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Vorwort

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Zeit ist dehnbar, und zwanzig Jahre können sich schlicht wie ein ganzes Leben anfühlen – oder wie eine Woche. Mir kommt es vor, als seien höchstens ein oder zwei Jahre seit der Veröffentlichung von Das Mädchen mit dem Perlenohrring im August 1999 vergangen; damals gab es einen kleinen Wirbel und eine Handvoll bemerkenswerte Rezensionen.

Fünf Millionen verkaufte Exemplare und fünfunddreißig Sprachen (Persisch ausgenommen: dort erschien das Buch illegal, wurde von der iranischen Regierung verboten und ist inzwischen wieder erlaubt) sowie einen Film mit Scarlett Johansson und Colin Firth später, läuft dieses Buch noch immer. Und ich staune über diesen Erfolg.

Mein Verhältnis zu Vermeers Gemälde ist schon wesentlich älter. Entdeckt habe ich es im Herbst 1981 bei meiner Schwester in Boston. Kaum in ihrer Wohnung angekommen, lief ich schnurstracks auf dieses Poster mit dem unbekannten Motiv zu. Das Licht, die Farben und der durchdringende Blick des Mädchens: Ich war wie verzaubert. Gleich am nächsten Tag kaufte ich mir das Poster selbst. Seither ist es mir an alle Orte gefolgt, an denen ich gelebt habe. Sogar während meines Auslandssemesters in London hatte ich es bei mir. Das Poster – inzwischen zerfleddert und ausgeblichen – hängt heute in meinem Arbeitszimmer, und ich sehe es täglich. Seit meiner ersten Begegnung in der Wohnung meiner Schwester führe ich eine Liebesbeziehung mit dem Mädchen – das Original habe ich allerdings erst im Jahr 1996 im Mauritshuis in Den Haag besichtigt.

Von Anfang an war ich von ihrer Schönheit wie gebannt. Ihr Turban in hellem Blau und Gelb, die Weise, auf die Licht und Schatten ihr Gesicht konturieren, der Schimmer in ihren Augen, der perfekt platzierte Tupfer der weißen Perle im dunklen Schatten über ihrem Nacken: diese Details offenbaren nicht nur die Schönheit des Mädchens, sie sind das Resultat ganz bestimmter Entscheidungen Vermeers, sie auf spezifische Weise zu porträtieren. Tatsächlich handelt es sich nicht um ein gemaltes Porträt, sondern um eine Tronie, die niederländische Bezeichnung für eine Charakterstudie – in diesem Fall eines jungen Mädchens. Es zielt darauf ab, ein universelles Bild zu sein.

Und doch: Ihr Blick ist besonders. Sie sieht uns an, als würde sie uns kennen.

Dieser letzte Satz enthält einen Fehler, den ich erst sechzehn Jahr später korrigierte. An einem Novembermorgen des Jahres 1997 sah ich das Poster vom Bett aus an – zu diesem Zeitpunkt trug ich es schon sechzehn Jahre mit mir herum –, und plötzlich tauchte diese Frage in meinem Kopf auf: »Was muss Vermeer getan haben, damit sie ihn so ansieht.« Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich hatte immer geglaubt, sie würde mich ansehen, uns. Aber natürlich sah sie nicht uns an, sondern Vermeer, der sie malte. Dieser nicht zu entziffernde Ausdruck – der sehnsüchtige und zugleich verhaltene Blick galt ihm.

Vermeer hatte nicht ein bestimmtes Mädchen porträtiert, so schien mir jetzt, sondern eine Beziehung. Welche Art von Beziehung? Wir wissen es nicht. Wissen weder, wer das Modell ist, noch genug über Vermeer selbst. Ich wusste nur, dass ich etwas gefunden hatte. Es ist seltsam, wie präzise man sich später an manche Momente im Leben erinnern kann, die wegweisend sind. An diesem Morgen hatte ich so einen Moment. In diesem Moment änderte sich auch mein Schreiben radikal. Innerhalb von nur drei Tagen entstand die Geschichte zu Griet, der Bediensteten, die in Vermeers Atelier aufräumt und seine Aufmerksamkeit gewinnt.

Ich recherchierte und schrieb den Roman in einer traumgleichen Blase – rasch und über den Zeitraum von neun Monaten hinweg (ich war schwanger, hatte also eine eingebaute biologische Deadline), ohne Vorerfahrung, also jenseits der Erwartungen potenzieller Leser, Verlage und mir selbst. Beim Schreiben achtete ich darauf, respektvoll gegenüber Vermeer, dem Prozess und dem Bild zu bleiben. Ich ließ eine Menge Raum – wortwörtlich (es ist kurz) und im übertragenen Sinn – für Interpretationen. Im denkbar schlechtesten Fall liest man Das Mädchen mit dem Perlenohrring und gleicht durch Blicke auf das Buchcover die Leseerfahrungen mit dem Bild ab. Im besten Fall hat man nach der Lektüre die eigene Sicht auf Kunst geändert. Am schönsten ist es immer, wenn Leser mir schreiben, dass sie sich Kunst seitdem mit anderen Augen nähern.

Wie konnte das Buch so erfolgreich werden und kann nun schon seinen 20. Geburtstag feiern? Es liegt natürlich an der Stärke des Gemäldes. Aber auch das Buch ist eine stilistische Leistung, von der ich nicht glaube, dass ich sie jemals in einem anderen Buch werde wiederholen können. Der Stil reflektiert und unterstützt das Subjekt. Während meiner Arbeit sagte ich mir: Du schreibst über Vermeer, also schreib so, wie er malt – sparsam, konzentriert und auf das Wesentliche reduziert. Zwei Klischees kamen hier absolut zum Tragen: Weniger ist mehr, und Form folgt Funktion. Viele Romane können eine Geschichte gut erzählen, oder einen einzigartigen Stil entwickeln, aber wenige sind die Kombination aus beidem und mehr als die Summe ihrer Teile. Seit der großen Vermeer-Ausstellung in Mauritshuis 1996 – und vielleicht auch seit dem Erfolg des Buches – spricht man über Vermeer. Vermutlich hätte man das früher oder später ohnehin getan, und ich hatte einfach großes Glück, als Schriftstellerin zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und seine Popularität nutzen zu können. Er ist mit nur sechs verfügbaren Gemälden einer der am häufigsten ausgestellten alten Meister. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre habe ich Vermeer-Ausstellungen in London, New York, Madrid, Rom, Cambridge und Dublin besucht. Die meisten zeigten nur zwei oder drei Vermeers, der Rest wurde von Arbeiten seiner Zeitgenossen aufgefüllt, viele waren thematisch ausgerichtet und widmeten sich entweder seiner Heimatstadt Delft, Frauen, Genre-Malerei, oder Musik – welchen Grund man auch immer finden konnte, um Vermeer auszustellen.

Vermeers Arbeiten heben sich immer von den anderen ab, so empfinde ich es. Sie sind von einer ätherischen Schönheit, die kaum zu erklären ist. Seine Farben sind intensiv, seine Subjekte scheinen uns aus ihrer ganz eigenen Welt heraus anzublicken. Betrachter verbringen viel Zeit vor seinen Arbeiten, länger als vor anderen. Sie versuchen, hinter die Magie zu kommen. Aber Magie gibt es ja immer nur so lange, wie der Trick wirkt.

Tatsächlich ist das Gemälde noch berühmter als Vermeer selbst. Das Bild des Mädchens ist überall, auf Regenschirmen, Koffern, Puzzlespielen, Lesezeichen und Wasserflaschen. Sogar eine Version der Strickpuppe Miffy trägt die Kleider des Mädchens, und in Gestalt eines Quietscheentchens schwimmt sie in meiner Badewanne. Die Graffitykünstlerin Banksy hat sie an eine Hauswand in Bristol gesprayt, hier ersetzt ein Sicherheitsalarm den Ohrring. Die Tochter einer Freundin hat sich einmal zu Halloween als Vermeers Mädchen verkleidet. Als mein Cousin Pierre eine Weinhandlung in Kalifornien besaß, nannte er seinen besten Wein »One Pearl«, mit der Abbildung des Mädchens auf dem Label. Ich habe zu besonderen Anlässen schon öfter Socken getragen, die das Mädchen oberhalb meiner Knöchel zeigen.

Die sozialen Medien werden von ihren Bildern geradezu überschwemmt. In über 25000 Beiträgen auf Instagram mit dem Hashtag #girlwithapearlearring werden Zeichnungen und Kopien des Bildes, Stickereien und bearbeitete Versionen des Bildes mit Hunde- oder Katzenschnauzen anstelle ihres Gesichts geteilt. Und noch mehr Menschen ziehen sich ihre Kleider an … Bevor sich die Medien durchsetzten, bekam ich noch Leserbriefe und Fotos von Fans, die sich als Vermeers Mädchen verkleidet hatten. »Sieht meine Tochter nicht eindeutig aus wie sie?«, fragten sie. Niemand sah so aus. Natürlich hat die Darstellung etwas Universelles – Haar- und Augenfarbe sowie die Nase im Profil sind nicht erkennbar –, aber das Mädchen ist doch entschieden sie selbst.

Habe ich wegen der Flut von Darstellungen ein schlechtes Gewissen? Manchmal schon. Der Roman mag einen Anteil daran haben. Aber wie geschmacklos eine Version von dem Mädchen mit dem Perlenohrring auf einem Aschenbecher auch immer sein mag, das zugrunde liegende Rätsel des Gemäldes wird auf geheimnisvolle Weise nicht angetastet. Was denkt das Mädchen, während sie den Maler anblickt? Ich habe einen Roman über ihren Blick geschrieben, ich spreche schon zwanzig Jahre darüber, und ich weiß es immer noch nicht. Solange das Geheimnis bestehen bleibt – und ich denke, das wird es auf ewig –, wird uns das Gemälde verzaubern und somit auch alles, was damit in Verbindung steht.

Tracy Chevalier im Februar 2019

Das Mädchen mit dem Perlenohrring

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