Читать книгу Weiber - Toyah Diebel - Страница 6

Katharina

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Sie stellt sich Menschen vor, die gern in Nudisten-Camps fahren. »Nudisten« – wie das schon klingt. Als würden die jedem ihre Genitalien ins Gesicht halten oder irgendwas damit anschrubbeln wollen. Leute, die in ihren Wohnzimmern umsonst Tantrakurse anbieten, Gipsabdrücke von Pimmeln bemalen und sich gegenseitig kleine Perlen in die Schamhaare flechten – wenn sie die schon nicht aus sicherer Entfernung im RTL-II- Nachtprogramm sehen will, dann erst recht nicht in ihren Sommerferien.

Andere Teenager dürfen auf coolen Jugendreisen abhängen, sie macht Urlaub mit den nackten, faltigen Geschlechtsteilen ihrer Eltern.

Sie würde sich ganz bestimmt nicht ausziehen, allein schon wegen ihrer Brüste nicht. Die sind so schrecklich groß, dass sie in der Schule jeden Tag drei BHs übereinander anzieht, um sie so platt wie möglich zu quetschen. Und hängen tun sie wie bei einer Kuh, alle sagen das.

Seitdem klar ist, dass sie ins Nudisten-Camp fahren, betet sie jeden Abend vor dem Schlafengehen, es würde bis auf die Grundmauern niederbrennen. Egal wie, egal warum. Ihretwegen könnte sich auch jemand in die Luft sprengen, natürlich auch nackt, Hauptsache, sie müsste da nicht hin.

Zwei Wochen später fährt sie trotzdem, eingepfercht zwischen ihren Geschwistern auf der Rückbank, über zwölf Stunden von Stuttgart nach Südfrankreich. Im Gegensatz zu ihr freuen sich ihre Geschwister richtig über die Reise, aber die sind noch im Kindergartenalter, denen sind fremde entblößte Pimmel und Scheiden noch egal.

Die Glücklichen.

Im Camp angekommen wird direkt sichtbar, vor was sie sich besonders gefürchtet hat:

Deutsche. Viele Deutsche. Schon vor ihnen in der Schlange am Auto-Check-in ein großes Wohnmobil, aus dem lautstark Popschlager, irgendwas Mark-Forster-Mäßiges, dudeln. Auf der Heckscheibe klebt ein großer Sticker: »Nacktschnecken an Bord«, die will man doch direkt kennenlernen.

Immerhin, die freundliche Dame am Check-in hat ein T-Shirt an und sieht auch sonst nicht aus wie eine Perverse, das macht ihr ein bisschen Hoffnung. Sie drückt ihnen einen Flyer in die Hand und weist ihnen einen Bungalow in »Südamerika« zu.

Zum Abschied nuschelt sie ihnen ein »Bienvenidos amigos« entgegen, den Gag macht sie heute sicherlich nicht das erste Mal. Moment mal: Südamerika? Sie sieht sich den Flyer genauer an, hier scheint es noch schlimmer zu sein, als sie erwartet hat: 5000 Nudisten auf 435 Hektar Land, das ist kein Camp, das ist ein ganzes Dorf, in sechs Kontinente unterteilt, warum nur sechs wird nirgends erklärt, vielleicht weil es in der Antarktis keine Nudisten gibt, wegen sehr kurzer Lebenserwartung – da würde sie definitiv als Nächstes hinwollen.

Ihre Familie und sie wohnen aber erst mal in »Haus Argentinien«. Nach Südamerika wollte sie schon immer mal, nach Argentinien aber bestimmt nicht mehr.

In Schrittgeschwindigkeit fahren sie durch das Camp, sie fühlt sich wie damals auf der Wild-Safari, mit dem Unterschied, dass sie hier in den ersten fünf Minuten schon mehr Rüssel gesehen hat als in einer Woche Nairobi-Nationalpark.

Im »Haus Argentinien« angekommen, finden auch ihre Eltern, dass es längst Zeit ist, sich zu entblättern. Während sie splitterfasernackt das Auto ausräumen, sitzt sie apathisch im Plastikstuhl auf der Veranda und fummelt an ihren Socken. Sie will gerade mal wieder etwas in Richtung ihrer Eltern maulen, da wummst das Holzgatter auf, und ein Mann marschiert schnurstracks auf sie zu.

»Ahhhh, auch Deutsche? TOOOLL!!!«

Es ist der Nachbar von »Haus Uruguay« nebenan, natürlich ebenfalls nackt, aber ganz sicher kein Südamerikaner. Er strahlt über beide Ohren und freut sich, wie fast alle Deutschen im Urlaub, endlich wieder Deutsche zu sehen.

Ihr Stiefvater und er begrüßen sich überschwänglich, der Bauch des Nachbarn wackelt dabei wie ein Wackelpudding mit Zipfel drin. Er stemmt seine Arme in die Hüften, lässt Blicke und Hüften kreisen, überfliegt sein Gehänge und dann das ihres Stiefvaters: »Ich denk, wir können uns duzen, oder?« Beide lachen, klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, und sie kommt in den Genuss eines wundervollen Anblicks: hüpfende, tanzende alte Hoden.

Der Nachbar stellt sich als »Der Uruguayaner« vor, er ist schon das sechzehnte Jahr in Folge im Camp und erwähnt das allein in den ersten fünf Minuten sehr ­häufig.

Eine Ehre also, neben ihm residieren zu dürfen, neben so einer nackten Instanz, einem Nudisten-Häuptling sozusagen. Sie ist schwer beeindruckt. Also gar nicht.

Er salutiert in ihre Richtung und hebt den Sonnenhut kurz von seiner braun gebrannten Halbglatze:

»Hola, que tal, bonjour Madame! Und du, du genierst dich wohl? Ich schau dir schon nichts ab, ist wohl das erste Mal hier für dich, was?«

Er lacht dabei wie ein rostiger Benzin betriebener Rasenmäher, so, wie dicke, nackte Männer Mitte fünfzig eben lachen. Außer dem Sonnenhut trägt er noch Outdoor-Trekkingsandalen mit Klettverschluss, Modell »Triebtäter«. Der ist auf jeden Fall pervers, vor dem zieht sie sich garantiert nicht aus.

Nach dem Ausladen und Auspacken geht’s ins Campzentrum, der Uruguayaner ist auch dabei, alle nackt. Sie trägt Bikini. Er höchstpersönlich möchte sie ins Dorfleben einführen und danach den schönsten Teil des Strandes zeigen, wo sie gemeinsam ein kleines »Dejeuner«, also Mittagessen einnehmen könnten. Den Uruguayaner würden sie bestimmt bis zum letzten Tag des Urlaubs nicht mehr losbekommen.

Auf dem Weg wird klar: Für die Nudisten gibt es keinen Grund mehr, diesen Ort zu verlassen, Supermarkt, Shoppingmeile, Restaurants, alles da, und überall darf, nein, MUSS man nackt sein. So erklärt es zumindest nicht nur der Uruguayaner, sondern auch das Schild, vor dem sie jetzt schockiert stehen bleibt. Es ist auf Französisch, verstehen kann sie es trotzdem, die abgebildeten Zeichnungen sind auch für den letzten Idioten gut zu ver­stehen:


Strichmännchen nackig, grün. Strichmännchen T-Shirt, aber unten nackig, grün.

Strichmännchen ganz angezogen, rot, Strichmännchen kein T-Shirt, aber Badehose, rot.

Zieh an, was du willst, aber deine Genitalien müssen immer für alle sichtbar sein, altes Nudistengesetz. ­Können die gern alles so machen, wie sie wollen, sie würde da nicht mitspielen. Sie dreht sich mit verschränkten Armen zu ihrer Mutter: »Also, ICH zieh mich ganz sicher nicht aus.«

Weder ihre Eltern noch der Uruguayaner schenken ihrer Fleischesrebellion Beachtung und gehen, nein, wackeln in den Supermarkt. Dieser Laden offenbart ihr jetzt genau das, was sie sich nie zu träumen gewagt hat.

Menschen-Melonen, die über Wassermelonen hängen, Männer, die in Reih und Glied(-ern) an der Fleisch­theke stehen, überall Würstchen, Schinken und Klößchen, überall Fleisch, Fleisch, Fleisch. Das ist ihr dann doch zu viel.

Sie hechtet aus dem Geschäft und setzt sich auf eine Bank, für den ersten Tag hat sie genug gesehen. Eigentlich auch schon genug für den ganzen Urlaub. Diese Bilder würde sie bis an ihr Lebensende nicht mehr aus der Birne bekommen, selbst wenn sie zu Hause von diesem Ort erzählen sollte, was sie natürlich nicht macht, sie ist ja nicht blöd, man würde es ihr ohnehin nicht glauben.

Von dem Platz auf der Bank aus kann sie hinter ihrer großen Sonnenbrille seelenruhig und unbemerkt das Treiben beobachten, denkt sie, aber sie irrt sich.

Denn die Nudisten scheinen sie ebenfalls zu beobachten. Kaum jemand geht an ihr vorbei, ohne sie zu mustern. Von Anfang an hat sie es geahnt, nein, gewusst, diese Nackt-Camper, diese Nudisten, haben nur auf sie gewartet und können gar nicht genug davon bekommen, sie anzugaffen. Sie, die Aussätzige, die Synthetik-Verräterin.

Genau wie die zwei Typen, die vor dem Kiosk an der nächsten Ecke stehen … und sogar ganz offensichtlich über sie tuscheln! Hat der eine gerade mit dem Finger auf sie gezeigt? Diese schamlosen Perversen! Sie verschränkt die Beine und legt einen Arm über ihre Brüste. So einfach würde sie es denen nicht machen. Ihr Manöver verstehen die beiden wohl auch noch als Aufforderung, denn sie kommen jetzt direkt zu ihr herübergelaufen.

Der eine ist groß und schlaksig, der andere klein und kompakt, sie sehen bisschen aus wie Dick und Doof in Nackt und ohne Hut.

Über ihren Genitalien hängt ein kleines Täschchen mit der Aufschrift »GARDE« – sie kann sich schon denken, was das auf Deutsch heißt: Wache.

Sie vermutet, dass beide das Gleiche darauf stehen haben, der Kompakte hätte sich das lieber direkt auf den Bauch schreiben sollen, der verdeckt nämlich sowieso alles.

Der fühlt sich jetzt trotz ihres gleichgültigen Blicks angesprochen und verschränkt demonstrativ die Arme. Er bellt: »Ça ne va pas!«

Sie kann eins und eins zusammenzählen. Dick und Doof sind also so was wie die Nackt-Patrouille, die sicherstellt, dass auch ja jeder Camp-Bewohner seine Genitalien frei schlackernd präsentiert. Da sie für Nudisten-Verhältnisse schon fast hochgeschlossen in ihrem Bikini aussehen muss, kann das natürlich keine Minute länger geduldet werden.

Auch der große, schlaksige Mann beugt sich ihr entgegen: »Tu me comprends? Ça ne va pas!« Seine Pimmelspitze guckt unter dem kleinen Täschchen hervor und ist fast auf der Höhe ihres Gesichts.

Sie schüttelt energisch den Kopf. »ICH ZIEH MICH NICHT AUS!«

Sie stellt sich vor, wie sie von der Nackt-Patrouille Dick und Doof in Handschellen abgeführt und in eine Zelle gesteckt wird, zusammen mit all den anderen angezogenen Partisanen.

Angeführt vom Uruguayaner kommen ihre Eltern zurück aus dem Supermarkt. Dieser scheint sich jetzt vollständig ihrer Familie zugehörig zu fühlen und prescht in seinen Outdoor-Trekkingsandalen zu ihr und Dick und Doof. Mit offenen Armen kommt er auf sie zu, sie begrüßen sich lautstark, er scheint hier tatsächlich kein Unbekannter zu sein. Er brabbelt auf Französisch auf die beiden ein, gestikuliert wild und lacht dabei wieder wie ein Rasenmäher. Natürlich versteht sie kein Wort, so oft, wie die Männer aber auf sie deuten, kann sie sich denken, um was es geht. Um ihren Bikini.

Dick und Doof gucken zwischendrin immer wieder verstohlen zu ihr rüber, zucken dann irgendwann mit den Schultern und gehen zurück zu der Ecke, von der sie gekommen sind.

Sie ist dem Uruguayaner jetzt ein bisschen dankbar, vielleicht ist er doch nicht ganz so pervers. Ihren Eltern jedenfalls ist die Situation sichtlich unangenehm, die rollen mit den Augen in ihre Richtung:

»Also jetzt wird’s langsam peinlich.«

Ihr egal.

Sie gehen zum Strand, hier fühlt sie sich direkt etwas wohler, sie muss den Wald vor Bäumen nicht mehr sehen, weil endlich alles in einem großen Nudisten-Brei verschwimmt. Nur sie selbst scheint wie eine glänzende Kirsche oben auf dem Brei zu liegen. Wirklich jeder guckt sie an, Frauen, Männer, Kinder, sie alle wollen sehen, was sie zu verbergen hat. Sie kann regelrecht spüren, wie die Blicke sie ausziehen. Angewidert steht sie auf und verschwindet in den Fluten, während die anderen sich um das Picknick, das Dejeuner, kümmern.

Hier würde sie die nächsten zwei Wochen verbringen, im Wasser und geschützt vor den notgeilen Nudisten, ganz eins mit der Natur. Sie hüpft von Welle zu Welle, es ist herrlich, mit welcher Kraft sie hin- und hergewirbelt wird. Eine Welle trifft sie jetzt mit voller Wucht und reißt ihr die Bikinihose vom Körper.

NEIN!!! Sie gerät in Panik und taucht ab, greift wie ein Oktopus in alle Richtungen, irgendwo muss dieses Scheißteil doch noch sein. Es ist weg.

Sie beschließt, so lange im Wasser zu bleiben, bis das verfluchte Meer ihre Bikinihose entweder wieder an den Strand oder aber in ihre Hände spült. Nichts davon passiert, und nach einer knappen halben Stunde wird ihr kalt.

Zitternd und beide Händen schützend in ihren Schritt gepresst, stapft sie aus dem Wasser und lässt sich zu den anderen zurück auf die Decke plumpsen. »Also unten ohne und nur so mit dem Oberteil siehst du jetzt aber schon ein bisschen bescheuert aus«, sagt ihre Mutter.

Das sieht sogar sie ein. Die Perversen haben gewonnen, sie würde ihnen endlich geben, was sie wollten: ihren heiligen nackten Körper. Schwer atmend öffnet sie das letzte Stück Stoff, das nass an ihrem Körper klebt, und schämt sich zu Tode. Sie guckt um sich und sucht nach denen, die sie eben noch so widerwärtig beobachtet haben – jeden einzelnen, lüsternen Blick würde sie sofort abstrafen.

Doch irgendwie guckt keiner mehr.

Weiber

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