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Kapitel 1 - Die Suche nach dem Sinn des Lebens kann auch im Kleiderschrank beginnen
ОглавлениеDie Zugfahrt verlief ruhig. Das Abteil war fast leer. Mit jedem Kilometer der vorbeiziehenden Landschaft, der Wälder und Städte, entschwand meine Vergangenheit mehr und mehr, und mit ihr alle dunklen Wolken. Ich saß da, die Beine halb angezogen, und sah durchs Fenster nach draußen. Ich stellte mir vor, durch die feuchten Wälder zu laufen, die kühle frische Luft zu atmen, meine Gedanken tanzten umher, ich betrachtete mein halb durchsichtiges Spiegelbild in der Scheibe, was würde wohl die Fensterscheibe über mein Aussehen sagen, wenn sie reden könnte? Ich lachte leise. Eine Mitreisende schaute irritiert zu mir herüber, ich wandte mich lachend ab. Als ich in der Universitätsstadt, in der ich nun leben würde, ankam, lagen über 700 km zwischen meinem bisherigen und meinem neuen Wohnort. Die beiden Männer, die immer noch so taten als wären sie meine älteren Brüder, lebten zu meiner Erleichterung noch weiter entfernt. Endlich konnte ich diese Familie vollständig hinter mir lassen, ein Stück abgeschlossener Vergangenheit. Auf Wiedergänger konnte ich gut verzichten.
Ich atmete auf, ich fühlte mich leicht, ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben wirklich frei.
Ich lief durch die Stadt, als würde ich zum ersten Mal eine Stadt sehen. Die Sonne schien und doch war die Luft angenehm kühl. Die kleinen Gassen mit ihren Geschäften und Caf és waren von Menschen erfüllt und doch fühlte ich mich nicht von ihnen bedrängt. Alles, was ich dabei hatte, waren ein großer Rucksack und mein Laptop. Alles, was ich sonst brauchte, würde ich mir kaufen und das meiste würde sowieso vorhanden sein. Meine Patentante, die als Wissenschaftlerin für drei Jahre in den USA arbeitete, hatte mir ihr Haus zur Nutzung überlassen. "Ich bin froh, wenn es nicht leer steht".
Langsam stieg ich vom Tal, in dem sich der Bahnhof und das Stadtzentrum befanden, den Hang, an dem das Haus lag, hinauf, ein ganzes Haus, das nur mir zur Verfügung stehen würde, nur für mich. Das Haus stand hinter Bäumen und wirkte hier in dieser Gasse zwischen den Nachbarhäusern, als schliefe es.
Ich fühlte mich etwas unsicher, als ich die Tür öffnete, staubige Luft schlug mir entgegen, ich lief durch die Zimmer und öffnete die Fenster. Alles war perfekt ausgestattet. Die Zimmer gefielen mir alle. Meine Patentante hatte mich nur gebeten, ihr Schlafzimmer und das Arbeitszimmer nicht zu nutzen, alle anderen Zimmer standen mir zur Verfügung – mehr als genug Platz.
Ich ließ meinen Rucksack oben in einem der beiden Gästezimmer, das ich zukünftig für mich nutzen wollte, und kochte mir in der Küche einen Espresso, schäumte Milch auf und setzte mich mit dem Latte Macchiato im Wohnzimmer ans Fenster. Ich würde niemanden hierher einladen, in meine Festung der Ruhe. Dann richtete ich mich ein.
Auch an der Universität gelang es mir, die Distanz zu wahren. Ich hatte mich an der philosophischen Fakultät eingeschrieben und würde in diesem Semester nur zwei Seminare und eine Vorlesung besuchen. Meine Zeit brauchte ich für andere, wichtigere Dinge.
Oben unter dem Dach des alten Gebäudes, in dem die Philosophieseminare stattfanden, war eine alte Bibliothek. Sie schien übrig geblieben zu sein aus einer vergangenen Zeit. Die meisten besorgten sich ihre Literatur online. Die Räume hier oben waren bis auf die Bücher leer und still. Nur im vordersten Raum saß eine Bibliothekskraft und las. Hierhin würde ich mich zurückziehen, falls mir der Universitätsbetrieb zu laut wurde. Ich war begeistert.
Doch Ruhe ist oft der Anfang von etwas anderem. Ich hätte es wissen müssen, nicht umsonst heißt es: ‚die Ruhe vor dem Sturm’.
Nachdem ich in der Universität alle Formalitäten erledigt hatte, kaufte ich auf dem Rückweg alles was ich brauchte. Ich hatte mir alles auf einer Einkaufsliste notiert: Milch, Kakao, Obst, Gemüse, Dosenfisch, Eier, Brot, Aufstrich und Kaffee. Dann war ich endlich wieder zurück in meinem neuen Zuhause. Ich war frei und glücklich. Doch als ich gerade im Bad war und mich frisch machte für meinen nur mir gehörenden freien Abend hörte ich über mir ein Poltern. Das Geräusch kam aus dem Zimmer, in das ich eingezogen war.
Nur das Regal, es war nur das Regal, welches zusammengebrochen war. Ich hatte es wohl zu einseitig mit meinen Sachen belastet. Ich sortierte alles wieder ein und verteilte dabei alles gleichmäßiger. Dann setzte ich mich unten in die Küche, trank einen Kakao und las eins meiner Lieblingsmanga.
Irgendwann war es Zeit zum Schlafen. Alles war still, dunkel und leer. Unruhe erfasste mich und ich fühlte mein Herz rasen. Ich habe Angst und fühle mich allein in dunklen Wohnungen unsicher – und dies war ein ganzes Haus. Ich sah vorsichtshalber in allen Zimmern nach, ob sich nirgends etwas versteckt hatte, dann ging ich in mein Zimmer, verschloss sorgfältig die Tür und stellte einen Stuhl davor. Nachdem ich unter alle Tische und in alle Ecken geschaut hatte, war ich schon ruhiger. Ich legte mich in mein neues Bett, löschte das Licht und versuchte einzuschlafen. Zum Glück war die Nacht hell genug, ich konnte alle Umrisse erkennen und sicherstellen, das sich nichts Ungewöhnliches im Zimmer befand. Doch dann nahm die Unruhe wieder zu. Ich würde nochmal alle dunklen Plätze im Zimmer überprüfen, schließlich tat ich niemandem damit weh.
Ich schaute gerade unter dem Bett nach, als eine Hand leicht zitternd meine Schulter berührte: "Was machst du da?", die Stimme einer jungen Frau direkt hinter mir. "Aaah!" Ich zuckte zusammen. Einen Augenblick lang krampfte sich mein Körper zusammen wie der eines ängstlichen Kaninchens.
"Entschuldigung, habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht." Die Tür des Kleiderschranks hinter mir hatte sich geöffnet und eine Frau in meinem Alter schaute mich mit großen Augen an. Ihr Blick wirkte unsicher und furchtsam. "Es tut mit leid."
"Ist schon okay." Ich konnte bei ihrem hilflosen Anblick nicht anders, als sie zu beruhigen. Meine Stimme funktionierte fast automatisch.
"Wirklich?" Das Gesicht der Unbekannten hellte sich auf. Dann blickte sie unter das Bett. "Was suchst du unter dem Bett? Hast du Angst? Glaubst du, dass irgendwelche dunklen Schatten sich dort verkrochen haben? Ich finde Dunkelheit auch unheimlich."
"Was geht dich das an?" Ich rückte ein Stück weg vom Kleiderschrank und vergrößerte die Distanz zu der Unbekannten. "Es ist nicht die Dunkelheit, ich fühle mich im Schlaf nur ausgeliefert und kann halt besser einschlafen, wenn ich vorher überall nachschaue, dass dort nichts Bedrohliches ist, besser als stundenlang wach zu liegen und auf verdächtige Geräusche zu horchen." Ich spürte, dass ich rot wurde, meine Angst war mir peinlich.
Die Unbekannte nickte. "Im Kleiderschrank war es auch fürchterlich dunkel. Wieso hast du dort nicht nachgeschaut?"
"Das habe ich vergessen." Wieso beantwortete ich die Fragen der Unbekannten? Sie schien nicht gefährlich zu sein und dies war meine Wohnung. Ich sollte die Fragen stellen. "Wer bist du?"
"Die Information ist gesperrt."
"Was soll das heißen? Du bist hier eingedrungen. Und wieso hast du meinen Trainingsanzug an? Du hast ihn außerdem verkehrt herum angezogen."
"Oh, das wusste ich nicht," sie sah zu Boden und zupfte unsicher am Trainingsanzug, "wie zieht man ihn richtig an? Ich habe vorher noch nie solche Kleidung getragen. Kannst du mir das zeigen?"
"Wieso sollte ich das tun?"
"Für eine Beantwortung fehlen mir Informationen. Könntest du deine Frage spezifizieren?" Sie schien mich nicht verstanden zu haben.
"Was machst du in meinem Kleiderschrank?"
"Du hast mich eingeladen."
"Wann?"
"Auf deinem Internetforum ABBSD, du hast geschrieben, dass du umziehst und viel Platz hast und, falls eine Außerirdische eine Unterbringung sucht, könne sie gerne in deinem Kleiderschrank einziehen. Aber der Schrank ist sehr dunkel." Sie kroch aus dem Schrank und blieb davor sitzen, wieder blickte sie schüchtern zu Boden.
Das stimmte. Ich hatte, kurz bevor ich mein Internet-Forum vor meinem Umzug endgültig geschlossen hatte, noch diesen Satz geschrieben, als letzten Gruß. Ich dachte zurück: ABBSD, 'All Big Brothers Shall Die', mein Internet-Forum hatte ich fünf Jahre zuvor gegründet, ein Forum für alle, die unter großen Brüdern litten und ihrer Wut eine Stimme geben wollten. Über Jahre war es für mich fast eine Art Tagebuchersatz. Hier hatte ich alles mit anderen teilen können, die vergleichbare Erfahrungen hatten. Doch dieses Forum war Vergangenheit, das hatte ich zumindest gedacht, genau wie große Brüder. Ich wandte mich wieder der Unbekannten zu. "Wie hast du mich gefunden? Wie bist du hier herein gekommen?"
"Teleportation, ich habe nur den Kleiderschrank leicht verfehlt und dein Regal umgerissen. Das wollte ich nicht," sie schluckte und fuhr unsicher mit ihrer Hand über die Holzdielen, "ich hoffe, du hattest nicht zu viel Mühe damit, es wieder aufzurichten?"
"Du warst das?" Ich ließ mich diesmal nicht von ihrer Hilflosigkeit beeindrucken, obwohl mir das schwer fiel. "Wo warst du dann die ganze Zeit?"
"Hier."
"Im Kleiderschrank?"
Intensives Nicken. "Ich bin in den Ruhemodus gewechselt. Trotzdem war es dunkel und bedrückend. Und ich habe Hunger." Sie ließ den Kopf hängen.
"Das soll ich dir glauben?"
"Wieso sollte ich lügen?" Sie blickte mich überrascht an. "Ich habe wirklich Hunger."
"Nein, das meine ich nicht." Ich betrachtete sie genauer. Sie hatte blaue, glatte halblange Haare und eine Frisur, die keinen Aufwand erforderte. Am auffälligsten waren ihre dunkelblauen, beinahe nachtschwarzen Augen. Sie war schlank, etwas kleiner als ich und versank fast in meinem Trainingsanzug, nur im Brustbereich spannte er etwas. Meine Figur wirkte im Vergleich zu ihr jungenhafter, doch das hatte mich nie gestört und machte es für mich einfacher, aufdringlichen Blicken von Männern auszuweichen. Sie sah mich an. Insgesamt sah sie eher unauffällig aus, bis auf die blau gefärbten Haare wirkte nichts an ihr ungewöhnlich. "Wieso sollte ich dir glauben, dass du eine Außerirdische bist?"
"Ich bin eine." Wieder blickte sie mich mit ihren dunklen großen Augen an, dann zog sie sich zusammen und wandte sich ab. "Du glaubst, dass ich lüge?"
"Nein, ich weiß nicht." Ich wollte sie nicht verletzen. "Wieso bist du hier?"
"Ich suche den Sinn des Lebens und," sie zögerte, ihre Stimme zitterte leicht und wurde leise, "die Liebe, wirkliche Liebe. Ihr sagt soviel darüber in Filmen und Büchern, ich möchte das auch erleben."
"Wirkliche Liebe?" Die Überraschung musste mir anzusehen sein.
"Ja, kannst du sie mir zeigen?"
"Ich weiß nicht, ob ich die richtige dafür bin. Weshalb suchst du sie?" Wieso kam sie damit zu mir? Dafür war ich nicht zuständig.
"Sie scheint Menschen glücklich zu machen und ihrem Leben einen Sinn zu geben." Sie senkte ihren Blick, zog ihre Schultern zusammen und schlang die Arme um sich. Wieder wurde ihre Stimme leise. "Ich will auch glücklich sein."
Ich setzte mich neben sie, "Liebe kann sicher schön sein, theoretisch, obwohl ich das nicht genau weiß, ich bin da zumindest nicht die richtige Ansprechpartnerin, nur den Sinn deines Lebens solltest du für dich selbst finden." Wir saßen nun beide mit dem Rücken an die Schranktür gelehnt, ohne uns zu berühren. Ich sah sie nicht an. "Andere für dein Glück verantwortlich zu machen, halte ich für falsch. Ich glaube nicht, dass es gut ist, das zu vermischen. Menschen, die du liebst, für deine Sinngebung zu benutzen, führt nur dazu, dass du die Liebe verlierst."
"Wieso?" Ihre Stimme klang leise und unsicher. Als ich mich zu ihr umwandte, blickten mich wieder ihre großen Augen an.
Ich wich ihrem Blick aus und stand auf. "Wirkliche Liebe bedeutet für mich, Menschen ihre Freiheit zu lassen, sich auch für Dinge zu entscheiden, die ich für falsch halte. Falls du erwartest, dass sie deinem Leben Sinn gibt, wird dir das schwerfallen."
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Sie sah nachdenklich ins Dunkel. Dann stand sie auch auf, ihr schien etwas einzufallen, sie kam auf mich zu und verbeugte sich tief. "Entschuldigung, ich habe vergessen mich vorzustellen, mein Name ist Nia Taira. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen." Sie sah mich unsicher an. "Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich dich mit du anrede? Im Onlineforum haben wir uns immer geduzt."
Sie hatte wirklich die Reihenfolge durcheinander gebracht, das machte indessen nichts. Ich wusste zwar nicht, was wirklich mit ihr war, und wir waren immer noch in meinem Schlafzimmer, doch aus irgendeinem Grund berührte mich ihr Blick, ich beschloss, mich für den Moment auf das, was sie sagte, einzulassen. "Du ist okay, aber wieso hast du einen japanischen Nachnamen, ich dachte du bist eine Außerirdische? Und was ist das für ein Vorname?" Zumindest schien Nia nicht langweilig normal zu sein.
"Nia ist eine Abkürzung meiner Bezeichnung, dort wo ich herkomme, und den Nachnamen habe ich mit einem Zufallsgenerator ausgewählt." Sie wirkte immer noch unsicher. "Gefällt er dir nicht?"
"Doch, schon." Nur dass sie den Trainingsanzug falsch herum trug, irritierte mich immer noch. Ich kam mir spießig vor und gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen.
Trotz meiner Zustimmung wirkte sie weiter verunsichert, immer noch sah sie mich mit diesen großen Augen an, als würde sie auf etwas warten, und ihre Lippen zitterten. "Habe ich etwas Falsches gesagt? Findest du mich deiner Freundschaft unwürdig?"
"Wieso?"
"Du hast dich nicht vorgestellt, obwohl ich dir meinen Namen genannt habe. In den Filmen, die ihr ins Universum abstrahlt, verhalten Menschen sich nur so, wenn sie ihr Gegenüber ablehnen."
Ich fühlte mich schuldig, ich hatte sie nicht beleidigen wollen. Ihre Augen ließen mich nicht los. Falls sie ihr gesamtes Wissen aus Filmen bezog, war es nicht verwunderlich, dass sie sich für eine Außerirdische hielt. Was für Filme waren das wohl? Vielleicht war sie ein Hikikomori. Sie musste meinen Namen doch kennen, wie hätte sie sonst hierher gefunden? Trotzdem stellte ich mich ihr förmlich vor. "Entschuldige bitte, ich bin Rin Tanouichi", ich verbeugte mich leicht, "nenn mich einfach Rin. Lass uns erst mal nach unten gehen."
Sie nickte mit leuchtenden Augen. "Ich darf deinen Vornamen benutzen, dann musst du mich Nia nennen."
"Nia," ich spürte wie sich aus irgendeinem Grund mein Herz leicht zusammenzog, als ich ihren Namen aussprach. Ich zog mir schnell eine Jeans über. Als Nachtzeug trug ich wie immer einen Slip und ein weites Herrenhemd. Ich finde das angenehm kühl und falls ich mal raus muss, reicht es, eine Hose überzuziehen. Dass Nia mich so gesehen hatte, hatte mir nichts ausgemacht, sie hatte nicht darauf geachtet. Falls ich unten im Haus nur im Slip rumlaufen würde, käme ich mir trotzdem nackt vor. Ich zog mir schnell auch noch ein Sport-Top unter das Hemd. Währenddessen zog sich Nia den Trainingsanzug richtig herum an. Sie hatte also meine Irritation bemerkt, ich schaute zur Seite.
Ich nahm Nia mit in die Küche. Ich wusste nicht genau wieso, irgendwie kam es mir so vor, als würde ich sie schon lange kennen.
"Was möchtest du essen?"
"Yummy Food."
"Hmm, und was heißt das für dich?"
"Instantnudeln."
"Die habe ich leider nicht." Ich schaute im Schrank nach. "Wie wäre es mit etwas Brot und Käse?"
"Keine Instantnudeln?" Nias Augen wurden feucht, sie ließ den Kopf hängen.
Ich spürte das Bedürfnis, sie zu trösten. "Wir können noch Instantnudeln bei der Tankstelle kaufen, die haben bis 3.00 Uhr geöffnet und jetzt ist es 1.10 Uhr."
"Wirklich?" Ihre dunklen Augen strahlten mich nun an.
"Ja klar." ich nickte, ihre Begeisterung umfing mich, doch ich hatte Angst, mich darauf einzulassen. Das würde nur mit einer Enttäuschung enden. "Ich muss nur noch eine Tasche oben vom Küchenschrank herunterholen."
Doch bevor ich auf einen Stuhl steigen konnte spürte ich ihre Hand auf meinem Arm, mein Herzschlag beschleunigte sich. Sie sah mich an. "Ich mache das," und mit diesen Worten lief sie senkrecht die Wand hoch, blieb mit dem Kopf nach unten auf der Zimmerdecke stehen und griff eine der Taschen; "Ist die richtig?"
Ich konnte nur mit offenem Mund nicken. War dies ein Traum? Einen Augenblick lang stockte mir der Atem. Wurde ich verrückt? Kein Mensch konnte an der Decke entlanglaufen! Und plötzlich irgendwo auftauchende Außerirdische waren eine Erfindung von Light Novel-Autorinnen. Nia bemerkte meinen starren Blick und lief über die Schrankwand zurück auf den Fußboden.
"Habe ich etwas falsch gemacht?" Ihre Stimme klang erneut unsicher.
"Du bist an der Zimmerdecke entlanggelaufen."
Nicken, "ich habe aber darauf geachtet, nichts schmutzig zu machen."
"Wie machst du das?"
"Lokale Gravitationsfeldumkehr, wieso fragst du?"
"Du bist eine Außerirdische?"
Starkes Nicken.
"Du bist wirklich eine Außerirdische?"
"Ja, hast du daran immer noch gezweifelt? Du hast doch gesagt, dass du mir glaubst."
"Lass uns zur Tankstelle gehen und Nudeln holen." Ich wollte das jetzt nicht diskutieren und die frische Nachtluft würde mir gut tun. Ich brauchte einen klaren Kopf. Ich fühlte mich schwindlig. Nia war also tatsächlich eine Außerirdische. Meine Gedanken liefen durcheinander. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass sich mein Leben anders entwickelte, als ich es geplant hatte. Früher hatte ich davon geträumt, eine Außerirdische zu treffen, doch diese Außerirdische war Teil meines Traums gewesen, ein Teil meiner Phantasie, nicht real und das war lange her. Was wollte ich heute? Ich blickte Nia an, sie wirkte so hilflos. Ich wusste auf einmal nicht mehr, ob ich wirklich alleine leben wollte. Ich seufzte. "Komm, lass uns gehen." Ich nahm mir eine Jacke, zog mir Schuhe an und gab ihr ein zweites Paar Schuhe und einen Mantel von mir. Draußen war es kühl. Sie versackte fast in dem Mantel.
"Was kannst du noch alles, außer an der Decke zu gehen?"
"Gesperrte Information." Sie sah zur Seite.
"Wieso darf ich das nicht wissen?"
"Es gibt Dinge, über die ich nicht reden will, zumindest zurzeit nicht." Ihre Augen waren angsterfüllt. "Bitte."
"Das ist in Ordnung." Ich wechselte das Thema: "Hast du Geld?"
"Was ist Geld?"
Ich zeigte ihr einen Geldschein. "Das brauchst du, um Nudeln zu kaufen."
Sie betrachtete die Banknote genau, der Ausdruck der Angst verschwand aus ihren Augen, dann fuhr sie mit der Hand über den Schein. "Ich kann beliebig viele davon duplizieren." Ein schwaches Leuchten, dann hielt sie einen zweiten Schein in der Hand. "Siehst du."
"Das ist verboten."
"Was?"
"Geld fälschen ist verboten."
"Das ist keine Fälschung, die Scheine sind absolut identisch, einschließlich der Molekularstruktur."
Ich schüttelte den Kopf. "Sie haben dieselbe Nummer. Geldscheine müssen unterschiedliche Nummern haben. Und ich glaube nicht, dass deine Argumentation die Polizei überzeugt."
Zum Glück hatten sie Instantnudeln an der Tankstelle. Nia las auf dem Rückweg aufmerksam den Text auf der Nudelpackung. Plötzlich wandte sie sich mir zu. "Wieso sind naturidentische Aromastoffe erlaubt, wenn naturidentische Geldscheine verboten sind?"
Darauf wusste ich keine Antwort.
Dann hatten wir das Haus wieder erreicht. Die Nacht war still und klar. Nia zupfte an meiner Jacke. Sie sah zum schwarzen Himmel. Ich verstand immer noch nicht wirklich, warum sie hier war. Und wieso war sie ausgerechnet zu mir gekommen? Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich kannte sie kaum und doch hatte ich Angst, dass sie einfach wieder verschwinden würde und wusste doch auch nicht, ob ich wollte, dass sie blieb. Außerdem verschwanden alle irgendwann. Wir setzten uns einen Augenblick auf die Stufe vor der Haustür unter die Bäume.
"Wieso bist du hierher gekommen?"
"Ich musste meinen Aufenthaltsort wechseln, um mich dem Zugriff von Big Brother Inc. zu entziehen. Das Universum wird in weiten Teilen vom Big Brother-Konzern beherrscht. Ich war bis dahin ihr Werkzeug, das wollte ich aber nicht weiter sein. Vor einiger Zeit bin ich dann auf dein Internetforum 'All Big Brothers Shall Die' - ABBSD - gestoßen. Du hast mir geraten, zu fliehen."
"Ich?" Ich konnte mich nicht an Nia erinnern.
"Du hast gesagt, mich an ihnen abzuarbeiten würde mich nicht weiterbringen, ich müsste einen eigenen Sinn für mein Leben finden, dann würden alle großen Brüder irrelevant werden."
Langsam begriff ich, wer Nia war. "Du bist 'Das Wesen der Zerstörung'?"
"Das war mein Loginname."
"Du hast geschrieben, dass du alles zerstören willst, dich, die Welt, alles."
"Das erschien mir damals als die einzig richtige Konsequenz. Ich kannte bis dahin nur Big Brother Inc. und sonst nichts. Sie schienen überall zu sein und alles zu bestimmen. Und ich war eines ihrer Instrumente. Ich habe mich von ihnen benutzen lassen." Über ihr Gesicht zog für einen Augenblick ein Schauer, sie wirkte mit einem Mal blass, fast bleich und eine tiefe Verzweiflung blickte mich aus ihren Augen an, kurz darauf war davon jedoch nichts mehr zu bemerken. Sie sprach weiter, als hätte es diesen Moment nie gegeben. "Die Zerstörung des Universums erschien mir in der Analyse als die richtige Lösung. Ich habe keine Alternative gesehen, bis ich dein Forum fand. Das Internet der Erde ist erst vor kurzem mit dem universalen Hypernet verbunden worden. Ihr liegt abseits der Zentren und niemand interessiert sich für euch. Die Erde schien eine Alternative zu bieten. Aber ich will dir nicht zur Last fallen," ihre Lippe zitterte, als sie das sagte, "falls du das willst, kann ich auch wieder gehen."
"Nein, im Haus ist genug Platz." Ich musste nicht überlegen. "Ich habe geschworen, allen zu helfen, die von großen Brüdern bedroht werden. Du kannst bleiben solange du willst."
"Danke." Sie zitterte. "Sind deine Brüder auch Mitglieder von Big Brother Inc.?"
"Nein, ich glaube nicht." Ich zog den Mantel über ihren Schultern zurecht. "Was genau ist Big Brother Inc.?"
"Eine Art Konzernholding, so würdet ihr das wohl auf der Erde nennen. Und ich habe ihnen lange vertraut, da ich nichts anderes kannte, bis ich begriff, dass sie lügen und betrügen. Sie besitzen große Teile des Universums und versuchen, sich immer noch mehr einzuverleiben. Sie ..." Nia verstummte, ohne den Satz zu beenden, wieder nur kurz, dann fuhr sie fort: "Deshalb bin ich auch zu der Überzeugung gelangt, dass ich mich als eins ihrer Instrumente selbst zerstören muss, ich wollte aufhören zu existieren, bis ich dein Forum gefunden habe.
Und nun bin ich hier, doch ich will dich nicht in Gefahr bringen. Big Brother Inc. wird mich suchen. Sie lassen nicht zu, dass sich ihnen jemand entzieht und sie werden alle, die mir helfen, angreifen. Ich will nicht, dass dir etwas passiert." Sie sah zu Boden.
"Darum musst du dir keine Sorgen machen." Ich berührte ihre Hand. "Ich bin darin geübt, mich gegen große Brüder zu verteidigen. Nur wieso bist du gerade jetzt geflohen?"
"Ich wusste lange nicht, wohin ich gehen sollte. Es schien keinen Ort zu geben, keine Alternative für mich außerhalb von Big Brother Inc. Und dann habe ich deine Einladung gelesen." Im Dunkel der Nacht strahlten mich nun wieder ihre großen Augen an.
"Ich habe mit ABBSD abgeschlossen, das ist Vergangenheit."
Sie sah mich an. "Dann hast du das, was du über den Platz in deinem Kleiderschrank geschrieben hast, gar nicht ernst gemeint?"
Ich schluckte. "Das ist unwichtig, du bist jetzt hier und im Haus ist sogar ein Zimmer für dich frei." Den Kleiderschrank brauchte ich für mich. Und Nia in meinem Kleiderschrank war mir zu nahe. "Im Schrank war es dir doch auch zu dunkel." Ich brauchte Ruhe und Zeit zum Nachdenken.
Nia schien immer noch zu befürchten, mir zu viel abzuverlangen. "Brauchst du das Zimmer wirklich nicht?"
"Nein."
"Du kannst ruhig sagen, falls du mich nicht hier haben möchtest. Du musst nicht so tun, als ob ich willkommen wäre, nur weil du dich dazu verpflichtet fühlst." Sie wirkte ruhig, doch in ihren Augen spiegelte sich eine tiefe Leere und sie zitterte trotz des Mantels leicht. "Ich kann verstehen, falls du nichts mit mir zu tun haben willst."
"Nein, du bist dumm." Ich zitterte nun auch, ihre Unsicherheit übertrug sich auf mich. "Wie kommst du darauf? Du kannst hier bleiben, das habe ich gesagt und ich bin kein großer Bruder, ich lüge und betrüge nicht." Ich wusste mit einem Mal, dass ich wollte, dass sie blieb. Sie lehnte sich an mich. Ich würde Nia vor Big Brother Inc. beschützen, vor allen großen Brüdern, egal, wie mächtig sie waren.
Ein Zupfen von Nia holte mich aus meinen Gedanken zurück. "Danke." Ihre Stimme war leise und zittrig.
Eine Weile saßen wir still im Dunkel der Nacht, bis Nia mich wieder an der Jacke zupfte. "Wieso hasst du deine Brüder?"
Einen Augenblick lang verlor sich mein Blick im Schwarz der Nacht und dunkle Gedanken zogen mich zurück in meine Vergangenheit. Ich erinnerte mich, wie ich als kleines Kind unbedingt mit den beiden älteren Jungen, die angaben meine Brüder zu sein, zusammen sein wollte, von ihnen akzeptiert werden wollte, als gleichwertig. Sie wollten indes meist nicht, dass ich mitkam oder bei Spielen mitmachte, was sollten sie mit einem kleinen Mädchen, also führten sie mich, wenn ich mitkommen wollte, in die Irre und ließen mich zurück. "Das ist nicht einfach zu beschreiben. Im Rückblick klingt vieles harmlos, kleine Ereignisse, nichts besonderes."
"Ich höre zu." Nia blickte mich in den Mantel eingewickelt an.
"Einmal, ich muss da vielleicht neun Jahre alt gewesen sein, probierte mein älterer Bruder sein Moped aus. Normalerweise wollte er mich nicht dabei haben. Umso überraschender war es für mich, als er mich von sich aus ansprach. 'Möchtest du mitfahren? Ich kann dich im Bollerwagen ziehen.' Ich wollte das furchtbar gerne, und doch war ich gleichzeitig misstrauisch und unsicher." In meiner Erinnerung tauchten die Bilder auf. "Zu oft hatte er mich bewusst verletzt. Trotzdem ließ ich mich überreden, ich höre ihn noch: 'Keine Angst, ich fahre vorsichtig.' Ich wollte es glauben und vergaß für den Augenblick alles, glücklich, dass er mich beachtete. Er fuhr zu schnell, ich überschlug mich und schürfte mir das Bein auf. Nicht der Schmerz war schlimm, sondern das ich den Eindruck hatte, er habe das absichtlich gemacht." Ich blickte zur Seite. Nia widmete mir ihre ganze Aufmerksamkeit, also fuhr ich fort. "Ich zog mich zurück, ich wollte nicht weiter mitspielen und doch gelang es ihm, mich erneut zu überreden. 'Bin ich zu schnell gefahren? Das tut mir leid. Willst du es nicht noch einmal probieren? Ich fahre auch langsamer.' Er versprach das. Er fuhr noch schneller und ich überschlug mich ein zweites Mal. Diesmal verletzte ich mich noch stärker. Ich war vor allem wütend auf mich selbst, dass ich ihm vertraut hatte. Doch er entschuldigte sich förmlich, das tat er sonst nie. Ich glaubte ihm erneut. Dann bat er mich, den Vergaser des Mopeds zu holen, der während der Fahrt abgefallen war. Der Vergaser war glühend heiß. Die Narben der Brandverletzung waren eine ganze Weile zu sehen." Ich wandte mich zu Nia. "Du siehst, es waren nur Kleinigkeiten." Ich schwieg.
Nia schüttelte den Kopf. "Betrug ist keine Kleinigkeit."
Ich schüttelte mich. "Das liegt alles lange zurück."
Nia betrachte mich. "Trotzdem besitzt du die Dartscheibe, die du im Forum beschrieben hast, noch immer."
"Ja, wenn ich mich schlecht fühle, ist sie immer noch hilfreich." Die Scheibe mit dem Schriftzug 'Kill Onii-Chan' hatte ich tatsächlich als einen der ersten Gegenstände in meinem neuen Zuhause in der Küche aufgehängt. Nia musste sie dort gesehen haben. Sie würde mir helfen, gut in den Tag zu kommen. Einige Würfe reichten aus, damit es mir gut ging. "Lass uns rein gehen, es wird kalt."
Sie nickte und sah mich wieder mit ihren fragenden dunklen Augen an. "Hilfst du mir, den Sinn des Lebens zu finden und wirkliche Liebe? Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen sollte."
"Ich weiß nicht, ob ich das kann, ob ich dafür die Richtige bin. Soll ich die Nudeln kochen?"
"Ich habe gar keinen Hunger mehr. Tut mir leid."
"Das macht nichts, du kannst sie morgen essen. Lass uns Schlafen gehen. Du kannst das zweite Gästezimmer nutzen." Ich zeigte ihr alles und legte ihr Handtücher im Bad bereit.
Als ich alleine war, ging mir alles nochmal durch den Kopf. Ich fiel nur langsam in einen unruhigen Schlaf.
Konnte ich Nia wirklich helfen? War ich nicht selbst zu hilflos? Was wusste ich über sie? War dies alles überhaupt real?