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III Wie die Suche nach einem vierblättrigen Kleeblatt
ОглавлениеIch weiß nicht, ob es jemals eine Zeit gab, in der ich nicht draußen am Strand war. Mam hat immer gesagt, bei meiner Geburt habe das Fenster offen gestanden, darum hätte ich als Erstes das Meer gesehen, als sie mich hochhielten. Gleich hinter unserem Haus am Cockmoile Square fing das Gun Cliff an und dahinter das Meer, und sobald ich laufen konnte, war ich draußen auf den Klippen. Mein Bruder Joe musste auf mich aufpassen, damit ich nicht ins Wasser fiel und ertrank, dabei war er nur ein paar Jahre älter als ich. Je nach Jahreszeit waren noch viele andere Menschen draußen; sie spazierten über den Cobb, beobachteten Schiffe oder ließen sich in den Badekarren, die für mich wie Klohäuschen aussahen, aufs Wasser hinausschieben. Manche gingen sogar noch im November baden. Joe und ich haben immer über diese Schwimmer gelacht, wenn sie nass und elendig bibbernd wie getunkte Katzen aus dem Wasser stiegen und dann noch so taten, als wär das gut für sie.
Ich selbst hab mich im Lauf der Jahre auch immer wieder mit der See angelegt. Obwohl mir der Wechsel der Gezeiten in Fleisch und Blut übergegangen ist, bin ich bei der Suche nach Kuris manchmal vom auflaufenden Wasser abgeschnitten worden. Dann musste ich durch die Brandung waten oder die Klippen hochklettern, um nach Hause zu kommen. Doch freiwillig, wie die Londoner Damen, die in Lyme etwas für ihre Gesundheit tun wollten, bin ich nie ins Meer gegangen. Mir war der feste Boden unter den Füßen lieber, ich mochte Steine, und nicht das Wasser. Natürlich bin ich dem Meer dankbar, weil es mir Fisch zum Essen gibt und Fossilien aus den Klippen wäscht oder vom Meeresboden hochwirbelt. Ohne das Meer würden die Knochen für immer in ihren Steinsärgen begraben sein, und wir hätten kein Geld, um Brot und Miete zu zahlen.
Ich habe schon immer nach Kuris gesucht, solange ich mich erinnern kann. Pa hat mich mitgenommen und mir gezeigt, wo man sie findet. Und er hat mir gesagt, wie sie heißen – Vertebis, Teufelszehennägel, Heilige-Hilda-Schlangen, Bezoars, Donnerkeile und Seelilien. Schon bald konnte ich allein sammeln gehen. Selbst wenn man zu zweit sucht, läuft man nicht auf Schritt und Tritt nebeneinander her. Man kann nicht mit den Augen eines anderen sehen, man muss schon selbst schauen. Zwei Menschen können in ein und demselben Stein unterschiedliche Dinge erkennen; der eine ein Stück Feuerstein, der andere einen Seeigel. Wenn ich als Kind mit Pa unterwegs war, hat er oft noch an Stellen, an denen ich schon jeden Stein umgedreht hatte, Vertebis gefunden. »Sieh mal«, hat er dann gesagt und einen Stein hochgehoben, der direkt vor meinen Füßen lag. »Du musst schon genauer hinschauen, mein Mädchen!« Er hat mich ausgelacht, aber das machte mir nichts, schließlich war er mein Vater, deshalb musste er mehr finden als ich und mir beibringen, wie man es macht. Ich wollte gar nicht besser sein als er.
Für mich ist die Suche nach Kuris wie wenn man ein vierblättriges Kleeblatt sucht: Es geht nicht darum, wie genau man hinschaut, sondern ob einem Unterschiede auffallen. Wenn mein Blick über ein Stück Kleewiese wandert, sehe ich 3, 3, 3, 3, 4, 3, 3. Das vierblättrige Kleeblatt springt mich einfach an. Und mit den Kuris ist es genauso. Ich laufe über den Strand, schaue hier und schaue da, ohne viel nachzudenken, und schon springen sie mich an: die langen Linien eines Belis, die Spiralen mit den streifenartigen Markierungen eines Ammos oder die Knochenabdrücke im glatten Schieferstein. Es sind die Muster, die sich aus dem allgemeinen Durcheinander abheben.
Jeder jagt anders nach Kuris. Miss Elizabeth guckt so lange auf die Wand eines Kliffs, auf die Felsbänder und einzeln herumliegenden Steinbrocken, dass ich denke, der Kopf wird ihr zerspringen. Auch wenn sie auf diese Weise etwas findet, kostet es sie fürchterlich viel Mühe. Sie hat nicht so einen guten Blick wie ich.
Mein Bruder Joe wiederum hatte eine ganz andere Methode und wollte meine nicht übernehmen, wenn wir gemeinsam auf Suche gingen. Obwohl er eigentlich nur drei Jahre älter ist als ich, kam es mir, als wir klein waren, so vor, als wär er viel älter. Joe benahm sich wie ein kleiner Erwachsener, er war langsam, ernst und bedächtig. Unsere Aufgabe war es, die Kuris zu finden und sie unserem Vater heimzubringen, aber wenn Pa zu viel mit seinen Schränken zu tun hatte, haben wir die Kuris manchmal auch gereinigt. Joe hasste es, bei Wind rauszumüssen, aber Kuris hat er trotzdem gefunden. Obwohl er es gar nicht wollte, war er ein guter Sammler. Eben weil er den Blick hatte. Seine Methode war, sich einen Strandabschnitt vorzunehmen, ihn in Quadrate aufzuteilen und jedes einzelne systematisch abzusuchen, indem er es mit gleichmäßigen, langsamen Schritten abging. Er fand zwar mehr als ich, aber ich hab die ungewöhnlichen Sachen entdeckt, mit denen niemand rechnete: Krokodilrippen und -zähne, Bezoars und Seeigel.
Pa brauchte für seine Suchmethode eine lange Stange, mit der er in den Steinen herumstocherte, damit er sich nicht dauernd bücken musste. Das hatte er sich bei Mr Crookshanks abgeschaut, dem Bekannten, von dem er die ersten Sachen über Kuris lernte. Als ich drei war, hat sich Mr Crookshanks vom Gun Cliff hinter unserem Haus gestürzt. Pa sagte, er habe so viele Schulden, dass ihn selbst die Kuris nicht mehr vor dem Armenhaus gerettet hätten. Aber gelernt hat Pa aus den Fehlern von Mr Crookshanks nichts. Die ganze Zeit hat er nach der Riesenbestie gesucht, mit deren Fund er alle unsere Schulden bezahlen wollte. Im Lauf der Jahre haben wir einzelne Teile gefunden, Zähne, Wirbelknochen und Versteinerungen, die wie Rippen aussahen, außerdem komische kleine Würfel, die mich an Maiskörner erinnerten, und andere Knochen, die wir nicht zuordnen konnten. Sie schienen alle von einem riesigen Tier wie einem Krokodil zu stammen. Als ich einmal Kuris für sie reinigte, hat mir Miss Elizabeth ein Krokodil gezeigt. Sie hatte ein Buch mit vielen Zeichnungen von allen möglichen Tieren und ihren Skeletten. Ein Franzose namens Cuvier hatte es geschrieben.
Pa ist nicht so oft suchen gegangen wie wir, weil er ja auch noch die Schreinerei hatte, aber wenn es irgendwie ging, ist er mit uns rausgekommen. Die Kuris waren ihm lieber als das Tischlern, und das hat Mam immer fürchterlich geärgert. Nie wusste sie, wann wieder Geld reinkommen würde, außerdem hat die Fossiliensuche ihn vom Cockmoile Square und seiner Familie weggeführt. Vermutlich hatte Ma den Verdacht, dass er lieber allein draußen am Strand war als in einem Haus voller greinender Kinder. Von denen hatte sie mehr als genug, denn außer Joe und mir sind alle Geschwister Schreikinder gewesen. Mam ist nur zum Strand gegangen, wenn sie Pa Vorwürfe machen wollte, weil er sogar sonntags beim Suchen war, statt in die Kirche zu gehen. Sie schämte sich dann für ihn. Obwohl sie ihn nicht aufhalten konnte, hat er immerhin versprochen, Joe und mich sonntags nicht mehr mitzunehmen.
Außer uns gab es nur noch einen anderen Menschen, der Kuris verkaufte, das war ein alter Stallbursche namens William Lock, der im Queen’s Arms in Charmouth arbeitete, wo die Kutschen zwischen London und Exeter ihre Pferde wechselten. William Lock hatte herausgefunden, dass er den Reisenden Fossilien verkaufen konnte, während sie sich die Beine vertraten und sich draußen ein wenig umschauten. Weil Fossilien als Kuriositäten galten, was wir zu »Kuris« abkürzten, hatte William Lock bald den Namen Captain Kurio weg. Obwohl er schon seit vielen Jahren Fossilien sammelte und verkaufte, länger sogar noch als Pa, hatte er nie einen Hammer dabei, sondern hob einfach nur auf, was sich ohne weiteres mitnehmen ließ. Manchmal grub er auch Steine mit dem Spaten aus, den er immer bei sich trug. Er war ein gemeiner alter Mann, der mich immer irgendwie komisch anschaute. Ich hielt mich von ihm fern.
Auch wenn uns Captain Kurio hin und wieder über den Weg lief, waren wir, bis Miss Elizabeth nach Lyme kam, die einzigen Fossiliensucher am Strand. Meistens bin ich mit Joe oder Pa gegangen, aber manchmal bin ich auch mit Fanny Miller zum Strand runter. Sie war genauso alt wie ich und lebte ein Stück weiter flussaufwärts hinter der Tuchfabrik von Lyme. Wir nannten diesen Stadtteil Jericho. Ihr Vater war Holzfäller, von ihm kaufte Pa sein Holz, und ihre Mam hat in der Fabrik gearbeitet. Die Millers waren wie wir Kongregationalisten, unser Gotteshaus stand in der Coombe Street. In Lyme lebten sehr viele Dissenter, aber es gab natürlich auch eine richtige Staatskirche, Sankt Michael, die uns dauernd zurückgewinnen wollte. Doch wir Annings sind da nicht hingegangen, wir waren stolz darauf, anders zu denken als die traditionelle Kirche von England, auch wenn ich selbst die Unterschiede zwischen beiden nicht kannte.
Fanny war ein hübsches Mädchen; sie war klein, zierlich und blond, aber am meisten beneidete ich sie um ihre blauen Augen. Wenn es uns sonntags während der Messe zu langweilig wurde, vertrieben wir uns die Zeit immer mit Fingerspielen. Manchmal rannten wir am Fluss entlang den Booten hinterher, die wir aus Stöcken und Laubblättern gebastelt hatten, oder gingen Brunnenkresse pflücken. Obwohl Fanny lieber am Fluss spielte, ist sie manchmal auch mit mir an den Strand zwischen Lyme und Charmouth gekommen, aber bis zum Black Ven hat sie sich niemals hinausgewagt. Sie fand, dass die Steilwand dort böse aussah und ihr womöglich Steine auf den Kopf fallen würden. Am Strand haben wir Dörfer aus Kieselsteinen gebaut oder die winzigen Bohrmuschellöcher in den Felskanten aufgefüllt. Gleichzeitig hielt ich natürlich immer Ausschau nach Kuris, ich war nie draußen, um einfach nur zu spielen.
Fanny hatte den Blick, wollte ihn aber auf keinen Fall benutzen. Sie liebte schöne Dinge wie milchige Quarzklumpen, gestreifte Kiesel oder kleine Knubbel von Katzengold, die sie ihre Edelsteine nannte. Solche Sachen fand sie dauernd, aber einen guten Ammo oder Beli hat sie nicht angerührt, obwohl sie genau wusste, dass ich danach suchte. Fanny hatte vor ihnen Angst. »Ich mag sie nicht«, hat sie mal mit einem Schaudern gesagt, konnte mir aber nicht erklären, warum. »Sie sind hässlich«, mehr fiel ihr nicht ein. Wenn ich weiter nachbohrte, kam höchstens noch:
»Mam sagt, sie kommen von den Feen.« Ein Seeigel war für sie ein Feenbrot, und wenn man so einen Seeigel ins Regal neben die Milch legte, wurde sie nicht sauer. Ich erzählte ihr, was Pa mir beigebracht hatte: Ammos seien Schlangen, die ihre Köpfe verloren hätten, Belis seien Donnerkeile, die Gott selbst auf die Erde geworfen habe, und Gryphies die Zehennägel des Teufels persönlich. Da bekam sie gleich noch mehr Angst. Ich wusste aber, dass es nur Geschichten waren. Wenn der Teufel wirklich so viele Zehennägel verlor, hätte er ja tausend Füße haben müssen. Und wenn der Blitz so viele Belis formte, müsste es den ganzen Tag lang gewittern. Aber Fanny konnte so einfach nicht denken und hielt deshalb an ihren Ängsten fest. Ich kannte viele Menschen, die genauso dachten. Sie hatten Angst vor dem, was sie nicht verstanden.
Trotzdem mochte ich Fanny, außerdem war sie damals meine einzige richtige Freundin. Unsere Familie war in Lyme nicht besonders beliebt, denn die Leute fanden Pas Interesse an Fossilien eigenartig. Selbst Mam ging es so, obwohl sie Pa immer verteidigte, wenn sie hörte, dass auf dem Markt oder vor der Kirche über ihn geredet wurde.
Doch Fanny blieb nicht meine Freundin, so viel Edelsteine ich ihr auch vom Strand mitbrachte, denn die Millers misstrauten nicht nur den Fossilien, sie trauten auch mir nicht über den Weg. Noch schlimmer wurde es, als ich den Philpots zu helfen begann, über die sich die Leute in der Stadt lustig machten. Es hieß, die Damen aus London seien so verschroben, dass sie noch nicht einmal in Lyme einen Mann fanden. Wenn ich mit Miss Elizabeth an den Strand ging, kam Fanny nie mit. Mit der Zeit hatte sie immer mehr zu meckern: Entweder machte sie dumme Kommentare über Miss Elizabeths hageres Gesicht und Miss Margarets alberne Turbane, oder sie wies mich auf die Löcher in meinen Stiefeln und den Dreck unter meinen Fingernägeln hin. Allmählich fragte ich mich, ob sie wirklich eine Freundin war.
Dann kam der Tag, an dem wir gemeinsam über den Strand gingen und Fanny wieder einmal so mürrisch war, dass ich sie bestrafen wollte. Bewusst ließ ich uns von der Flut den Rückweg abschneiden. Als sie den letzten Sandstreifen vor der Klippe unter einer schäumenden Welle verschwinden sah, begann Fanny zu weinen. »Was machen wir nur?«, schrie sie und hörte gar nicht mehr auf zu schluchzen.
Ich verspürte keinerlei Drang, sie zu trösten, und sah sie nur teilnahmslos an. »Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir waten durchs Wasser, oder wir steigen den Klippenpfad hoch«, sagte ich. »Du hast die Wahl.« Ich selbst hatte wenig Lust, eine Viertelmeile weit immer an den Klippen entlang durchs Wasser zu waten, bis wir zu dem Punkt kamen, wo die Stadt begann und das Gelände anstieg. Das Wasser war eiskalt und der Seegang rau, außerdem konnte ich nicht schwimmen, aber das sagte ich Fanny nicht.
Fannys Blick wanderte ängstlich vom aufgewühlten Meer zur steilen Klippe und wieder zurück. »Ich kann mich nicht entscheiden«, kreischte sie, »ich kann’s einfach nicht.«
Erst ließ ich sie noch eine Weile heulen, dann führte ich sie zu dem steilen holprigen Pfad, auf dem ich sie zog und hochhievte, bis wir weiter oben zu dem Küstenweg zwischen Charmouth und Lyme kamen. Nachdem sie sich beruhigt hatte, würdigte Fanny mich keines Blickes mehr, und sobald die Stadt in Sicht kam, rannte sie davon. Ich versuchte nicht, sie einzuholen. Noch nie zuvor war ich einem anderen Menschen gegenüber so grausam gewesen, jetzt hasste ich mich selbst dafür. An diesem Tag spürte ich zum ersten Mal, dass ich nicht richtig zu den Menschen in Lyme gehörte, ein Gefühl, das ich in Zukunft noch oft haben sollte. Wenn wir uns in der Kirche, auf der Broad Street oder am Fluss begegneten, waren Fanny Millers große blaue Augen fortan kalt wie das Eis auf einer Pfütze, und mit ihren Freundinnen tuschelte sie hinter vorgehaltener Hand über mich. Ich fühlte mich noch mehr als Außenseiterin.
Als ich elf Jahre alt war, wurde unser Leben richtig schwer, denn wir verloren Pa. Manche sagen, er sei selbst schuld gewesen, denn eines Nachts ist er auf dem Heimweg nach Lyme auf dem Klippenpfad schlimm abgestürzt. Er hat geschworen, dass er nichts getrunken hatte, aber natürlich konnten wir es alle riechen. Den Sturz überlebte er, was schon ein unglaubliches Glück war, doch nachher ist er monatelang bettlägerig gewesen und hat nicht in der Tischlerei arbeiten können. Die Kuris, die Joe und ich fanden, brachten nur wenig Geld ein, sodass unsere Schulden uns allmählich über den Kopf zu wachsen begannen. Mam sagte, er wär von dem Sturz noch so geschwächt gewesen, dass er gegen die Krankheit, die er wenige Monate später bekam, nicht mehr ankämpfen konnte.
Pas Tod machte mich traurig, doch ich hatte keine Zeit, länger über diesen Verlust nachzudenken, denn er hatte uns einen Berg Schulden hinterlassen. Wir hatten keinen Schilling mehr in der Tasche: Joe, ich, Mam und das Baby, das sie einen Monat nach Pas Beerdigung zur Welt brachte. Zur Beerdigung mussten Joe und ich Mam zwischen uns nehmen und mehr oder weniger in die Kirche in der Coombe Street schleppen. Sicher haben wir drei keinen schönen Anblick abgegeben, wie wir da zu der Beerdigung wankten, die wir nicht einmal bezahlen konnten. In der Stadt hatten sie für uns gesammelt, und die meisten kamen, um zu sehen, was wir für ihr Geld bekommen hatten.
Nach der Beerdigung haben wir Mam wieder ins Bett gebracht, und ich bin wie jeden Tag zum Strand runtergegangen. Allerdings musste ich vorher erst warten, bis sie eingeschlafen war, denn es hätte sie beunruhigt, mich draußen zu wissen. Dass Pa von den Klippen stürzte, während er eigentlich in seiner Werkstatt hätte arbeiten sollen, war für sie ein Zeichen Gottes, dass wir nicht so viel Zeit mit den Kuris verbringen durften.
Ich lief in Richtung Charmouth und behielt die Flut im Auge, die zwar gerade hereinkam, aber noch zu weit weg war, um mir gefährlich zu werden. Hinter den Church Cliffs kam ich zu der schmalen Stelle, wo der Strand eine Kurve macht und dann breiter wird. Dort ist der Black Ven, der mit seinen verschiedenen grauen, braunen und grünen Fels- und Grasstreifen wie eine Tigerkatze aussieht. Anders als die Steilwand der Church Cliffs fällt er ganz allmählich zum Meer hin ab. Im Schlamm des Blauen Lias, der dort auf den Strand trifft, verbergen sich Schätze für diejenigen, die bereit sind, nach ihnen zu graben.
Wie in all den Jahren mit Pa suchte ich den Lehm ab. Es war ein Trost, hier draußen bei den Klippen zu sein und nach Fossilien zu jagen. Ich konnte vergessen, dass Pa nicht mehr da war, und mir einbilden, er würde hinter mir stehen, wenn ich mich umdrehte, und vornübergebeugt mit seiner Stange im lockeren Steinsaum am Fuß der Klippe stochern. Er suchte auf seine Weise, und ich auf meine. Doch sooft ich mich auch nach ihm umguckte, er war nicht da, an dem Tag nicht und auch nicht an den Tagen danach.
Im Blauen Lias fand ich nur ein paar Beli-Splitter, die wegen der abgebrochenen Spitzen völlig wertlos waren, aber ich nahm sie trotzdem mit. Die Sommergäste kaufen nur längliche Belis mit unversehrten Spitzen, aber wenn ich einmal etwas gefunden habe, kann ich es nur schwer wieder fallen lassen.
Zwischen den Steinen fand ich dafür einen völlig unbeschädigten Ammo. Er schmiegte sich perfekt in meine Handfläche; ich schloss die Finger um ihn und drückte ihn fest. Wie immer, wenn ich etwas Besonderes gefunden hatte, wollte ich es jemandem zeigen, um mich zu vergewissern, dass es wirklich wahr war. Aber Pa, der gewusst hätte, wie schwer es ist, einen so perfekten Ammo zu finden, Pa war nicht mehr da. Noch immer am Boden hockend, schloss ich die Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Ich wollte diesen Ammo für immer in meiner Hand halten, ihn drücken und dabei an Pa denken.
»Hallo, Mary.« Elizabeth Philpot stand vor mir und zeichnete sich dunkel vorm grauen Himmel ab. »Ich habe nicht damit gerechnet, dich heute hier draußen anzutreffen.«
Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen und fragte mich, was sie wohl von mir dachte, dass ich hier draußen am Strand war, statt daheim meine Mutter zu trösten.
»Was hast du gefunden?«
Ich richtete mich auf und hielt ihr den Ammo hin. Miss Elizabeth nahm ihn. »Oh, ein wunderschönes Exemplar. Ein Liparoceras, oder?« Miss Elizabeth hat immer gern diese komischen Namen benutzt, die sie Linnésche Namen nannte. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wollte damit angeben. »Hast du gesehen, die Spitzknoten auf den Rippen sind alle intakt. Wo hast du ihn gefunden?«
Ich deutete auf die Felsen vor unseren Füßen.
»Vergiss nicht, die Fundstelle zu notieren, die Gesteinsschicht und das Datum. Es ist wichtig, das festzuhalten.« Seit ich in der Sonntagsschule unserer Kirche lesen und schreiben gelernt hatte, drängte Miss Elizabeth mich ständig, Etiketten zu schreiben. Sie schaute auf den Strand hinab. »Was meinst du, wird uns die Flut bald den Weg abschneiden?«
»Wir haben noch ein paar Minuten, Ma’am. Ich werde bald zurückgehen.«
Miss Elizabeth nickte. Sie merkte, dass ich lieber allein heimgehen wollte als mit ihr, war aber nicht beleidigt. Jäger sind eben manchmal gern allein unterwegs. »Ach, Mary«, sagte sie, als sie sich zum Gehen wandte. »Meinen Schwestern und mir tut das mit deinem Vater so leid. Ich werde morgen vorbeikommen.
Bessy hat einen Kuchen gemacht und Louise ein Stärkungsmittel für deine Mutter. Und Margaret hat einen Schal gestrickt.«
»Das ist nett«, murmelte ich. Eigentlich wollte ich sie fragen, was wir mit Schals und Stärkungsmitteln anfangen sollten, wo es uns am Nötigsten fehlte, an Kohle, Brot oder Geld, aber die Philpots waren immer gut zu mir gewesen, darum beklagte ich mich nicht.
Eine Windbö blies unter den Rand von Miss Elizabeths Haube, sodass er sich umstülpte. Sie drückte ihn zurück, zog ihren Schal fester zusammen und runzelte die Stirn. »Wo ist dein Mantel, Mädchen? Es ist zu kalt, um ohne unterwegs zu sein.«
Ich zuckte die Schultern. »Mir ist nicht kalt.« In Wahrheit fror ich jämmerlich, aber ich hatte es erst jetzt gemerkt, wo sie mich fragte. Meinen Mantel hatte ich vergessen, doch der war mir ohnehin zu kurz und eng und hinderte mich, meine Arme frei zu bewegen. An jenem Tag waren mir Mäntel egal.
Ich wartete, bis Miss Elizabeth um die Strandbiegung verschwunden war, dann machte ich mich selbst auf den Heimweg. Den Ammo hielt ich immer noch fest in der Hand. Miss Elizabeths gerader Rücken, dessen Umriss ich weit vor mir sah, leistete mir Gesellschaft und wirkte irgendwie tröstlich. Erst als ich Lyme erreichte, begegneten mir andere Menschen. Es waren ein paar Londoner, die zum Saisonende in der Stadt weilten und hinter unserem Haus über das Gun Cliff spazierten. Als ich an ihnen vorbeilaufen wollte, rief eine Dame: »Hast du etwas gefunden?«
Ohne nachzudenken öffnete ich die Finger. Sie schnappte nach Luft und nahm mir den Ammo aus der Hand, um ihn den anderen zu zeigen. Alle blieben stehen, um ihn zu bewundern.
»Ich gebe dir eine halbe Krone dafür, mein Mädchen.« Die Dame reichte den Ammo an einen der Herren weiter und öffnete ihre Geldbörse. Ich wollte sagen, dass er nicht zu verkaufen war, weil er mir helfen sollte, mich an Pa zu erinnern, aber sie hatte mir die Münze schon in die Hand gelegt und sich weggedreht. »Damit können wir eine Woche lang Brot kaufen«, dachte ich und starrte die Münze an. »Das Geld wird uns vor dem Armenhaus retten.« Pa hätte es so gewollt.
Die Münze fest umklammert, rannte ich nach Hause. Sie war der Beweis, dass wir weiterhin von den Kuris leben konnten.
Mam beklagte sich nicht mehr, wenn wir suchen gingen. Sie hatte auch gar keine Zeit dazu: Kaum hatte sie sich halbwegs vom Schock über Pas Tod erholt, kam das Baby zur Welt. Sie nannte es Richard, nach Pa, und wie schon die letzten Babys war auch er ein Schreibaby. Ständig kränkelte er, und Mam ebenfalls. Sie fror und war müde, weil das Baby schlecht schlief und nie genug trank.
Eines Tages, wenige Monate nach dem Tod unseres Vaters, trieb das Geschrei des Babys Joe hinaus in die bittere Kälte, die er so hasste. Auch unsere Schulden drückten ihn, wir brauchten dringend Fossilien. Trotz der Kälte hätte ich ihn gern begleitet, doch ich war ans Haus gefesselt, weil ich das Baby auf und ab tragen musste, damit es zu schreien aufhörte. Richard war ein jämmerliches kleines Ding, es war schwer, ihn gern zu haben. Das Einzige, was ihn zum Schweigen brachte, war, wenn ich ihn ganz fest an mich drückte, ihn wiegte und dazu das Lied sang: »Lass mich nicht als Jungfer sterben.«
Ich sang gerade zum sechsten Mal die letzten Zeilen – »Ob du alt bist oder jung, ob dumm oder gescheit / Lass mich nicht als Jungfer sterben, nimm mich aus Mitleid« –, als Joe heimkam und so laut gegen die Tür schlug, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Er brachte einen Schwall kalter Luft mit herein, und das Baby begann wieder zu schreien. »Sieh, was du angerichtet hast!«, schrie ich. »Gerade hatte er sich beruhigt, und dann kommst du und weckst ihn wieder auf.«
Joe machte die Tür hinter sich zu und drehte sich zu mir um. Da sah ich, dass er ganz aufgeregt war. Normalerweise kann meinen Bruder nichts aus der Ruhe bringen – sein Gesicht ist wie aus Stein gemeißelt, und er verzieht kaum jemals eine Miene. Doch jetzt leuchteten seine braunen Augen, als würde die Sonne durch sie scheinen, seine Backen waren rot und sein Mund stand offen. Er riss sich die Mütze vom Kopf und strubbelte sich durch die Haare, bis sie nach allen Seiten abstanden.
»Was ist los, Joe?«, fragte ich. »Ach, still, Baby, psst!« Ich hielt mir das Baby über die Schulter. »Was ist?«
»Ich hab was gefunden.«
»Was? Zeig’s mir.« Ich wollte sehen, was er dabeihatte.
»Du musst mit rauskommen. Es ist in der Klippe, und es ist riesig.«
»Wo?«
»Am Ende der Church Cliffs.«
»Und was ist es?«
»Weiß nicht. Etwas … etwas anderes. Ein langer Kiefer und jede Menge Zähne.« Joe wirkte fast verängstigt.
»Dann ist es ein Krokodil«, erklärte ich. »Was soll es sonst sein.«
»Komm mit und guck’s dir an.«
»Ich kann nicht, was soll ich mit dem Baby machen?«
»Nimm ihn mit.«
»Geht nicht, es ist zu kalt.«
»Und wenn wir ihn so lange bei den Nachbarn lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Die haben schon so viel für uns getan, wir können sie nicht schon wieder um Hilfe bitten, erst recht nicht wegen so was.« Unsere Nachbarn am Cockmoile Square hatten was gegen unsere Kuris. Zwar beneideten sie uns um das bisschen Geld, das wir mit ihnen verdienten, doch gleichzeitig begriffen sie nicht, wieso überhaupt jemand bereit war, auch nur einen Penny für so ein Stück Stein auszugeben. Ich wusste, dass wir sie nur im äußersten Notfall um Hilfe bitten durften.
»Halt ihn mal kurz.« Ich reichte Joe das Baby und ging ins Nebenzimmer, um nach Mam zu schauen. Sie schlief tief und fest und sah ausnahmsweise einmal so friedlich aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, das schreiende Baby neben sie zu legen. Also wickelten wir ihn in so viele Tücher, wie um das kleine Ding herumgingen, und nahmen ihn mit.
Weil ich das Baby auf dem Arm hatte, konnte ich meine Hände nicht nutzen, um mein Gleichgewicht zu halten, deshalb stocherten wir langsamer als sonst den Strand entlang. Joe beschrieb mir unterwegs, wie er in dem neuen Erdrutsch, der während des letzten Gewitters abgegangen war, nach Kuris gesucht hatte. Auf die Klippenwände selbst hatte er eigentlich gar nicht bewusst geschaut, aber als er sich einmal aufrichtete, nachdem er eine Weile in ein paar lose liegenden Steinen am Boden herumgestochert hatte, stach ihm plötzlich in einem Felsband in der Klippe eine Zahnreihe ins Auge.
»Hier ist es.« Joe blieb an einer Stelle stehen, an der er vier Steine aufgehäuft hatte, drei Steine als Basis und einen in der Mitte obendrauf, das Kennzeichen, mit dem wir Annings unsere Fundstellen markieren, wenn wir sie verlassen müssen. Ich legte das Baby ab, das jetzt kaum noch einen Mucks von sich gab, weil es so fror, und schaute konzentriert auf das Felsband, auf das Joe deutete. Vor lauter Aufregung merkte ich gar nicht, wie kalt es war.
Die Zähne entdeckte ich sofort. Sie befanden sich knapp unter Augenhöhe der Kreatur und standen nicht in gleichmäßigen Reihen, sondern kreuz und quer durcheinander zwischen den beiden langen dunklen Teilen, die einmal Maul und Kiefer gewesen sein mussten. Nach vorne hin liefen diese Knochen zu einer spitzen länglichen Schnauze zusammen. Andächtig schauend fuhr ich mit den Fingern darüber. Plötzlich spürte ich, wie der Blitz mich durchzuckte. Dies war die Riesenbestie, nach der Pa all die Jahre gesucht hatte. Schade, jetzt konnte er sie nicht mehr sehen.
Doch es sollte noch ein stärkerer Blitzschlag kommen. Joe legte einen Finger auf eine größere Wölbung direkt oberhalb des Kieferscharniers. Sie schien kreisrund zu sein, auch wenn ein Teil von ihr unterm Fels lag, und sah aus wie ein Brötchen auf einem Unterteller. Die runde Form erinnerte an einen Ammo, doch es gab keine durch Rippen unterteilte Spirale, es konnte eher ein Ring von Knochenplatten um eine große leere Augenhöhle sein. Ich starrte auf diese Augenhöhle und hatte das Gefühl, dass sie zurückstarrte.
»Meinst du, das ist das Auge?«, fragte ich.
»Ich glaub schon.«
Ich erschauderte. Es war die Art Schauder, die einen überfällt, obwohl man gar nicht friert. Gab es wirklich so große Krokodilsaugen? Das Krokodil auf dem Bild von Miss Elizabeth hatte kleine Schweinsäuglein gehabt und nicht solche riesigen Eulenaugen. Mir wurde ganz mulmig, je länger ich auf dieses Auge schaute. Es musste eine Welt voller Wunder geben, von der ich nichts wusste: Krokodile mit riesigen Augen, Schlangen ohne Köpfe und Donnerschläge, die Gott auf die Erde schleuderte, wo sie zu Stein wurden. So ähnlich, so seltsam hohl und leer, fühlte ich mich manchmal, wenn ich nachts in den Sternenhimmel blickte oder bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich von einem Boot aus ins tiefe Wasser schauen konnte. Ich mochte dieses Gefühl nicht, unsere Welt kam mir dann immer ganz fremd vor. Viel zu fremd für mich, um sie jemals verstehen zu können. In solchen Situationen ging ich am liebsten in unsere Kirche, wo ich sitzen blieb, bis ich mich wieder sicher in Gottes Hand wusste, der sich schon um all diese Rätsel kümmern würde. Dann verging die Angst.
»Wie lang ist es wohl?« Durch Fragen versuchte ich die Riesenbestie zu begreifen.
»Weiß nicht – allein der Schädel ist schon einen guten Meter lang.« Joe fuhr mit seiner Hand weiter über den Felsen rechts von Kiefer und Auge. »Den Körper sieht man ja nicht.«
Ein paar lose Schieferstücke lösten sich aus der Klippe und landeten neben uns auf dem Boden. Wir schauten hoch und traten zurück, aber es kam nichts mehr nach.
Ich warf einen Blick zum Baby hinüber, das in seinen Decken wie eine Raupe in ihrem Kokon aussah. Es hatte zu wimmern aufgehört und blinzelte in den grauen Himmel. Ob es den Wolken nachschaute, die vorüberzogen?
Weiter unten, am Strand von Charmouth, zogen zwei Männer ein Ruderboot ins Wasser und fuhren zu ihren Hummerfangkörben hinaus. Schnell traten Joe und ich von der Klippe zurück, wie zwei hungrige Kinder, die vor einem Kuchenteller erwischt wurden. Die Männer waren viel zu weit entfernt, um zu sehen, wo genau wir standen oder was wir taten, trotzdem wollten wir vorsichtig sein. Außer uns gab es zwar kaum andere Sammler, aber ein Fund wie das Krokodil hätte sicher Interesse bei den Leuten geweckt. Jetzt, wo ich es gesehen hatte, schien es mit seinen wild durcheinanderstehenden Zähnen und dem Untertassenauge so auffällig aus der Klippenwand hervorzustechen, dass es sicher auch bald andere entdecken würden.
»Wir müssen das Krokodil ausgraben«, sagte ich.
»So was Großes haben wir noch nie ausgegraben«, gab Joe zu bedenken. »Können wir einen meterlangen Stein überhaupt hochheben?«
Er hatte recht. Mit meinem Hammer hatte ich zwar schon Ammos aus den Steinen am Strand und aus der Klippe geklopft, aber meistens überließen wir es lieber Wind und Regen, die Klippen abzutragen und die Kuris für uns freizulegen.
»Wir brauchen Hilfe«, sagte ich, auch wenn ich das nicht gerne zugab. Seit Pas Tod hatten wir bereits so viel Hilfe aus der Stadt bekommen, dass wir ohne Bezahlung eigentlich um nichts mehr bitten konnten. Schon gar nicht, wenn es um Kuris ging. Fanny Miller war nicht die Einzige, die Fossilien hasste. »Fragen wir Miss Elizabeth um Rat.«
Joe runzelte die Stirn. Wie Mam und Pa wusste er nicht so recht, was er von Elizabeth Philpot halten sollte. Er begriff nicht, was eine feine Dame wie sie mit Kuris anfangen wollte, und noch weniger verstand er, was sie an mir fand. Joe hatte ganz andere Gefühle, wenn er Kuris fand, als Miss Elizabeth und ich. Wenn wir etwas fanden, waren wir immer ganz aufgeregt, als würden wir eine neue Welt entdecken. Aber bei Joe ließ selbst jetzt, wo wir etwas so Unglaubliches wie das Krokodil entdeckt hatten, die Begeisterung schon wieder nach, und er sah nur die Probleme. Ich wollte nicht nur zu Miss Elizabeth, weil sie uns helfen konnte, sondern vor allem, weil sie genauso fasziniert und begeistert sein würde wie ich.
Joe und ich blieben noch lange draußen. Während ich mit meinem Hammer am Krokodil herumklopfte, besprachen wir, was wir tun sollten. Schließlich war es so spät, dass die Flut uns den Weg nach Lyme abgeschnitten hatte und wir für den Heimweg die Klippen hochklettern mussten, was mit einem Baby auf dem Arm nicht leicht war. Der arme kleine Kerl. Im Sommer darauf ist er gestorben. Ich habe mich immer gefragt, ob es ihn zu sehr geschwächt hatte, dass ich ihn bei der Kälte mit hinaus an den Strand nahm. Allerdings waren schon so viele von Mam’s Babys gestorben, dass uns sein Tod nicht mehr richtig überraschte. Trotzdem wäre ich an dem Tag besser mit ihm im Haus geblieben. Das Krokodil hätte ich mir auch noch einen Tag später anschauen können. Aber so ist das mit der Fossilienjagd: Irgendwann ist man völlig besessen davon. Sie ist wie ein schlimmer Hunger, alles dreht sich nur noch darum, ob man etwas findet. Und selbst wenn man etwas findet, fängt man schon in der nächsten Minute wieder neu zu suchen an, weil vielleicht etwas noch Besseres auf einen wartet.
Etwas Besseres als das, was Joe an jenem Tag fand, hatte ich jedoch noch nie gesehen. Es hatte den Blitz durch mich geschickt, wie wenn ich aus einem langen Schlaf gerissen würde. Ich war glücklich, das Krokodil zu sehen, nur wünschte ich mir, dass ich es selbst gefunden hätte. Alle waren überrascht, dass Joe etwas so Ungewöhnliches entdeckt hatte, denn es lag ihm eigentlich nicht, nach neuen Sachen Ausschau zu halten. Das war meine Stärke. Ich versuchte, nicht eifersüchtig zu sein, doch es fiel mir schwer. Aber die Leute vergaßen ohnehin schon bald, dass Joe das Krokodil gefunden hatte, und es wurde mein Krokodil. Ich wehrte mich nicht dagegen, und Joe schien es egal zu sein. Er war froh, dass er wieder in den Schatten treten und einfach nur Joe Anning sein konnte, statt die Rolle eines Sammlers zu spielen, der Riesenbestien fand. Es war ohnehin hart für ihn, einer Familie anzugehören, über die so viel geredet und geurteilt wurde. Ich glaube, am liebsten hätte er einfach aufgehört, ein Anning zu sein, aber da das nicht ging, behielt er seine Gedanken für sich.
Am nächsten Morgen nahmen wir Miss Elizabeth mit zum Schädel. Es war einer jener kalten klaren Tage, an denen die Klippen gestochen scharf aussehen. Allerdings hielt das gute Wetter nicht lange, die Wintersonne stand nur kurz überm Horizont der Bucht von Lyme. Trotz der Kälte mussten wir Miss Elizabeth nicht lange überreden, sie kam auf der Stelle mit, obwohl ihre Dienerin Bessy unwillig brummte und Miss Margaret zwitscherte, es würden doch bald Gäste eintreffen. Jetzt, wo ich etwas älter war, fand ich Miss Margaret ein wenig dumm und zog ihr die ruhige Louise oder die strenge und etwas schnippische Miss Elizabeth vor. Und Miss Elizabeth waren die Gäste egal, sie wollte die Riesenbestie sehen.
Als wir das Ende der Church Cliffs erreichten, blieb mir vor Schreck fast die Luft weg, so deutlich waren die seltsamen Umrisse in der Klippenwand zu erkennen. Miss Elizabeth war ganz still. Sie zog sich ihre guten Handschuhe aus, streifte die Arbeitshandschuhe mit den abgeschnittenen Fingern über und tastete an der langen spitzen Schnauze und dem Zahnwirrwarr entlang. Hinten am Kieferscharnier kratzte sie ein Stückchen Fels ab.
»Sieh mal«, sagte sie, »der Mundwinkel geht leicht nach oben, als würde es lächeln. Erinnerst du dich noch an die Zeichnung von dem Krokodil in Cuviers Buch, die ich dir gezeigt habe?«
»Ja, Ma’am, aber schauen Sie nur das Auge an!« Mit meinem Hammer klopfte ich vorsichtig um die Augenhöhle herum und legte mehr von den Knochenplatten frei, die wie riesige Fischschuppen übereinander lagen und in deren Mitte sich eine freie Stelle befand, an der einmal der Augapfel gewesen sein musste.
Miss Elizabeth sah es sich genau an. »Seid ihr sicher, dass es das Auge ist?« Es schien sie zu verwirren.
»Wüsste nicht, was es sonst sein soll«, sagte Joe.
»Das Auge in der Zeichnung von Cuvier sah aber anders aus.«
»Vielleicht hatte dieses Tier ein krankes Auge«, überlegte ich.
»Oder der Franzose hat es falsch gezeichnet.«
»Die Arbeit des besten zoologischen Anatomen der Welt infrage zu stellen, kann wirklich nur ein Mädchen wie du wagen«, schnaubte Miss Elizabeth.
Ich runzelte die Stirn. Ich mochte diesen Cuvier nicht.
Zum Glück ritt Miss Elizabeth nicht länger auf meiner Dummheit oder dem Auge des Krokodils herum. Viel wichtiger waren ihr ganz praktische Fragen. »Wie wollt ihr es aus der Klippe herausbekommen? Es ist bestimmt weit über einen Meter lang.«
»Wir werden graben müssen wie noch nie zuvor, nicht wahr, Joe?«
Joe zuckte die Schultern.
»Aber ein Meter Stein, ist das nicht zu schwer für euch? Ihr braucht Männer, die euch helfen. Starke Männer.« Miss Elizabeth dachte einen Moment lang nach. »Was ist mit den Männern, die am Strand den Spazierweg zum Cobb anlegen? Sie wissen, wie man Stein schneidet, und sie sind stark. Vielleicht könnten sie es für euch machen.«
»Ja, vielleicht schon, Ma’am«, sagte ich. »Aber wir haben kein Geld, um sie zu bezahlen.«
»Ich werde euch das Geld vorstrecken, ihr könnt es zurückzahlen, wenn ihr das Fossil verkauft habt.«
Ich strahlte. »Oh, wäre das möglich, Miss Elizabeth? Wir wären Ihnen unendlich dankbar, nicht wahr, Joe?«
Aber Joe hörte gar nicht zu. »Mary, Miss Philpot, schnell weg von hier!«, zischte er. »Da kommt Captain Kurio!«
Ich schaute mich um. In der Kurve, hinter der sich Lyme versteckte, erschien der einzige Fossiliensammler, der auf die Idee kommen könnte, sich an unser Krokodil zu machen. Normalerweise respektierten Sammler die Funde anderer, aber Captain Kurio war völlig egal, wer etwas zuerst gesehen hatte. Einmal hatte er einen riesigen Ammo aus einer Klippe am Monmouth-Strand mitgenommen, bei dem Joe und ich gerade mit den Ausgrabungsarbeiten begonnen hatten. Als wir ihm sagten, dass er uns gehöre, lachte er uns nur frech ins Gesicht. »Dann hättet ihr ihn nicht liegen lassen dürfen. Wer zuletzt gräbt, kriegt ihn, also ich«, sagte er. Selbst als Pa ihn zur Rede stellte, schwor er, er hätte ihn bereits vor uns gesehen und für sich markiert, und es sei eine Frechheit von Joe und mir gewesen, seinen Ammo ausgraben zu wollen.
Captain Kurio durfte das Krokodil auf keinen Fall zu Gesicht bekommen, denn dann würden wir es rund um die Uhr bewachen müssen. Ich trat von dem Schädel zurück, nahm einen Stein auf, der wie eine Knolle aussah, und schlenderte in Richtung Brandungskante, wo man auf den flachen Steinen gut hämmern konnte. Joe lief in Richtung Charmouth und blieb ein paar Hundert Meter von mir entfernt stehen, um in einem kleinen Haufen mit Katzengold zu stochern, wie wenn er nach einem goldenen Ammo suchen würde. Goldschlangen, so nannten wir sie. Miss Elizabeth ging ebenfalls ein paar Schritte weiter und begann den Boden abzusuchen. Schließlich bückte sie sich, um etwas aufzuheben. Unter dem Rand meiner Haube hervor beobachtete ich, wie sich Captain Kurio mit seinem Spaten über der Schulter dem Krokodil in der Klippenwand näherte. Nachdem ich das Auge weiter freigelegt hatte, schrie der Schädel förmlich danach, gesehen zu werden. Zumindest kam es mir so vor. Captain Kurios Blick wanderte über die Klippenwand, und als er genau dort stehen blieb, wo wir gestanden hatten, rührte Joe sich nicht mehr von der Stelle. Auch ich hörte auf zu hämmern.
Captain Kurio bückte sich und hob etwas auf. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht keinen Meter vom Auge der Bestie entfernt. Mein Herz klopfte wie wild. Dann hielt Captain Kurio einen Handschuh hoch. »Miss Philpot, gehört der Ihnen? Für Mary ist er zu elegant.«
»Vermutlich ist es meiner, Mr Lock«, erwiderte Miss Elizabeth. Sie nannte ihn nie Captain Kurio, sondern immer bei seinem richtigen Namen. Auch zu Joe sagte sie Joseph und zu Ammos Ammoniten statt Schlangensteine. Auch Belis waren für sie Belemniten und nicht Donnerkeile. Sie war eben sehr formell.
»Bitte bringen Sie ihn mir.«
Er ging zu ihr hin und reichte ihr den Handschuh. Jetzt, wo Captain Kurio nicht mehr direkt vor dem Krok stand, konnte ich wieder atmen. »Haben Sie was gefunden?«, fragte er Miss Elizabeth, nachdem diese sich bei ihm bedankt hatte.
»Nur eine Gryphaea. Für Sie ein Teufelszehennagel.«
»Zeigen Sie her.« Captain Kurio ging neben ihr in die Hocke. So werden die Leute, wenn sie Fossilien sammeln – sie halten sich an keine Regeln mehr. Nirgendwo anders als auf dem Strand könnte es sich ein Stallbursche herausnehmen, so mit einer Dame zu reden.
Ich eilte herbei, um sie zu retten. »Was machen Sie denn hier, Captain Kurio?«
Er grinste. »Das Gleiche wie du, Mary. Ich suche nach Kuris, um mir ein paar Pennys zu verdienen. Aber ich weiß schon, ihr habt sie nötiger als ich, so bettelarm, wie euer Vater euch zurückgelassen hat. Hier.« Er warf mir etwas zu. Es handelte sich um eine Goldschlange.
»Wollen Sie wissen, was ich von Ihren Kuris halte, Captain Kurio?« Ich drehte mich um und warf sie so weit weg wie ich konnte. Obwohl Ebbe war, schaffte ich es, bis ins Wasser zu treffen.
»Hey, was soll das?« Captain Kurio funkelte mich böse an. Niemand mag es, wenn so mit den eigenen Funden umgegangen wird. Es ist, als würde man Geld ins Meer werfen. »Was für ein widerwärtiges Mädchen du geworden bist«, fuhr er fort. »Sicher war es der Blitz. Er hat dich durcheinandergeschüttelt und so gemacht. Hättest du damals nur einen Donnerkeil bei dir gehabt, dann wärst du nicht getroffen worden. Jetzt bist du so garstig, dass du bestimmt als griesgrämige alte Jungfer enden wirst, die kein Mann mehr anschaut.«
Ich hatte schon den Mund geöffnet, um ihm eine Antwort entgegenzuschleudern, aber Miss Elizabeth kam mir zuvor. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie weitergehen, Mr Lock«, sagte sie. Captain Kurios flackernder Blick wanderte von mir zu ihr.
»Nächstes Mal mache ich mir nicht die Mühe, Ihren Handschuh aufzuheben, Ma’am«, schnaubte er. Mittlerweile war auch Joe zurückgekommen, deshalb sagte Captain Kurio nichts mehr, sondern schwang sich den Spaten über die Schulter und lief in Richtung Charmouth davon, wobei er sich hin und wieder nach uns umblickte.
»Mary, das war sehr unhöflich von dir«, schalt mich Miss Elizabeth. »Ich schäme mich für dich.«
»Er war noch viel unhöflicher zu mir. Und zu Ihnen!«
»Trotzdem solltest du älteren Leuten mehr Respekt entgegenbringen, sonst werden sie nur Schlechtes über dich denken.«
»Tut mir leid, Miss Philpot.« Aber es tat mir kein bisschen leid.
»Ihr beiden bleibt hier, bis die Flut kommt«, kommandierte Miss Elizabeth. »Haltet euch in Sichtweite des Fundes auf, damit wir sicher wissen, ob William Lock nicht zurückkommt und ihn entdeckt. Ich werde zum Cobb gehen und den Männern den Auftrag geben, morgen das Krokodil auszugraben – wenn es denn ein Krokodil ist. Aber was könnte es sonst sein?«
Ich zuckte die Schultern. Ihre Frage verursachte wieder das mulmige Gefühl bei mir, aber warum, wusste ich nicht.
»Auf jeden Fall ein von Gott geschaffenes Lebewesen«, bemerkte Joe.
»Manchmal frage ich mich …«
»Was, Ma’am?«
Miss Elizabeth sah Joe und mich an. In dem Moment schien ihr aufzufallen, dass sie mit uns sprach, und sie war sofort wieder normal. Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist einfach ein etwas ungewöhnlich aussehendes Krokodil.« Sie warf einen letzten Blick auf den Schädel und machte sich auf den Weg.
Am nächsten Nachmittag kamen die Zwillingsbrüder Davy und Billy Day zum Graben. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt musste Niedrigwasser sein, was ungünstig war, denn wenn nachmittags Ebbe herrschte, strömten mehr Menschen an den Strand als morgens oder abends. Lieber hätten wir in aller Einsamkeit gearbeitet, zumindest bis wir wussten, was genau wir da gefunden hatten.
Die Days waren Steinbrucharbeiter, die Straßen bauten und Ausbesserungsarbeiten am Cobb ausführten. Sie hatten Brustkörbe wie Schränke, dicke Arme und kurze stämmige Beine. Beim Gehen warfen sie sich in die Brust und kniffen die Pobacken zusammen. Sie redeten nicht viel und zeigten auch keinerlei Überraschung, als sie vor dem Krokodil standen, das sie mit seinem Untertassenauge aus der Klippenwand anstarrte. Für sie war es einfach nur ein ganz normales Stück Arbeit, ein Steinblock, wie sie ihn zum Pflastern oder Mauern brauchten, die Riesenbestie darin interessierte sie nicht.
Die Days fuhren mit den Händen über die Steinfläche im Umkreis des Schädels und suchten nach natürlichen Spalten, in die sie ihre Keile treiben konnten. Ich verhielt mich still, denn im Steinbrechen hatten sie mehr Erfahrung als ich. Im Lauf der Jahre sollte ich noch viel von ihnen lernen, denn mit der Zeit wurden die Funde, die ich aus der Klippenwand oder den bei Ebbe freiliegenden Felsbändern holte, immer größer. Die Days klopften noch viele Riesentiere für mich aus dem Stein, die ich allein nicht freibekommen hätte.
Es wurde schon früh dunkel, und die Flut kroch heran. Die Days hatten nur einen halben Tag lang frei, trotzdem ließen sie sich Zeit bei der Arbeit. Vor jedem einzelnen Schlag überprüften sie die Felsoberfläche. Wenn sie sich endlich auf eine Stelle geeinigt hatten, in die sie den Eisenkeil treiben wollten, diskutierten sie noch über den richtigen Winkel und die Kraft des Schlages, bis sie endlich den Hammer ansetzten. Manche Schläge waren so verhalten, dass sie gar nichts zu bewirken schienen, dann wieder schlugen Billy oder Davy – ich konnte sie nicht auseinanderhalten – mit solcher Gewalt zu, dass ganze Steinbrocken aus der Klippe sprangen.
Während sie arbeiteten, kamen immer mehr Menschen herbeigelaufen, die am Strand unterwegs gewesen waren. Einige Kinder schienen unser Kommen sogar schon erwartet zu haben. Zu ihnen gehörte auch Fanny Miller, die mich keines Blickes würdigte, sondern im Hintergrund bei ihren Freundinnen stand. In Lyme bleibt nichts lang geheim, die Stadt ist einfach zu klein und der Bedarf an Unterhaltung zu groß. Wenn es was Neues zu sehen gibt, hält es die Leute selbst bei kältestem Winterwetter nicht in ihren Häusern. Die Kinder rannten über den Strand, ließen Steine übers Wasser springen oder krabbelten im Matsch und Sand herum. Einige Erwachsene suchten selbst Fossilien, obwohl nur die wenigsten Ahnung davon hatten, andere standen einfach plaudernd beisammen. Ein paar Männer gaben Davy und Billy kluge Ratschläge, wie sie den Stein angehen sollten. Nicht alle blieben die vier Stunden, die es dauerte, bis der Schädel freigelegt war, denn als die Sonne hinter den Klippen verschwand, wurde es noch kälter. Einige jedoch blieben bis zum Schluss.
Zu diesen Unerschütterlichen gehörte auch Captain Kurio, der von Charmouth aus den Strand entlanggekommen war. Als die Days den Schädel endlich in drei Teilen freigelegt hatten – die Schnauze, das Auge und den Teil des Kopfes, der sich hinter der Augenhöhle befand – legten sie ihn auf eine Trage, die aus einem zwischen zwei Stangen gespannten Stoffstück bestand. Neugierig beugte sich Captain Kurio mit den anderen über das Riesentier. Besonders interessierten ihn die Wirbel am hinteren Teil des Schädels, die darauf hinwiesen, dass sich in der Klippe noch ein Körper befinden musste. Jetzt war es zu dunkel, um noch in das Loch zu sehen, das der Schädel hinterlassen hatte. Wir würden im Hellen wiederkommen müssen, um nach dem Körper zu suchen. Es war mir nicht recht, dass Captain Kurio an der Fundstelle herumschnüffelte, aber ich wagte nicht, noch einmal so frech zu sein, denn er machte mir Angst. »Es gefällt mir gar nicht, dass er hier rumsteht«, flüsterte ich Miss Elizabeth zu. »Ich traue ihm nicht über den Weg. Können Sie den Days nicht sagen, sie sollen die Sachen jetzt heimbringen, Ma’am?«
Billy und Davy saßen auf einem Felsbrocken, ließen einen Krug zwischen sich hin- und hergehen und teilten einen Laib Brot. Obwohl es schon dämmerte und der Reif sich über Sand und Felsen zu legen begann, sah es nicht so aus, als würden sie sich demnächst von der Stelle rühren. »Sie haben eine Pause verdient«, sagte Miss Elizabeth. »Die Flut wird sie ohnehin bald aufscheuchen.«
Endlich wischten sich die Brüder den Mund ab und erhoben sich. Als sie die Trage zwischen sich nahmen, verschwand Captain Kurio in Richtung Charmouth in der Dunkelheit, während wir hinter den Day-Brüdern her in die entgegengesetzte Richtung zurück nach Lyme aufbrachen. Wir müssen wohl wie eine Beerdigungsgesellschaft ausgesehen haben, mit den Days als Sargträgern. Tatsächlich überquerten wir auf unserem Weg in die Stadt den Friedhof von Sankt Michael und liefen dann über den Buttermarkt zum Cockmoile Square. Die Leute, denen wir begegneten, blieben stehen, um sich die Steinplatten auf unserer Trage anzusehen, und man hörte sie immer wieder »ein Krokodil« murmeln.
Am nächsten Tag lief ich, sobald der Wasserstand es erlaubte, zurück zu den Church Cliffs, aber Captain Kurio war schon da. Um mir zuvorzukommen, hatte er es auf sich genommen, durch das eiskalte Wasser zu waten. Allein konnte ich es nicht mit ihm aufnehmen, und Joseph hatte für diesen Tag Arbeit in der Mühle von Lyme bekommen, da einer der Müllerburschen krank war. Wir konnten es uns nicht leisten, diese Verdienstmöglichkeit auszuschlagen, denn sie würde uns wenigstens einen Tag lang satt machen. Also versteckte ich mich und beobachtete, wie Captain Kurio in dem Loch herumstocherte, das der Schädel in der Felswand hinterlassen hatte. Ich verfluchte ihn und hoffte, ein Steinbrocken würde ihm auf den Kopf fallen.
Und da kam mir eine ganz gemeine Idee. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich sie in die Tat umsetzte. Niemals habe ich einer Menschenseele anvertraut, zu welcher Boshaftigkeit ich an jenem Tag fähig war. Ich rannte über den Strand zurück und stieg dann den Pfad auf die Church Cliffs hoch, wo ich vorsichtig an die Stelle kroch, die sich genau oberhalb von dem Krokodilloch befand. »Zum Teufel mit Ihnen, Captain Kurio«, flüsterte ich und rollte einen faustgroßen Felsbrocken über die Kante. Ich hörte ihn aufschreien und lächelte, während ich bäuchlings auf dem Boden lag, damit er mich nicht sehen konnte. Ich wollte ihn zwar nicht verletzen, aber verscheuchen.
Sicher war er jetzt von der Klippenwand weggetreten, um abzuwarten, ob noch mehr herabkommen würde. Ich nahm einen größeren Stein und schob ihn zusammen mit einer Handvoll Dreck und kleinen Steinchen über die Kante, damit es wie eine kleine Gerölllawine aussah. Diesmal hörte ich nichts, blieb aber trotzdem in Deckung. Ich war mir sicher, dass es mir schlecht ergehen würde, wenn er entdeckte, was ich hier oben machte.
Dann ging mir auf, dass er hochkommen könnte, um nachzuschauen. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass hier draußen Gerölllawinen abgingen, doch Captain Kurio war ein misstrauischer Mensch. Ich kroch von der Klippenkante weg und rannte den Pfad hinab. Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich hinter ein paar hohe Gräser ducken, als er schon mit wütendem Gesichtsausdruck vorbeimarschierte. Irgendwie muss er sich gedacht haben, dass die Steine nicht von allein abgegangen waren. Ich versteckte mich, bis er außer Sichtweite war, flitzte dann den Pfad zum Strand hinab und rannte an der Klippe entlang zum Krokodilloch. Mit etwas Glück blieb mir genug Zeit, um nachzuschauen, ob wir die Day-Brüder noch einmal zum Graben brauchten, bevor Captain Kurio zurückkam.
Bei hellem Tageslicht ließ sich das Loch, das Billy und Davy in den Fels geschlagen hatten, leichter auskundschaften. Wegen des Winkels, in dem der Schädel gelegen hatte, vermutete ich, dass der Körper, je nachdem, wie lang er war, tief in die Wand hineinreichte. Da der Kopf schon einen guten Meter lang war, konnte der Körper leicht über fünf Meter messen. Ich kroch halb in das Loch hinein und tastete die Stelle ab, an der sich meiner Erinnerung nach die Wirbel am Schädelende befunden hatten. Ich spürte eine lange, bucklige Steinreihe und begann zu kratzen, um den Dreck und Lehm wegzubekommen.
Plötzlich tauchte hinter mir der wutschäumende Captain Kurio auf. »Du also! Dachte ich’s mir doch, dass ich dich freche kleine Schlampe hier finde.«
Vor Schreck schrie ich laut auf und schoss aus dem Loch heraus. Ich drückte mich flach gegen die Felswand, solche Angst hatte ich, hier draußen mit ihm allein zu sein. »Lassen Sie mich in Ruhe, es ist mein Krokodil!«, rief ich.
Captain Kurio packte meinen Arm und verdrehte ihn hinter meinem Rücken. Für einen alten Mann war er ziemlich stark.
»Wolltest mich wohl umbringen, Mädchen? Dir werde ich eine Lektion erteilen.« Er griff nach dem Spaten hinter sich.
Wie seine Lektion ausgesehen hätte, habe ich nie erfahren, denn in dem Moment kam mir die Klippe zu Hilfe. Auch wenn sie sich in den folgenden Jahren noch oft genug als Feindin erweisen sollte – an diesem Tag schickte sie ganz in unserer Nähe einen ablenkenden Steinhagel hinab. Einige Steine in der Gerölllawine waren so groß wie die Exemplare, die ich vor kurzem über die Kante gerollt hatte. Captain Kurio, der mir gerade noch etwas antun wollte, verwandelte sich plötzlich in meinen Retter und riss mich von der Klippenwand weg. Schon im nächsten Moment schlug ein Stein genau an der Stelle ein, wo ich gestanden hatte.
»Schnell!«, rief er, und wir stolperten, uns aneinander festhaltend, davon, bis wir in sicherer Entfernung an der Wasserkante waren. Von dort blickten wir zurück und sahen, dass der komplette Klippenvorsprung, auf dem ich vor wenigen Minuten noch gelegen hatte, abgebrochen war. Der gerade noch feste Boden hatte sich zu einem in die Tiefe schießenden Geröllfluss verwandelt, dessen Tosen mich an den Donner erinnerte, den ich als Baby gehört hatte. Doch diesmal hielt der Lärm länger an, und mich durchschoss kein gleißend sirrender Blitz, sondern Dunkelheit. Es dauerte mindestens eine Minute, bis keine Steine und kein Schotter mehr aus der Klippenwand regneten. Captain Kurio und ich standen wie gelähmt da, sahen zu und warteten.
Als die Klippe sich endlich nicht mehr bewegte und Ruhe einkehrte, begann ich zu weinen. Beinahe wäre ich gestorben, doch das allein war es nicht: Das Loch, hinter dem sich der Körper des Krokodils befand, war jetzt vollständig von dem Erdrutsch verschüttet. Wir würden Jahre brauchen, wenn wir es ausgraben wollten. Captain Kurio zog eine kleine Feldflasche aus Zinn aus der Tasche, schraubte sie auf und gönnte sich einen Schluck. Dann reichte er sie an mich weiter. Ich wischte mir Augen und Nase mit meinem Ärmel ab und trank. Noch nie zuvor hatte ich starken Alkohol getrunken. Er brannte mir eine Spur durch den Hals und ließ mich husten, doch ich hörte auf zu weinen.
»Danke, Captain Kurio«, sagte ich und reichte ihm die Flasche zurück.
»Anscheinend hat das Gehämmere gestern die Klippe instabil gemacht und zu einem Abbruch geführt. Es ist vorher schon ein bisschen herabgekommen, aber ich dachte …« Captain Kurio beendete den Satz nicht. »Wenn du da irgendwas rauskriegen willst, hast du verdammt viel Arbeit vor dir.« Er nickte in Richtung des Erdrutsches. »Mein Spaten steckt auch da drin. Sieht so aus, als müsste ich mir einen neuen besorgen.«
Es war fast schon lustig, wie schnell ihn die Aussicht auf schwere Arbeit von einem Vorhaben abbringen konnte. Jetzt war es wieder mein Krokodil, auch wenn es unter einem Geröllhaufen begraben lag.