Читать книгу Drachengabe - Halbdunkel - Torsten W. Burisch - Страница 12

Kapitel 3

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Es waren nun fast 50 Tage vergangen, seitdem die Hexe Dantra vom Waldrand abgeholt hatte. Der Sommer hatte seine beste Zeit hinter sich gebracht und es war der erste Morgen, an dem Dantra eine Gänsehaut überkam, als er mit dem Glas Raupen vor die Tür ging. Er hatte große Fortschritte gemacht und wollte diese auch heute weiter ausbauen. Die Hexe jedoch nahm ihm das Glas aus der Hand.

„Es ist an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen“, sagte sie. Sie tauschte das Raupenglas gegen ihren Gehstock ein und signalisierte ihm mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung, ihr zu folgen. Dantra sparte sich die Frage nach dem Wohin und was der nächste Schritt sei. Die Antwort wäre ohnehin nur auf ein tadelndes Schweigen hinausgelaufen. Und so ging er stumm hinter ihr her, wobei ihm selbstzufrieden auffiel, dass es ihm bei Weitem nicht mehr so viel Mühe bereitete, mit seiner Lehrmeisterin Schritt zu halten.

Ihr Marsch endete in einem Waldstück, in dem die Bäume nicht ganz so dicht beieinanderstanden. Die Hexe zog einen alten Stofflumpen, dessen ursprüngliches Rot kaum noch zu erkennen war, aus ihrer Rocktasche. Sie band ihn um eine junge Fichte, deren Stamm nicht dicker war als der Oberschenkel eines Mannes. Dann platzierte sie Dantra drei Schritte davon entfernt. „Der Lappen hilft dir, dich auf den Baum zu konzentrieren“, erklärte sie ihm. „Du musst versuchen, die magische Kraft in dir auf ihn zu werfen. Ich denke, es wäre gut, wenn du mit deiner Handfläche in seine Richtung zeigst. Vielleicht erhöht das die Chance, deine Energie gebündelter auf das Ziel treffen zu lassen.“ Sie ging einige Schritte zurück und stand nun hinter ihm, um den erhofften Erfolg zu beobachten.

Dantra sammelte seine Gedanken. Er versuchte, in seinem Kopf die Kraft anzusprechen. „Los, komm raus. Komm schon.“ Er drückte bei jedem seiner Versuche die Luft aus seinem Körper und schob dabei seine Hand ein Stück nach vorn, als wollte er etwas von sich wegdrücken. Doch nichts passierte.

„Was machst du denn da?“, hörte er die ungeduldige Stimme der Hexe von hinten. „Verscheuchst du Fliegen? Du sollst nicht pressen wie deine Mutter bei deiner Geburt. Du musst dich auf den Baum konzentrieren und dir bewusst sein, was du vorhast. Wenn das wirklich Magie in dir ist, dann hört sie nicht auf deinen Verstand, sondern weiß, wann sie gefordert ist. Also mach schon, konzentriere dich.“

Dantra bemühte sich erneut. Dieses Mal schloss er die Augen. Natürlich war ihm bewusst, was passieren sollte, doch hatte er keine Ahnung, wo er dieses Wissen hinzuschicken hatte. Er versuchte es, indem er sich sein Ziel tief ins Bewusstsein holte. Doch sosehr er sich auch bemühte, es passierte überhaupt nichts. Die Hexe wurde zunehmend schroffer. „Konzentriere dich, konzentriere dich“, ermahnte sie ihn wiederholt. „Was ist los? Nun mach schon!“

Dantra wurde immer nervöser. Vor ihm passierte gar nichts und hinter ihm rissen die nervigen Ermahnungen der Hexe nicht ab. Es fing an, in ihm zu brodeln. „Ja, ja, ich versuche es ja“, dachte er. Dabei spürte er, wie etwas in ihm aufstieg. Für einen Moment glaubte er, es sei das mal wieder viel zu üppig ausgefallene Frühstück. Dann merkte er jedoch, dass sich das Emporkriechende nicht über seinen Mund entlud. Allerdings auch nicht nach vorne über seinen immer noch ausgestreckten Arm. Als er seine bis dahin fest geschlossenen Augen wieder öffnete, stand die Fichte unverändert in ihrer ganzen Pracht da und der Lappen wehte leicht im auffrischenden Imberwind. Noch in Gedanken an das, was eben geschehen war, hörte er hinter sich wieder die Stimme der Hexe. Doch klang sie nun nicht mehr so laut wie einige Augenblicke zuvor. Was aber nicht daran lag, dass sie leiser sprach. Es war eher so, als befände sie sich weiter weg. Ihren nun noch gereizteren Tonfall konnte Dantra dennoch deutlich vernehmen.

„Wenn du das noch einmal mit mir machst, rühr ich dir ein Gift unter dein Essen, das dir das Gefühl vermittelt, du würdest kopfüber in einem Armeisenhaufen stecken und ein Schwarm Elstern zerhackt dir währenddessen deinen hoch in die Luft gestreckten Hintern.“

Dantra wandte sich um und sah seine Lehrmeisterin zusammengesackt vor dem Stamm einer dicken Tanne sitzen, einige Schritte von dort entfernt, wo sie gerade noch gestanden hatte. In ihrem Gesicht spiegelten sich der Schmerz und die Wut wider, die ihre Stimme bereits angekündigt hatte. Dantra wusste zwar nicht, wie das hatte passieren können, doch eins war sicher: So zornig hatte er die Hexe bisher noch nicht gesehen. Sie rappelte sich so langsam auf die Beine, dass er schon bei ihr war, bevor sie richtig stand. Er wollte ihr helfen, doch sie schlug nach seinen Händen.

„Finger weg. So alt, dass mir ein Tölpel, wie du es bist, hochhelfen muss, bin ich noch lange nicht.“ Sie hob ihren Gehstock auf, der ein Stück entfernt liegen geblieben war, und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dantra folgte ihr wortlos. Sie waren gerade drei Schritte gegangen, als sie sich zu ihm umdrehte und ihn mit zu Schlitzen verengten Augen böse anfunkelte. „Wo willst du hin?“ Er sah sie fragend an. „Du bleibst gefälligst hier und übst weiter. Oder glaubst du, dass du es nach der Vorstellung gerade nicht mehr nötig hast?“ Sie wandte sich wieder von ihm ab und setzte ihren Weg, wütend vor sich hin schimpfend, fort. Nachdem sie schon fast hinter einem übergroßen Brombeerstrauch verschwunden war, rief sie ihm noch mahnend zu: „Und verlass auf dem Heimweg nicht diesen Pfad.“ Dann verstummte sie und auch das Rascheln ihrer Schritte im Laub wurde leiser und hinterließ schließlich eine unbehagliche Stille.

Dantra fiel auf, dass er ohne die Hexe noch nie so tief im Kampen gewesen war. Dennoch oder gerade deswegen hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Gedanke jedoch, dass er gerade seine Kraft benutzt hatte, ohne danach ohnmächtig zu werden, zerstreute sein Unbehagen angesichts des Alleinseins und der vermeintlichen Schutzlosigkeit. Auch wenn er mit seiner magischen Kraft das anvisierte Ziel nicht getroffen hatte, so war es ihm dennoch möglich gewesen, sie irgendwie aus sich herauszuholen und punktgenau einzusetzen.

Er stellte sich wieder dem Baum gegenüber auf und konzentrierte sich erneut. Er versuchte nun mehrere Varianten. Als Erstes stellte er sich vor, der Baum würde ihn beleidigen und beschimpfen. Aber es tat sich nichts. Die bloße Vorstellung ließ in ihm keinerlei Wut aufkommen. Dann ging er in Gedanken den kompletten Angriff auf den Baum, bis er gebrochen auf dem Boden lag, immer wieder durch. Doch auch das brachte nicht den erwünschten Erfolg. Es deprimierte ihn sehr, es schon einmal geschafft zu haben ohne die geringste Ahnung, wie.

Der Verzweiflung bereits nahe hatte er noch eine letzte Idee. Er sah den Baum an, schloss erneut für einen Moment die Augen und stellte sich das Gesicht von Schwester Arundel vor. Dann öffnete er sie wieder, betrachtete den Baum erneut, um sich beim nächsten Schließen der Augen das Gesicht seines Erzfeindes Biff ins Gedächtnis zu rufen. Wieder beäugte er den Baum und stellte sich sofort danach die Zerrocks vor, wie sie den Leichnam seines Vaters schändeten. Er merkte, dass er bei diesen Bildern in seinem Kopf wütender wurde, und so wiederholte er die Prozedur wieder und wieder. Doch es geschah rein gar nichts. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen hörte er resigniert auf. Er senkte den Kopf und ließ nun auch seinen rechten Arm, mit dem er die ganze Zeit auf seinen vermeintlichen Feind gezeigt hatte, lang am Körper hinunterbaumeln.

Er hatte schon oft gehört, dass er ein Versager wäre. Doch heute würde er es sogar glauben. Maßlos von sich enttäuscht, sah er auf das dreckige rote Tuch, jedoch ohne Zorn oder Hass zu empfinden. Eher mit einem gleichgültigen Gefühl sagte er so leise, dass ein neben ihm Stehender es kaum gehört hätte: „Brich.“ Ein ohrenbetäubendes Krachen spaltete die Stille wie eine Axt ein Holzscheit.

Dantra benötigte einen Moment, um zu realisieren, was gerade geschehen war. Er fühlte sich, als wäre die ganze magische Kraft, die für solch einen Zauber nötig wäre, aus seinen Augen geschossen und hätte dabei seine Pupillen mit rausgerissen.

Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, peitschte ihn etwas zu Boden. Er war zwar leicht benommen, jedoch ließ ihn die Panik, nicht zu wissen, wer sein Angreifer war und wo dieser sich gerade befand, blitzschnell aufspringen. Vor ihm drehte sich der Wald und er hatte Mühe, nicht wieder hinzufallen. Er schaute in alle Richtungen, doch nichts war zu sehen. Er war immer noch allein. Dann fiel sein Blick auf das, was vor ihm lag. Wenn sein Kopf nicht so geschmerzt hätte, hätte er sich wohl über seine eigene Angst amüsiert. Die Krone des Baumes, den er gerade mithilfe seiner Kraft gefällt hatte, war es, die ihn zu Boden gerissen hatte.

„Ist doch klar“, dachte er, „die Druckwelle ließ nicht nur das Holz zerbersten, sondern hat auch den abgerissenen Stamm nach hinten gedrückt. Und dann fällt die Spitze des Baumes natürlich nach vorn.“

Er gönnte sich eine kleine Verschnaufpause, um wieder klar im Kopf zu werden. Teilweise war er zufrieden mit sich, hatte er es doch gerade erneut geschafft, seine Magie gebündelt einzusetzen. Allerdings war es auch zum zweiten Mal geschehen, ohne dass er genau wusste, wie. Und das war natürlich inakzeptabel. Also stellte er sich, nachdem der Wald sich nicht mehr um ihn drehte, erneut vor einen Baum, der ungefähr die gleiche Stammdicke hatte wie der erste. Nur dieses Mal vergrößerte er den Abstand zwischen sich und seinem Ziel, um nicht erneut Opfer seines eigenen Zaubers zu werden. Den Standort hatte er zwar gewechselt, allerdings befand er sich an demselben Punkt, an dem er zuvor schon gewesen war. Trotz seiner Ratlosigkeit angesichts seines nächsten Schritts war ihm klar, dass es ihm nichts bringen würde, sich selbst wütend zu machen. Und auch das Ziel mit seiner Hand anzuvisieren, wäre zwecklos.

Er suchte sich einen markanten Punkt am Baum. In diesem Fall war es ein Ast, der auf Augenhöhe gewachsen war und den Mittelpunkt des Stammes markierte. Er konzentrierte sich darauf und murmelte: „Brich!“ Nichts geschah. „Verdammt!“, fluchte er. Was war jetzt wieder falsch? Was war anders?

Nach kurzem Überlegen richtete er seine Konzentration erneut auf das Ziel. Doch dieses Mal machte er sich bewusst, was er wollte, um dann gefühl- und gedankenlos eine Art Druck mit seinen Augen auszuüben. Dieser verstärkte sich sofort. Dantra merkte, dass die Kraft durch seine Pupillen entwich. Doch er spürte auch, dass sie bei Weitem nicht so stark war wie beim ersten Mal. Und auch das Geräusch brechenden Holzes war viel leiser. Enttäuscht musste er feststellen, dass der Baum noch stand. Der Enttäuschung folgte jedoch sogleich Begeisterung. Denn der Ast, den er ursprünglich im Blick gehabt hatte, lag abgebrochen auf dem Waldboden.

Dantra ließ seine Erinnerung an das, was geschehen war, noch einmal Revue passieren. Dabei fiel ihm auf, dass er dem Ast mehr Bedeutung zugemessen hatte als dem Stamm selbst. Er konnte somit seine Kraft explizit einsetzen, sodass er es schaffte, nicht alles zu zerstören, was in ihrem Wirkungsbereich lag. Er musste sich zwar eingestehen, dass auch etwas von der Rinde des Baumes Schaden genommen hatte, legte das aber unter der Rubrik Feinarbeit ab, an der er später noch arbeiten konnte. Getrieben von dem Mitteilungsbedürfnis über seinen Erfolg, wollte er sich gerade auf den Heimweg machen, als er sich nochmals dem Baum zuwandte und ihn mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden fallen ließ.

Vom kleinen Fehltritt mit der Hexe abgesehen, war es ein sehr erfolgreicher Tag gewesen. Nicht nur, dass er seine Kraft nun beherrschte und sie anwenden konnte, wo und wann er wollte, auch Tami hatte große Fortschritte gemacht. Sie nutzte das Erlernte als Erstes, um Dantra den Namen der Hexe aufzuschreiben. An diesem Abend schlief Dantra mit sich und der Welt zufrieden sowie mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein.

Es war früh am Morgen, als er abermals von einem schrillen Schrei geweckt wurde. Dieses Mal brauchte er jedoch nicht lange, um zu begreifen, dass er nur geträumt hatte. Und auch wenn der Traum genauso grauenvoll war wie sonst, so festigte sein Auftreten in dieser Nacht doch die Vermutung, dass er irgendwie mit der magischen Kraft zusammenhing. Und im Gegensatz zu den anderen beiden Malen konnte Dantra heute sogar noch einmal in einen leichten Schlaf fallen.

Lange war es her, dass er so viel Euphorie und gute Laune verspürt hatte, dass er gerne sein mollig warmes Bett gegen seine kalten Kleider tauschte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sowieso erst einmal dieses Gefühl gehabt, und zwar am Tag der Entlassung aus dem Klosterheim. Und genau wie damals, als er die letzten Stufen der Wendeltreppe hinuntergefallen war, stolperte er nun die Kellertreppe hoch.

Er fing den Sturz mit seinen Händen ab, ignorierte den aus den rauen Dielen ragenden Holzsplitter, den er sich in die linke Handfläche rammte, und baute sich strahlend und mit stolzgeschwellter Brust vor der Hexe auf. „Guten Morgen, E’Cellbra“, sagte er und schaute sie erwartungsvoll an.

Sie aber blickte nur kurz zu ihm auf und verzog dabei keine Miene. Dann wandte sie sich an Tami, die am Herd stand und Dantras Auftritt interessiert verfolgt hatte. Mit betont freudiger Stimme sagte die Hexe zu ihr: „Hervorragend, Tami. Du hast fleißig geübt und große Fortschritte gemacht“, wobei sie das Du deutlich hervorhob. „Ich bin sehr stolz auf dich. Wenn doch nur alle so hoch motiviert an ihre Aufgaben gehen würden.“

Dantra freute sich zwar für seine Schwester, fühlte sich aber beim Lobausteilen übergangen. „Ich beherrsche meine magische Kraft“, berichtete er – und ein etwas angriffslustiger Ton lag in seinen Worten.

„Ich wäre schon froh, wenn du deine Füße beherrschen würdest, anstatt über sie zu fallen“, erwiderte die Hexe nüchtern. Tami wandte sich wieder ihrem brutzelnden Essen zu. Allerdings nicht, weil sonst etwas anbrennen konnte, sondern um ihr Grinsen über E’Cellbras Bemerkung vor Dantra zu verbergen. „Was ist mit deinem Schwertkampftraining?“, fuhr die Hexe fort. „Hast du überhaupt schon einen einzigen Angriff der Arikos parieren können?“

Dantras Hochmut wich und ließ ihn geknickt zurück. Er wusste, sie hatte recht. Seine Bemühungen, sich die hohe Kunst des Schwertkampfes anzueignen, verliefen schleppender als von ihm erwartet und gehofft. Das Training dafür hatte er zwar zeitgleich mit der Raupenübung begonnen, doch hatte er in dieser Disziplin wesentlich weniger Erfolg zu verzeichnen. Er konnte sich zwar die unzähligen Schlagtechniken und Abwehrmanöver nur aus einem Buch aneignen, hatte aber dafür zwei sehr gute Trainingspartner von E’Cellbra zur Seite gestellt bekommen, die Arikos. Es waren zwei von ihr selbst gepflanzte Bäume. Sie hatten große Ähnlichkeit mit Birken. Ihre Zweige und Blätter begannen allerdings erst sehr weit oben zu sprießen. Auf Dantras Augenhöhe befand sich jeweils ein besenstiellanger und ebenso starker, blattloser Ast. Das Verblüffende an ihnen war, dass sie ein Eigenleben besaßen, das darauf bedacht war, sich zu wehren und den Baum, aus dem sie wuchsen, zu schützen, wenn man diesem mit einer Axt zu nahe kam. Es reichte auch schon der Stiel einer Axt, um den Schutzmechanismus herauszufordern. Und mit einem solchen trat Dantra gegen sie an. Die beiden Bäume standen so dicht beieinander, dass er wählen konnte, ob er gegen einen oder gleich gegen beide kämpfen wollte, je nachdem, aus welcher Richtung er sie angriff. Zu seinem Bedauern hatte er aber noch nie auch nur den Hauch einer Chance gegen seine Gegner gehabt. Ihm blieb nach einigen Angriffsaktionen immer nur der strategische Vorteil des Rückzuges. Und dabei musste er sich eingestehen, dass die Bäume ihn ohne Weiteres niedermetzeln würden, wenn sie ihm folgen könnten.

„Mir fehlt eben die Begabung für diese Art von Kampf“, verteidigte sich Dantra trotzig. „Aber wenn ich meine magische Kraft einsetze, dann sind die beiden besseren Schattenspender ohnehin chancenlos.“

Die Hexe machte einen bedrohlich großen Schritt auf Dantra zu und zischte ihn durch ihren kaum geöffneten Mund an: „Sollte ich je erleben, dass du den beiden mit etwas anderem als deinem Axtstiel zu Leibe rückst, wird weder deine noch irgendeine andere magische Kraft dir helfen können.“ In dem darauffolgenden kurzen Moment des Schweigens konnte Dantra den Wahrheitsgehalt ihrer Worte ganz deutlich an ihrem alten, aber furchtlosen Gesicht ablesen. „Und nun geh“, fuhr E’Cellbra in dem bestimmten Ton fort, den sie immer anschlug, wenn sie von ihm genervt war.

„Aber ich hab noch gar nicht gefrühstückt“, entgegnete er vorsichtig.

„Wenn du doch so viel magische Kraft in dir hast, kann sie dich ja vielleicht satt machen. Und nun geh!“ Die letzten drei Worte sagte sie mit einem Nachdruck, dass Dantra kein Raum für Diskussionen blieb. Er drehte sich um und verließ mit knurrendem Magen die Hütte.

Das erste Drittel vom Imberviertel war nun schon fast vorüber und die Blätter an den Bäumen kündigten den Wechsel der Jahreszeit an. Dantra hatte in der vergangenen Zeit immer härter an sich gearbeitet und die Ansprüche an sich selbst stetig hinaufgeschraubt. Nicht nur sein Schwertkampf war ansehnlicher und effektiver geworden, mit seiner Magie konnte er bereits umgehen, als wäre sie ein dritter Arm.

Es war bereits später Nachmittag, als er nach einem erfolgreichen Magietraining auf dem Heimweg war. Er hatte an dem Platz geübt, an dem er zum ersten Mal seine Kraft wirksam eingesetzt hatte. Von seinem Können überzeugt und von der Neugierde befallen, ob er einen ausgeprägten Orientierungssinn hatte, wich er von dem von der Hexe vorgeschriebenen Heimweg ab und ging quer durch den Wald in die Richtung, in der er die Hütte vermutete.

Der Kampen bestand zum größten Teil aus hohen Buchen, dicken Eichen und gelegentlich wurde er von einem Nadelwaldabschnitt durchzogen. Eher selten fand man Birkenansammlungen. Durch eine dieser wenigen Ansammlungen verlief nun Dantras Weg. Der Boden war von weichem Moos bedeckt und die Sonnenstrahlen hatten es hier leichter als im übrigen Wald, an den kleinen Blättern vorbei Dantras Haut zu erwärmen. Er genoss das Gefühl, indem er beim Gehen die Augen schloss, sein Gesicht gen Himmel reckte und dabei tief einatmete. Noch bevor er sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren konnte, trat er gegen etwas Hartes, was ihm das Gleichgewicht nahm, und fiel ins weiche Moosbett. Nachdem er sich wieder aufgesetzt hatte, schaute er sich nach der vermeintlichen Stolperfalle um. Er staunte nicht schlecht, als er erkannte, dass es sich anscheinend um ein Grab handelte. Der Erdhügel war zwar vom übrigen Waldboden nicht zu unterscheiden, hatte aber eine rechteckige Form, die für einen Menschen von Dantras Statur Platz bot. An einem der beiden Enden ragte etwas in die Luft, das Dantra zusammenzucken ließ.

Das Stück eines Unterarms und die dazugehörige Hand, die so geformt war, dass die Handfläche eine Kuhle ergab, ragten aus dem Boden empor. Auf allen vieren näherte sich Dantra vorsichtig dem unheimlich aussehenden Bild. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass das Objekt aus Ton gefertigt war. Was aber verwunderte, war die Blume, die in der Hand wuchs. Es war ein einzelnes Schneeglöckchen. Und das, obwohl die Jahreszeit für solch eine Pflanze nicht weiter entfernt liegen konnte. Sie sah aus wie ein winziges rebellierendes Wichtelkind, das sich vorgenommen hatte, den von der Natur gegebenen Gesetzen zu trotzen.

Dantras Grübeln über das Blumenphänomen endete abrupt, als er etwas hinter sich knurren hörte. Er schnellte herum und blickte in das Augenpaar eines ausgewachsenen Wolfes. Er war ihm bereits so nahe gekommen, dass Dantra das Auf und Ab seiner Nasenflügel erkennen konnte. Sein anhaltendes Knurren wurde durch ein totes Kaninchen, dessen schlaffer Körper links und rechts aus seinem Maul hing, gedämpft. Dabei waren die weißen Zähne des Raubtiers tief in das Fleisch seines Opfers versenkt. Jedoch war immer noch genug von ihnen zu sehen, um Dantras Vorstellung anzuregen, wie es wohl wäre, ebenfalls in die Fänge des Wolfes zu geraten. Dies und sein angeborener Überlebensinstinkt trieben ihn auf seine Füße. Er drehte sich um und rannte, so schnell er konnte, in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Angst hinderte ihn daran, sich umzusehen, sie verblendete seinen Verstand, sodass er es nicht einmal annähernd in Betracht zog, sich dem Wolf zu stellen und ihn mit seiner magischen Kraft zu bezwingen.

Erst auf dem von der Hexe vorgeschriebenen Weg riskierte er einen Blick nach hinten. Sein Verfolger war nicht mehr zu sehen. Der Wald war hier zwar nur spärlich mit Sträuchern und Büschen bewachsen. Es reichte aber aus, damit sich der Wolf unbemerkt an ihn heranschleichen konnte. Dantra hielt es daher für besser, sich nicht lange damit aufzuhalten, die Gegend mit seinen Augen abzusuchen, sondern schnellstmöglich zur Hütte zurückzukehren.

Während er dem Trampelpfad im Laufschritt folgte, ärgerte er sich maßlos über sich selbst. „Ich hätte nicht die Nerven verlieren dürfen“, tadelte er sich. „Ich hätte das Untier einfach mit meiner Magie durch die Luft befördern sollen. Ich hätte ihm ganze Bäume entgegenschleudern können. Stattdessen bin ich weggelaufen. So wie es das Kaninchen, das in seinem Maul ein blutiges Ende fand, sicher auch versucht hatte.“

Bei der Hütte angekommen stand E’Cellbra bereits vor der Tür. Es schien, als hätte sie ihn erwartet. Was seltsam war, da er stets zu unterschiedlichen Zeiten von seinen Übungen zurückkehrte. Er rang nach Luft, um ihr das Geschehene zu erzählen, aber noch bevor ihm das glückte, sagte sie: „Meinen Anweisungen trotzen, aber dann nicht einmal einem Wolf die Stirn bieten können. Typisch!“ Dantra wusste nicht, was ihn mehr verwunderte. Die Tatsache, dass sie über den Vorfall Bescheid wusste, oder aber, dass sie nicht verärgert klang. „Wir werden morgen versuchen, deine Nerven in Extremsituationen zu festigen“, fügte sie noch hinzu. Dann ging ihr Blick an ihm vorbei und mit einem Lächeln sagte sie: „Danke, Grey, dass du wieder einmal unseren Tisch reich deckst.“ Dantra drehte sich um. Der Schreck ließ ihn einen unkontrollierten Satz nach hinten machen, wobei er E’Cellbra fast zu Boden stieß.

„Was ist denn los?“ Nun klang ihre Stimme wieder gewohnt streng. „Es ist doch bloß ein Wolf. Wenn dir jetzt schon der Angstschweiß auf die Stirn tritt, was passiert dann erst, wenn du einem Troll gegenüberstehst?“

Dantras Blick wechselte zwischen ihr und dem Wolf, der nun so nah herangekommen war, wie er es schon in dem kleinen Birkenwald getan hatte. Er ließ das Kaninchen aus seinem Maul fallen, sah der Hexe noch einmal in die Augen und verschwand in den Tiefen des Waldes.

E’Cellbra packte den leblosen Körper bei den Ohren, hielt ihn Dantra vors Gesicht und fragte: „Schon mal ein Tier gehäutet?“

Sein Schrecken beim Kennenlernen von Grey und der Ekel vor der darauffolgenden Bearbeitung von dessen Beute waren überwunden, als er zum Abendessen am Tisch Platz nahm und die gesamte Hütte nach knusperigem Kaninchenbraten roch. Es war überhaupt der schönste Abend, den er bei der Hexe bis dahin verbrachte hatte. E’Cellbra war mit zu ihnen in den Keller hinuntergestiegen und so redselig, wie er es noch nie bei ihr erlebt hatte. Die familiäre Harmonie ging sogar so weit, dass die Hexe Dantra zu seiner Freude anbot, die Förmlichkeit zu beenden und sie mit Du anzusprechen. Tami hatte zum Nachtisch einen Nusskuchen gebacken, dessen Köstlichkeit er nicht in Worte fassen konnte, und der Rabe, sonst scheu wie ein Reh, fraß zum ersten Mal Krümel aus seiner Hand.

Er erfuhr, dass Magieträger bestimmte Bezeichnungen hatten. Und dabei kam es nicht darauf an, ob sie Menschen, Elben oder einer anderen Lebensform angehörten. Wenn man mit geringen oder mittleren magischen Fähigkeiten ausgestattet war, so war von Hexen beziehungsweise Hexern die Rede. Beim Besitz höherer Magie sprach man von Magierinnen und Zauberern. Aber einen kleinen Unterschied zwischen einem Elb und einem Menschen gab es dennoch. Während der gewöhnliche Mensch ohne jegliche Magie zur Welt kam, war dem Elb eine gewisse Grundmagie genauso angeboren wie das Sehen und Hören. Die einzige Ausnahme stellten die Drachen dar. Denn sie besaßen alle ein hohes Maß an Magie. Und jeder einzelne von ihnen hatte zudem eine einmalige individuelle Fähigkeit: die sogenannte Drachengabe. Die Drachen interessierten Dantra besonders, denn in der Klosterschule wurde dieses Thema prinzipiell totgeschwiegen. Also nutzte er die gute Laune E’Cellbras und bohrte nach. „Um was für Fähigkeiten handelt es sich dabei?“

„Nun, von den meisten Drachen kennt man sie nicht. Doch der, von dem man es genau weiß, trägt den Namen Condire. Er ist einer der boshaftesten und gefährlichsten Drachen überhaupt. Er hat die Fähigkeit, egal, wo sein Name oder der eines anderen Drachen in Verbindung mit Spott, Fluch oder auch Beleidigung genannt wird, dieses umgehend wahrzunehmen.“

„Und was passiert, wenn man einen Drachen beleidigt?“

E’Cellbra schaute ihn skeptisch an. „Du kennst doch sicher das Lied, das Kinder über den Drachenschatten singen, wenn sie anderen Angst machen wollen?“

„Nein.“ Ihr Blick wurde noch skeptischer. Sie räusperte sich und versuchte, einen hohen Ton zu finden. In einer leichten und zugleich jammernden Melodie fing sie an zu singen.

Und fliegt er so tief über dir,

dass du in seinem Schatten stehst,

ist der Tod ganz sicher dir,

auch wenn du dich von ihm drehst.

Für einen Augenblick war es still. Nur das Klackern der Krallen des auf dem Tisch nach Krümeln suchenden Raben war zu hören.

„Soll das heißen“, fing Dantra unsicher an, „sie würden jemanden wegen einer Beleidigung töten?“

„Derjenige, der die Worte sprach, und ein jedes Leben, das nahe genug war, um das Unverzeihliche zu hören, würden den Tod finden.“

Wieder trat Schweigen ein. Dantra konnte nicht glauben, wie schnell man in diesem Land sein Leben verlieren konnte.

„Mich wundert es, dass die Nonnen euch nichts davon erzählt haben“, sagte E’Cellbra nachdenklich. „Denn weder kindliche Naivität noch die Klostermauern könnten den Betroffenen schützen, wenn ein Drache Vergeltung übt.“

„Uns war es verboten zu fluchen, Schimpfwörter zu benutzen und vor allem das Wort Drache in den Mund zu nehmen. Und ihre Namen kennt ohnehin keiner im Kloster, zumindest nicht die Schüler. Von daher hielten sie es wohl für überflüssig, uns auf die Gefahr hinzuweisen.“

„Aber es war sehr verantwortungslos von den Nonnen, es dir nicht wenigstens bei deiner Entlassung zu sagen“, stellte sie leicht erzürnt fest.

Für Dantra gab es dafür nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder sie hatten es vergessen oder, was wahrscheinlicher war, sie glaubten sowieso nicht daran, dass er ein langes Leben in dieser Welt zu erwarten hatte. „Hat jemals jemand einen Drachenangriff überlebt?“

„Natürlich gibt es Menschen, die behaupten, ihren lodernden Flammen entkommen zu sein. Das sind allerdings auch die Leute, die dir sagen, dass sie schon einmal ein Einhorn gesehen haben. Ich denke, ich muss also deine Frage mit einem entschiedenen Nein beantworten.“ Auch wenn Dantra davon überzeugt war, dass er es niemals mit einem Drachen zu tun bekommen würde, ging er dennoch an diesem Abend mit einem unguten Gefühl zu Bett. Er starrte noch lange die dunkelbraunen Deckenbalken an und grübelte über das Erlebte nach. Erst als die Dunkelheit das schwindende Licht endgültig besiegt hatte, kroch die Müdigkeit an ihm hoch und ließ ihn einschlafen.

Am nächsten Morgen verrichtete er seine tägliche Arbeit, ohne Zeit zu vertrödeln. Die Ankündigung von E’Cellbra, mit ihm die Beherrschung seiner Kraft unter Stress zu trainieren, trieb ihn an.

Am frühen Nachmittag war es so weit. Sie hatte sich ihren Gehstock und einige Stoffsäckchen gegriffen, einen mit Wasser gefüllten Lederschlauch umgehängt und schlug nun einen Weg ein, den sie, wie Dantra feststellte, bis dahin noch nie gegangen waren. Er führte sie tief in den Fons-Teil des Kampen. Ihr Schritttempo war überraschend normal und ließ Dantra gut mithalten. Ihm schien es die perfekte Gelegenheit für eine Frage zu sein, die ihn schon seit langer Zeit beschäftigte und die er am Vorabend vergessen hatte zu stellen. Denn ihre Laune und ihr Mitteilungsbedürfnis waren, zumindest für ihre Verhältnisse, auch heute noch ausgesprochen gut.

„Sag mal“, fing er zögernd an, „warum hilfst du Tami und mir eigentlich? Ich meine, was hast du davon? Es ist doch sicher gefährlich für dich, Fremde bei dir aufzunehmen. Du wusstest doch gar nicht, ob du uns vertrauen konntest.“

„Gefährlich war es schon“, sagte sie nach kurzem Zögern, „aber über meine Hochachtung vor deinem Vater haben wir ja bereits gesprochen, und außerdem bittet man mich ja nicht jeden Tag um einen Gefallen.“

„Du wurdest von jemandem gebeten, dich um uns zu kümmern?“ Dantra konnte seine Überraschung über diese Antwort nicht unterdrücken.

„Ja“, erwiderte E’Cellbra kurz und schwieg.

„Von wem?“, drängte Dantra sie. Er konnte nicht glauben, dass er ihr immer alles aus der Nase ziehen musste. Vor allem bei solch einem wichtigen Thema.

„Einige Tage bevor Tami ihren neunzehnten Geburtstag feierte, kam ein Mann zu mir. Er sagte, er hätte eure Eltern gekannt und wäre der beste Freund deines Vaters gewesen. Von ihm wusste er wohl auch, wo er mich finden konnte. Er meinte, er hätte deinem Vater seinerzeit versprochen, sich um euch zu kümmern, wenn ihm oder eurer Mutter etwas zustoßen würde. Doch nun, kurz bevor es so weit war, dass er sein Versprechen einlösen konnte, hielt er es wohl für zu gefährlich, wenn man euch zusammen sähe. Und so bat er mich, dass ich euch aufnehme und auf diese für euch fremde Welt und ihre unzähligen Gefahren vorbereite.“

Als sie den Satz beendet hatte, blieb Dantra nachdenklich stehen. Sie waren nun schon fast ein halbes Jahr bei der Hexe. Aber erst jetzt, und vor allem erst auf sein Nachfragen hin, erzählte sie ihm mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie über das Wetter reden, dass es anscheinend nicht weit entfernt jemanden gab, der mit großer Wahrscheinlichkeit über das Schicksal seiner Eltern Bescheid wusste. Er schloss zu der Hexe auf und ließ seinem Fragenrausch mit zorniger Stimme freien Lauf. „Wieso hast du uns das nie erzählt? Was hat er noch über unsere Eltern gesagt? Und wie kann ich ihn finden?“

Nun war es E’Cellbra, die stehen blieb. Sie sah ihn mit einem Blick an, der ihm sofort klarmachte, dass von ihrer guten Laune nun nicht mehr viel übrig war. Sie streckte ihr buckeliges Kreuz, so gut es ging, durch und wuchs damit eine Handbreit in die Höhe. „Ich hätte es euch schon noch erzählt“, sagte sie leise, aber dennoch bestimmt. „Und über eure Eltern hat er nichts weiter berichtet. Und was das Finden anbelangt, hast du mir nicht zugehört? Er hält es für zu gefährlich, sich mit euch zu treffen. Also, selbst wenn ich wüsste, wo du ihn finden kannst, würde ich es dir nicht sagen. Und nun lass uns weiter.“ Sie setzte ihren Weg fort, und wie zu erwarten zog sie das Tempo dabei wieder einmal merklich an.

Der Rest der Strecke verlief schweigsam. E’Cellbra unterbrach den Marsch erst, als sie an einem tiefschwarzen Waldabschnitt ankamen. „Wir sind da“, sagte sie und betrachtete dabei die vor ihnen hoch aufragende, dunkle Wand aus einer Pflanzenspezies, die Dantra völlig fremd war, mit großer Skepsis.

Die Grenze zu dem übrigen Wald ringsherum schien peinlich genau eingehalten zu werden. Kein Blatt, kein Ast berührte das Dunkel. Die Pflanzenwand lief an der einen Seite einen Hang hinauf und verschwand dahinter, während die andere Seite nur einige Schritte von ihnen entfernt eine Ecke bildete, sich anschließend durch eine lange Senke emporzog und irgendwo in der Ferne verschwand.

„Was ist das für eine grässliche Baumart? Schwarze Äste, schwarze Blätter, selbst die Büsche am Boden und das Erdreich selbst haben diese trostlose Farbe. Es sieht aus, als wäre dort drin tiefe Nacht, und das, obwohl doch die Sonne von Wolken ungehindert direkt darauf scheint.“

„Es ist ein schwarzer Baumwald“, erklärte sie ihm, wobei ihre Stimme fast in einen Flüsterton absank. „Es gibt ziemlich viele von ihnen. Sie sind überall in Umbrarus zu finden. Meist an Orten, wo vor langer Zeit die Pocken oder die Pest alles menschliche Leben dahingerafft hat. Der Tod herrscht über den schwarzen Baumwald.“ Dantra war vor E’Cellbra noch nie einer Hexe begegnet. Doch wenn er früher darüber nachgedacht hatte, wie sich wohl die Stimme eines solchen Wesens anhörte, dann entsprach seine Vorstellung genau dem unheimlichen Ton, in dem E’Cellbra gerade den letzten Satz gesagt hatte. Er ließ ihm die Nackenhaare hochstehen und ein unangenehmes Kribbeln lief ihm entlang der Wirbelsäule den Rücken hinunter. „Der Tod?“, fragte er in einer Mischung aus Angst und Verwunderung, nun ebenfalls mit gesenkter Stimme.

„Na ja.“ Dantra erschrak, denn E’Cellbra sprach jetzt wieder in normaler Lautstärke. „Ich will damit nur sagen, dass es dort drin Geschöpfe gibt, die vom Aussehen her den Anschein erwecken könnten, sie seien bereits tot. Was aber wirklich diese skurrilen Pflanzen wachsen lässt und warum die Tiere dort alles andere als gesund aussehen, weiß niemand so genau. Man kann nur darüber mutmaßen. Manche glauben, es sei dunkle Magie am Werk. Wenn es aber wirklich so ist, dann muss sie sehr mächtig sein, denn so was mit Zauberei zu erschaffen, hinterlässt Spuren, und von denen habe ich noch keine finden können. Die meisten sagen, und das ist auch meine Meinung, es liege daran, dass diese Orte seit vielen Jahren von den drei großen Völkern – den Menschen, den Elben und den Nalcs – gemieden werden. Selbst die Drachen haben Respekt vor dem Unerforschten und halten sich von ihm fern.“

„Und niemand versucht herauszubekommen, was wirklich die Ursache ist?“

„Niemand kann man nicht sagen. Ich zum Beispiel arbeite seit vielen Jahren daran. Aber es ist sehr schwer und vor allem gefährlich. Ich selbst sah mutige Männer, die mit gezücktem Schwert hineingingen und von denen man nie wieder etwas hörte. Verschollen in der Dunkelheit. Anfangs habe ich versucht, die Pflanzen auf ihre Beschaffenheit hin zu untersuchen, aber ...“ Sie machte einige Schritte nach vorn und zupfte eines der schwarzen Blätter von einem Baum. In dem Moment, in dem sie ihre Hand aus dem Schatten zog, zerfiel das Blatt zu so feinem Staub, das nichts von ihm übrig blieb. „Und ich kann auch nicht lang genug drin bleiben, um es dort zu untersuchen.“

„Du warst da drin?“, fragte Dantra entsetzt und zeigte dabei mit dem Finger aufs Schwarze.

„Wie ich bereits sagte, ich forsche seit vielen Jahren hier. Und wenn man einfach nicht weiterkommt, siegt irgendwann die Ungeduld über die Vernunft. Aber so habe ich wenigstens einige Fortschritte machen können.“

„Fortschritte? Was für Fortschritte?“ Dantras Neugierde war geweckt.

„Nun, ich habe einige der Tiere gesehen und konnte geeignete Abwehrstoffe gegen ihre Angriffe entwickeln.“

„Sie greifen einen an?“

„Warum glaubst du, dass du hier bist? Wenn ich dir bloß erzählen wollte, wie es dort drinnen aussieht, hätte ich das auch beim Abendbrot machen können. Dann wäre uns der lange Weg hierher erspart geblieben und mir auch deine überflüssigen Fragen von vorhin.“

„Wie kann man nur so nachtragend sein“, dachte Dantra verärgert, wechselte aber sofort wieder zum ursprünglichen Thema. „Du verlangst also von mir, dass ich da reingehe und mit meinen magischen Kräften gegen diese Kreaturen kämpfe?“

„Ganz genau.“

„Und warum?“

„Weil wir deine Konzentration in außergewöhnlichen Situationen verbessern müssen.“

„Verbessern schon, aber müssen wir dafür gleich mit so einem schwarzen Loch anfangen?“

„Hast du Angst?“

Dantra zögerte. Natürlich hatte er Angst. Noch nie zuvor hatte er etwas Unheimlicheres gesehen. Und er wusste um seine Schwächen, wenn er in Panik geriet. Die Begegnung mit Grey hatte es ihm erst wieder vor Augen geführt. Aber all diese Bedenken wurden klein gestampft von dem, was er am meisten an sich hasste: seinen Stolz. „Ich habe keine Angst. Wenn du da drin warst, dann geh ich auch rein.“

„Schön, schön.“ Er sah in E’Cellbras zufriedenem Gesicht, dass sie ihn genau dazu bringen wollte. Denn sein Hochmut machte nun weitere Überredungsversuche ihrerseits überflüssig. „Doch du musst einige Regeln beachten, sie können dir dein Leben retten.“ Ihre Stimme war nun wieder äußerst ernst. „Geh nicht weiter hinein als dreißig Schritte. Auch wenn bis dahin noch nichts passiert ist, musst du auf jeden Fall umdrehen. Und bleib immer auf dem Trampelpfad. Nur wenn du glaubst, dass du den Rückweg aus irgendeinem Grund nicht schaffst, dann dreh dich in Richtung Dron und mache drei Schritte nach vorn. Der Pfad, der in das schwarze Loch führt, läuft nämlich parallel zur Waldgrenze. Und daher ist das auch immer der kürzeste Weg zurück ins Licht.“ Nun wurde Dantra erst die Merkwürdigkeit bewusst. Obwohl sie am Dron-Ende waren und es ein Leichtes gewesen wäre, am schwarzen Wald vorbeizugehen, führte der Pfad, auf dem sie standen, direkt hinein. „Das macht doch gar keinen Sinn. Warum führt der Weg nicht daran vorbei, wenn doch kein vernünftiger Mensch das Dunkel betritt? Und selbst wenn es Geschöpfe gibt, die sich in dieser finsteren Umgebung heimisch fühlen, weshalb gehen sie dann hier am Rand hinein und nicht irgendwo in der Mitte?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete E’Cellbra und zuckte dabei leicht mit den Schultern, „solange ich hierherkomme, ist der Weg schon da, und das, obwohl ich noch nie gesehen habe, dass ihn irgendjemand benutzt hat. Wie dem auch sei. Es ist Zeit, den vielen Worten Taten folgen zu lassen. Also, konzentriere dich, geh zügig rein und wieder raus. Und mach zur Abwechslung einmal das, was ich dir gesagt habe, verstanden?“

„Ja“, gab er mürrisch zurück. Wenn sie so mit ihm redete, erinnerte ihn das immer an Schwester Arundels herablassende Art.

Er streckte vorsichtig seinen Arm in den Schatten der schwarzen Bäume. Es fühlte sich kalt und feucht an. Als wenn man nach einer verregneten Nacht aus seinem kamingeheizten Haus ins Freie tritt. Als er den ersten Schritt tat und sein Gesicht vom Dunkel überzogen wurde, hatte er den Eindruck, er würde wie von unsichtbarer Hand hineingezogen. Ruckartig wich er zurück. Er drehte sich zu E’Cellbra um, doch die sah ihn nur an, als würde sie sich gleich mit höhnischer Stimme nach seinem Befinden erkundigen. Er wandte sich wieder der Finsternis zu. Mit geschlossenen Augen trat er nach vorn. Er empfand ein Unbehagen, so als würde die Umgebung ihn erdrücken. Als würde sie alles, was er an guten Tugenden und Charaktereigenschaften besaß, in das Gegenteil verkehren. Der kaum spürbare Wind in Dantra selbst, der von seinem Hass genährt wurde, gewann an Kraft und drohte, ein Sturm zu werden.

„Dumme Empfindungen, die ich mir nur einbilde“, flüsterte er vor sich hin und versuchte, sich wieder auf seine Aufgabe und auf die Umgebung zu konzentrieren. Die Sicht würde ihm keine Möglichkeit geben, lange über eine angemessene Reaktion im Falle eines Angriffes nachzudenken. Er konnte kaum zwei Schritte weit sehen. Selbst in Richtung Dron, wo das rettende Sonnenlicht nicht mehr als drei Schritte entfernt lag, hatte er keineswegs eine bessere Sicht. Es war, als würde er durch einen schwarzen Schleier ins Nichts schauen.

Er besann sich auf E’Cellbras Worte und dieses Mal fiel es ihm auch überhaupt nicht schwer, ihnen Folge zu leisten. „Je eher ich hier wieder raus bin, desto besser“, dachte er und setzte seinen Weg zügig fort. Es roch, als würde man sich einen alten, muffigen Waschlappen unter die Nase halten, der lange Zeit in einem feuchten Raum gelegen hatte und daher nie richtig trocknen konnte. Aber auch das versuchte Dantra zu ignorieren. Er zählte stattdessen seine Schritte und spähte, so gut es ihm möglich war, in seine Marschrichtung.

„Dreißig“, sagte er und drehte sich um. Nichts. Obwohl er spürte, dass er beobachtet wurde, war absolut nichts zu sehen. „Wenn ich nicht angegriffen werde, stellt mich E’Cellbra wieder als Versager dar“, dachte er, „und das, obwohl ich dieses Mal wirklich nichts gemacht habe, was ich nicht machen sollte.“ Aber vielleicht lag darin das Problem. „Vielleicht hat mich nur noch niemand entdeckt. Vielleicht muss ich laut vor mich hin reden oder heftig mit den Füßen aufstampfen.“ Das beklemmende Gefühl in seiner Magengegend nahm stetig zu, und so beschloss er, lieber den Hohn der Hexe zu ertragen. Denn das war immer noch besser, als noch länger in dieser anscheinend ewig dauernden Nacht zu verharren. Und ein Angriff würde unweigerlich das Wiedersehen mit grünen Bäumen und dem blauen Himmel, so wie er sie kannte und liebte, unnötig weiter hinauszögern.

Er begann erneut mit dem Zählen und verhielt sich auch sonst genauso wie auf dem Hinweg. „Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechs...“ Er stockte und richtete seinen Blick auf einen, wie er glaubte erkennen zu können, Vogel, der am Boden direkt vor ihm saß. Er war nicht größer als eine Drossel und wie seine Umgebung von den Krallen bis zur Schnabelspitze tiefschwarz. Für einen kurzen Moment beobachteten sie sich gegenseitig. Dann, als Dantra den nächsten Schritt tun wollte, öffnete er seinen Schnabel und man konnte deutlich kleine scharfe und schneeweiße Zähne erkennen, die Dantra an ein Ölbild aus seinem Lebensformenunterricht der Klosterschule erinnerten. Dieses hatte einen Delfin gezeigt, der ebenfalls sein spitz nach vorn zulaufendes Maul aufgerissen hatte und damit den Blick auf seine Zähne freigab. Jedoch war ein Delfin, nachdem was er gelernt hatte, ein friedliebendes Tier. Bei dem Wegelagerer vor ihm war sich Dantra nicht so sicher.

Ob es seinem Gegenüber gefiel oder nicht, aber es war Zeit, den dunklen Wald zu verlassen. Und so setzte Dantra seinen Weg fort. Doch noch vor dem nächsten Schritt erhob sich der Vogel, bis er mit ihm auf Augenhöhe war. Gleichzeitig mit Dantras Verwunderung über die fledermausähnlichen Flügel des Vogels schoss dieser direkt auf ihn zu. Mehr aus Reflex und nicht als Resultat eines wohldurchdachten Abwehrverhaltens vereitelte Dantra den Angriff, indem er die kleine Kreatur gezielt mit seiner magischen Kraft nach hinten schleuderte. Da dort das Ende des schwarzen Baumwaldes lag, war sich Dantra ziemlich sicher, dass er ihn aus dem finsteren Wald hinauskatapultiert haben musste. Suchend sah er in das bereits erkennbare, aber noch undeutlich und irgendwie dunstig wirkende Sonnenlicht. Es war nichts von dem seltsamen Vogel zu sehen.

„Gut, also nichts wie raus hier“, befahl er sich selbst. Den Blick gen Boden und das linke Bein bereits zum nächsten Schritt angezogen, musste er erkennen, dass sich nun an der Stelle, an der gerade noch sein Angreifer gesessen hatte, fünf von dessen Artgenossen unbemerkt niedergelassen hatten. Als wären sie von unsichtbaren Schnüren gleichzeitig hochgezogen worden, starteten sie nun ihrerseits einen Angriff auf Dantra. Er parierte blitzschnell und ließ ihnen nicht den Hauch einer Chance. Mit sich selbst zufrieden und mit vor Stolz geschwellter Brust setzte er für das letzte Stück zum Laufschritt an. Dabei vermied er es bewusst, vor sich auf den Boden zu schauen. Wenn dort wieder einige dieser Viecher säßen, würde er sie einfach überrennen. Es war höchste Zeit, hier herauszukommen. Und so war er froh, seinem Ziel bereits nahe genug zu sein, um die schemenhaften Umrisse der Hexe erkennen zu können. Doch urplötzlich wurde ihm diese Sicht wieder genommen. Eine schwarze Wolke raste mit unglaublicher Geschwindigkeit aus einer Kurve heraus direkt auf ihn zu.

Es handelte sich um einen ganzen Schwarm dieser Kreaturen. Dantra hielt sie mit aller Konzentration und Kraft, die er aufbringen konnte, von sich fern. Sie prallten eine Armlänge vor ihm gegen ein unsichtbares Hindernis und taumelten unkontrolliert nach hinten weg, als würden sie gegen eine massive Steinwand fliegen. Für einen Moment sah es aus, als wäre Dantra unbesiegbar. Er legte seinen Kopf in den Nacken und fixierte seine Gegner über seine Wangenknochen hinweg. Dabei hielt er seine Hand weit vor sich ausgestreckt, als würde er sie zu Hilfe nehmen, um den unsichtbaren Schutzwall vor sich aufrechtzuerhalten. Diese Pose spiegelte auch sein Gefühl von Stolz und unglaublich großer Macht wider, das in ihm wuchs.

Ein stechender Schmerz jedoch zog ihn zurück in die Realität. Noch bevor die Überlegung über dessen Herkunft abgeschlossen war, hagelte es bereits weitere schmerzhafte Attacken aus dem Hinterhalt. Er drehte sich und versuchte nun, die von beiden Seiten unaufhörlich Angriffe fliegenden Kreaturen abzuwehren. Diese Taktik war allerdings nur von kurzem Erfolg gekrönt. Denn seine schutzlose Rückenflanke wurde erneut Opfer eines gezielten Vogelschwarmangriffs. Die magische Kraft gleichzeitig auf drei verschiedene Richtungen aufzuteilen, überstieg sein Können. Die damit aufkommende Hilf- und Ratlosigkeit ließen ihn ein etwaiges Abwehrverhalten abbrechen und die Flucht in die nun vor ihm liegende Dron-Richtung antreten. Er spürte, wie ihm seine Verfolger im wahrsten Sinne des Wortes im Nacken saßen. Er versuchte, die Äste und Zweige vor sich im Laufen mit den Händen und Armen zur Seite zu drücken. Dabei schnitten diese ihm tiefe Wunden ins Fleisch, da sie scharf wie frisch gewetzte Fleischermesser waren. Sie rissen ihm seine Kleider am ganzen Körper in Fetzen und tränkten sie mit seinem Blut. Neben dem übermächtigen Grau um ihn herum sah das Rot seines Blutes nicht weniger fehl am Platz aus als das Rot auf dem Waldboden, dessen Existenz in seinem Bewusstsein in diesem Moment der schmerzhaften Flucht nur verwischte Spuren hinterließ. Er hatte seine bereits gemachten Schritte nicht gezählt, doch eines war klar, es waren mehr als drei gewesen. Das wiederum bedeutete, dass er das rettende Ende schon längst erreicht haben musste. Stattdessen wurde das Unterholz immer dichter, die Schmerzen unerträglicher und die Hoffnung auf die erlösenden Sonnenstrahlen geringer.

Ein Baumstumpf, den er übersah, ließ seine Flucht endgültig scheitern. Er spürte, dass zwei seiner Zehen dabei brachen, dann schlug er auf dem steinharten Boden auf. Dantra kam es vor, als würden Hunderte von den kleinen Monstern auf ihm landen. Sie zerbissen ihm seinen Körper, als hätte man ihnen ein Stück rohes Fleisch vorgeworfen. Nach ihnen zu schlagen, sich gegen sie zur Wehr zu setzen, stellte sich schnell als sinnlos heraus. So blieb er also zusammengerollt und seinen Kopf unter den verschränkten Armen schützend wehrlos liegen. Er wünschte sich, seine Angreifer hätten längere Zähne, es würde sein Leid wesentlich verkürzen. Er spürte, wie sie sich bereits an manchen Stellen bis zu den Sehnen durchgebissen hatten und nun an diesen zerrten. Er hätte nie geglaubt, dass ein Mensch solch eine Qual ertragen konnte, ohne ohnmächtig zu werden. Aber hier drin, im Dunkel, im Schwarzen, schien alles möglich. Zumindest all jenes, was einem unmenschliche Schmerzen bereiten konnte.

Als sich einige von den Untieren an den Stellen seines Kopfes zu schaffen machten, die noch freilagen, zog er ihn noch weiter ein, sodass seine Hände sich im Nacken trafen. Dabei stellte er entsetzt fest, dass an seiner linken Hand der kleine und der Ringfinger fehlten und er stattdessen in zwei offene Wunden drückte, in denen er die harten Stumpen seiner Fingerknochen spürte. Er musste sie sich beim Sturz abgetrennt haben. Bei diesem hatte er ebenfalls eine tiefe Fleischwunde von der rechten Stirnseite bis zu seinem linken Ohr erlitten, durch die auch sein Auge in Mitleidenschaft gezogen worden war. Es war ihm nicht möglich zu deuten, ob es nur voll Blut gelaufen oder gar herausgerissen war.

Endlich, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, fingen seine Sinne an zu schwinden. Der Schmerz, der seinen gesamten Körper befallen hatte, forderte seinen Tribut. Dass er sich über seinen bevorstehenden Tod einmal so freuen würde, hätte er niemals für möglich gehalten. Doch genau so war es. Sein letzter klarer Gedanke galt Tami. Dann drehten sich die Bilder, die er vor seinem inneren Auge sah, als wären sie in einen Strudel geraten. Sie vermischten sich mit der Dunkelheit, mit dem Schwarz, das von außen in ihn hineinzuströmen schien. Es war, als würde er ins Bodenlose fallen. Ins unendliche Nichts.

Jemand packte ihn am Arm. Er wurde ruckartig ein Stück hochgezogen. Er musste sich zwingen, sein gesundes Auge noch einmal zu öffnen. Nur verschwommen sah er E’Cellbras Gesicht, das direkt vor seinem war. Sie schrie ihn an, doch er verstand nichts. Er sagte ihr, dass es zu spät sei und sie die Erlösung von seinen Schmerzen nicht länger hinauszögern solle. Sie hatte ihn anscheinend nicht gehört. Oder hatte er gar keinen Ton herausbekommen? Jedenfalls zog sie ihn auf die Beine und legte eine seiner Hände auf den Knauf ihres Gehstocks. Dann warf sie ihren Umhang über ihn und hakte ihn unter. Er humpelte, so gut er konnte, neben ihr her, wobei ihm rätselhaft war, woher er die Kraft dafür nahm. Nach nur einigen Schritten bemerkte er, dass Sonnenstrahlen durch den fein gewebten Stoff drangen. Die Hexe blieb stehen und Dantra sank auf den warmen, mit weichem Gras überzogenen Waldboden nieder. Nachdem seine Lungen sich mit dem Duft von Efeu und Flieder gefüllt hatten, hob er seinen Kopf und sah zu E’Cellbra auf. Jedoch blendete ihn dabei die nun bereits tiefer stehende Sonne, sodass er beide Augen wieder zukneifen musste. Beide Augen?

Drachengabe - Halbdunkel

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