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Der amerikanische Konsens zerbricht, Teil I:
Die Politisierung der Rassenfrage

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In Wahrheit waren die Fundamente des amerikanischen Konsenses schon brüchig geworden, als man das Land noch als Vorreiter der globalen Entideologisierung feierte. Und die Art, wie dieser Konsens zerbrach, ist ein gutes Beispiel dafür, dass Polarisierung nicht immer etwas Schlechtes sein muss – jedenfalls dann nicht, wenn sie hilft, gesellschaftliche Verkrustungen aufzubrechen, die Ungerechtigkeiten produzieren. Amerikas scheinbare Ruhe in der Nachkriegszeit glich jener vor dem Sturm, und sie verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass man sich einigen Problemen lieber erst gar nicht stellte.

Dieser faule Kompromiss zwischen den politischen Eliten bestand vor allem in der stillschweigenden Akzeptanz der katastrophalen Zustän de im Süden der USA, wo auch noch beinahe hundert Jahre nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und der Sklaverei von wirklicher Gleichberechtigung keine Rede sein konnte. Das ist die offene, klaffende moralische Wunde des Landes und Amerikas große Schande. Mit einer Reihe von diskriminierenden Gesetzen und Alltags praktiken hielt man dort die Rassentrennung zwischen Schwarz und Weiß nach wie vor faktisch aufrecht. Schon 1954 hatte der Supreme Court, das oberste Gericht der USA, in einer historischen Entscheidung dieses Apartheid-System für verfassungswidrig erklärt. Tatsächlich aber änderte sich wenig daran, dass Schwarze zwischen Kentucky und Mississippi massiv am Wählen gehindert wurden, im Bus hinten zu sitzen hatten, dass ihre Kinder auf separate Schulen gingen und viele Afroamerikaner tagtäglich Opfer rassistischer Polizeigewalt wurden.

Und selbst die nominell schon damals ein wenig liberalere Partei von beiden, die Demokraten, hatte kein großes Interesse daran, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern. Denn die Demokratische Partei war, ebenso wie die Republikanische, ein loses Konglomerat unterschiedlichster sozialer Gruppen. Besonders wichtig für die Demokraten war der konservative Süden: Er war die eigentliche Hochburg der Partei, bekannt als solid south. Das hatte historisch weit zurückreichende Gründe. Schließlich war der Sklavenbefreier Abraham Lincoln ein Republikaner, die sogenannte Grand Old Party daher für die meisten Weißen in den Südstaaten unwählbar. Auf dem Gebiet der alten Kon föderation herrschte faktisch ein Einparteiensystem, dominiert von einer Demokratischen Partei, deren Politiker offene Verfechter der Rassen trennung waren. Aus Gründen der nationalen Mehrheits fähig keit scheute die Gesamtpartei daher den offenen Konflikt mit den konservativen „Parteifreunden“ aus dem Süden. Das galt auch noch Anfang der 1960er-Jahre für den mit großen Erwar tungen ins Amt gekommenen neuen Präsidenten John F. Kennedy. Die Koalition, der er seinen äußerst knappen Sieg bei den Präsident schafts wahlen 1960 verdankte, wäre ohne die Unterstützung konservativer demokratischer Südstaatler nicht möglich gewesen.

Das alles änderte sich erst, als das Civil Rights Movement unter der Führung von Martin Luther King Jr. Anfang der 1960er-Jahre in immer spektakuläreren Protestaktionen, die immer heftigere, brutalere Reak tionen von Justiz und Polizei im Süden der USA provozierten, endgültig die nationale Aufmerksamkeit auf sich zog. Insbesondere in den liberalen, aufgeklärten, urbaneren Regionen des Landes – und dorthin war die Macht innerhalb der Demokratischen Partei während der letzten drei Jahrzehnte sukzessive gewandert – war man über die Exzesse der staatlichen Autoritäten, aber auch über das Verhalten vieler Bürger in den Staaten der alten Konföderation entsetzt. Zudem waren viele Afroamerikaner auf der Suche nach besser bezahlten Industrie jobs in die urbanen Zen tren der Ostküste abgewandert und stellten dort nun einen Wählerblock, der für die Demokraten immer wichtiger werden sollte.

Dadurch veränderten sich langsam die Machtbalance und die strategischen Kalkulationen der Demokratischen Partei. Anfang der 1960er-Jahre schien der Bruch mit dem Südstaatenflügel keineswegs mehr so abwegig wie noch einige Jahre zuvor; seit dem Sommer 1963 steuerte auch Kennedy auf diesen Konflikt offen zu. Seine Ermordung im November 1963 beschleunigte diesen Prozess eher noch. Nach den Schüssen von Dallas fühlte sich der amerikanische Liberalismus moralisch eindeutig in der Offensive. So wuchs die Entschlossenheit, auch auf Kosten der innerparteilichen Harmonie sehr viel entschiedenere Maßnahmen zu ergreifen: Im Juli 1964, unter der Präsidentschaft von Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson, wurde der „Civil Rights Act“ erlassen, der eine Reihe von Interventionen vorsah, um die faktische Rassentrennung in den USA aufzuheben, und dabei dem Justizministerium in Washington weitreichende Befugnisse zu deren Durchsetzung einräumte und der später durch den nicht minder wichtigen „Voting Rights Act“ ergänzt wurde. Bei der Abstimmung im Senat kamen die meisten Gegenstimmen aus dem Lager der Demokraten – allesamt aus dem Süden.

Am Abend nach der Abstimmung saß ein erschöpfter Lyndon B. John son mit seinem Stab zusammen, melancholisch trotz des historischen Erfolges, den er gerade errungen hatte. Denn der Präsident hegte wenig Illusionen, welche Konsequenzen seine Unterschrift unter das neue Gesetz haben würde: „I think we delivered the South to the Republican Party for your lifetime and mine“12, teilte er einem engen Berater in einem Anflug böser Vorahnungen mit. Denn die Demokraten zerriss der Civil Rights Act förmlich. Viele von ihnen liefen im Laufe der nächsten Jahre zur Gegenseite über. Und schon bei den Präsident schaftswahlen 1964 ging der Demokratischen Partei der solid south verloren, als der republikanische Kandidat für das Weiße Haus, Barry Goldwater, John son landesweit zwar hoffnungslos unterlegen war, aber einen Teil der Südstaaten für sich gewinnen konnte. Es war der Beginn der republikanischen Dominanz zwischen North Carolina und Texas, die bis heute ungebrochen ist.13

Man kann die Bedeutung dieses sogenannten southern realignment für alles, was folgen sollte, schwerlich überschätzen. Es beseitigte die entscheidende Ursache der Anomalie des amerikanischen Parteiensystems: die extreme Heterogenität beider Parteien und ihre fast völlige ideologische Beliebigkeit. Deswegen war es eine Zäsur und der ers te Domino stein, der fallen musste, um alles Weitere in Bewegung zu setzen. Der Aus zug des konservativen Südens aus der Wählerkoalition der Demo kraten schuf überhaupt erst ideologisch halbwegs homogene Parteien und beseitigte damit die extreme regionale Zersplitterung, die bis dahin Demokraten und Republikaner geprägt hatte. Hatten zuvor ein Demokrat und ein Republikaner in New York City mehr miteinander gemein als mit ihren jeweiligen Parteifreunden im Mittleren Westen oder im Süden der USA, sollten die Parteien sich in den nächsten Jahrzehnten stetig vereinheitlichen. Erst nach dieser Wende ergab es für die Kandi daten der Parteien bei Präsidentschaftswahlen überhaupt Sinn, ideologisch eindeutige Signale an die Wähler auszusenden. Wären die Parteien ungeordnet, heterogen und fragmentiert geblieben – keine der folgenden gesellschaftlichen Eruptionen hätte wohl die gleiche Wirkung entfaltet. Und die Wähler vernahmen die Signale, sortierten sich ebenfalls neu in die Parteien ein: Konservative zu den Repub likanern, Liberale und Linke zu den Demokraten.14

Und natürlich etablierte es race als die vielleicht entscheidende Konfliktlinie der amerikanischen Gesellschaft. Für den Süden galt dies ohnehin; dort hielt man daran fest, dass Washington sich unrechtmä-ßig in den, wie es teils zynisch, teils vielleicht auch nur naiv hieß, southern way of life einmischte. Doch im weiteren Verlauf der 1960er-Jahre entwickelte race eine beträchtliche soziale Sprengkraft auch jenseits der alten Konföderation. Der Rassismus im Norden war subtiler und weniger gewalttätig, aber er war nicht weniger wirkungsmächtig. Um ihn aus der Welt zu schaffen, brauchte es ganz andere Eingriffe des Staates – etwa die Praxis des busing, das ethnisch ausgeglichenere Schulklassen schaffen sollte, was aber für einige Schüler wahre Odysseen mit dem Schulbus bedeutete. Auf sehr viel Sympathie stießen solche Maßnahmen nicht in der amerikanischen Arbeiterklasse. Es war eben die eine Sache, sich über Polizeigewalt und Lynchmobs in Mississippi zu empören, aber eine vollkommen andere, im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts seine persönliche Freiheit vermeintlich eingeschränkt zu sehen. Seit 1965 kam es überdies immer wieder zu aggressiven Unruhen in den amerikanischen Großstädten. Viele Schwarze waren bitter enttäuscht, dass sich trotz all der Maßnahmen der Johnson-Regierung nur wenig an der systematischen Diskrimi nierung änderte, die sozialen Verhältnisse weiter wie zementiert erschienen. Die Riots von Los Angeles, Detroit und anderen Orten produzierten Bilder, die Abend für Abend in die Wohnzimmer auch des weißen Amerikas flimmerten und dort einen Schock auslösten. 1964 hatten noch 68 Prozent der Weißen außerhalb der Südstaaten Johnsons Bürgerrechtsinitiativen unterstützt; nur zwei Jahre später war plötzlich eine Mehrheit der Meinung, dass die Regierung bei ihren Bemühungen um Integration viel zu schnell vorgehe.15 So wurde man auch dort empfänglich für die politische Botschaft der Republikaner, dass der Staat es übertreibe mit seinen Integrationsbemühungen und seiner Verhätschelung von Minderheiten.

Amerika im Kalten Bürgerkrieg

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