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Die Altstadt – Gamleby

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Sie wußte, daß es eine Frau war.

Die Hüftpartie verriet es. Außerdem war das Skelett schmächtig. Sieben Jahrhunderte lang war es von der Friedhofserde bedeckt gewesen.

Dieses sonderbare Gefühl von Feierlichkeit und Ruhe ... ein gewaltiger Kontrast zu der lauten Brücke über ihrem Kopf.

Frühmorgens in Oslos Altstadt Gamleby. Der Dunst von Abgasen breitete sich über die Oslo gate aus, die Fernlaster ließen das Straßenpflaster erzittern, die Autobrücke warf einen dunklen Schatten über das halbe Ausgrabungsfeld. Nur ab und zu, wenn der Wind auffrischte, strömte eine frische Brise vom Meer herein, und dann bewegten sich die weißblühenden Büsche auf dem steilen Abhang von Ekeberg, dem Stadtteil Oslos, der im Mittelalter Eikaberg geheißen hatte.

Sie legte den Grabelöffel hin und strich die Erde vorsichtig mit den Händen weg. Als die Sonne am höchsten am Himmel stand, wurde die knochenweiße Stirn freigelegt. Ein Lichtstrahl streifte sie wie eine Liebkosung. Langsam entfernte sie die Erde aus den Augenhöhlen, von den Wangenknochen und dem Nasenbereich. Dann legte sie die Zähne frei. Sie waren regelmäßig und der Zahnschmelz immer noch weiß, obwohl er so lange in der Erde gelegen hatte.

Eine Frau. Vielleicht in ihrem Alter? Irgendwann im dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert war sie hier beerdigt worden. Auf dem Friedhof der Clemenskirche, während die Glocken zu Ruhe und Frieden mahnten.

Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen erschien ihr mit einem Mal sonderbar nah. Sie strich über die schön geschwungene Stirn. Hier hatte die irdische Hülle dieser Frau in Ruhe liegen sollen. Nur von Erde bedeckt, bis zum Tage der Wiederauferstehung.

Sie notierte den Skelettfund auf dem Zeichenbrett, in einem Koordinationssystem mit x- und y-Achsen. Der Ausgrabungsleiter kam mit Kamera und Stativ und fotografierte das freigelegte Grab aus den verschiedenen Winkeln. Dann wurden die Knochen und der Schädel aus seinem Lager genommen und auf ein Tablett gelegt, denn jedes einzelne Teil sollte eine Nummer bekommen, sorgfältig mit Tinte im Ausgrabungsbüro notiert, bevor der Fund ins Anatomische Institut gebracht wurde.

Schon als Kind hatte sie sich brennend für Archäologie interessiert. Ihr Vater hatte sie mit nach Gamleby genommen und sie zu den versteckten Siedlungsstätten geführt, die vom mittelalterlichen Oslo noch übrig waren. Sein Blick verschleierte sich, wenn er darüber sprach, wie schlimm die nachfolgenden Generationen mit diesem Teil der Stadt umgegangen waren. Aber sobald er anfing, darüber zu erzählen, was hier geschehen war, von der Zeit der ersten Könige an, kam wieder Leben in ihn, und alles, was er erzählte, wurde in ihrem Kopf zu lebendigen Bildern.

Darum beschloß sie, Archäologie zu studieren und eine Arbeit über das Mittelalter zu schreiben.

Die Wolken trieben über den Himmel. Es begann, schräg auf das Grabfeld zu regnen, dennoch herrschte hier weiterhin hektische Aktivität. Erde wurde gesiebt, bevor man sie wegschaufelte und in Schubkarren wegfuhr, Knochenfunde wurden sorgsam ausgegraben, dann fotografiert und abgezeichnet. Eine Arbeit, die Außenstehenden als der absolute Stillstand erschien, die jedoch für die Archäologen eine schwere, schweißtreibende Tätigkeit darstellte, die hohe Konzentration erforderte. Vor der Absperrung hatten sich Leute eingefunden, um die Ausgrabung der Skelettreste von Menschen, die im mittelalterlichen Oslo gelebt hatten, zu beobachten.

Ein Blitz flammte über dem Ekeberg auf. Es war, als würde der Himmel in dunkle und helle Felder gespalten. Im gleichen Augenblick kam der Ausgrabungsleiter zu ihr und rief, daß sie einen ganz außergewöhnlichen Fund gemacht hätten. Er führte sie zum nordöstlichen Bereich des Friedhofs. Dort gab es drei Gräber, die gerade geöffnet worden waren. Der Ausgrabungsleiter zeigte auf eines davon, das erst zur Hälfte freigelegt worden war. In dem Moment brach die Sonne mit einem kräftigen Flackern durch die Wolkendecke, und Dampf stieg von den Erdschichten auf. Das Skelett lag mit schräg auf der Brust ruhenden Händen da. Es dauerte eine Weile, bevor sie etwas erkannte. Aber dann entdeckte sie es. Sie stieß einen Laut der Überraschung aus. Der Oberschenkel des Mannes war zersplittert, und in dem gebrochenen Knochen steckte immer noch das Projektil, das den Bruch verursacht haben mußte, ein kräftiger Armbrustpfeil. Was mußte der Mann mitgemacht haben! Die Stadt hatte eine reiche Geschichte. Konnte es zu Håkon Håkonssons Zeit geschehen sein, als der König gegen Herzog Skule kämpfte, oder hatte es sich nur um einen Streit zwischen den Bürgern der Stadt gehandelt, von dem nie in irgendwelchen Sagen berichtet worden war?

Sie ergriff den Grabelöffel, und gemeinsam mit dem Ausgrabungsleiter legte sie den Rest des Grabs frei. Sie schaute sich den Schädel genauer an. Ein paar Regentropfen hatten sich in einer Stichwunde gesammelt. Die Augenhöhlen starrten sie blind an.

Merkwürdig, wie sehr sie Menschen berührten, die früher einmal in dieser Stadt gelebt hatten und hier beerdigt worden waren ...

Den ganzen Rest der Woche war sie damit beschäftigt, sich durch eine dicke Schicht Humus auf dem Ausgrabungsfeld zu arbeiten, das der Vestre strete, der westlichen Hauptstraße, in der Mittelalterstadt entsprach. Mit der Zeit kamen die Schwellbalken mehrerer Häuser zum Vorschein, die um einen Hofplatz herumlagen. Dort hatten die Menschen des Mittelalters zur großen Freude der Nachwelt einige Dinge verloren oder hingeworfen: Keramikscherben von Kochgeschirr und importierte Weinkannen, Kämme aus Rentiergeweih, Spangen, um einen Umhang zu schließen, verzierte Metallbeschläge, Knochenreste von den Mahlzeiten und Hunderte von Lederstückchen, die Zeugnis vom Schuhmacherhandwerk in der Stadt ablegten. Direkt neben dem Schwellbalken eines Blockhauses, das wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert stammte, grub sie einen schmalen Schuh und einen Ring mit einem schönen blauen Stein aus.

Als sie auf eine deutlich erkennbare Brandschicht stießen, kamen die Archäologen auf dem Ausgrabungsfeld zusammen. Konnten das die Reste des schicksalsschweren Brandes im Jahre 1287 sein, als ganze Stadtteile in Schutt und Asche fielen?

Was die Erde hier in Oslo doch alles verbirgt, dachte sie; Reste der Königsburg und der Bischofsburg, der Klöster und Kirche, profane Häuser und Werkstätten. Ein paar Brunnen und Flechtwerkzäune ließen sich vielleicht sogar bis zum Jahr 1000 zurückdatieren, als die Stadt am Ende der Bucht gegründet wurde.

Am letzten Arbeitstag ging sie ins Anatomische Institut im Keller unter dem Universitätsgebäude in klassizistischem Stil, um die Analyse der Ausgrabungen zu erfahren.

Die Frau! Ihre Frau ... sie ging ihr nicht aus dem Kopf. Bis jetzt war sie ihr noch ein Rätsel. Und nie würde sie erfahren, welches Leben diese Frau wirklich im mittelalterlichen Oslo geführt hatte. Der Präparator des Instituts erklärte ihr, daß die Analyse der Knochenreste nur ergab, daß das Alter der Frau wie auch die Todesursache ungewiß waren.

Die drei anderen gefundenen Skelette stammten von Männern. Der älteste war ein Mann von über sechzig gewesen – nur bei wenigen, die auf den mittelalterlichen Friedhöfen ausgegraben worden waren, hatte man ein so hohes Alter festgestellt. Er hatte gegen Ende seines Lebens sicher viele Schmerzen gehabt, denn es war Spondylose festgestellt worden, das heißt, Verschleiß im Rückgrat. Der zweite Mann war wahrscheinlich in den Vierzigern, als er starb, ein grobschlächtiger Kerl, der anscheinend ein relativ ruhiges Leben geführt hatte. Dagegen war der letzte um so übler zugerichtet. Neben dem Armbrustpfeil, der im Oberschenkel steckte, war sein rechter Arm gebrochen, außerdem hatte er einen Schnitt im Unterkiefer, und Spuren von Schlägen auf den Schädel deuteten darauf hin, daß der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war. Sein Alter wurde auf um die Dreißig angesetzt.

Das Sonderbare am Begriff Zeit tauchte in ihren Gedanken auf. Es ist üblich, daß wir denken, Zeit wäre etwas, das wir nicht anhalten, nicht zurückdrehen und nicht vorstellen können. Aber stimmte das? Wie oft hatte sie schon Vergangenheit und Gegenwart in gewisser Weise gleichzeitig erlebt. Ein merkwürdiges Gefühl.

Wieder auf dem Ausgrabungsfeld zurück, arbeitete sie einige Stunden intensiv; als jedoch der Tag zu Ende war, zog sie sich schnell um und ging den schmalen Pfad hinauf, der zur Haltestelle am St. Hallvards Platz führte. Normalerweise unterhielt sie sich immer noch eine Weile mit den anderen, bevor sie nach Hause ging, aber diesmal war sie auffallend still. Der Bus brachte sie die steilen Hügel hinauf, fast ganz bis auf die Spitze. Es war praktisch, hier am Ekeberg zu wohnen, mit einem nur so kurzen Weg zum Ausgrabungsfeld.

Daheim angekommen, hatte sie das Gefühl, eine ganze Erdschicht von Gamleby unter den Fingernägeln zu haben. Ihr Haar war steif vom Staub. Also ließ sie sich in die Badewanne gleiten und das Wasser um ihren Körper schwappen. Dann zog sie sich bequeme Sachen an und ging wie üblich zum Bücherregal, um eine der Sagas herauszuholen. Sie kannte sie fast alle auswendig, war aber immer wieder überrascht, daß sie sich oft wie ein moderner Roman lasen.

Plötzlich war leise Musik aus der Wohnung über ihr zu vernehmen, sie stand auf und trat ans Fenster, um zur Bucht hinüberzusehen, wie sie es immer abends tat. Das Meer war ganz glatt und dunkelblau. Die Wolken führten dort oben am Himmel Krieg miteinander, es war wie im Draumkved, einem mittelalterlichen Lied, in dem die Heere der Schwarzen und der Weißen erbittert miteinander kämpfen, bis das Heer der Weißen siegt. Die mittelalterliche Stadt lag dort unten verborgen in der Finsternis des Vergessens.

Lange blieb sie am Fenster stehen und blickte zum Himmel hinauf, bis die Wolken plötzlich hell und silbern wurden. Die Nacht sank herab, und der Vollmond stieg am Himmel auf, groß und glänzend, mit einem geheimnisvollen Gesicht.

Wenn der Vollmond schien, konnte sie meist nicht schlafen. Das war schon immer so. Die Gedanken wurden in dem flimmernden Licht von der Phantasie bunt gefärbt, zogen auf geheimen Wegen in mondbeleuchtete Wälder. Bei Vollmond entfalteten sich alle kreativen Kräfte.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, öffnete die Schublade und zog einen Bogen Papier heraus. Erst heute hatte sie eine Schreibfeder und Tinte gekauft. Und teures, schönes handgeschöpftes Papier.

Der Mond stieg immer höher und ließ Silberstreifen durchs Fenster gleiten. Sie tauchte die Feder ins Tintenfaß. Die Tinte war wie ein blauer Fluß, ihr kam in den Sinn, daß die schreibenden Frauen in den Klöstern des Mittelalters so dagesessen haben mußten und genau wie sie von Freude erfüllt gewesen sein mußten. Eine mittelalterliche Ballade fiel ihr ein. Der Vollmond vor dem Fenster leuchtete ganz intensiv. Langsam hob sie die Feder ...

Mond über Eikaberg

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