glaubte man sich im tropischen Dschungel wiederzufinden.

Auf diese Weise entstand locker eine Temperaturschwankung im Innenraum von 20 Grad. Nach diesen Temperaturschwankungstagen waren unerklärlicherweise sehr viele Mitarbeiter an Erkältungen erkrankt, was die Geschäftsführung gar nicht verstehen konnte. Da aber leider die Schaltzentrale und somit der Temperaturregler in der deutschen Hauptzentrale Hassdorf gelegen war, blieb die Anzahl der temperaturschwankungsbedingten Erkältungskrankheiten das Geheimnis der Luxemburger Niederlassung. Aber man sollte nicht undankbar sein, die Schaltzentrale hätte auch in der Wüste Gobi oder alternativ in Sibirien liegen können! Und dann hätten die Schwankungen von Tag und Nacht inklusive der Zeitzonen ganz anders ausgesehen.


Zurück zu den Office Gebäuden in meinen Traumvorstellungen. Bei diesen mir vorschwebenden Gebäuden waren die Glasfronten trotz winterlicher Verhältnisse vollkommen sauber. Man schritt ehrfürchtig durch eine große Empfangshalle aus Chrom, Carrera Marmor zierte den Boden und erlesene Zeitungen standen an der Empfangsinsel für die Besucher bereit. Ein Blumenarrangement in schillernden Farben, als wäre es für eine Hochzeit eines Scheichs in Dubai bestellt, machte das Bild perfekt.

Die Büros waren ausgestattet im Sinne der Feng Shui Philosophie: groß, sauber und offen, mit Glasschreibtischen und ergonomisch geformten, schwarzen, edlen Lederbürostühlen. Feine Teppichböden, supermoderne Bildschirme und ein Blick ins Grüne, alternativ auf einen Pool, rundeten meine Vorstellungen ab. So wie die Office-Neubauten eben alle heutzutage aussehen und in welchen ein Unternehmen der Kategorie Scrooge Inc. normalerweise residieren würde, sollte man annehmen.


Ein Hupen hinter mir katapultiert mich in die triste Gegenwart. »Mist«, denke ich. Ich stehe irgendwie auf der Abfahrt ins Einkaufszentrum. Weit und breit ist kein Glasbau zu sehen, kein sauberer Glasbau, nicht mal ein schmutziger. Also versuche ich irgendwo links abzubiegen, oder war es nochmal rechts? Sicherheitshalber schiele ich auf meinen schlauen Zettel: Links ist die richtige Richtung!

»Ach, da ist ja auch der Cactus, dann bin ich doch tendenziell richtig«, sage ich mir. Also biege ich links ab, auch wenn die Stimme aus dem Navigationsgerät eine andere Meinung vertritt. Ich bin erstaunt, dass ich nun auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums stehe. Sicherlich habe ich in meinen Gedanken einen vorigen Befehl der Dame aus dem Navi verpasst.

Das kommt davon, wenn man von tollen Gebäuden und Glasfassaden träumt. Es ist zwar fast dunkel, aber dennoch wäre mir ein großer Bürokomplex aufgefallen, oder bin ich neuerdings nachtblind?

Das käme bei meinem Greisenalter hin. Zum Glück bin ich rechtzeitig weggefahren. So habe ich genügend Zeit zu suchen. Aber nach der Beschreibung von Herrn Dahlmanns muss sich das Büro ja in unmittelbarer Nähe befinden. Wäre ja gelacht, wenn ich das nicht finden würde. Also parke ich auf dem offiziellen Parkplatz des Einkaufszentrums und gehe in die von Herrn Dahlmanns beschriebene Richtung.

Auf meiner Rechten sehe ich ein ziemlich verfallenes Haus, Nummer 158. Nein, das passt nicht. Es sollte direkt daneben stehen, also die Hausnummer 156. Ich gehe ein Stück weiter, die Nummer 156 kommt, aber ich sehe nur ein Küchenstudio. Ich glaube mich zu erinnern.

»Das Bürocenter ist direkt vor dem Cactus, es ist ein Küchenstudio unten im Gebäude.« Sehr gut, dann bin ich ja richtig. Zügig nähere ich mich dem Küchenstudio, aber kein »Office Center« ist zu sehen. Ich lasse meine Blicke etwas nach oben schweifen, ... ah, hier steht etwas von Service Office. Das muss es dann ja sein, aber wo verdammt ist denn der Eingang zu dem Center? Zum Glück bin ich früh genug da, um nicht verspätet zu meinem Termin zu erscheinen.

Mit meinen Unterlagen im Arm mache ich mich zum vermeintlichen Eingang. »Mist, nun fängt es auch noch an zu regnen«, schimpfe ich laut vor mich hin, und ich habe selbstverständlich keinen Schirm mitgenommen. Ich renne also zu dem »Eingang« - Verschlossen!

Klar, sieht ja auch nicht gerade aus wie der Empfang eines Office, eigentlich eher wie der Eingang eines Ladens für Bastelbedarf in früheren Zeiten.


Ich gehe also um das Haus herum, nun bin ich richtig, denn nebenan sollte das Küchenstudio sein. Langsam gehe ich im Dunkeln nach hinten zum Haupteingang. Vorne oder hinten angekommen - je nach Perspektive nicht ganz eindeutig, sehe ich nur eine winzige, fast baufällige Treppe, die ich hinaufgehe und dabei die Luft anhalte, um weniger zu wiegen. Denn so wie diese Treppe hier aussieht, könnte sie, selbst unter einem Fliegengewicht wie ich es bin, zusammenbrechen.

»Hier kann also unmöglich ein Office Center beherbergt sein«, muss ich mir schließlich eingestehen. Also schleiche ich die Treppe im Dunkeln wieder zurück, dem lieben Gott dankend, dass mich erstens die Treppe noch einmal ausgehalten und zweitens, niemand mich meiner Bewerbungsunterlagen beraubt hat.

Ratlos renne ich den dunklen Weg zurück. Ich komme am vielbesagten Küchenstudio vorbei. Eigentlich sieht es geschlossen aus. Trotzdem versuche ich die Klinke runterzudrücken und siehe da, die Tür lässt sich mit einem Glöckchenklang öffnen: »Klingklong«. Ich gehe vorsichtig rein – kein Angestellter oder Kunde in Sicht, so scheint es. Egal, bevor ich mir die Blöße gebe und bei Herrn Dr. Dahlmanns anrufen muss, um zu erklären, ich würde das Office nicht finden, frage ich lieber hier noch einmal nach. Ich warte einen Moment, ehe ich mich enttäuscht wieder der Ausgangstür zuwende, da erscheint von hinten ein Mann. Ich drehe mich um.

»Wissen Sie, wo ich das Full Service Office Center finde?« Der Mann schaut mich etwas überrascht an.

»Natürlich, das ist doch direkt nebenan.« Verdutzt antworte ich ihm: »Ja, aber ich war doch dort, da ist aber keine Klingel«. »Ich gehe mal mit Ihnen«, sagte der nette Mann, sicherlich denkend, dass »die Alte« zu blöd ist, um die Klingel zu finden.

»Hier draußen müsste, hm, ja hier ist wirklich keine Klingel. Dann müsste sie im Vorraum sein. Leider ist ja niemand mehr da. Ich meine, sie sind normal nur bis siebzehn Uhr anwesend.«

»Prima«, denke ich, bedanke mich artig und stehe in jeder Hinsicht im Regen. Nun bin ich komplett durchweicht, die Unterlagen auch. »Super Sache«, denke ich mit Hinsicht auf den Eindruck, den ich vor Herrn Dr. Dahlmanns machen werde.


Um nicht doch wirklich zu spät zum Vorstellungsgespräch zu kommen, was ja bekanntermaßen so ein Fauxpas ist, dass man eigentlich gleich wieder nach Hause gehen kann, greife ich zu meinem Mobiltelefon. Glücklicherweise habe ich mir die Nummer gespeichert und wähle sie, wohl wissend, dass die Roaming Gebühren horrend sein werden, aber eine Telefonzelle werde ich in der kurzen Zeit wohl keine mehr finden. »Gibt es denn so etwas heute überhaupt noch?«, denke ich gerade, als jemand abhebt.

»Scrooge Digital Download«, meldet sich die eigentlich sehr sympathische Stimme von Herrn Dahlmanns.

»Guten Abend, Topsi Torhaus, wir sollten heute ein Gespräch führen. Ich stehe vor dem Full Service Office Center und kann aber leider Ihre Klingel nicht finden.«

»Ach ja, es ist ja schon nach fünf Uhr, ab fünf ist die Zwischentür oft geschlossen«, höre ich als Antwort. »Die Dickies werden auch immer fauler«, vernehme ich dann fast unhörbar.

»Oh, ich meine die Office Betreiber, das Ehepaar Dick ist wohl schon im wohlverdienten Feierabend.«

Ich bin erleichtert: »Ach so, ich dachte schon, ich finde Ihre Klingel nur nicht.«

Mein Gesprächspartner erwidert nur knapp: »Ich komme an die Tür.« Nun, diese Hürde wäre dann schon einmal geschafft, auch wenn ich damit noch nicht eingestellt bin. Es wird sicher andere Einstellungskriterien geben, die überprüft werden. Zumindest entkomme ich hier meinem Schicksal, vor der Tür im Regen ganz aufzuweichen und Schwimmhäute zu bekommen. Doch bevor ich meine Gedanken an Vorzüge von Schwimmhäuten weiterspinnen kann, kommt ein großer Mann eine Treppe runter, meine Erlösung vom Regen.

»Ups, der ist aber jünger als meine Wenigkeit«, denke ich. Jetzt bin ich gespannt. »Ach ja, es ist ja wirklich niemand mehr da und die äußere Tür ist geschlossen, jetzt schon um fünf«, erwidert mein Gegenüber, statt mich zu begrüßen.

»Prima, ja die Tür ist abgesperrt, das habe ich auch bereits festgestellt und dir auch am Telefon gesagt. Es ist außerdem saukalt und es regnet in Strömen«, denke ich nur.

Kurz kommt mir der Gedanke, dass mein Gesprächspartner doch wusste, dass ich zum Gespräch kommen würde. Ich hätte an seiner Stelle die Tür aufgesperrt, denn dann hätte ich wenigstens klingeln können.

Aber es bleibt keine Zeit darüber weiter nachzudenken, da wir uns von dem unwirtlichen Regen in das Gebäude bewegen. Auf die Idee, dass es keine eigene Klingel für unser Office geben könnte, bin ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht gekommen. Bisher gab es die überall – sogar meine Großeltern hatten eine eigene Türklingel.

»Wir haben uns aus Einfachheitsgründen hier in diesem Full Service Office eingemietet. Da hat man alles, was man braucht und muss sich um nichts kümmern«, erklärt mir Herr Dr. Dahlmanns beim Hinaufgehen der Treppe.

»Das macht Sinn und spart vieles«, antworte ich mit einer rhetorischen Floskel. Alles scheint menschenleer. Das ist zwar einerseits ein gutes Zeichen, dass um diese Zeit alle nach Hause gegangen sind, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl bei dem gänzlich leeren Flur.

»Ja, das scheint ja prima zu sein, dann sind wohl einige Leute tagsüber hier in diesem Office Gebäude, den vielen Bürotüren nach zu urteilen, die es hier gibt«, entweicht mir wieder eine dieser Floskeln.

»Das stimmt, hier hinten ist mein Büro«, kommt es eher verhalten zurück. Wir gehen den Flur entlang. Meine Pumps machen einen fürchterlichen Krach, der hohl in dem leeren Flur verhallt. Fliesen, überall Fliesen – hier scheint ein passionierter Fliesenleger am Werk gewesen zu sein.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nie Gedanken über die Nachteile von Fliesen in Büros gemacht, gab es denn überhaupt Büros mit Fliesen? Teppichboden hat doch geräuschmäßig einige Vorteile gegenüber Fliesen. Wir gehen in ein Büro, zuerst in eine Art Vorzimmer, dann in ein normales Büro. Das Vorzimmer ist allerdings ein Vorzimmer ohne Vorzimmerdame, zumindest ist heute Abend keine mehr anwesend.

»Ziemlich leer für ein Vorzimmer von einem Finanzvorstand«, geht es mir durch den Kopf, als wir die Räumlichkeit passieren. Herr Dr. Dahlmanns geht hinter seinen Doppelschreibtisch und setzt sich. Ich stehe noch vor dem anderen Schreibtisch und warte darauf, dass er mich bittet, Platz zu nehmen.

Ist das nur eine dieser fiesen Einstellungstests, ob ich warte, bis ich einen Platz angeboten bekomme oder mich einfach hinsetze? So setze ich mich unaufgefordert auf den Stuhl. Mein Gegenüber bewegt keine Miene, sodass es wohl kein Test war, sondern reine Unhöflichkeit mir keinen Platz anzubieten. Ohne den üblichen Smalltalk zu Beginn eines Bewerbungsgesprächs, wie »Haben Sie gut hergefunden? Hatten Sie eine gute Reise?«, kommt mein Gegenüber nach deutscher Manier sofort zum Geschäftlichen.

»Gut, dann sind wir auch schnell fertig«, denke ich dazu lediglich. Es ist zwar eigentlich üblich, mit ein wenig Smalltalk anzufangen, oder sich gar in diesem speziellen Regenfall nach dem Grad der Aufweichung zu erkundigen, aber ich warte vergebens. Die Haare nass, die Jacke durchweicht und vor Kälte zitternd, sitze ich vor Dr. Dahlmann. Aber ich möchte nicht alles negativ werten, denn das Zittern könnte er ja auch meiner Aufregung zuschreiben.

»Ich suche jemanden für die Buchhaltung. Diese Arbeit würde aus folgenden Punkten bestehen: allgemein Buchungen SAP, Anlagenbuchhaltung, Kreditoren- und Debitorenbuchhaltung sowie die Erstellung der Mehrwertsteuererklärungen«, klärt mich mein neuer Chef in spe kasernenmäßig auf.

Aargghh, genau diese Arbeit wollte ich nie wieder machen. Hatte ich mir das nicht vor knapp zwei Jahren geschworen? Und nun begegnet mir die Reinform meiner Nichttalente hier in einer Stelle vereint wieder. »Womit habe ich das verdient?«, frage ich mich, oder besser: »Habe ich das hier echt verdient?« Habe ich denn meine ganzen Fortbildungen umsonst gemacht, monatelang bei der Beschäftigungsinitiative, drei Monate ehrenamtlich in Kambodscha gearbeitet, jede Menge Geld dafür bezahlt, damit ich dann wieder in der Buchhaltung lande?

Es scheint wohl so, und damit fallen mir manch einschneidende Erlebnisse wieder ein: Immer, wenn ich Menschen früher erklären sollte, was ich beruflich mache, habe ich erst nach der dritten Anfrage genauer geantwortet. Meist habe ich was von Büro oder Bank erzählt, der Großteil hat sich damit zufriedengegeben. Büro ist gleich Tippse und Bank ist Geldzählen. Aber es gab dann doch den ein oder anderen, der meine Tätigkeit genauer beschrieben habe wollte. Dann musste ich wohl oder übel damit rausrücken, welch langweiliges Tätigkeitsfeld sich mir täglich eröffnet, da es so ganz und gar nicht mit mir als Person und mit meinen privaten Leidenschaften übereinstimmt. Bei der Jobsuche ist es aber ganz hilfreich, dass mir dies zum Glück nicht auf der Stirn zu stehen scheint. Sonst hätte mich mein Gegenüber wohl schon sofort bei der Bekanntmachung durchschaut.


»Dann erzählen Sie mal, was Sie im Bilanz- und Rechnungswesen bei der Subprimekrisenbank S.A. für Tätigkeiten ausgeführt haben«, fordert mich mein Gesprächspartner auf und weckt mich aus meinen düsteren Gedanken.

»Eigentlich ist mein Hirn für solch langweilige Tätigkeiten nicht ausgestattet«, wollte meine Amygdala2 schon erwidern.

Aber wie so oft hat mein präfrontaler Cortex3 mich vor Schaden bewahrt und ich antworte deshalb, wie man es von einer normalen Buchhalterin erwarten würde: »Ich war seit 10 Jahren im Bilanz- und Rechnungswesen, anfänglich mit dem Aufbau eines Joint Ventures betraut, später wurden mir dann folgende Aufgaben zuteil…

Für den Rest muss ich nur noch meinen »verbalen Autopiloten« einschalten, denn das was jetzt kommt, habe ich schon hundertmal erzählt.

In der Hoffnung, dass Herr Dr. Dahlmanns über meinen Ausführungen noch nicht entschlafen ist, beende ich meinen Monolog über meine Tätigkeitsvielfalt in der Buchhaltung. Ich hoffe inständig, er möge nicht weiter nachfragen oder gezielte Fragen stellen, denn um ehrlich zu sein, hatte ich die meisten Erinnerungen an meine Arbeit in der Buchhaltung aus meinem Arbeitsspeicher unwiderruflich gelöscht – sofern sie denn überhaupt je da gewesen waren. Leider ist mir das Glück gar nicht recht hold am heutigen Tag. Denn Herr Dahlmanns möchte nun doch noch gerne mein aktuelles Buchhaltungswissen testen.

»Also gesetzt den Fall, wir haben eine Forderung, die uneinbringlich ist, und wollen diese in unserem System MAP buchen. Wie würden Sie dies buchen? Was natürlich nur ein hypothetischer Fall ist, denn wir haben natürlich keine uneinbringliche Forderungen.«

Ich setze auf mein schauspielerisches Talent und hoffe, dass mein Gesichtsausdruck wenigstens einigermaßen intelligent und wissend aussieht. Denn um ehrlich zu sein, ich habe keinen blassen Schimmer, was ich hier antworten soll.

Wild wühle ich in meinen buchhalterischen Erinnerungen. Moment!

Forderung ist ein Guthaben, aber es wird mehr, wenn man es ins Haben stellt oder war es umgekehrt?

Was soll ich auf die Schnelle hier antworten, morse ich dem präfrontalen Cortex, der ja angeblich so intelligent sein soll.

Meine Amygdala wäre da schneller gewesen und hätte geantwortet: »Keine Ahnung, habe ich schon damals in der Berufsschule nicht kapiert. Ich sehe auch keinen Sinn, etwas zu buchen, was sowieso bereits verloren ist. Streichen Sie es doch einfach mit dem Lineal aus der Bilanz oder benutzen Sie Tipp-Ex, dann ist es weg.« Mein präfrontaler Cortex weiß aber, dass eine solche Antwort ein sofortiges Aus bedeuten würde. So fangen meine Stimmbänder zumindest wenigstens an zu arbeiten und formulieren ganz langsam eine Antwort. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. So ein wichtiger Buchungssatz braucht Zeit zum Reifen, denke ich. »Also, wenn eine Forderung uneinbringlich ist, muss sie abgeschrieben werden. Wir hatten das mit den ABS Papieren seit 2008 fast täglich machen müssen«, versuche ich eine gehaltvolle Antwort hinauszuzögern, bis mir die richtige buchhalterische Antwort einfallen sollte. Die Betonung liegt auf »sollte«, denn eines weiß ich sicher: Die richtige Antwort kann mir mangels Wissen nicht einfallen, und wer hat schon Buchungssätze im Blut? Der Gesichtsausdruck von Herrn Dr. Dahlmanns erhellt sich komischerweise – vielleicht lacht er mich auch gerade nur aus. »Ach, Sie hatten viele uneinbringliche Forderungen?«, forscht mein Gegenüber interessiert nach. Natürlich hatten wir die, ... aber vielleicht war mein Gegenüber ja auch in einen mehrjährigen dornröschenähnlichen Tiefschlaf gefallen und ist erst nach der Krise wieder erwacht.

»Ja, in unserem Portfolio waren viele ABS Papiere und anderer Trash, ehm, ich meine uneinbringliche Forderungen. Wir hatten eine eigene Datei mit allen Einzelwertberichtigungen erstellt und monatlich ein Impairment auf diese Forderungen in MAP gebucht oder haben sie irgendwann komplett ausgebucht.«

Das sind die einzigen buchhalterischen Schlagwörter aus meinen gelöschten Dateien im Kopf, auf die ich noch zugreifen kann. Hätte ich mir mal die ganzen Dateien inklusive Buchungslogik von meinem Chef erklären lassen, würde ich heute ein besseres Bild abgeben.

Aber ich habe meine Zeit lieber meinen undankbaren Kollegen zur Verfügung gestellt, die ihren Horizont nicht erweitern wollten. Leider ist mir erst jetzt klar geworden, dass ich diese Zeit besser in mich investiert hätte. Dann hätte ich zwar auch keinen Dank erhalten, stünde aber nun um einiges besser da.

Manche Worte scheinen Buchhalter in eine wahre Ekstase zu bringen, so auch bei Herrn Dahlmanns. Vornübergebeugt lächelt er selig und fast wie ein Geistlicher sprudelt es aus ihm heraus: »Ach, Sie hatten immer einen Impairment Lauf gestartet in MAP? Das ist ja super, ich meine superinteressant«, bemerkt er.

Erkenne ich ein Leuchten in seinen Augen?

»Aber bei uns sind ja solche Dinge nicht an der Tagesordnung. Sie müssten eher manuelle Buchungen durchführen und externe Konten abstimmen«, klärt er mich dann ein wenig wehmütig auf.

Diese Kurve war haarscharf, aber immerhin habe ich es geschafft, nicht aus der Bahn zu geraten. Ich sollte vielleicht auf Formel Eins umsteigen. Sichtlich erleichtert höre ich, wie durch einen Wattebausch, der mein buchhalterisch erweichtes Gehirn umgibt, welches mein Aufgabengebiet darstellt.

Bin ich etwa schon angestellt mit meinem gefährlichen Halbwissen? Okay, das ist leicht übertrieben, viele wissen weitaus weniger, als ich. Reicht es tatsächlich aus, ein wenig mit Fremdwörtern um sich zu werfen, ohne jegliche Ahnung zu haben und schon hat man einen Arbeitsvertrag?

Denn irgendwie redet Herr Dr. Dahlmanns schon so, als ob ich bereits angestellt wäre.

»Ja, der Kollege, für den Sie kommen, ist schon länger krank. Da ich mein Budget von Ingolsheim genehmigen lassen muss, kann ich Ihnen noch nicht sofort zusagen. Wir wollten dem Kollegen bereits kündigen, aber Sie wissen ja, wie das so ist. Eine Kündigungsfrist muss eingehalten werden, und solange er noch im Krankenschein ist, kann ich ihm ja nicht kündigen.«

Habe ich das richtig verstanden? Ich soll für eine Person kommen, der man am liebsten im Krankenschein kündigen will oder schon gekündigt hat? Ich will Herrn Dr. Dahlmanns schon aufklären, dass er erst nach einem halben Jahr im Krankenschein den Kollegen kündigen kann, aber ich unterlasse es, denn im Normalfall haben es Arbeitgeber nicht gerne, wenn man sich im Arbeitsrecht zu gut auskennt. Von daher behalte ich mein Wissen für mich und versuche mir einzureden, dass mein Vorgänger sicher untragbar gewesen war. Durch meine Absage würde man ihn sicher auch nicht wieder einstellen, aber ein komisches Gefühl bleibt trotzdem.

»Also dann, wenn Sie mit dem vorgeschlagenen Gehalt einverstanden sind und mit 25 Urlaubstagen, dann könnten Sie am 1. Dezember anfangen.« Einverstanden bin ich zwar mit einer 20%igen Gehaltskürzung nicht und auch nicht damit, auf 9,5 Tage Urlaub zu verzichten, aber im Hinblick auf die wenigen verbleibenden Wochen bis zum Ende meiner Freistellungsphase, ist ein Spatz in der Hand zurzeit doch besser, als auf die Taube auf dem Hochhaus.

»Gern«, antworte ich, »Sie klären dann in der Zentrale ab, ob alles klappt zum 1. Dezember und ich spreche mit meinem Arbeitgeber.« Schlauerweise habe ich ihm selbstverständlich nicht erklärt, dass ich bereits seit über einem Jahr freigestellt bin und selbstverständlich alles andere gemacht habe, außer Buchhaltung.

Das hätte mich doch in Erklärungsnot gebracht, und ich hätte eingestehen müssen noch nicht einmal einen lapidaren Buchungssatz auf die Beine stellen zu können. Der einzige Buchungssatz, der mir spontan einfiele, ist: »Buche Kaffee an Kuchen«. Ebender dürfte auf wenig Verständnis bei meinem Gegenüber stoßen. Nicht, dass ich beruflich nichts aufzuweisen habe, aber nicht auf der buchhalterischen Seite. Mikrofinanz, Personalreferent oder Beschäftigungsinitiativen sind meiner Einschätzung nach von Herrn Dr. Dahlmanns nicht so gefragt für diese Position.

»Aber es wird sicher kein Problem sein, mein Arbeitsverhältnis bei der Subprimekrisenbank einen Monat früher zu beenden«, flunkere ich vor mich hin, um mein Gegenüber zu einer positiven Entscheidung zu ermuntern.

Bevor ich hier den ganzen Abend verbringen muss, würde ich nun gerne das Gespräch zu Ende bringen. Es ist in der Zwischenzeit neunzehn Uhr dreißig und meine Motivation, mich über Abschreibungen und Buchungssätze zu unterhalten, ist auf ein historisches Tief gefallen.


Mein Körper ruft, nach all den traumatischen Erinnerungen an grauenvolle Arbeit, nach einem eisgekühlten, spritzigen Glas Champagner. Mein Wunsch ist so stark, dass ich dieses unglaubliche Gefühl des prickelnden Hinabgleitens des eisgekühlten Champagners geradezu spüren kann. Kurz schließe ich meine Augen und bin sofort in einer anderen Welt, weit weg von Buchhaltung, Winter und trostlosen Büros … Draußen flirrt die Hitze, hier drinnen ist es dank Klimaanlage gekühlt, aber nicht zu kalt. Mein rückenfreies Chanel Kleid schließt meinen gerade frisch gestylten Körper elegant ein, Nägel und Haare sind im besten Salon der Stadt heute dem Ambiente angepasst worden. Der livrierte Kellner eilt devot herbei, um mir meinen Champagnercocktail elegant zu servieren. Dabei muss ich selbstverständlich keine Bestellung aufgeben. Man und Mann kennen mich hier. Regelmäßig sitze ich im besten Hotel der Stadt, dem »Rapples«, um mein Gedankengut zu ordnen und in Worte zu fassen – als Schriftstellerin. Meine Augen öffnen sich: »Aaahhhhh, wer ist der fremde Mann, der mich mit Glubschaugen anstarrt, als hätte er noch keine Diva gesehen?«


»Haben Sie noch Fragen? Oder nicht?«, fragt mich unsanft eine Stimme. Also, der Kellner aus dem »Rapples« würde mich das kaum in dieser ruppigen Art fragen. Dort flötet man in den süßesten Tönen, wenn man meine Wünsche wissen will. Nach zwei Sekunden wird mir klar, dass ich nur in einen winzig kleinen Tagtraum abgeglitten war.

Ich sitze nicht in einem mondänen Hotel, sondern durchnässt in einem Bewerbungsgespräch im Luxemburgischen Moderdange. Dabei blicke ich in das Gesicht meines Vorgesetzten in spe.

Irgendwie löst das keine ekstatischen Gefühle in mir aus, im Gegensatz zu meinem »Impairmentgestammele«, das ihn ganz zu verzücken schien. Ich verfalle in Angst und Schrecken, als ich dieses unbewegte Gesicht sehe, – »ein Triebtäter, Hilfe!«, schießt es mir durch den Kopf. Als mein Großhirn anfängt zu arbeiten, erhält meine Amygdala Entwarnung – »Cool down« – kein Triebtäter, nur der irre Blick eines Buchhalters.

Nun erhalte ich auch wieder Verbindung zu meinem Sprachzentrum, die Synapsen arbeiten wieder einwandfrei. Nach gefühlten Stunden bin ich fähig auf seine Frage zu antworten. »Äh, Fragen, von meiner Seite aus zurzeit nicht, aber ich habe ja Ihre Telefonnummer, und falls mir noch etwas einfallen sollte, kann ich Sie anrufen.« Dieser Standardsatz entweicht meinen Stimmbändern, ohne dass irgendeine Hirnregion eingeschaltet worden ist. Mein Autopilot ist am Werk.

Herr Dahlmanns hat scheinbar keine Lunte gerochen, starrt mich zwar weiterhin seltsam an, sagt aber lediglich: »Aus meiner Sicht sind auch keine Fragen mehr offen. Ich habe zwar noch einen Bewerber, aber ich glaube kaum, dass er Ihren Erfahrungen gewachsen ist.« Nein, das glaube ich zwar auch kaum, aber wir haben auch keine gemeinsamen Nenner bei der Definition von Erfahrung.

Um nochmals auf die Dringlichkeit meiner Arbeitsplatzsuche hinzuweisen, füge ich hinzu: »Nun, wenn Sie sich anders entscheiden sollten, lassen Sie es mich bitte diese Woche wissen, denn ich muss ja meinen vorzeitigen Weggang mit meinem derzeitigen Arbeitgeber klären und meine noch ausstehenden, anderen Bewerbungen absagen.«

Ich hoffe inständig, er wird keine Referenzen verlangen oder mit meinem »derzeitigen Arbeitgeber« sprechen wollen – denn eigentlich existiert die Subprimekrisenbank S.A. nur noch auf dem Papier und besteht aus den ehrenwerten, nie etwas Wichtiges sehen könnenden, aber sich um Klopapierrollen kümmernden Geschäftsführern. Sie waren zwar für den Untergang und die Schließung der Bank mit verantwortlich, aber wie es normal ist in der heutigen Welt, erhalten dann diese Geschäftsführer & Co. noch eine Belohnung in Form eines goldenen Handschlags für ihre Misswirtschaft und Schandtaten.

Das Fußvolk darf mit einem Tritt gehen, vielleicht noch mit einem Almosen als Abfindung, aber die Herren glauben selbstverständlich, dass sie diesen goldenen Abgang verdient haben. Leider schweben diese Herren – zu 99% sind es ja Männer – auf Wolke 188.214.221, sodass weder Kritik oder gar unser lieber Herrgott sie von dem Gegenteil ihres Verdienstes überzeugen könnten.

Aber Herr Dahlmanns fragt weder nach Referenzen noch nach einer Telefonnummer von meinem Arbeitgeber – sehr gut, auch diese Kurve gemeistert. Es steht nun einer Weiterbeschäftigung nichts mehr im Wege und das noch in meinem Greisenalter von 45 Jahren. Wer hätte das gedacht!

Die Güte des Herrn ist unergründlich, kommt es mir in den Sinn, ohne darüber nachzudenken, welche elende Arbeit mich erwarten könnte. Dann würde der Dank ein wenig anders aussehen. Es hätte nicht der liebe Gott die Finger im Spiel gehabt, sondern der Teufel persönlich. Ich arbeite nun einmal nicht für den Teufel und so bestraft er mich mit der Höchststrafe – lebenslange Buchhaltung. Die letzten Tage zu Hause vor dem Arbeitsbeginn bei Scrooge Digital Download verlaufen hektisch, alle administrativen Dinge sind noch zu regeln, um ganz entspannt neu anzufangen.

VERBUCHT!

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