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In den Straßen von New York
ОглавлениеLenny schreckt auf. Er liegt am Boden. Es ist dunkel um ihn herum. „Was ist los? Wo sind die Anderen?! Ist das Spiel schon vorbei? Hat er etwa das Ende verpasst?“ Er erinnert sich an die letzten Bilder, die er abgespeichert hat: der regenbogenfarbene Vogel, das Gesicht des Mannes mit dem Zopf und der Schlag, der seinen Kopf innerlich explodieren ließ. Wo sind seine Eltern, sein Trainer. „Die können mich doch hier nicht einfach so liegenlassen.“ Es ist bereits Nacht. Er liegt auf den breiten Stufen einer riesigen Treppe. Über ihm ragen stolze Säulen in den Himmel, deren Enden von zierlichen Blättern und Stängeln gekrönt sind. Korinthische Säulen sagt ihm sein Geist, der sich noch immer im Dämmerzustand befindet. Sein Blick wandert nach rechts, wo sich die Reihe der Säulen fortsetzt. „Bin ich im Himmel, im Olymp bei den Göttern“, geht es ihm durch den Kopf. Ihm fällt der Schriftzug oberhalb der Säulenkolonnade auf. Er versucht, diesen zu entziffern: “Weder Schnee, noch Regen, noch Hitze, noch die Dunkelheit der Nacht können die Kuriere von der Überbringung ihrer Nachrichten abhalten“ Das kommt Lenny bekannt vor. Sein Gehirn beginnt zu rattern, bis es eine gespeicherte Information findet, bei der es einrastet. „Ich bin gerettet. Ich bin in New York. Lenny kennt das Gebäude, an dessen Mauern er rücklings liegt. Jede Woche hatte er es mehrmals unbewusst passiert, wenn es zum Basketballtraining ging. Es ist das Central Post Office an der 34 Straße/ Ecke 8th Avenue gegenüber der Pennsylvania Station in New York. Dahinter liegt seine Basketball-Heimat, der Madison Square Garden.
Unwillkürlich muss er an seinen Vater denken. Dieser hatte ihn einmal auf die prächtige Säulenkolonnade aufmerksam gemacht und gemeint, es wären korinthische Säulen. Sein Vater liebt Architektur und gemeinsam waren sie in New York, ihrem geliebten „Big Apple“ immer wieder, all die letzten Jahre auf Streifzüge gegangen. Sein Vater konnte ihm zu vielen der Gebäude, Wolkenkratzer, Museen, Kirchen, Synagogen Geschichten erzählen. Unter welchen Umständen, in welcher Zeit war das Gebäude errichtet worden. Wer hatte hier gelebt und geliebt. Welches Glück, welche Krisen hatten die Häuser und ihre Bewohner erlebt. New York war eine pulsierende, sich ständig anpassende, wachsende Stadt, eine Stadt mit Herz, mit Geist, mit ihrer grünen Lunge, dem Central Park, mit den eigenständigen Stadtteilen Brooklyn, der Bronx, Queens und Staten Island, die sich wie Gliedmaßen um Manhattan wanden. New York lebte mit und durch seine Menschen, die ständig auf den Beinen waren. Sein Vater hatte die gemeinsamen Streifzüge durch New York immer als „Schatzsuche“ bezeichnet. Als Lenny und Mati noch klein waren, drückte er ihnen eine „Seeräuber“-Karte in die Hand, die Bilder und Fotos von Gebäuden, Kirchen, Brunnen, Details, wie ein Wasserspeier, eine Verzierung, ein gotisches Kirchenfenster, eine interessante Eingangspforte oder eine Skulptur zeigten. Dann waren sie gemeinsam mit Lennys kleiner Schwester losgezogen, auf Schatzsuche. Sein Vater motivierte sie dazu, die auf der Karte abgebildeten Sehenswürdigkeiten zu entdecken, zu finden. Er wollte sie dazu anregen, auch auf die vielen kleinen versteckten schönen und einmaligen Details und Kleinigkeiten zu achten. Wenn sie als Team alles entdeckt hatten, versteckte der Vater eine Plastikdose mit Schokolade, Fußball- oder Starwars - Karten und der Schatz wurde gefunden und wenn möglich verspeist.
Lenny dreht sich zur Seite, um die Straße besser ins Blickfeld zu bekommen. Diese ist wie ausgestorben. Kein einziger Mensch ist weit und breit zu sehen. Aber irgendetwas stimmt nicht mit seiner Wahrnehmung. New York schläft niemals! Und trotzdem sieht er keine Menschenseele auf der Straße. Parkende Autos aber weit und breit keine Passanten. Lenny setzt sich auf. „Es kann nur ein Alptraum sein. Was mache ich jetzt?“ Lenny ist noch völlig benommen. Vielleicht sind Menschen im Central Post Office. Es hat 7 Tage die Woche, 24 Stunden geöffnet. Einer der über 2000 Postbeamten, die hier arbeiten, wird ein offenes Ohr für ihn haben. Er steigt die breiten Stufen empor und ist wieder einmal vom Anblick der unendlich vielen korinthischen Säulen beeindruckt. Er hat das Gefühl, er würde den Olymp hinaufsteigen, um Zeus einen Besuch abzustatten. Die riesige Säulenkolonnade soll die längste der Welt sein. Mit seiner Klasse war er einmal hier bei einem Tagesausflug. In seiner Phantasie malt er sich aus, dass zwei riesige, antike Krieger, die Wächter des Gebäudes, aus den Pavillons mit den pyramidenartigen Dächern, die sich jeweils an beiden Seiten des Säulenforums befinden, ihm entgegen treten. Aber niemand hält Lenny auf. Oben angekommen, hat er die Wahl, durch welche der vielen Türen, je eine zwischen zwei der mächtigen Säulen, er eintreten soll. Abwechselnd sind die Pforten mit goldenen Rundbögen oder klassizistischen Giebeln geschmückt. Er drückt sich gegen die messing-farbene Drehtür, die ihn mit sich in die Postschalterhalle befördert. Die Halle ist 10 bis 15 Meter breit und erstreckt sich zwischen den sie links und rechts eingrenzenden Pavillons. Auch hier ist niemand zu sehen. Lenny schaut hinauf zu den über den Drehtüren gelagerten Fenstern, die nur spärliches Licht einfallen lassen. Sein Blick wandert zu der reich dekorierten Decke, die mit einem auffälligen sechszackigen Sternenmuster verziert ist. In der Mitte eines jeden Sterns prangt ein doppelköpfiger Adler und die Initialen R.F.
Der Stil des Gebäudes ist prächtig und imposant, wirkt aber auf Lenny trotzdem etwas zusammengewürfelt. Er erinnert sich, dass sein Vater diesen Baustil als Beaux-Arts bezeichnete. Paris war Mitte des 19.Jahrhunderts der Ursprung dieses neuen Architekturstils. Bei den rationalen Deutschen und insbesondere in Preußen war er als Historismus verbreitet. Später zu Beginn des 20.Jahrhunderts hatte sich dieser Stil dann rasant auch in den Vereinigten Staaten verbreitet. Die jungen amerikanischen Architekten ließen sich in Ihrer Begeisterung von der italienischen Renaissance, der griechischen Antike leiten und nahmen auch Anregungen aus dem Barock auf. Dieser Baustil ließ jedoch die Romanik und die Gotik vollkommen außer Acht, die wiederum den Kirchen vorbehalten blieb. Die Welt veränderte sich in dieser Zeit rasant und die Industrialisierung forderte ihren Tribut. Städte, Mietskasernen, Bahnhöfe, Wassertürme, Museen, Postämter wuchsen über Nacht aus dem Boden und das aufstrebende Bürgertum wollte seine neue Macht und seinen erworbenen Reichtum präsentieren. Die Industrialisierung wurde nach außen hin noch durch Anleihen aus früheren Bauepochen kaschiert.
Noch immer ist kein Mensch zu sehen. Lenny gibt jedoch nicht auf. Rechts neben der Schalterreihe sieht er eine Tür. Er drückt sie auf und befindet sich nun in einem langen Gang, von dem links und rechts mit dunklem Holz getäfelte Bürotüren abgehen. Er kommt an einer Glasvitrine vorbei. In dieser ist die blaue Uniform eines Postangestellten aus den 60er Jahren, seine blaue Schirmmütze, auf der ein messing-farbiges Abzeichen prangt, als auch eine lederne Posttasche, zum Austragen der Briefe, ausgestellt. Dann kommt er an eine Treppe. Sie führt in die untere Etage. Das Geländer ist bronzefarben und die Sprossen deuten kunstvoll gestaltete griechische Harfen an. Entlang des Treppenabsatzes verläuft ein Band von antiken Rauten. Lenny steigt die Treppe hinab und wendet sich nach rechts in einen Bürotrakt mit großen, imposanten, eichenen Holztüren. Dieser Bereich muss den Direktoren vorbehalten sein. Und wirklich prangt neben einer der Türen ein großes Messingschild mit der Abbildung eines Mannes mit breiter Stirn und einer Halbglatze, umrandet mit einem Haarkranz. Lenny entziffert die Zeilen: „Dieses Gebäude trägt den Namen des 53. Postmeisters von New York, James A Farley, der in diesem Büro von 1933 bis 1940 seinen Dienst ausübte. „Gut, dass ich das jetzt auch weiß.“, denkt sich Lenny innerlich schmunzelnd. „Das bringt mich im Augenblick jedoch auch nicht weiter.“ Lenny beginnt, in dem weitläufigen Gebäude langsam die Orientierung zu verlieren. In Gedanken versunken, drückt er die messing-farbene Klinke der schweren Holztür nach unten. Die Tür gibt dem Druck nach. Lenny schlängelt sich durch den Spalt in das saalartige Büro. Im Zimmer ist es stockduster. Langsam beginnen sich seine Augen, an das Zwielicht zu gewönnen. Seine Augen erfassen auf der rechten Seite eine ausgedehnte Bücherwand. Daneben hängt eine überdimensionale historische Karte der Vereinigten Staaten. In der Mitte des Raumes steht ein massiver Mahagoni-Schreibtisch. Auf dem Sessel hinter dem Schreibtisch und ihm stockt dabei der Atem, erkennt er die Umrisse einer Gestalt. Lennys Gedanken beginnen zu kreisen und ihm wird schwindelig. Eine undefinierbare Angst macht sich in ihm breit. Die schwarze Gestalt ist in einen Umhang gekleidet. Unter der tief in das Gesicht gezogenen Kapuze starren ihn zwei glühend, giftgelbe Augen an. Er hat das Gefühl, dass sein Geist fixiert ist. Zwei Schraubzwingen pressen sich gegen seinen Schädel. Die knochigen, krallenartigen Hände hat das Wesen so auf die Schreibtischplatte aufgestützt, als würde er sich jeden Augenblick mit einem gewaltigen Satz auf sein Opfer stürzen. Trotz der Panik, die in Lenny aufsteigt, fällt sein Blick auf den silbrig schimmernden Siegelring an dessen rechten Hand. Lenny erkennt verwundert die Umrisse eines Schmetterlings. Dieses kleine Detail will so gar nicht in die alptraumhafte Situation passen.
Der Mann hinter dem Schreibtisch spricht mit einer kehligen, befehlsgewohnten, scharfen Stimme: „Ich habe Dich erwartet.“ Und dabei zeigt er ein breites, arrogantes Grinsen. „Du wurdest mir angekündigt. Ich werde Dich von nun ab wie ein Alptraum verfolgen. Du wirst mich zu IHM führen. Deine Angst wird Dich treiben. Du wirst versuchen, gegen Deine unausweichliche Niederlage anzukämpfen. Du wirst nach Mitteln und Wegen suchen, Dich zu wehren, mich doch noch zu besiegen. Und diese Suche wird Dich letztlich zu IHM führen. Wenn ich IHN besitze, dann wird meine Macht besiegelt und unermesslich sein. Niemand wird sich mir mehr in den Weg stellen und das letzte Aufbäumen dieser schwachen Kreaturen, die sich noch verzweifelt wehren, wird in sich zusammenbrechen. Du hast 48 Stunden Zeit. Dann werde ich Dich holen.“ Lenny versucht, seine Gedanken zu konzentrieren. Der Druck lässt ein wenig nach. „Ich muss hier weg.“ Mühsam dreht er sich zur Seite aus dem Pegel des grausamen, giftgelben, an ihm zerrenden Augenpaares. Die ihn fixierenden Kräfte lassen plötzlich nach. Er stolpert ein paar Schritte, fängt sich und reißt an der schweren Holztür, bis diese nachgibt und sich für ihn öffnet. Er rennt den Gang entlang, kommt an der Treppe an. In zwei, drei Sprüngen eilt er die Treppe hinauf und rennt den Gang zurück zum Schalterraum. Er wirft sich gegen die Drehtür des Ausgangs und befindet sich wieder auf dem riesigen Treppenportal vor dem Central Post Office. Er nimmt zwei Stufen auf einmal und hastet hinunter zur Pennsylvania Station. Auf der Straße, erinnert sich Lenny, dass er sich auf der 8th Avenue befindet. Er wendet sich nach links, nach Norden. „Ich muss nach Hause kommen. Dann klärt sich sicher alles auf.“ Er wohnt mit seinen Eltern in einem Apartmenthaus an der Central Park West zwischen der 74 und 75. Straße, auf der 22. Etage, mit einem wunderbaren Blick auf den großen See des Central Park. Lenny läuft, von Panik getrieben, nach Norden. An der nächsten Straßenecke ist bereits die 34. Straße. Spontan entscheidet er sich, nicht direkt die 8th Avenue nach Norden zu nehmen, sondern hier nach Osten abzubiegen. Er möchte zum belebten Times Square, um endlich wieder Menschen zu Gesicht zu bekommen. Die 34. Straße führt ihn in die Richtung des Empire State Building. Lenny durchfährt ein angenehmes Gefühl der Wärme, als er seinen Lieblings-Wolkenkratzer sieht. Dessen Anblick gibt ihm immer ein Gefühl von Heimat, von Ankommen, von zu Hause sein. Seit die Twin Tower des World Trade Center an diesem unseligen Tag im September 2001 zerstört wurden, ist das Empire State Building mit seinen 102 Stockwerken wieder das höchste Gebäude der Stadt.
Lennys Vater hat ihm erzählt, dass er seiner Mutter an deren Geburtstag vor jetzt 17 Jahren hier oben einen Heiratsantrag machen wollte. Der Film „Sleepless in Seattle“ mit Tom Hanks und Meg Ryan war einer der Lieblingsfilme seines Vaters und die rührselige Szene am Ende des Films auf der Aussichtsplattform des Empire State Building hatte den Romantiker in ihm geweckt. Die Ringe waren besorgt und steckten in der Hosentasche seines Vaters. Sie standen auf der von Touristen übervölkerten Aussichtsplattform. Dann entschied er sich jedoch spontan anders. Lennys Vater war kein Mann für die Menschenmenge. Er liebte die ruhigen Augenblicke, die Zweisamkeit mit Menschen, die er mochte, den intensiven Austausch, das tiefe Gespräch. Er nahm seine Frau an die Hand und zog sie zum Fahrstuhl. Unten angekommen mussten sie die 5th Avenue erst einmal ein Stück hinunterlaufen, bis sie das gemütliche Café fanden. Sie setzten sich an den Tisch mit Blick aus dem Fenster. Gleich auf der rechten Seite zum Broadway hin, stand das einzigartige, spitz zulaufende Flatiron Building. Das Gebäude hatte seinen erstaunlichen Namen, weil die New Yorker meinten, das Haus wäre von einem Bügeleisen geplättet worden. Lennys Vater hatte hier im Cafe zwei Gläser Prosecco bestellt und dann das kleine Päckchen hervorgeholt. Wie Lenny seine Mutter kannte, war sie hin- und weggeschmolzen und die Emotionen gingen mit ihr durch. Lenny musste beim Gedanken an seine Mutter unwillkürlich lächeln. Ihm wurde dabei warm ums Herz. Sie war die Seele und auch der Sonnenschein ihrer Familie. Unverhofft konnte sie loslachen und sich über die merkwürdigsten Situationen beeimern. Wenn sie unter Menschen waren, fühlte Lenny sich auch schon einmal irritiert, denn ihr Lachen klang schon ein wenig merkwürdig. Waren sie unter sich, dann war seine Mutter jedoch das beste und dankbarste Publikum der Welt. Und Lenny machte dann gerne seine Späße, denn der Lohn ihres Lachens war ihm gewiss. Seine Mutter liebte Tiere, was bei Menschen mit einem großen Herzen die Regel war. Trotzdem hatte es lange gedauert, bis sein Vater und er selbst seine Mutter davon überzeugen konnten, eine Katze mit in ihre Familie aufzunehmen. Aber dann war sie plötzlich soweit und fing von sich aus mit dem Thema an. Sein Vater nutzte die Gunst der Stunde. Wenn er von etwas überzeugt und begeistert war, dann ging alles blitzschnell. Bereits am kommenden Wochenende zog das kleine Kätzchen Bella, ein grauer Halbperser, bei ihnen ein. Heute, ein Jahr später, war aus Bella Charlie geworden. Bella hatte sich als Bello entpuppt, aber so konnte man ja eine Katze unmöglich nennen. Charlie und seine Mutter waren unzertrennlich. Wollte er etwas, dann setzte er sich vor sie, schaute sie mit großen Teddybär-Knopfaugen an und mauzte eindringlich. Seine Mutter las ihm den Wunsch dann von den Augen ab und lag meistens richtig. Lenny hatte sich riesig darüber gefreut, dass Charlie nun Teil ihrer Familie war. Ja, sie hatten ihn aufgenommen. Er war nicht die Katze, das Tier, kein Spielzeug, das im Rang unter ihnen steht, sondern ein gleichberechtigtes Mitglied. Bei ihnen zu Hause, in ihrer Familie, hatte jeder das Recht auf seinen Charakter, auf seine Weise, die Dinge zu sehen und zu artikulieren. Charlie war eine eigene kleine Persönlichkeit. Und wie bei jedem Lebewesen ging es nicht darum, dass das eine Individuum über dem anderen steht, sondern um Liebe und Vertrauen, um Gleichberechtigung und ungezwungene Kommunikation. Liebe und Zuneigung, gerade auch bei Tieren, konnte nicht erzwungen oder einzig mit Leckereien erkauft werden.
Wie bei den Menschen, durfte man auch ein Tier nicht missbrauchen, indem man ihm eine Rolle zuwies, um mit ihm seine eigenen Defizite auszugleichen. Die Katze, der Hund, das Pferd waren keine Befehlsempfänger oder Beschützer, keine Kuscheltiere oder Liebesgeber. So wie man einen Ehepartner oder ein Kind nicht in eine dieser Rollen drängen durfte, so eigneten sich Tiere auch nicht für eine vom Herrchen vorgegebene Erwartungshaltung. Ein Mensch, ein Kind und eben auch ein Tier wollten von uns in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer Individualität verstanden und so angenommen werden, wie sie in ihrem Kern waren. Auch hier galt es loszulassen, denn dann entschied sich der jeweilige Partner freiwillig dazu, unsere Nähe aufzusuchen und zu verweilen. Wenn man sich jedoch dazu entschied, Jemanden an seinem Leben teilhaben zu lassen, dann übernahm man auch Verantwortung für das, was einem nun vertraut war. Man konnte so unheimlich viel von Tieren, auch über sich selbst lernen. Wenn man einem Tier, wie auch einem Menschen, unvoreingenommene Aufmerksamkeit schenkte, dann begann dieser allmählich Vertrauen, Zutrauen zu fassen und öffnete sich. Kinder und auch Erwachsene konnten hier den Kernpunkt der sozialen Kommunikation unbewusst erkennen und lernen. Interessiere Dich für Deinen Gegenüber, lerne ihn zu verstehen und ihr werdet Partner, vielleicht sogar Freunde. Jedes Lebewesen öffnet sich, wenn man sich von reinem Herzen um dieses bemüht. Tiere sind noch intuitiver als Menschen, so dass sie noch intensiver auf Körpersprache, Tonalität und Lautstärke unserer Stimme reagieren. Gerade auch Kinder konnten durch Tiere so viel über sich selbst und den Umgang mit anderen lernen. Der Umgang mit Tieren konnte so viel mehr Liebe und Glück in das eigene Leben bringen. Lenny musste jetzt unwillkürlich daran denken, dass sein Kater Charlie sich sicher in diesem Augenblick in Lennys Bett breit machte und die Katzenpfoten genüsslich in alle Richtungen ausstreckte.
Jetzt jedoch fröstelte es Lenny. Obwohl es August war, kam es ihm heute Nacht kühler vor. Er hatte sich in Gedanken verloren und er versuchte sich erneut zu orientierten. Das Empire State Building war für Lenny immer eine ideale Richtungsanzeige. Es war an der 5th Avenue zwischen der 33. und 34. Straße erbaut worden und bildete den perfekten Mittelpunkt der Insel Manhattan. Egal wo er sich befand, bot es ihm immer eine Orientierung. Konnte er das majestätische Gebäude erblicken, wusste er, wo er sich befand. Das Gebäude verjüngte sich, wie so viele andere Hochhäuser New Yorks nach oben hin. Dies resultierte aus einer Bauverordnung aus den 20er Jahren. Die Fassade durfte nur bis zu einer bestimmten, vorgeschriebenen Höhe senkrecht verlaufen. Danach wies das Empire State Building leichte Rücksprünge auf. Man wollte vermeiden, dass die Gebäude zu viel Schatten warfen. Die obersten Etagen des Wahrzeichens von New York waren nachts immer in eine farbige Lichterpracht gehüllt. An normalen Tagen wurde es in einfaches weißes Licht getaucht. Zu besonderen Anlässen, wusste man als New Yorker immer, was die Stunde geschlagen hatte. Zu Weihnachten war der Turm grün-rot, zum irischen Nationalfeiertag, dem St. Patricks Day, grün, an US-Feiertagen rot-weiß-blau und sogar pink am Christopher Streets Day. Heute ist das gleißende, gelbe Strahlen jedoch anders als sonst. Lenny hat das unangenehme Gefühl, als würde ein aggressives, gelblich pulsierendes Auge ihn vom Empire State Building herunter anschauen und beobachten. Er versucht schnell den Gedanken daran zu verdrängen und sich erneut auf die Gegend zu konzentrieren.
Auf der rechten Seite liegt bereits der Wolkenkratzer des One Penn Plaza. Die Fahnenmasten vor dem Gebäude sind wie immer mit der amerikanischen Stars- and Stripes - Flagge geschmückt. Etwas scheint ihm an der Fahne jedoch heute verändert. Verdutzt zügelt Lenny sein Tempo und bleibt dann ganz vor dem Portal des Gebäudes stehen. Erstaunt betrachtet er eine der Flaggen, die sich in der sanften Nachtbrise stolz entfaltet. Da waren immer noch die 7 roten und die 6 weißen Längsstreifen, die die 13 Gründungsstaaten von 1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung, darstellen. Auch an den Farben hatte sich nichts verändert. Das Weiß, das für die Reinheit und Unschuld stand, das Rot als Symbol für die Tapferkeit und Widerstandsfähigkeit und das Blau für Wachsamkeit, Beharrlichkeit und Gerechtigkeit. Wenn er jetzt genauer hinsah, fiel ihm auf, dass die üblicherweise 50 weißen Sterne auf dem blauen Untergrund, die für die Bundesstaaten stehen, sich nahezu verdoppelt hatten. Und in deren Mitte prangt ein überdimensionales gelb-feuriges Auge. Lennys Nackenhaare stellen sich auf. Ist das ein Scherz von einem Chaoten, der über Nacht die Fahnen hochgezogen hat. Was hat das wieder zu bedeuten?! Lenny setzt sich erneut in Bewegung. Er muss hier weg. Es ist unheimlich, was sich in seiner Stadt, New York, plötzlich alles verändert hat.
Lenny fühlt langsam ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, der Frustration in sich aufsteigen. Was ist passiert? Warum war er überhaupt hier? Was war schief gelaufen?! Vorhin verlief seine Welt noch in einer geregelten Bahn, in seiner, von Lenny gewünschten Struktur und Ordnung. Sein Leben war vorhersehbar. Er hatte Ziele und verlor diese nicht aus dem Auge. Er wollte es im Basketball zu etwas bringen. Und er tat alles dafür, sein Ziel, einmal in der NBA zu spielen, Wirklichkeit werden zu lassen. Er trainierte vier Mal die Woche. Am Wochenende brachten ihn seine Eltern zum Kadertraining und zu den Jugend-Ligaspielen. Dabei war er immer sehr fokussiert und konzentrierte sich auf das, was er gerade tat. Er hatte Spaß dabei, weil Basketball sein wirkliches Ding war. Es war seine Passion, seine Leidenschaft. Er baute seine Muskeln auf, indem er täglich seine 100 Liegestütze absolvierte. Und er wollte auch in der Schule zu den Besten gehören. Irgendwann würde es mit 37 – 40 Jahren vorbei sein. So wie Dirk Nowitzki gerade in diesem Alter die Puste ausging, sich auch ein Michel Jordan im Alter von 40 Jahren aus dem NBA-Zirkus verabschiedet hatte. Wie viele junge Basketball-Talente hatten sich auf ihrem Weg nach Oben gefährlich verletzt, mussten teilweise pausieren und fanden dann nicht zu ihrer bisherigen Leistung zurück. Sie fühlten sich als Versager, wenn das Leben sie aus der Bahn warf.
Lenny kannte dieses Gefühl der Frustration, wenn er merkte, dass etwas in seinem Leben nicht so lief, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn er selbst Fehler machte oder auf Probleme stieß, dann tauchten da ganz schnell negative Gedanken und Gefühle auf. Und oft geriet er dabei in einen negativen Strudel und plötzlich klappte gar nichts mehr. Sein Vater hatte ihn einmal in einer solchen Situation beiseite genommen. Sie hatten sich in Lennys Zimmer zurückgezogen und die Tür hinter sich verschlossen. Sein Vater hatte ihm dann erzählt, dass er selbst früher auch oft negativ und gestresst gewesen war, wenn etwas nicht nach seinem Willen lief. Auch er hatte sich dabei viele blaue Flecke geholt.
Viele Menschen ergeht es ähnlich. Sie sind oft negativ, emotional, wenn etwas nicht klappt, wie sie es sich vorgestellt haben. Sie bekommen schlechte Laune, sind frustriert und lassen den Kopf hängen. Die meisten geben sogar auf und verlieren ihr Ziel aus den Augen. Eventuell ist es ihnen im Leben zu leicht gemacht worden. Wenn immer alles funktioniert, wenn die Eltern einem alles vorgekaut, alles aus dem Weg geräumt haben, wie sollten sie es dann lernen, zu kämpfen und nicht aufzugeben. Es war ein großer Irrtum, wenn die Menschen annahmen, alles was sie in ihrem Leben beginnen, "müsste" ohne Fehler, Reibungen, Schwierigkeiten ablaufen. Aber das Leben ist Zufall, Schöpfung, Veränderung. Daher kann nicht alles ohne Probleme ablaufen. Es lag bereits im Wortstamm des Wortes "PRO-blem“. Es ging immer um das PRO-aktive Angehen von Aufgaben und das Suchen nach Lösungen, um das Problem, die Herausforderung zu lösen.
Es gibt bei der Realisierung eines Lebenszieles, einer Aufgabe immer Schwierigkeiten und Herausforderungen. Kein Weg verläuft auf der Luftlinie von A nach B. Es gibt im Leben nie den direkten Weg zum Ziel. Wer im Leben nicht bereit ist, einen Plan B aus der Tasche zu ziehen, wenn sein Ursprungsplan sich nicht realisiert, wird zum Verlierer. Denn er verliert sein Ziel aus den Augen. Er gibt auf, bleibt stehen und wird sich nie weiterentwickeln. Wer immer wieder ein Ziel, einen Traum aus den Augen verliert, entwickelt eine Gewohnheit des Aufgebens.
Wer jedoch die Bewusstheit in sich trägt, dass das Leben immer wieder auch aus Herausforderungen besteht, um letztlich seine Träume zu verwirklichen, der macht es sich leichter. Er stellt sich darauf ein, dass es Schwierigkeiten geben wird. Er weiß ebenso, dass er seine dabei unwillkürlich entstehenden negativen Gefühle der Frustration und Niedergeschlagenheit gar nicht erst ausleben darf. Mit Negativität lassen sich keine positiven Ergebnisse erzielen. Beharrlichkeit und Leidenschaft sind die Zauberwörter. Wer die Herausforderungen annimmt und sich auf das Spiel einlässt, der kann sogar immer wieder Spaß daran haben, solche PRObleme und damit auch sich selbst, sein eigenes EGO, zu überwinden. Bei diesen Gedanken ging es Lenny wieder besser. Er würde auch diese Herausforderung, diesen augenscheinlichen Alptraum durchstehen. Alles würde sich auflösen und zum Guten wenden.
Nach 100 Metern erreicht Lenny die 7th Avenue, die sich von Süd nach Nord erstreckt. „Quadratisch, praktisch, gut“ denkt sich Lenny. In New York kann man sich einfach nicht verlaufen. Im Gegensatz zu den europäischen Großstädten, wie Paris, London oder Berlin, die über Jahrtausende wuchsen und bei denen sich oft ein Labyrinth von Straßen, ein Wirrwarr an Häusern planlos aneinanderreihte, waren die amerikanischen Städte nach einem klaren Schema gewachsen. Das „Schachbrettmuster“ der amerikanischen Städte entstand, als die Siedler vor nahezu 300 Jahren begannen, das Land zu besiedeln. Das neu erschlossene Land wurde vermessen und in Quadrate eingeteilt. Diese wiederum wurden in kleinere Einheiten aufgeteilt und den Neuankömmlingen zur Besiedelung angeboten. Jeder dieser quadratischen Blöcke maß zirka 100 Meter. Die Straßen und Gassen wurden zur natürlichen Begrenzung der Grundstücke. In New York waren es die Streets, die sich vom Atlantik und Downtown im Süden hoch in den Norden zum Central Park, Harlem und der Bronx erstreckten. Erstaunlicherweise begannen die 1st, 2nd, 3rd Street jedoch erst nördlich der Stadtteile Little Italy, der Lower East Side bzw. Soho. Bis dorthin hatten sich die ankommenden Europäer in ihrer bisherigen Gewohnheit eher „chaotisch“ angesiedelt. Die Streets werden von den großen Magistralen, den Avenues gekreuzt. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Broadway, der beginnend an der südlichen Spitze Manhattans sich auf einer Länge von 25 km quer durch die gesamte Halbinsel erstreckt. Die New Yorker haben den Broadway, den vormals hier lebenden, einheimischen Indianern zu verdanken. Ein Stamm der Delawaren hatte einen Pfad durch die Wildnis, entlang der Sümpfe und felsigen Erhebungen angelegt. Die später hier siedelnden Holländer befestigten ihn und bauten ihn zum breiten, „Breede Weg“, dem Broadway aus. Lenny war jetzt auf der 34. Straße / Ecke 7th Avenue. Wenn er sich, was er vorhatte, auf dieser nach Norden wendete, würde er auf der 42. Straße den Broadway kreuzen. Und genau an dieser Stelle, wo er auf den Times Square trifft, wird der Broadway zu dem, wofür er für Millionen von Menschen wirklich steht, dem Mittelpunkt der größten Bühne der Welt, dem Theater Distrikts, dem Traum von jungen Künstlern aus aller Welt, einmal in einem der über 40 Theater zu spielen.
Lenny biegt nach links auf die 7th Avenue. Links von ihm an der Ecke erhebt sich der Nelson Tower, zur Zeit seiner Erbauung in den 30er Jahren eines der größten Gebäude New Yorks. Nun wirkt er gegenüber dem One Penn Plaza wie ein Wolkenkratzer-Zwerg. An der rechten Ecke befindet sich über dem Eingang zur Subway und einem „Footaction USA“ Outlet eine gigantische Reklame-Leinwand. Gestern war Lenny noch mit seinen Eltern hier aus der Subway gestiegen. Ihm war natürlich die überdimensionale Air-Jordan Basketball-Werbung mit Carmelo Anthony, von den New York Knicks, aufgefallen. Carmelo drehte ihnen auf dem Plakat den Rücken zu. Auf dem blauen Shirt der New York Knicks prangte eine orangene Sieben. Er trug sein orangenes Stirnband und über ihm stand in fetten Lettern der Spruch: „Der Stadt, die mich zu dem gemacht hat, was ich bin und mir das Spiel gegeben hat. Thanks Carmelo“ Ja, New York hatte ein Basketball-Herz. In jedem Bezirk gab es an allen Ecken und Enden einen Basketball – Court. Besondere Berühmtheit erlangte der „Rucker Park“ in Harlem. Viele NBA-Stars, wie Kobe Bryant, von den Los Angeles Lakers, oder Kevin Durant, jetzt bei den Houston Rockets, haben in ihren Anfängen Streetball auf diesem Platz gespielt. Wenn in einem Hollywood-Streifen oder Musikvideo ein New Yorker Basketball-Court als Kulisse auftaucht, ist es oft der Rucker-Park. Holocombe L. Rucker war ein New Yorker Lehrer, der Basketball als soziales und erzieherisches Instrument einsetzte. Er schaffte es, über 700 Kindern aufgrund ihres Basketball-Talents ein College-Stipendium für ein Studium zu organisieren. Lenny musste dabei an den genialen Basketball Film „Coach Carter“ denken. Ein Muss für jeden, der verstehen möchte, welche Anziehungskraft Basketball auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene hat und wie die Leidenschaft zu dieser Sportart, die Einstellung zum Leben positiv verändern kann. Beim Basketball tobten sich die Kids in jeder freien Minute auf dem Platz aus. Sie lebten ihren Traum, so wie auch Lenny, der fest daran glaubte, einmal in der NBA ein Basketball-Star zu werden. Lennys Vater hatte von Zeit zu Zeit dienstlich in Europa zu tun. Oft kamen auch europäische Arbeitskollegen nach New York und sein Vater ging mit Ihnen zu Spielen der New York Knicks. Die Deutschen, Franzosen, Italiener, Spanier kannten eigentlich nur ihren Fußball und Hunderttausende rannten am Wochenende mit Fanschals in die lokalen Stadien. Basketball war in Europa nur eine Randerscheinung. Umso mehr waren sie fasziniert, wenn sie im riesigen, ausverkauften Madison Square Garden, der selbst ernannten „berühmtesten Arena der Welt“ (vielleicht nach dem Kolosseums in Rom) sich von der Leidenschaft der fast 20.000 New Yorker Basketball Fans und von der Schnelligkeit und Akrobatik dieses Spiels anstecken ließen. Basketball war einzigartig. Und Basketball war eine junge und wahrlich amerikanische Sportart. Der kanadische Trainer James Naismith hatte sie erst 1891 für die Halle in der Wintersaison erfunden. Er ließ den Hausmeister seines Colleges in Springfield, Massachusetts zwei Pfirsichkörbe auf der zufällig gewählten Höhe von 3,05 Metern anbringen. Basketball konnte sich in kürzester Zeit an den Colleges und Universitäten durchsetzen und es entstand bereits 1906 daraus die NCAA, die National Collegiate Athletic Association. Erst 1949 wurde dann die zweite große, professionell ausgerichtete NBA, National Basketball Association gegründet, in der 30 Mannschaften in einer Eastern- und einer Western Conference gegeneinander spielen. In der Vorrunde, der Regular Season, bestreitet jede Mannschaft 82 Spiele, größtenteils in der eigenen Conference. So spielen an der Ostküste die New York Knicks regelmäßig gegen die Boston Celtics, die Miami Heat oder die Chicago Bulls. Die besten 8 Mannschaften jeder Conference ermitteln dann in den Playoffs gegeneinander im k.o.-System den jeweiligen Finalisten der Ost- und Westküste, die wiederum im Finale (Best of Seven) gegeneinander spielen.
Dieses Jahr sah es für die New York Knicks richtig gut aus. Sie waren neben Miami, Oklahoma einer der Favoriten für den Meistertitel. Und sie würden es dem amtierenden Meister Miami Heat richtig zeigen.
Lenny legt wieder an Tempo zu. Er konzentriert sich auf die Straßen, die er auf dem Weg nach Norden überquert: 35th, 36th, 37th … Ab der 41st Street hat er das Gefühl, dass die 7th Avenue an Farbe und Intensität zulegt. Über jedem Geschäft sind überdimensionale Plakatwände angebracht, die für Fahrzeuge, Kameras, Mobiltelefone und andere so überlebenswichtige Konsumgüter werben. Und dann ist er bereits an der 42nd Street, der Straße, nach der das gleichnamige Musical benannt wurde. Vor ihm liegt der Times Square, der sich von hier bis zur 47th Street erstreckt. Namensgeber war das Gebäude Times Square No.1 gleich rechts von ihm an der Ecke. Anfang des letzten Jahrhunderts als Verlagsgebäude der New York Times erbaut, ist es nun mit seinen 25 Stockwerken nur ein Zwerg. Der einzige verbliebene Mieter ist im Gebäude eine Apothekenkette. Lenny hatte gelesen, dass es sich nicht mehr lohnte, die Klimaanlage des Gebäudes auf den neuesten technischen Stand zu bringen. Das ganze Gebäude war stattdessen von riesigen Leuchtreklametafeln nahezu vollständig in einen Werbe-Kokon gesponnen. Lenny fällt das in roten Lettern, Worte spuckende Nachrichten-Laufband auf. Normalerweise wurden hier von der Börsen-Agentur Dow Jones die neuesten Nachrichten publiziert. Lenny buchstabiert die einzelnen, fetten Buchstaben, die der Ticker nacheinander ausspuckt: „Die Ausgangsperre ist konsequent von 22 bis 5 Uhr morgens einzuhalten. Zuwiderhandlungen werden mit Lagerhaft geahndet … “ Ausgangssperre!!! Lenny bleibt verdutzt stehen und plötzlich sickert ein Gedanke in sein Bewusstsein. Seit er auf den Stufen vor dem Central Post Office aufgewacht ist, hat er keine Menschenseele gesehen. Abgesehen von dem unnatürlichen Wesen mit den giftgelben Augen, das versucht hat, ihn in seinen Bann zu ziehen, hat er keinen Menschen getroffen. Seit wann gibt es eine nächtliche Ausgangssperre in New York. Was ist passiert, seitdem er im Madison Square Garden beim Spiel sein Bewusstsein verloren hat? Panik steigt in ihm auf. Die ganze Geschichte ergibt für ihn keinen Sinn. Es kann nur ein Alptraum sein. Er möchte laut aufschreien, aber da ist die Angst, dass in dieser Nacht jemand unterwegs ist, der es auf ihn abgesehen hat. Überall auf seinem Weg tauchen diese giftgelben Augen auf. Erst im Central Post Office, dann auf den Fahnen vor dem One Penn Plaza, später auf der Turmspitze des Empire State Building. „Ich muss hier einfach nur weg. Am besten, ich suche erst einmal einen Unterschlupf, bevor ich mich am kommenden Morgen nach Hause zum Central Park West durchschlage“ geht es ihm durch den Kopf. Lenny hält sich jetzt dicht im Schatten der Häuser. Er hastet weiter nach Norden. Die 7th Avenue hat sich inzwischen mit dem Broadway vereint.
An der Ecke 43rd Street nimmt er auf der linken Seite die überdimensionale Gibson Gitarre wahr, die über dem Eingang des Hard Rock Cafés in gleißenden Farben erstrahlt. Lenny ist mit seinen Eltern oft hier. Früher war hier im Paramount Building ein großer Kino- bzw. Konzertsaal und es hatte in seinen besten Tagen grandiose Konzerte mit Frank Sinatra und Elvis Presley erlebt. Paramount errichtete das Gebäude in den 20er Jahren, als seine Firmenzentrale und als Premierenkino für seine größten Filmproduktionen. Lenny hebt seinen Kopf. Er kann so die pyramidenartige Spitze des Art-Deco-Gebäudes erkennen. Diese Form sollte das Firmensymbol, den Berggipfel von Paramount symbolisieren. Hoch oben thronte noch immer der überdimensionale Globus. Das Gebäude wirkte wie ein Tempel. Und wirklich hatte es noch immer bei den New Yorkern den Spitznamen „Kathedrale des Kinos“. Welche Kirche konnte es schon damals mit 3600 Besuchern aufnehmen. Später sank sein Stern. Lenny bewundert den theatralischen, reich verzierten Baldachin, der den Eingang zum ehemaligen Kino überdacht. Darüber erhebt sich ein überdimensionales Rundbogenfenster im Art-Deco-Stil, das es mit der Anmutung eines Kathedralen-Fensters aufzunehmen vermag. In fetten Schriftlettern prangt hier der Schriftzug von Paramount.
Lenny war gern hier. Das Hard-Rock Cafe hatte eine einmalige Gitarren-Kollektion von den Beatles bis hin zu Kurt Cobain. Auch fanden hier immer noch kleinere Rockkonzerte statt, zu denen sein Vater Lenny immer einmal wieder mitnahm. Die „Wall of Guitars“ im Hard Rock Cafe hatte es Lenny besonders angetan. Hunderte von E-Gitarren-Klangkörpern bedeckten wie Fliesen die Wand eines ganzen Raumes. Der Effekt war einzigartig.
Lenny erinnert sich, dass er genau an dieser Stelle mit seinem Vater in einen Streit geraten war, welche Gitarre die bessere wäre. Lenny besaß eine Fender, während sein Vater auf die Gibson Les Paul schwor. Generationen von Gitarristen und Rockfans entzündeten ihre Leidenschaft an dieser rockphilosophischen Grundsatzfrage. Zu den Legenden der Fender-Dynastie gehörten einzigartige Gitarristen, wie Jimmy Hendrix, der als Linkshänder seine Fender rechtsseitig spielte und ihr dabei noch nie gehörte, kreischende, verzerrte Töne und Akkorde entlockte. David Gilmour von Pink Floyd experimentierte meist auf seiner schwarzen Fender Stratocaster. Mark Knopfler von den Direstraits war ebenso ein Fender-Jünger. Seine einzigartigen Soli von Sultans of Swing oder „Down to the waterline“ waren nur mit einer Fender ein Original. Jedes neue Album-Cover von den Direstraits verzierte eine andere Fender-Gitarre. Die Fender Stratocaster war eine Design-Ikone schlechthin. Sie konnte es sogar mit der weltweiten Bekanntheit der Coca-Cola Flasche aufnehmen. Keine elektrische Gitarre wurde so oft kopiert. Diese elektrische Gitarre stand für modernes Design, für Rebellion. Sie war der Inbegriff des Rock n’ Roll. Lennys Vater wiederum war Gibson - infiziert. Er war einer der späten Led Zeppelin Fans. Mitte der 60er geboren, erlebte er noch den Ausklang der Led Zeppelin Ära. Der Tod von John Bonham, der durch das Schlagzeugsolo „Mobby Dick“ in den Rock-Olymp aufgenommen wurde, warf Lennys Vater und seine Freunde völlig aus der Bahn. Es war ein tragischer Tod, an seinem eigenen Erbrochenen zu sterben und noch tragischer war es, dass der „bleierne“ Zeppelin sich von nun ab nicht mehr in die Lüfte erhob. Robert Plant und Jimmy Page, der „Hexer“ auf der Gibson Gitarre waren noch jahrelang solo unterwegs, aber sie konnten nie mehr die Himmelsleiter von „Stairway to heaven“ wirklich beschwören. Lenny musste unwillkürlich lächeln, als er sich an den exzentrischen Spruch des Gitarren-Titanen Jimi Hendrix erinnert: „Zu der Zeit, als ich meine Gitarre verbrannte, war das wie eine Opfergabe. Man opfert die Dinge, die man liebt. Ich liebe meine Gitarre.“ Ja Gitarren konnten eine wirkliche Leidenschaft entfachen.
Gedankenverloren war Lenny inzwischen weitere zwei Straßen den Broadway hinaufgerannt. Ein gleißendes gelbliches Strahlen lässt ihn erneut aufschrecken. Auf der gigantischen Reklametafel des Times Square Two - Eckgebäudes, vor dem er nun steht, blitzen zwei giftgelbe Raubtieraugen auf und starren ihn an. Lenny schreit auf und taumelt rückwärts. Er ist wie benommen. Erneut spürt er dieses nagende, ziehende Gefühl in seinem Kopf. Schraubzwingen pressen seinen Schädel zusammen. Der Schmerz ist unerträglich. Nur mit äußerster Willenskraft kann er Herr seiner Gedanken werden, die vor Panik Kapriolen schlagen. Er versucht sich zu konzentrieren und kann mit enormer Kraftanstrengung seinen Kopf und sein Blickfeld nach rechts wenden. Lenny schleppt sich mühsam in die Seitenstraße und lehnt sich schwer atmend an die Hauswand. Er fühlt sich wie ausgelaugt. Alle Energie ist aus seinem Körper gewichen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, wie wild. Sein Herz rast noch immer. Lenny versucht, sich zu orientieren. Einige Meter neben ihm ist an einer Fußgängerampel ein Straßenschild angebracht. Er ist in der 45. Straße gelandet. Aus den Augenwinkeln kann er auf dem Broadway das Marriott Marquis Hotel erkennen. Erneut wird er sich seiner misslichen Lage bewusst. Lenny gibt sich einen Ruck. Hilf dir selbst, sonst hilft dir gerade mal keiner. Hier kann er definitiv nicht bleiben. Zwar ist ihm der direkte Weg nach Hause, in Richtung Central Park abgeschnitten, aber er wird schon eine Lösung und einen Weg finden. Lenny spürt bei diesen Gedanken, dass neue Lebenskräfte seinen Körper und Geist beflügeln. So leicht würde er sich von diesen „Zitronen“ - Augen nicht einschüchtern lassen. Lenny stößt sich von der Hauswand ab. Ich werde versuchen, auf der Americas Avenue nach Norden zu gelangen. Lenny läuft einige Meter die 45. Straße nach Osten. Auf der linken Seite befindet sich das Lyceum Theater. Unter dem Vordach strahlen Dutzende von Laternen in allen Regenbogen-Farben. Lenny fühlt sich von dieser Farbenpracht magisch angezogen und wechselt die Straßenseite. Er erinnert sich, dass das Lyceum das älteste, noch existierende Theater am Broadway ist und es war das erste Theater, das um 1900 komplett mit elektrischem Licht versorgt wurde. Thomas Edison hatte bei der Elektrifizierung persönlich Hand angelegt. Das Theater hat drei schwere, eichene Holztüren. Über dem Baldachin tragen 6 griechische Säulen die geballte Pracht und den Prunk des aus weißem Kalkstein gebauten Beaux Art Gebäudes.
Lenny wirft einen Blick in die Vitrinen, in denen Plakate für kommende Veranstaltungen werben. Neugierig entziffert er die fetten Lettern einer Überschrift: „Premiere von Mozarts „Zauberflöte“ am 22.Juli 2020 in der Metropolitan Opera. Der ehrwürdige Kanzler Crow wird persönlich zur Veranstaltung erscheinen.“ Darunter prangt das Bild eines Mannes im schwarzen Umhang. Er hat die Kapuze seines Umhangs über den Kopf gezogen und sein Gesicht ist bis auf die große gebogene Nase und zwei eindringlich blickende, giftgelbe Raubtieraugen verdeckt. Es sind die Augen, die ihn bereits vorhin im Central Post Office mit ihrer boshaften Intensität fast um den Verstand gebracht hätten. Jetzt wusste Lenny, wer sein Verfolger war und wo er ihn seinerseits finden konnte. Es brachte nichts, ständig davonzurennen. Lenny hatte nicht vor, das Opfer zu spielen. Er war keine Marionette, egal was hier gespielt wurde. Er würde das Spiel erst lernen und wenn er es verstanden hatte, würde er die Spielregeln ändern. Dann fällt ihm die Absurdität auf. Lenny liest die letzten Zahlen ein zweites Mal: 2020!!! Erst jetzt wird ihm die Ungeheuerlichkeit bewusst. Das Spiel gegen die Jugendmannschaft der Miami Heat war heute am 21.Juli 2014. Er hatte sich dieses Datum Wochen vorher fest eingeprägt. Hier musste ein Druckfehler vorliegen oder es war definitiv ein Traum, besser ein riesiger Alptraum. Lenny hatte das Gefühl, er müsste gleich den Verstand verlieren. Genervt rüttelt er an der Eingangstür des Theaters. Die große Schwingtür öffnet sich quietschend. Er geht hinein. Vielleicht gibt es hier Menschen, die er nach dem Weg fragen kann. Durch ein mit lila Samt ausgelegtes Foyer kommt er in einen prachtvollen, feudal gestalteten Theatersaal. Die Bühne und die Emporen sind reich mit goldenen Stuckelementen verziert. Ein sattes Lila ist die dominierende Farbe der Stuhlreihen und Wände. Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an das Halbdunkel. Er schaut zur Zuschauertribüne empor und ihm läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Seine Magengegend zieht sich krampfhaft zusammen. Von einer Loge aus starrt ihn ein gelb - glühendes Augenpaar an. Lenny bekommt eine Gänsehaut. Er zittert am ganzen Leib. Was ist das?! Er kennt dieses intensive Gefühl nicht. Nicht in dieser Intensität. Soviel Angst hatte er noch nie. Die gelben, blutunterlaufenen Augen fixieren ihn voller Kälte und Hass. Er hat das Gefühl, dass sie sich in sein Herz krallen. Plötzlich erscheinen im Dunkel weitere giftgelbe Augenpaare auf der Bühne und seitlich neben ihm. Er bekommt Panik, dreht sich um und möchte wegrennen. Als er zwei Schritte gelaufen ist, sieht er in Richtung der Eingangshalle zwei schwarze Gestalten, die seine schlimmsten Alpträume Wirklichkeit werden lassen. Lenny hat das Gefühl, dass er sich übergeben muss. Aber die Panik ist größer als seine Übelkeit. Die Horrorgestalten haben die Größe von ausgewachsenen Menschen, aber es sind im eigentlichen Sinne eher Spinnen: Vogelspinnen! Ihre katzenartigen Raubtieraugen sind giftgelb und blutunterlaufen. Ihre Haut ist mit Stacheln, wie die Beine einer Vogelspinne, übersäht. Auf ihrem Kopf wimmelt es von Schlangen, die sich gierig winden und zischend in seine Richtung strecken. Die Monster haben sechs Arme und acht spinnenartige Beine. Lenny hatte schon immer viel Phantasie, aber was er hier sah, übertraf all seine tiefsten, ekligsten Ängste.
Von der Bühne hinter sich hört er weitere dieser Kreaturen auf sich zukommen. Lenny ist umzingelt. Verzweifelt schaut er sich um. Wo ist ein Ausweg. Kopflos beginnt er loszulaufen. Aus den Augenwinkeln sieht er rechts neben sich eine Tür. Er springt hin und reißt diese auf. Ihm weht der Geruch von Toilette entgegen. Er sieht das Frauen-Symbol und entscheidet sich dann doch für die Herrentoilette. Kostbare Sekunden verstreichen. Die Kratzgeräusche, der ihn verfolgenden Spinnenmonster, werden lauter. Sie sind schon fast an den Toiletten. Da entdeckt Lenny ein Fenster. Er reißt daran, aber es öffnet sich nicht. Lenny nimmt all seine Kräfte zusammen und mit einem Ruck schwingt das Fenster auf. Er zieht sich über die Fensterbrüstung. Da merkt er, dass sich eine gummiartige Faust um sein Fußgelenk schließt. Er sieht einen Schlangenarm an seinem Unterschenkel hochkriechen. Ein Tritt mit dem freien Fuß trifft die Schlange, die sich zischend zurückzieht. Lenny springt auf. Er befindet sich auf dem Dach des Nebengebäudes. Am Ende des Daches sieht er eine Feuerleiter. In kurzen Sprüngen ist er dort und steigt die wenigen Stufen auf das angrenzende Dach. Hinter sich sieht er die Horde seiner Verfolger aus dem Toilettenfenster quellen. Sie kreischen und quietschen ohrenbetäubend, wie, wenn man Metall aneinander reibt. Lenny rennt weiter über ein, zwei, drei Dächer. Die Feuerleitern hoch, runter, wieder hoch. Gut, dass er durch das Basketballtraining in Bestform ist. Bloß weg von diesem Ort.
Dann steht er irgendwann wieder auf der Straße. Es ist noch immer die 45. Straße. Lenny presst sich in einen Hauseingang. Es ist das Gebäude neben dem Lyceum Theater, ein Irish Pub. „O’Lunneys“ hat während der Ausgangsperre natürlich auch nicht geöffnet. Vor dem Theater hat sich eine Gruppe der Spinnenwesen versammelt. Sie zischen, gestikulieren mit ihren Spinnenarmen und suchen mit ihren gierigen, giftgelben Augen die Gegend ab. Noch haben sie Lenny nicht entdeckt. Lenny sucht verzweifelt einen Ausweg. Diese Viecher sind verdammt schnell. Zu Fuß wird er kaum eine Chance haben. Da fällt sein Blick auf mehrere Fahrräder, die an der Hauswand abgestellt sind. Er untersucht eins nach dem anderen mit seinen Blicken. Erleichtert stellt er fest, dass ein metallicblaues Mountainbike kein Fahrradschloss hat. Plötzlich durchdringt ein schrilles Kreischen die Nacht. Eine der Kreaturen hat ihn entdeckt und zeigt mit seinem Schlangenarm in seine Richtung. Die Spinnenwesen setzen sich mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit in Bewegung. Kurz entschlossen springt Lenny zum Mountainbike und reißt es von der Wand. In wenigen Sekunden ist er im Sattel und tritt wie ein Verrückter in die Pedalen. Schnell nimmt er mit seinem Bike Geschwindigkeit auf, als er neben sich einen Schatten gewahr wird. Ein Spinnenwesen hat ihn auf seiner rechten Seite fast eingeholt. Das eklige Geschöpf galoppiert auf seinen acht, kräftig behaarten Spinnenbeinen, was das Zeug hält. Lenny muss sich bei diesem Anblick fast übergeben. So ein Vieh einmal im „realen“ Leben zu sehen, ist zu viel für seine Nerven und seinen Magen. Lenny träumt oft von Vogelspinnen und Schlangen. Sie symbolisieren und vermischen sich mit seinen tiefsten Ängsten. Als Kind konnte Lenny nicht mit einer großen Spinne in einem Raum sein. Er hatte das Gefühl, die Angst, die Spinne würde im Schlaf auf ihn krabbeln und sich auf sein Gesicht legen. Es war nahezu eine Phobie. Lenny musste den Raum verlassen und hatte den Drang, all seine Kleidung zu wechseln. Sein Unterbewusstsein suggerierte ihm, die Spinne hätte ihre Eier in seiner Kleidung abgelegt. Es war furchtbar und Lenny spürte, dass dieses Tier über seine Angst sein Leben kontrollierte. Er wusste, dass seine Ängste unbegründet und irrational waren. Trotzdem hatten sie ihn immer wieder überwältigt. Ebenso verhielt es sich mit Schlangen. Lenny ekelte sich vor dem weichen, glitschigen Körper. Im Wald und in freier Natur fixierte er seinen Blick immer auf den Weg, der vor ihm lag. Im Traum war er schon oft auf eine Kreuzotter getreten, die sich dann immer um seinen Knöchel wand und ihm ihre giftigen Zähne in seinen Unterschenkel schlug. Aber Lenny hatte einen starken Willen. Er würde nicht so einfach aufgeben. „Schau Dir Deinen Gegner an und erkenne seine Schwächen. Mache sie Dir zu Nutzen“ hatte ihm sein Vater immer erklärt.
Lenny heftet seinen Blick auf die Kreatur, die nur wenige Meter neben ihm die 45. Straße entlang galoppiert. Lenny kannte sich mit Spinnen und Schlangen aus. Um seine Phobie zu überwinden, hatte er sich intensiv mit diesen Tieren beschäftigt. Er war mit seinem Vater im Zoo gewesen und hatte den weichen, glitschigen Körper der Schlangen berührt. Er hatte Spinnen in die Hand genommen und sie über seinen Unterarm laufen lassen. Es war schrecklich, aber seine Angst war in den Hintergrund getreten. Er lernte es, sich zu beherrschen und Schritt für Schritt war es ihm besser gegangen. Das Geschöpf neben ihm war halb Vogelspinne, halb Schlangenwesen. Er hatte viel in Büchern über die Vogelspinne, die auch als Tarantel bezeichnet wurde, gelesen. Ihren Namen verdankte sie einer deutschen Naturforscherin, die um 1700 eine solche Spinne auf ihrer Forschungsreise im Surinam entdeckt und gezeichnet hatte. Die Zeichnung zeigte, die für europäische Verhältnisse überdimensionale Spinne, wie sie auf einem Ast sitzend, einen Kolibri verspeist. Sie war extrem aggressiv und biss um sich, sobald sie ihren Gegner gewahr wurde. Das Spinnenwesen neben ihm hatte wie eine normale Tarantel ebenso 8 Beine, die stark behaart waren. In der freien Natur schaffte es diese Spinnenart auf gerade einmal 10 cm und eine Spannweite von 28 cm. Das Monster neben ihm war jedoch so lang und hoch wie sein Mountainbike. Die Schlangenarme, Lenny zählte acht Arme, konnte es noch einmal über einen Meter in Richtung seiner Opfer ausstrecken. Und wer hier das Opfer war, darüber machte sich Lenny keine Illusionen. Als hätten seine Gedanken eine Reaktion bei dem Spinnenmonster ausgelöst, schoss plötzlich einer der Schlangenarme in seine Richtung. Lenny machte mit seinem Mountainbike eine reaktionsschnelle Ausweichbewegung und der Schlangenarm glitt von seinem Fahrradlenker ab. Stattdessen rutsche die Schlange zu seinem Hinterrad ab und dann in dessen Speichen. Es gab ein flutschartiges Geräusch. Ein Ruck ging durch sein Bike und ein abgetrennter Schlangenarm flog hoch in die Luft. Er hörte ein monströses, metallisches Kreischen, das die Tarantel ausstieß, aber sie ließ noch immer nicht locker. Lenny musste grinsen. „Das hast Du nicht erwartet, dass sich dein Opfer wehrt.“ Er konnte die acht Augen der Vogelspinne sehen, die sich böse auf ihn hefteten. 6 waren schwarze unbewegliche Knopfaugen, die zwei weiteren waren faustgroße, giftgelbe Raubtieraugen, die ihn voller Hass anstarren. Lenny mustert die riesigen Beißklauen. Er muss daran denken, dass die Tarantel mit diesen Hauern ihre Beute schlug. Am oberen Teil der Klauen waren die Giftdrüsen. Das Opfer wurde damit betäubt, später aber auch zum Zwecke der Verdauung zersetzt. Die Vogelspinne saugte somit ihre Opfer regelrecht aus. Lenny fröstelte es bei diesem Gedanken. Fieberhaft dachte er nach, wie er die Spinne endlich loswerden konnte. Da vorn war bereits der Americas Boulevard. Eigentlich musste er jetzt nach Norden in Richtung Central Park aber die Tarantel war auf seiner linken Seite und machte nicht die Anstalten, aufzugeben. An der Kreuzung riss er sein Fahrrad nach rechts. Das Hinterrad rutschte quietschend weg. Aber Lenny behielt die Kontrolle. „Dann mache ich eben einen kleinen Umweg nach Süden, um das Ungeziefer loszuwerden.“ Die Tarantel war vom plötzlichen Richtungswechsel überrascht worden. Schnell hatte sie sich wieder orientiert und nach 50 Metern ist sie erneut auf seiner Höhe. „Mist - das Vieh lässt einfach nicht locker.“ Lenny wirft erneut einen Seitenblick auf das Ungeheuer. Sein Blick bleibt am Hinterteil der Spinne hängen. Es ist die empfindlichste Stelle, weil sie dort nicht so stark gepanzert ist. Hier liegen die Verdauungsorgane und das Herz. Der Darm und damit das Hinterteil müssen sich ausdehnen, wenn die Spinne ihre Opfer verdaut. Lenny weiß, dass Stürze aus geringster Höhe für eine Vogelspinne tödlich enden konnten, da der Hinterleib dabei aufplatzte und das Tier verblutete. Es bleibt ihm nur eine Chance. Er muss eine Kollision provozieren. Lenny konzentriert sich erneut auf seine Fahrtrichtung. Er jagt gerade mit seinem Mountainbike den Americas Boulevard nach Süden in Richtung Downtown. Links in der 43. Straße sieht er das 200 Meter hoch aufragende W.R. Grace Building. Die weiße Fassade wölbt sich sanft auf beiden Seiten nach oben und gibt dem Wolkenkratzer eine schlanke Silhouette. Auf der rechten Seite registriert Lenny das Hochhaus der Bank of America. Es ist aktuell, nach dem Empire State Building, seit seiner Erbauung 2009, das zweithöchste Gebäude New Yorks. Hier konnte man erahnen, wie einmal das One World Trade Center nach seiner Fertigstellung am Ground Zero aussehen würde, denn der Bauherr, die New Yorker Firma Tishman Construction war ein und dieselbe. Weiter vorn sieht er das Grün des Bryant Parks. Langsam wird es auch heller. In New York beginnt der Morgen. „Gott sei Dank“. Wenn bald die Ausgangssperre beendet ist, sind auch wieder Menschen auf der Straße, die mir helfen werden. „Jetzt muss ich aber erst einmal die Tarantel loswerden.“ Gerade überquert er die 42. Straße. Links von ihm liegt der Bryant Park. Plötzlich hat er eine Eingebung. Lenny beschleunigt noch einmal sein Bike. Jetzt würde sich zeigen, wer besser im Gelände war. Beherzt reißt er sein Mountainbike nach links und springt damit auf den Bürgersteig. Nach wenigen Metern stößt er auf die Treppe zur Bryant Park Terrasse. Lennys Mountainbike hat so viel Schwung, dass er ohne große Schwierigkeiten die Stufen erklimmen kann. Mit einem riesigen Satz ist er oben angelangt. Die Spinne hat ebenso ihre Geschwindigkeit beibehalten und macht einen gewaltigen Sprung. Im Gegensatz zu Lenny weiß sie jedoch nicht, was sie hier oben erwartet. Mit der vollen Energie des Sprungs kracht sie gegen die Basaltsteine des gewaltigen Brunnens, der ihnen hier den Weg versperrt. Lenny muss grinsen. „Sorry Monster. Das war ein eindeutiger Heimvorteil. Die Tarantel hängt vom Beckenrand des mannshohen Brunnenbeckens. Die Schlangenarme zucken im Wasser des Bassins. Eines der Spinnenbeine hängt schlaff über dem erregten Gesicht eines steinernen Wasserspeiers. Lenny sieht, dass der Chitin-Panzer aufgeplatzt ist. Blut und Schleim rinnen aus dem verformten Hinterteil der Vogelspinne und laufen in kleinen Rinnsalen in das Brunnenbecken. Das Wasser verfärbt sich langsam rot. „Lenny seufzt und entringt sich ein: „Danke Josephine!“ Josephine ihrerseits bleibt diesem emotionalen Gefühlsausbruch kühl, reserviert und versteinert gegenüber. Das Rosa des Granits steht ihr gut. Dankbar betrachtet Lenny den 100 Jahre alten Brunnen, der ihm das Leben gerettet hat. Er war nach Josephine Shaw Lowell benannt. Und Josephine hatte bereits zu ihren Lebzeiten den Menschen beigestanden, die in Not waren. Sie war eine engagierte Sozialarbeiterin und New York hat ihr als erste Frau mit diesem Brunnen ein Denkmal gesetzt. Lenny entspannt sich ein wenig und lässt seinen Blick über den Bryant Park schweifen. Der Park ist zwar im Verhältnis zum Central Park verhältnismäßig klein aber dafür sehr zentral gelegen, im Herzen von Manhattan. Er ist beliebt bei den New Yorkern und wird für unzählige öffentliche Veranstaltungen genutzt. Im Winter gibt es eine große Eisfläche auf dem Rasen, auf der Einheimische, wie Touristen beim Eislaufen ausgelassen ihren Spaß haben. Im Hochsommer werden im Park jeden Montag auf einer riesigen öffentlichen Leinwand Filme gezeigt. Die New Yorker machen auch aus dieser Gelegenheit ein Happening. Lenny war an einem dieser Filmabende mit seinen Eltern und seiner Schwester Mati. Sie saßen auf einer, auf dem Rasen ausgebreiteten Decke und genossen den warmen Sommerabend. Die Skyline, der den Bryant Park umschließenden Wolkenkratzer, war einzigartig. Wenn Lenny sich auf den Rücken legte, konnte er einen wunderbaren Sternenhimmel genießen. Lenny erinnert sich, dass sie an diesem Abend den Film „König der Fischer“ gesehen hatten. Zwei großartige Schauspieler brillierten in dieser Geschichte, die natürlich in seiner wunderbaren Heimatstadt New York handelte. Jeff Bridges spielte den überheblichen Radiomoderator auf seinem Weg der Selbstfindung und Robin Williams den verrückt gewordenen, gefallenen Engel, der als Bettler auf der Suche nach dem heiligen Gral den Central Park durchstreift. Lenny hatte sich den Film immer und immer wieder mit seinem Vater angeschaut. Sie waren beide Film-Freaks und zelebrierten gemeinsam die häuslichen Filmabende. Während sich seine Mutter und Mati das „Supermodel“ reinzogen, lagen er und sein Vater im Schlafzimmer auf dem Bett und schauten stundenlang die Starwars-Reihe oder Quentin Tarantino Kultfilme. Aktuell hatten sie sich zum Ziel gesetzt, alle 23 James Bond Filme der Reihe nach zu konsumieren. Sie machten es sich zum Spaß, die Geheimagenten Sean Connery, Roger Moore, Timothy Dalton, Pierce Brosman und jetzt Daniel Craig an der Anzahl ihrer Gespielinnen und der Vielzahl ihrer beseitigten Kontrahenten zu messen.
Lenny ruft sich ins Gedächtnis, dass er noch immer in Gefahr ist. Eventuell war ihm die restliche Sippe der Vogelspinnen auf den Fersen und diese würden bald hier eintreffen. Ihnen würde sicher nicht gefallen, was er mit ihrem Artgenossen angestellt hatte. Am Ende des Bryant Parks grenzt die New Yorker Öffentliche Bibliothek. „Ich werde mich dort erst einmal in Sicherheit bringen, bis sich wieder Menschen auf der Straße zeigen“, denkt er bei sich. Mit einem Satz ist er wieder auf seinem metallicblauen Mountainbike und folgt dem Kiesweg, der um den großen, rechteckig angelegten, grünen Rasen herumführt. Er muss mehreren Klappstühlen ausweichen, die hier und da zum Platz nehmen einladen, nun aber auf dem Kiesweg kreuz und quer den Weg versperren. Er kommt an einem der vielen Denkmäler vorbei, die hier im Park eine Heimstatt gefunden haben. Lenny nickt dem Freiherrn von Goethe aufmunternd zu. „Die Leiden des jungen Lenny werden ein positives Ende finden, darauf kannst Du wetten.“ Johann Wolfgang zuckt mit keiner Wimper, als er an ihm vorbeifährt. An Lennys Ohr dringt Musik. Es ist eine französische Kabarett Melodie. Er folgt den verführerischen Klängen. Ein wunderschönes, altmodisches Kinderkarussell steht am rechten Rand des Parks unter grünen Platanen. Lennys Blick bleibt an den farbigen, hölzerner Pferdchen, Katzen und Hasen die sich ausgelassen im Kreise drehen, hängen. Blaue Schmetterlinge und Engelsgesichter sind am barocken Dach des Karussells angebracht. Kein Mensch ist zu sehen und trotzdem ist es hell erleuchtet und die Musik spielt ausgelassen. Die Szenerie ist traumhaft schön und doch bizarr. Lenny umrundet diesen Traum seiner Kindheit. Er erinnert sich, dass seine Eltern ihn früher nur unter Geschrei und vielen Tränen von den hölzernen Pferdchen herunterholen konnten. Lächelnd radelt er weiter. Er kommt zu einer Treppe, die zur Straße hinunterführt. Unten angelangt, hält er sich nach links. Er passiert das Bryant Park Hotel zu seiner rechten Seite. Viele New Yorker meinen, dass dieses, teils im gotischen, teils im Art-Deco- Stil erbaute Gebäude, eines der schönsten der Stadt sei. Als es jedoch 1924 erbaut wurde, waren viele Anwohner von dem schwarzen Monolith geschockt. Für diese muss es zu dieser Zeit wie ein unbekanntes, schwarzes Wesen aus dem All angemutet haben. Stanley Kubrick hatte 2001 in seinem Kult-Film „A Space Odyssey“ ebenso einen schwarzen überdimensionalen Monolith seinen Film-Urmenschen zur geistigen Verdauung vorgesetzt. Der Architekt Raymond Hood, der an der Beaux-Arts Schule in Paris studiert hatte, besänftigte jedoch das verwöhnte Auge der New Yorker mit goldenen Ornamenten und Verzierungen. Das Resultat war eine moderne gotische Kathedrale, die sich selbst hinter dem Empire State Building, in dessen raumnahen Schatten es steht, nicht verstecken musste.
Ein schrilles, metallisches Kreischen reißt Lenny aus seinen Gedanken. Er blickt über seine Schulter und was er sieht, lässt sein Herz fast stocken. Etwa 200 Meter hinter ihm, auf dem Americas Boulevard, registriert er eine Herde von Vogelspinnen. Sie haben ihn anscheinend ebenso entdeckt und heften sich nun an seine Fersen. „Gott, lass es nur ein Alptraum sein!“ entfährt es Lenny. Er steigt in die Pedalen seines Bikes und gibt seine letzten Kraftreserven.
Schon ist er an der Kreuzung zur 5th Avenue. Er springt nach links auf den Bürgersteig und radelt an der Vorderfront der NY Public Library entlang. Vor dem Haupteingang des imposanten, antiken, aus weißem Marmor erbauten Gebäudes thronen zwei überdimensionale, majestätische Löwen, bereit zum Sprung, um jeden unerwünschten Gast mit ihren Klauen zu zerreißen. Lenny kennt ihre Spitznamen. Die Namen „Geduld“ und „Tapferkeit“ hatten sie von einem der vielen New Yorker Bürgermeister bekommen. „Ja davon kann ich jetzt eine Menge gebrauchen“. Lenny schmeißt sein Mountainbike auf den Bürgersteig. Im Gebäude würde ihm das Rad nichts mehr bringen. Zu Fuß war er flinker und konnte sich schneller verstecken. Zwei Stufen auf einmal nehmend, springt er die breite Treppe empor. „Irgendwo in diesem riesigen neoklassizistischen Tempel wird sich für mich ein Unterschlupf finden.“ denkt sich Lenny. Die monumentale Eingangsfassade erinnert ihn an einen grandiosen Triumphbogen. Drei Rundbögen geben Raum für ebenso viele, große, schwere Eingangspforten. Ein prachtvoller Dachfries wird von korinthischen Säulen gestützt. Lenny erkennt dort oben die 6 Statuen, die Philosophie, Romantik, Religion, Poesie, Drama und Geschichte präsentieren sollen. Lenny erinnert sich, dass dieses riesige Marmorgebäude bereits anderen Hilfsbedürftigen Schutz geboten hat. Im Hollywoodstreifen „The Day After Tomorrow“ verstecken sich die Haupthelden des Streifen vor einem gewaltigen Schneesturm und überleben dort die Naturkatastrophe. „Bitte lass es noch einmal geschehen und beschütze mich vor diesen Monstern“ flüstert er leise.
Oben angekommen reißt er an einer der schweren, eichenen Pforten. Die Tür gibt nach und Lenny schiebt sich durch den engen Spalt, der sich ihm aufgetan hat. Er steht in einer riesigen Vorhalle. Romanische Rundbögen stützen die Treppen, die in die oberen Etagen führen. Vor sich sieht er ein Schild: Großer Lesesaal. „Egal wohin. Hauptsache weg.“ Lenny folgt dem Wegweiser. Die Tür zum Saal steht offen. Lenny übertritt die Schwelle und ihm bleibt der Mund offen stehen. Was er sieht, verschlägt ihm die Sprache. Wenn er einmal in New York studieren würde, dann wäre dieser prächtige Saal einer der Gründe dafür. „Welcher Student, welcher Forschende, welcher Schriftsteller würde nicht gern in dieser Kathedrale des Wissens die Zeit vergessen, um seiner Leidenschaft, seinem Wissendrang zu frönen.“ Das was er hier sieht, lässt Lenny beinahe poetisch werden. Der Saal zieht sich bis zu 100 Meter in die Tiefe. Lange Holztische mit messing-farbenen Leselampen erstrecken sich über den gesamten Innenraum. Große Rundbogenfenster auf der linken und rechten Seite des Raumes lassen ihn in einem warmen, goldenen Licht erstrahlen. Unter den Fensterfronten sind kilometerlange Bücherregale angebracht und laden den Besucher ein, wahllos ein Buch herauszunehmen und darin zu stöbern. Am beeindruckendsten jedoch ist die holzgetäfelte Decke, an deren Seiten in regelmäßigen Abständen kristallene Leuchter hängen. Drei imposante Deckengemälde geben dem Betrachter den Eindruck, den Himmel sehen zu können. Drohende Gewitterwolken ziehen sich hier zusammen. Und wirklich hat Lenny das Gefühl, dass die Geräusche, die er hinter seinem Rücken aus der Vorhalle hört, einen Showdown vorhersagen. Metallenes Kreischen und die Geräusche von Dutzenden von Besen, die auf dem Boden kratzen, erinnern Lenny daran, dass seine Verfolger vorhaben, ihn samt Haut und Haaren zu verspeisen. Lenny rennt den Gang entlang, der sich zwischen den Tischreihen bis zum Ende des Saales erstreckt. Dort sieht er einen lang gezogenen, hölzernen Ausgabetresen. Er hat das linke Ende des Holztresens erreicht, als er plötzlich von einem starken Arm unter den Tisch gezogen wird. Lenny will schreien, aber eine weitere Hand hält ihm gerade noch den Mund zu.
„Das ging ja noch einmal gut.“ flüstert der Typ, der ihn gerade gerettet hat. Lenny schaut ihn sich genauer an. Der Junge scheint in seinem Alter zu sein. Er hat ein paar coole aber zusammen gewürfelte Klamotten an. „Wie hast Du Dir denn die Typen eingetreten, die sind ja voll scheußlich. Na ja, Du scheinst etwas ausgefressen zu haben. Der Kanzler Crow hat scheinbar einen Kieker auf Dich. Aber mach Dir nichts draus. Ich gehe den Jungs auch aus dem Weg. Ich heiße übrigens Kanaj und wie ist Dein Name?“ fragt er. „Ich bin Lenny.“ antwortet dieser, immer noch heftig atmend. „OK und woher kommst Du?“ „Von hier aus New York City“, erklärt Lenny. Wir wohnen gleich um die Ecke in der Nähe vom Central Park. Aber das passt alles nicht zusammen. Ich habe mich irgendwie verirrt. Vorhin habe ich noch im Madison Square Garden Basketball gespielt. Und plötzlich bin ich in der Nacht auf den Stufen des Central Post Office aufgewacht.“
„Da sind wir ja fast Nachbarn. Ich wohne mit meinen Kumpels auch beim Central Park in der Upper West Site. Jetzt müssen wir aber erst einmal diese Monster loswerden.“ Kanaj zuckt mit den Schultern. „Aber das sollten wir hinbekommen. Meiner Meinung nach, sind das Kroks.“ „Was sind Kroks?“ fragt Lenny verwundert. „Die Kroks sind die Hilfstruppen des Kanzlers“ erklärt Kanaj. „Das ist der Typ, der aktuell in New York das Sagen hat. Aber zu dem Kapitel kommen wir später. Der Kanzler, wir nennen ihn aufgrund seiner schnabelartigen Nase nur die Krähe, macht sich die Ängste der Menschen zu nutzen. Er spürt, was Deine tiefsten Ängste sind und lässt Wesen erstehen, die Dich mit Deinem eigenen Grauen und Entsetzen konfrontieren. Er blockiert Dich damit und entzieht Dir Deine Energie und Kraft.
Es gibt nur wenige Menschen, die sich gegen die Kroks zur Wehr setzen und noch weniger, die bereits ihre Kroks besiegt haben. Jeder Mensch hat andere Ängste und daher hat auch jeder seine eigenen, persönlichen Kroks, mit denen er zu kämpfen hat. Kanaj erklärt Lenny weiter, dass es wichtig ist, sich seiner Ängste bewusst zu werden. Aufkommende Ängste schwächen extrem das eigene Energiepotential. Sie saugen einem die Kraft aus dem Körper. Ängste lähmen Dich. Und darauf bauen die Kroks. Ihr Anblick erzeugt bei Dir diese überdimensionale Angst. Das Gift der Angst dringt erst in Deine Gedanken, dann in Deine Gefühle und später blockiert es, wie bei dem Gift der Schlange, Deinen ganzen Körper. Du bist unfähig, Deine Potentiale, Deine Stärke abzurufen. Du bist in diesem Augenblick schwach und besiegbar. Der Krähe weiß genau, dass er ängstliche Menschen besser kontrollieren kann. Die Angst ist der Schatten der Krähe, des Negativen, der sich auf Deine Seele legt. Ängste sind keine Realität und die wenigsten werden Wirklichkeit in unserem Leben. Leben wir jedoch in einem ständigen Zustand der Angst, dann ziehen wir das Negative, das, was wir nicht wollen, in unser Leben. Der Kanzler Crow und die Kroks dominieren uns, weil wir sie mit der Angst in unser Leben lassen. Angst ist negative Energie, die sich über unsere Gedanken in unseren Geist einschleicht und sich in unseren Gefühlen manifestiert. „Wie ist es bei Dir Lenny, wie oft beschäftigst Du Dich mit Ängsten.“ fragt Kanaj. „Hast Du Angst, vor der nächsten Klassenarbeit in der Schule, weil Du vielleicht nicht gelernt hast. Hast Du eventuell Angst, dass Dein bester Freund nicht mehr zu Dir hält, dass er sich eventuell von Dir abwenden könnte. Hast Du Angst davor, dass sich manchmal andere Kinder über Dich lustig machen könnten. Wenn Du all diese Ängste annimmst, machst Du Dich kleiner, als Du bist. Du wirst immer so leben und handeln, um Ängste zu vermeiden. Sie werden Deine wirklichen Potentiale blockieren. Sie verhindern, dass Du wirklich glücklich und zufrieden bist. Mit der Angst auf dem Rücken, mit dieser Last wirst Du nie dauerhaft Erfolge in Deinem Leben erzielen. Daher gibt es, wenn Du dies erkannt hast, nur einen Weg für Dich. Du wirst Dich ein für alle Mal entscheiden und Dich von der Angst in Deinem Leben verabschieden. Die Angst und Du selbst werden getrennte Wege gehen. Du wirst ihr ab sofort nicht mehr gestatten, bei Dir zu verweilen. Die Angst ist es nicht wert, in Deinem Leben einen Platz zu finden. Sie ist ein Parasit, ein Blut- bzw. Energiesauger. Sie ernährt sich von Dir. Sie wird stark, wenn Du dadurch schwächer wirst.“
Lenny ist nachdenklich geworden. Ja es stimmt. Die Angst hatte ihn schon immer begleitet. Und er hatte oft den Schutz seines Vaters gesucht. Als Baby hatte er gern auf der Brust seines Vaters geschlafen. Dann fühlte er sich sicher und geborgen. Viele Dinge in der Außenwelt hatten ihn immer etwas erschreckt und er hatte immer einen großen Respekt vor jedem neuen Schritt in seinem Leben gehabt.
Kanaj legt die Hand auf Lennys Schulter. „Ich werde Dir verraten, wie Du ab sofort mit der Angst umgehen kannst. Wichtig ist schon einmal, dass Du Dir Deiner Angst bewusst bist. Du weist, dass sie für Dich nicht gut ist. Und das ist der Anfang vom Ende der Angst.
Das positive Gegenstück der Angst ist die Aufmerksamkeit, die bewusste VorSICHT. Wir schauen voraus, auf unseren Lebens-Weg und berechnen vorab, welche Gefahren auf uns lauern und wie wir diese meistern werden. Unsere 6 Sinne reagieren intuitiv bewusst, auch wenn unser Geist sich auf Abwegen befindet. Bewusstheit und Aufmerksamkeit sind unser positiver Filter. Er erkennt unbewusste Ängste und stellt diese in unseren Focus. Dieser Filter erlaubt ihnen nicht, unbemerkt in unsere Gefühle vorzudringen. Wir erkennen, was sich hinter der Angst verbirgt und überlegen uns, welchen positiven Wunsch wir dem entgegenstellen, was wir wirklich für unser Lebensglück möchten. Wir manifestieren diesen Wunsch mit unserem starken positiven Glauben. Und dann entwickeln wir eine Strategie, eine Idee, wie wir unserem Wunsch näher kommen. Durch Wünschen, Glauben, Handeln ziehen wir bewusst das in unser Leben, was uns gut tut.
Kanaj fährt in flüsterndem Ton fort: „Lenny, ich gebe Dir eine einfache Regel mit auf den Weg. Wenn Du vor etwas Angst hast, dann tue es. Überlege, ob die Angst berechtigt ist, ob Du Dich gefährlich verletzen könntest, oder ob sie Dich Dein Leben kosten könnte. Dann verneige Dich mit Respekt und gehe der Gefahr aus dem Weg. Wenn Du jedoch nur blaue Flecken davon tragen wirst, dann trete der Angst unbedingt entgegen. Es ist wichtig, sich jeder seiner Ängste zu stellen. Natürlich bist Du aufgeregt, wenn Du etwas Wichtiges vor Dir hast. Jeder Mensch ist aufgeregt. Das ist auch gut so. Das Adrenalin in Deinen Adern, der erhöhte Puls setzt Dich in die Bereitschaft, alles zu geben. Also stelle Dich immer Deiner Angst. Finde Wege mit ihr umzugehen. Wenn Du ein Angstgefühl hast, dann stelle Dich dieser Angst. Trete ihr entgegen. Und tue genau das, wovor Du Angst hast. Du wirst sehen, dass Du sie besiegen wirst. Die Angst wird sich durch Dein bewusstes Denken und Handeln in NICHTS auflösen, denn sie ist NICHTS. Sie ist nur ein Hirngespinst. Jede Angst, die Du persönlich besiegt hast, wird Dich stärker machen. Mutig ist nicht der, der keine Angst hat, sondern vor allem der, der seine Angst zu überwinden weiß und es tut.
Wenn Du von nun ab einen hässlichen Krok siehst, dann weist Du, dass es nur eine Angstgestalt, ein Phantasiebild ist. Lasse nicht zu, dass der Krok sich vermehrt und weitere Ängste zu Hilfe ruft. Fixiere ihn und stelle ihn zum Kampf. Lasse keine Gefühle der Angst zu. Bündele Deine positive Energie. Erfülle Deinen Geist damit, dass Du ihn besiegen möchtest. Sei stark und fest in diesem Glauben. Blicke ihm fest in die blutunterlaufenen Augen. Bleibe ruhig, konzentriert und bewusst. Unerwartet schnell wird er sich in schwarzen Rauch, in NICHTS auflösen.“
Kanaj hat eine Pause eingelegt. „So und nun werden wir sehen, ob Du schon etwas gelernt hast. Jetzt bist Du an der Reihe.“ „Was soll ich tun?“ fragt Lenny verdutzt. „Du willst doch nicht etwa, dass ich jetzt aufstehe und mich der Horde der Spinnenwesen stelle? Das kannst Du vergessen! Die werden mich in Stücke zerreißen und genüsslich verspeisen.“ „Los jetzt!“ reagiert Kanaj bestimmt. „Ich habe keine Lust, mich hier ewig zu verbarrikadieren. Wenn Du in eine Zwickmühle gerätst, werde ich Dir helfen.“ Lenny erhebt sich zögerlich und späht über den Tresen in den Lesesaal hinein. Was er sieht, lässt seinen Mut sinken. Mehr als 20 Vogelspinnen kriechen im Saal zwischen den Tischen herum. Weitere quellen durch die Eingangstür in den Raum. „Was hat Kanaj gesagt: „Wenn Du Angst hast, vermehren sich die Kroks umso mehr.“ Lenny beginnt, sich auf seine Angst zu konzentrieren. Er spürt sie tief in seiner Bauchgegend. Seine Aufmerksamkeit gilt seinen Gefühlen, die tief in ihm sitzen und seinen Magen zu einem Klumpen zusammenschnüren. Durch seine Konzentration auf die Angst selbst und ihre Auswirkungen auf seinen Körper, durch die reine Beobachtung der Situation spürt er, wie plötzlich seine Panik nachlässt. Die Angst, das Grauen scheinen unreal und unwichtig. Lenny spürt, wie sich der Energieschub reduziert und der Angstlevel sich allmählich verringert. Er steht hinter dem Tresen auf und hat plötzlich keine Hemmung mehr, auf die Kroks zuzugehen. Diese verharren und scharren unsicher mit den Spinnenbeinen. Nein sie weichen sogar zurück. Lenny nimmt ein Spinnenwesen ins Visier und fixiert es. Die blutunterlaufenen, giftgelben Raubtieraugen starren ihn hasserfüllt an. Nach wenigen Sekunden wirkt es jedoch irritiert und blinzelt. Schritt für Schritt reduziert Lenny den Abstand zu dem Ungeheuer. Als ihn nur wenige Meter von dem Monster trennen, gibt es ein Zischen und Lenny ist samt Vogelspinne in eine graue Rauchwolke gehüllt. Als sich die Rauchschwaden auflösen, ist die Vogelspinne verschwunden. Weitere Spinnen beginnen, wie Silvesterknaller, zu explodieren. Lenny spürt einen eigenartigen Geruch in der Luft. „Oh, denkt er, das riecht, wie ein Angstpups.“ Unwillkürlich muss er grinsen und das gibt auch der letzten Vogelspinne den Rest, die sich in eine graue Wolke auflöst. „Gut gemacht!“ Kanaj taucht applaudierend hinter dem Ausgabetresen auf. „Du hast Deine Lektion gelernt. Das muss man Dir lassen.“ Er kommt auf Lenny zu und klopft ihm anerkennend auf die Schulter.
„Aber weißt Du was, ich habe Hunger. Wir gehen zu mir und ich stelle Dich meinen Kumpels vor. Und dann schauen wir weiter, wie wir Dir helfen können.“ „Können wir vielleicht erst noch einmal kurz bei mir zu Hause vorbeischauen. Wir wohnen in der Upper West Side. Ich möchte mich vergewissern, dass es meiner Familie gut geht.“ „Klar, kein Thema.“ Dabei grinst Kanaj ihn aufmunternd an.
Als Kanaj und Lenny durch den Haupteingang der NY Public Library ins Freie treten, hat der Tag begonnen. Die Straßen haben sich bereits mit Menschen gefüllt und auf der 5th Avenue herrscht ein reges Treiben. Kanaj führt seinen neuen Freund zu einem Parkhaus in einer der Seitenstraßen. „Warte hier. Ich hole den Feuervogel.“ Und schon ist Kanaj im Gebäude verschwunden. „Ein Feuervogel“ denkt Lenny „Auf Fliegen habe ich jetzt überhaupt keine Lust. Mein Magen hatte schon genug, in der letzten Zeit zu verdauen.“
Nach wenigen Minuten nimmt er ein ohrenbetäubendes Dröhnen wahr, das aus dem Parkhaus dringt. Lenny hat das Gefühl, dass eine riesige Herde Büffel ihn gleich auf die Hörner nehmen wird. Er schafft es gerade noch, zur Seite zu springen. Und dann kommt mit quietschenden Reifen ein ultraroter Sportwagen vor ihm zum Stehen. Ein riesiger Feuervogel mit ausgebreiteten Schwingen prangt auf der Motorhaube. Lenny verschlägt es die Sprache. Der Traum seiner Kindheit steht leibhaftig vor ihm. Es ist ein Pontiac Firebird Trans AM Baujahr 1972. Die röhrenden Büffel sind ein V8 Motor mit 285 PS, der es in der Spitze auf 201 Kilometer in der Stunde bringt. Für Lenny ist der Pontiac Firebird immer der amerikanische Sportwagen schlechthin. Kein anderes Musclecar, weder der Ford Mustang noch ein Camaro konnten es mit ihm aufnehmen. Bisher hatte er einen 72ziger Firebird nur selten zu Gesicht bekommen. Dieser Traum von einem Auto war immer sein ganz besonderer Trumpf im Sportwagen-Quartettspiel. Kanaj sitzt grinsend hinter dem Lenkrad. Er ragt kaum über das Lenkrad, kommt sich jedoch anscheinend wie ein ganz Großer vor. „Steig ein Lenny. Wir machen eine Spritztour zum Central Park.“ Kanaj lässt den Motor aufbrüllen und Lenny beeilt sich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Er kann es noch immer nicht fassen. Seine Hände streicheln zärtlich über das rote Leder der Sitzbank. Kanaj lässt die Kupplung springen und mit einem Satz springt der Feuervogel aus der Ausfahrt des Parkhauses. Lenny wird in seinen Sitz gedrückt. Schon schnellen sie auf die Straße. Kanaj reißt den Wagen herum. Er biegt von der Seitenstraße in die 5th Avenue nach Norden ein. Sie lassen die NY Public Library und den Alptraum der Vogelspinnen links liegen.
Kanaj fährt rasant. Er weicht geschickt langsamer fahrenden Fahrzeugen aus. Lenny fragt sich, wie sein neuer Freund sich einen solchen Sportwagen leisten kann. Als hätte Kanaj seine Gedanken gelesen, redet er drauflos: „Den Flitzer habe ich mir von einem reichen Schnösel ausgeborgt. Wenn die U-Bahn mal nicht fährt, braucht man halt einen schnellen fahrbaren Untersatz.“ „Weißt Du eigentlich, was der Pontiac wert ist.“ entfährt es Lenny. Kanaj zuckt nur die Schultern. „Pontiac … ist das nicht eine Stadt bei den großen Seen in der Gegend von Detroit?!“ Aus Lenny sprudelt es heraus: „Nicht nur eine Stadt, das ist der Name eines Indianerhäuptlings, der sich in den Kolonialkriegen gegen die Briten zur Wehr gesetzt hat. Er hat den „Pontiac Aufstand“ angezettelt. Deswegen wurde auch der Pontiac immer als „Der Häuptling unter den Sechszylindern genannt.“
Sie passieren gerade an der 49.Strasse das Rockefeller Center. Eine Straße weiter liegt auf der rechten Seite die St. Patricks Kathedrale, die größte neugotische Kathedrale in den USA. Da sieht Lenny aus den Augenwinkeln in der Nebenstraße einen Polizeiwagen. Der rasante, rote Sportwagen hat die Cops sofort gereizt. Sie sehen rot, werfen die Sirenen an und sind ihnen bereits auf den Fersen. Kanaj wirft einen Blick in den Rückspiegel: „Also F.I.T.T. dann zeigen wir ihnen einmal, was wir können.“ „F.I.T.T. – Was ist das nun schon wieder.“ entfährt es Lenny verdutzt. „FIrebird Twothousend Two – ist Kanaj‘s knappe Antwort. „Aber jetzt sei still. F.I.T.T. ist äußerst sensibel. Er muss sich konzentrieren.“ Mit diesen Worten drückt er einen gelben Knopf am Armaturenbrett. Kanaj spricht mit autoritärer, ungewohnt befehlsgewohnter Stimme „F.I.T.T.!“ Daraufhin ertönt eine tiefe, blecherne Stimme aus dem Motorraum „Ja Kanaj!“ „Bring uns zum San Remo, Central Park West, Ecke 74.Strasse. und zwar schnell!“ Daraufhin drückt er einen zweiten Knopf mit den Buchstaben „TB“. Der Sportwagen wird nach vorn geschleudert und verdoppelt seine Geschwindigkeit. Lenny schaut aus dem Rückfenster. Der Streifenwagen wird kleiner und kleiner, bis er komplett aus der Sicht verschwunden ist. „TB = Turbo Boost“ entfährt es Lenny aufgeregt. Er sieht in Gedanken einen Mann vor sich, mit einem breiten Grinsen, brünetter Dauerwelle, schwarzer Lederjacke, offenem Hemd, aus dem das Brusthaar quillt. „Oh Mann, bist Du es David?!“ Kanaj schaut sich besorgt zu ihm um: „Alles klar mit Dir?“ Lenny kann nicht mehr an sich halten: „ Wenn der Wagen nicht rot, sondern schwarz wäre, würde ich denken, Du bist David Hasselhoff, das Hollywood Idol der 80er. Mein Vater trug zu dieser Zeit auch eine Dauerwelle. Kaum zu glauben aber ich habe den Beweis auf einigen Fotos selbst sehen können.“
Inzwischen haben sie die 58. Straße passiert. Vor ihnen liegt der Grand Army Plaza mit dem altehrwürdigen Crown Plaza Hotel. Hier ist auch die südliche Begrenzung des Central Parks. Kanaj fährt weiter nach Norden die 5th Avenue hinauf. Sie befinden sich jetzt am östlichen Rand des Central Park. Auf diesem Abschnitt ist sie auch als Museums Meile bekannt. Rechts bzw. jetzt südlich von ihnen liegt das Metropolitan Museum of Art. Nördlich befindet sich neben dem National Academy Museum, der Neuen Galerie und dem Copper Hewitt Design Museum das S.R. Guggenheim Museum. Kanaj hat den Pontiac entschleunigt und sucht nach einem Parkplatz, den er nach wenigen Metern auch findet. Kanaj und Lenny bleiben im Auto sitzen und beobachten in Ruhe ihre Umgebung. Lenny fällt sofort das riesige, weiße, auf den ersten Blick etwas unförmige Gebäude auf, das sich nur wenige 100 Meter von ihrem jetzigen Standort breit macht. Es sieht danach aus, als ob eine riesige Schnecke hier an der 5th Avenue gerade ihr Mittagsschläfchen machen würde. Es ist das Guggenheim-Museum. Als Lenny das weiße, architektonisch äußerst auffällige Gebäude betrachtet, muss er an den Ausspruch eines Kritikers denken, der bei seiner Fertiggestellung gesagt hatte: „Ein Gebäude, das in einem Museum ausgestellt werden sollte, um zu zeigen, wie verrückt das 20. Jahrhundert ist.“ Es gab bei seiner Eröffnung 1959 viele Kritiker. Diese meinten, dass ein Museum die Kunstwerke, die es ausstellt, hervorheben und im sprichwörtlich besten Licht darstellen und keineswegs diesen durch seine Einzigartigkeit die Show stehlen sollte. Viele meinten sogar, dass es beim Guggenheim Museum einen Krieg zwischen dem Bauwerk und den Ausstellungsstücken geben würde. Der Architekt Frank Lloyd Wright war zu seinen Lebzeiten bereits eine Legende. Mit dem Guggenheim Museum erreichte er den Zenit seines Schaffens und setzte sich und seinem Namen ein einzigartiges Denkmal. Hilla von Rebay, die damalige Vorsitzende der Guggenheim Stiftung suchte für die Realisierung des Bauprojektes einen einzigartigen Künstler mit Visionen. Das zukünftige Museum sollte vor allem die Kunst der Moderne beherbergen. Viele Werke der abstrakten Malerei, des Expressionismus, des Impressionismus und des Surrealismus warteten darauf, eine angemessene Heimstadt zu finden. Sie schrieb an Frank Lloyd Wright einen werbenden Brief und begründete ihre Entscheidung mit intensiven Worten: „Ich brauche einen Kämpfer, einen Liebhaber des Raumes, einen Agitator, einen Prüfer und weisen Mann ... Ich möchte einen Tempel des Geistes, ein Monument“. Wright hatte bei der Verwirklichung des Projektes wahrlich zu kämpfen. Allein die Baubehörde listete 32 Mängel am ursprünglichen Entwurf auf. Die Öffentlichkeit zog seine Pläne durch den Kakao, die Kunstwelt diskutierte kontrovers und selbst Hilla von Rebay griff in die Planung ein und änderte die Außenfarbe von Rot in Weiß.
Lenny mustert das Gebäude und er hat den Eindruck, dass die gesamte Architektur aus einer Ansammlung von geometrischen Formen besteht. Wenn er genauer hinsieht, entdeckt er überall Kreise, Dreiecke, Ovale, Quadrate, Bögen. Besonders auffällig ist der kreisförmige Turm, der wie ein sich nach unten verjüngender, in Scheiben geschnittener Kegel aussieht. Für Lenny ist dieses Museum erneut ein Beispiel, dass die Architektur nicht reines „Bauen“ und das schlichte Errichten von Häusern oder anderen Bauwerken ist, sondern eine wahrhafte Kunstform. Der Architekt setzte sich mit dem „gebauten Raum“ auseinander. Das Bauwerk hat oft technische, funktionale, wirtschaftliche, politische, repräsentative Aufgaben zu erfüllen. Letztlich kommt der Architektur jedoch immer eine ästhetische, Harmonie schaffende, ganzheitliche Rolle zu. Leon Battista Alberti, ein Architekt und Bautheoretiker der Renaissance definierte die Architektur als „Harmonie und Einklang aller Teile, die so erreicht wird, dass nichts weggenommen, zugefügt oder verändert werden könnte, ohne das Ganze zu zerstören.“
Der Kreis war dabei für die Architektur schon immer der harmonischste, der perfekte Raum. Auch beim Guggenheim Museum hatte der Architekt auf die Form der Rotunde, des Kreises zurückgegriffen, um den vollkommenen Raum zu erschaffen. Die Rotunde war eine der klassischen Formen der Architektur und Lenny war immer wieder erstaunt, wo er den perfekten Kreis überall wieder fand. Eines der ersten Werke und immer wieder Vorbild für Bauwerke in den zurückliegenden Jahrhunderten war das Pantheon in Rom, das als antiker Tempel errichtet und später zur christlichen Kirche umfunktioniert wurde. Etwa 120 n. Christus von Kaiser Hadrian erbaut, hatte das Pantheon für nahezu 1700 Jahre die größte Kuppel der Welt. Die Rotunde, der überwölbte, kreisförmige Innenraum misst ganze 43 Meter. Architekten nachfolgender Baustile, wie der Renaissance, des Barock, des Klassizismus aber auch der Moderne zitierten die Formen der griechischen und römischen Antike und damit oft die Rotunde. Viele christliche Kirchen wiesen später eine Rotunde auf, so der Petersdom in Rom, die Karlskirche in Wien, die Hagia Sophia einst byzantinische Kirche, jetzt Moschee. Politisch, repräsentative Bauwerke, wie das Capitol in Washington, Museen, wie das Alte Museum in Berlin, die Pinakothek der Moderne in München, das Guggenheim in New York weisen mit der antiken Rotunde auf ihre demokratischen, antiken Wurzeln hin.
Während Lenny in Gedanken versunken, das Museumsgebäude betrachtet, schwebt ein farbiges, flatterndes, kleines Wesen in seine Blickrichtung. Lenny fokussiert seinen Blick und erkennt einen wunderschönen, gelb-schwarzen Schmetterling, der sich gerade auf der Motorhaube des Pontiac, genau auf der Airbrush-Malerei des Feuervogels niederlässt. Es ist ein eleganter Schwalbenschwanz. Er öffnet wie zum Gruß seine gelb-schwarz-gemusterten, prachtvollen Schwingen und Lenny hat das Gefühl, dass die roten Augenflecken auf seinen Flügeln ihn direkt anblicken. Es ist nur ein kurz währendes Gefühl, das Lenny innerlich berührt und seine Intuition weckt. Aber nach wenigen Sekunden erhebt sich das wunderbare Geschöpf und flattert in Richtung des Guggenheim wieder davon.
Kanaj legt in diesem Augenblick die Hand auf Lennys Schulter: „Ist Dir etwas an dem Gebäude aufgefallen?“ Lenny war so mit der Architektur des Guggenheim-Museums beschäftigt, dass er bisher noch gar nicht dazu gekommen ist, auf Besonderheiten oder Veränderungen zu achten. Als ihn jedoch jetzt Kanaj direkt darauf anspricht, fällt ihm auf, dass diesmal vor dem Museum keine endlos lange Besucherschlange zu sehen ist. Stattdessen ist vor dem Eingang ein Trupp von Männern in roten Umhängen postiert. Kanaj erklärt die Situation: „Das sind die Elitetruppen des Kanzlers.“ Lenny ist erstaunt: „Was machen die den hier vor dem Guggenheim-Museum?!“ „Das wissen wir auch nicht.“ antwortet Kanaj. „Wir glauben, dass die Krähe das Museum umfunktioniert hat und nun etwas sehr Wertvolles dort aufbewahrt. Der Kanzler Crow hat eine Reihe von Museen in New York geschlossen. Sein Presse-Minister hat verkünden lassen, dass die sogenannte moderne Kunst abartig sei. Künstler der Pop Art, wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein, des Expressionismus oder der Kitschkunst eines Jeff Koons sind auf dem Index und sie wurden aus den Museen entfernt. Und er hat Filme, Theaterstücke und Musicals verboten, die in irgendeiner Form sexistisch, anzüglich erscheinen und ein Stück nackte Haut zeigen. Stattdessen installierte er im Museum of Modern Art eine Sonderausstellung, mit der, von der Krähe bevorzugten Kunst. Sie zeigt realistisch dargestellte, schöne Menschen, die Freude an der Arbeit haben. Sie ziehen hinter der Fahne des Kanzlers Crow mit einem strahlenden Lächeln in den Krieg und fallen dort heroisch. Alle Kunst, die in der Vergangenheit einen patriotischen Inhalt hatte, durfte bei der Sonderausstellung ausgestellt werden. Lenny muss daran denken, dass jede Kunst auch immer Ausdruck des vorherrschenden gesellschaftlichen Systems war und ist. Gern wurde die Kunst auch von den jeweiligen Machthabern instrumentalisiert.
Kanaj hat den Pontiac wieder aus der Parknische heraus manövriert und beschleunigt ihn nun. Nach wenigen Minuten befinden sie sich südlich vom Central Park auf der Central Park South. Sie erreichen den Columbus Circle, die südwestlichste Ecke des großen Parks. Inzwischen lässt Kanaj den Wagen langsamer fahren. „Hier sollten wir nicht auffallen. Gleich um die Ecke liegt das YMCA, unser Versteck und Unterschlupf.“ Er fährt die Central Park West einige Straßen nach Norden und bringt den Pontiac dann in einer Seitenstraße zum Stehen. „Den Rest des Weges zum San Remo nehmen wir zu Fuß.“ Kanaj und Lenny verlassen den Wagen. Es ist die 66.Straße auf der westlichen Seite des Central Park. Sie überqueren die Central Park West und laufen auf dem Fußweg nach Norden. Lenny merkt, wie er innerlich ruhiger wird. Hier am Park ist seine Heimat. Er liebt die vielen Bäume, ihre Ruhe und die Energie, die sie ausstrahlen. Der Park ist eine Oase in der Hektik New Yorks. Lenny ist hier aufgewachsen. Wie viele Sonntage hat er mit seinen Eltern und später mit seiner Schwester Mati auf der großen Liegewiese Fußball gespielt. Mit Freunden hatten sie sich hier immer und immer wieder zum Picknick getroffen. Letztes Jahr durfte er mit Mati bereits allein auf dem Lake mit einem Boot herumpaddeln. Mit seinem Vater ging er 2-3 mal die Woche, wie viele New Yorker, zum Joggen um den großen See, der nach Jackie Kennedy benannte worden war. Auch Jackie war hier oft joggen gegangen. Die Strecke um den See war 2,5 km lang und Lenny hatte mit seinem Vater schon einmal 3 Runden gemeinsam geschafft.
Gerade passieren sie auf der linken Seite das Dakota Apartment Haus. Lenny muss dabei unwillkürlich an den berühmten Nachbarn denken, der hier mit seiner japanischen Frau gewohnt hatte. John Lennon lebte im Dakota 7 Jahre, mit kurzer Unterbrechung, dem „Lost Weekend“, das er aufgrund einer zeitweiligen Trennung von Yoko Ono in Los Angeles verbrachte. Lennon liebte New York. „An jeder Straßenecke hätte er sich neu verliebt, in diese hastige, dynamische Stadt.“ so ähnlich hatte sich John einmal in einem Zeitungsinterview geäußert. Demgegenüber stand seine Abneigung gegen den US-Staat, der von 1960 ab, über 13 Jahre Napalm und Tod in Vietnam verbreitete. 2 Millionen Menschen, davon 58.000 US-amerikanische Soldaten starben in diesem sinnlosen Krieg. Der damalige US-Präsident Nixon beauftragte das FBI, die staatsfeindlichen Aktivitäten John Lennons zu beobachten. Als John Lennon und Yoko Ono 1969 heirateten, nutzen sie ihre Flitterwochen, um bei einem „Bed-In“ Happening in einem Amsterdamer Hotel die ganze Welt auf den Krieg in Vietnam aufmerksam zu machen. Bei einer solchen Gelegenheit entstand auch ihre Friedens-Hymne „Give peace a chance“. Im selben Jahr organisierten sie eine weltweite Posterkampagne. Die schwarze Schrift auf weißem Hintergrund provozierte und forderte zum Handeln und Verweigern auf: „WAR IS OVER! IF YOU WANT IT Happy Christmas from John & Yoko”. Jahrelang führte John Lennon einen Prozess gegen den amerikanischen Staat, der ihn am liebsten losgeworden wäre. Lennon gewann nach 4 Jahren und erhielt seine Greencard. Was John Lennon besonders an New York mochte, war die Anonymität der Stadt. Hier wurde er nicht, wie früher, von kreischenden Teenies umringt und verfolgt. Er konnte ein Restaurant besuchen, ohne angesprochen zu werden. Anders war dies in der Nacht vom 8.Dezember 1980 um 22:50 Uhr, in der er mit vier Schüssen in den Rücken hier vor dem Dakota von einem verbitterten, ruhmsüchtigen „Fan“, Mark David Chapman, niedergeschossen wurde. Wenige Stunden zuvor hatte sich Chapman an der gleichen Stelle von John Lennon noch eine Schallplatte signieren lassen. Ein Tourist machte zufällig ein Foto und es war das letzte Foto von Lennon. Es zeigt Attentäter und Opfer auf einem Bild. Seit dieser Zeit setzt sich seine Ehefrau auch für das Verbot von Waffen in den USA ein. 1981 und dann erneut 2013 veröffentlichte die Aktionskünstlerin ein Bild von John Lennons blutverschmierter Brille vor dem Fenster ihres Appartements mit Blick auf den Central Park. Dazu schrieb sie: „Über 1.057.000 Menschen starben in den USA durch Waffengewalt, seit John Lennon am 8. Dezember 1980 erschossen wurde.“ „Warum geben die Menschen dem Frieden keine Chance?“ muss Lenny denken. Er zieht Kanaj am Arm. „Komm, wir machen einen kleinen Umweg. Ich möchte Dir etwas zeigen.“ Lenny folgt ihm in den Park, unter die Bäume. Nur wenige Meter von der belebten Central Park West entfernt, bleibt er vor einem unscheinbaren, runden Mosaikbild, dass in den Fußweg eingelassen ist, stehen. In die weißen Steine ist das Wort „Imagine“ eingelassen. „Was bedeutet das?“ fragt Kanaj. Lenny schaut ihn erstaunt an. „Du kennst „John Lennon nicht?!“ Das hier ist sein Denkmal. Die Gegend hier im Central Park ist nach einem seiner bekanntesten Lieder in „Strawberry Fields“, die Erdbeerfelder umbenannt worden. „Wer war John Lennon?“ fragt Kanaj. Lenny überlegt kurz, wie er es seinem Freund am besten erklären kann, dann sagt er: „Er war ein Träumer.“ Und dann fügt er hinzu: „Und er war vor allem ein positiver Kämpfer, ein friedvoller Krieger.“
Lenny und Kanaj gehen beide in Gedanken verloren zur Straße zurück, als ihn Kanaj plötzlich zurückzieht. Sie bleiben im Schatten eines Baumes stehen. Auf der anderen Straßenseite sehen sie den Eingang des Apartmenthauses Nr.145. Es ist das San Remo, in dem Lenny mit seiner Familie wohnt. Er war nur wenige Meter davon entfernt, endlich seine Mutter, seinen Vater und natürlich auch seine Schwester Mati in die Arme zu schließen. Seinen Namen erhielt das Gebäude von dem früheren Hotel gleichen Namens, das an dieser Stelle stand. Es ist durch seine beiden barocken Türme eines der auffälligsten Häuser rund um den Central Park. Im Fahrstuhl hatte Lenny immer wieder einmal berühmte Mitbewohner getroffen. Dustin Hoffman, Steven Spielberg oder sogar Bono gönnten ihm schon ein freundliches „Hallo“ und ein Lächeln. Was Lenny vor dem Eingang jedoch sieht, lässt ihn nichts Gutes ahnen. Die Männer in roten Umhängen sehen wie Wächter aus. Äußerlich sind keine Waffen zu sehen, aber sie haben die straffe Haltung von Soldaten. „Das sind die Elitetruppen der Krähe.“ raunt Kanaj ihm ins Ohr. „Die hat Crow geschickt, um Dich hier abzufangen. Die Kroks haben es nicht geschafft. Jetzt macht er ernst. Mit denen ist nicht zu spaßen. Die sind real und gefährlich.“ „Deine Eltern jetzt zu sehen, kannst Du Dir abschminken. Komm, wir gehen erst einmal zu mir. Das YMCA ist nicht weit von hier. Wir kommen wieder hierher, wenn sich die Situation beruhigt hat.“ Kanaj zieht ihn zurück in den Park.
Lenny merkt, wie sich ihm der Magen zusammenzieht. Er fühlt sich plötzlich innerlich leer. Eine tiefe Enttäuschung breitet sich lähmend in seinem Geist und in seinem Bauch, seinen Gefühlen aus. Kanaj legt seinem Freund den Arm um die Schulter. „Lass den Kopf nicht hängen. Komm mit. Wir gönnen uns eine Verschnaufpause. Ich zeige Dir meine Lieblingsstelle im Park.“ Kanaj führt ihn um den Lake, den zweitgrößten See des Central Park herum. Der See ist nicht so steril, wie das große Reservoir. Es gibt viele, von Bäumen überschattete Buchten und felsige Halbinseln, die in den See hineinreichen. Nach einigen Minuten verlassen sie den Hauptweg. Sie überqueren die Bankrock Bridge. Sie ist eine der kleineren, aus Eichenholz erbauten Brücken des Central Park. Lenny bewundert die schönen Ornamente und Verzierungen des Holzgeländers. Dann führt Kanaj ihn durch das Unterholz und sie erreichen das Ufer des Sees. Ein großer, rund geschliffener Granitfelsen ragt in den See und lädt zum Verweilen ein. Lenny ist verzaubert von diesem Ort. Mitten in der hektischen Großstadt ist dies eine kleine Oase der Ruhe und Harmonie. Kanaj erklärt „Ich komme öfter hierher, zum Meditieren.“ Sie setzen sich nebeneinander an den Rand des Sees. Das grüne Dach der Ahorn- und Eichenbäume hüllt sie ein. Vor ihnen spiegelt sich beruhigend der See und hinter dem Wald an Laubbäumen erhebt sich die prächtige Kulisse der New Yorker Skyline. Sie haben einen direkten Blick auf die Zwillingstürme des San Remo und können bis hinüber zu den Hochhäusern der South Side schauen. Kanaj und Lenny sitzen in Gedanken versunken nebeneinander. Keiner sagt ein Wort. Nach einigen Minuten beginnt Lenny zu reden. Oft geht es ihm besser, wenn er die Dinge, die ihn bedrücken, ausspricht, wenn er sie mit jemandem teilt, der ein offenes Ohr für ihn hat. Eigentlich sind es seine Mutter und sein Vater, mit denen er über alles reden kann, was ihn beschäftigt. Und er spürt, wie sehr sie ihm jetzt fehlen. „Kanaj, was ist, wenn ich meine Eltern nicht mehr wieder sehe. Vielleicht hat die Krähe sie längst verschleppt. Es geht ihnen sicher schlecht. Und was ist mit meiner Schwester. Ich habe Angst, dass ihnen allen etwas Furchtbares passiert ist.“ Lenny hat in diesem Augenblick schreckliche Bilder vor sich. Er sieht, wie die Schergen seinen Vater niederschlagen. Seine Schwester hängt weinend an seiner Mutter. Sie werden in einen schwarzen Minivan gezerrt.
Kanaj hört seinem Freund zu, ohne ihn zu unterbrechen. Aus Lenny sprudeln die Gefühle und Gedanken hervor. Kanaj weiß, dass man Anregungen von anderen Menschen, gut gemeinte Empfehlungen nur annimmt, wenn man bereit dafür ist. Und soweit ist man erst, wenn der letzte Rest von Traurigkeit und Empfindungen ihren Weg an die Oberfläche gefunden haben. Kanaj ist ein wirklich guter Zuhörer. Er ist konzentriert und aufmerksam. Von Zeit zu Zeit nickt er Lenny zu oder stellt eine Frage, die bestätigt, dass er voll bei der Sache ist. Er schenkt seinem Freund damit Zeit und Aufmerksamkeit, welche die wirklich großen und wichtigen Geschenke des Lebens sind. Langsam wird Lenny ruhiger. Die Pausen, die den anfänglichen Redeschwall unterbrechen, werden länger. „Lenny, ich weiß, dass die Situation schlimm für Dich ist und dass Du Angst um Deine Familie hast.“ beginnt Kanaj. Ich und meine Freunde werden Dir helfen, Deine Eltern wieder zu finden. Wir werden alles tun, was in unserem Einfluss und in unserer Macht steht. Du wirst sehen, dass wir eine positive Lösung finden werden. Ich möchte Dir an dieser Stelle etwas erklären, was wichtig ist, damit dies wirklich eintritt. Wir geraten in unserem Leben oft in Situationen, die wir nicht mögen, die nicht in unser Lebenskonzept passen. Viele Menschen neigen dazu, ihre gesamte Aufmerksamkeit, ihre Energie auf das zu richten, was ihnen gerade an Schlechtem passiert ist. Sie betrachten das Problem von allen Seiten, nehmen es auseinander, setzen es wieder zusammen. Sie beschäftigen nicht nur ihren Geist mit der negativen Situation, sondern mobilisieren alle ihre Gefühle und richten diese auf das Geschehene. Sie bemerken jedoch nicht, dass sie damit ihr gesamtes Energiepotential auf das negative Ereignis richten. Sie laden sich und ihre Umwelt negativ auf. Und daher ist es nur selbstverständlich, dass diese eigene negative Energie gleiche, negative Energie anzieht. Gleiches zieht Gleiches magisch an. Oft werden die Betroffenen auch in ihrer Kommunikation und ihrem Handeln negativ. Sie fühlen sich als Opfer und beschuldigen eventuell ihre Umwelt, Schuld zu sein. Sie meinen, sich verteidigen zu müssen. Dabei werden sie jedoch selbst zu Angreifern. Sie schreien, sie weinen, sie werfen vor. Solange wir in uns diese negative Energie produzieren und aufrechterhalten, haben wir einen negativen Energiekreis um uns herum aufgebaut. Wir stoßen die Menschen, die wir lieben, ab. Sie werden sich von uns entfernen und wir erreichen damit genau das Gegenteil, was wir eigentlich möchten. Stattdessen zieht diese negative Energie andere negative Energie an. Diese potenziert sich und die Situation verschlimmert sich ebenso, anstatt sich zu entspannen. Neue negative Ereignisse werden uns finden und treffen. Wir generieren hier unser Schicksal. Uns fällt das zu, was wir erschaffen und zwar den negativen ZuFall. Lenny, ich stelle Dir eine entscheidende Frage: Was möchtest Du wirklich?!“ Lenny hat bis jetzt in die Ferne über den See gestarrt. Nun schaut er Kanaj erstaunt und fragend an. „Ja Du hast richtig gehört. Das ist immer wieder die wesentliche Frage, um die es wirklich geht. Konzentriere Dich und damit Deine Energie auf das, was Du wirklich möchtest! Deine Energie äußert sich in Deinen Gedanken, Deinen Gefühlen, Deiner Kommunikation und Deinem Handeln. Du generierst, wie gesagt, damit Dein Schicksal. Du erschaffst, mit dem, was Du wiederholt tust, mit Deinen Gewohnheiten Deine Zukunft, Dein Leben. Möchtest Du ein positives Leben, dann denke, fühle, spreche und handele positiv. Es gibt kein: mal so oder mal so. Es gibt nur ein entweder oder. Fange jetzt an und kehre bei jedem Rückschlag wieder auf Deinen positiven Weg zurück. Natürlich wirst Du hinfallen. Du bist Sportler, Du bist Basketballer. Natürlich fällst Du und Du wirst gefault, wenn Du spielst. Nur die „Verlierer“ spielen nicht. Sie bleiben lieber auf der Bank sitzen, weil sie Angst vorm Spiel und damit Angst vorm Leben haben. Stehe auf, wenn Du am Boden bist! Breite Deine Schwingen aus, wie der Feuervogel, der im Feuer verbrennt, der sich aber aus sich selbst heraus erneuert und wieder aus der Asche aufersteht. Stehe auf und beschäftige Dich nur mit dem negativ Geschehenen, indem Du die Situation analysierst. Finde die Fehler und beseitige sie. Aber sei vorsichtig und lasse Dich nicht von der Negativität anstecken. Sei aufmerksam, wenn Du Dich mit dem Negativen beschäftigst. Es ist ansteckend, wie eine Seuche. Schütze Deinen Geist und Deine Gefühle, damit der Virus Dich nicht befallen kann. Deine wichtigste „Waffe“ ist Deine Aufmerksamkeit. Sei konzentriert im Alltag, sei bewusst, sei im Hier und jetzt und setze Deinen positiven Filter ein.
Achte daher immer auf Deine Energie. Achte auf Deine Gedanken und Deine Gefühle. Sei Dir bewusst, was Du denkst und fühlst. Sei aufmerksam Deiner Sprache und Deinem Handeln gegenüber. Also Lenny, ich stelle Dir noch einmal die entscheidende Frage: Was möchtest Du?!“ Kanaj schaut ihn aufmunternd an. „Denke nicht viel nach. Frage Dein Herz und treffe eine Entscheidung, für das, was gut für Dich ist.“ Lennys Geist ist in diesem Augenblick völlig überfordert mit der an ihn gestellten Aufgabe. Sein Geist wägt ab, formuliert eine Antwort, stellt sie dann aber sofort wieder in Frage. Er betrachtet das soeben formulierte aus einer neuen Perspektive und verwirft erneut. „Lenny, frage Dein Herz, was es möchte!“ fordert Kanaj ihn erneut auf. „Dein Herz ist intuitiv. Es weiß was gut für Dich ist. Dein Herz ist mit dem Glück befreundet. Dein Geist jedoch ist nur ein Werkzeug. Er hat die Aufgabe Dich vor den Gefahren des Lebens zu schützen. Dein Geist sieht überall Gefahren. Hat er eine Gefahr erkannt, dann nimmt er Verbindung zu Deinen Gefühlen auf. Und diese haben nichts Besseres zu tun, als Dich in Angst zu versetzen, damit Du Dein Handeln änderst. Dein Herz jedoch ist intuitiv, denn es steht in ständigem Kontakt mit Deinem Unterbewusstsein. Es erspürt eine Situation. Es weiß, was gut für Dich ist, ohne viel nachzudenken. Dein Geist ist nicht in der Lage, eine Situation so schnell zu erfassen, wie es Dein Unterbewusstsein vermag. Dein Geist kann die Informationen nicht schnell genug verarbeiten und liefert die Lösungen damit nur verzögert. Dein Unterbewusstsein und sein Freund, Dein Herz jedoch sind intuitiv. Sie wissen, was gut für Dich ist. Sie geben Dir das Ergebnis als Gefühl und dieses Gefühl fühlt sich einfach gut oder schlecht an. Höre darauf, wenn Du Dich gut fühlst, denn Dein Herz hat bereits eine Entscheidung getroffen. Lass es bleiben, wenn Du ein ungutes Gefühl hast und verschiebe die Entscheidung, wenn Deine Gefühle und Dein Herz noch keine Entscheidung getroffen haben. Jede unfertige Entscheidung, die von Deinem Herzen nicht vollständig bejaht wurde, wird sich im Nachhinein als falsch erweisen. Du wirst sie bereuen und Du wirst keine wirkliche Freude mit dem Resultat Deiner Entscheidung haben. Also vertraue Deinem Herzen.
Dein Geist mag noch so viele Einwände bringen, er hat die Situation einfach noch nicht erfasst. Also Lenny, was sagt Dir Dein Herz. Was möchtet Ihr?! Formuliere, was Du möchtest. Sprich es aus. Setze den negativen Gedanken Deines Geistes, das entgegen, was Du wirklich möchtest, was Dein Herz will.“ Das alles ist komplett neu für Lenny. Er soll nicht mehr auf seinen Geist hören, auf den er sich doch immer verlassen hat und sich stattdessen auf seine Gefühle verlassen. Lenny fällt es schwer, das zuzulassen. Er würde damit alles in Frage stellen, was einmal sein Leben bestimmt hat. Dieser Schritt würde sein ganzes Leben auf den Kopf stellen. „Lenny, was möchtest Du wirklich!“ Kanaj’s Stimme dringt aus der Ferne in Lennys Bewusstsein. Da fühlt Lenny eine Wärme in seinem Bauch. Das Gefühl breitet sich aus und erfasst seine Brust, sein Herz. Es fühlt sich gut an. Und plötzlich ist für Lenny alles klar und deutlich. Es kann nur eine Antwort geben: „Ich möchte, dass es meiner Mutter, meinem Vater und meiner Schwester Mati gut geht. Ich möchte, dass wir Ihnen helfen. Ich möchte, sie in meine Arme nehmen und ich möchte, dass alles wieder so, wie vorher ist.“ Kanaj fasst ihn am Arm. „Das ist es. Du hast für Dich und damit Dein Schicksal eine Entscheidung getroffen. Du hast einen wichtigen, ersten Schritt getan. Von nun ab, wirst Du immer auf jeden negativen Gedanken, der Dich herunterziehen möchte, eine positive Antwort, eine positive Alternative parat haben. Und dann wirst Du mit gezielten Handlungen dafür sorgen, Deine Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Schütze Dich mit dem Filter, Deiner Aufmerksamkeit. Wenn ein negativer Gedanke sich in Deinem Geist einschleicht, erkenne ihn mit Deiner Aufmerksamkeit. Lasse ihm keinen Raum, sondern reagiere sofort auf jede Negativität. Wandele diese in ihr positives Gegenteil um. Formuliere, was Du wirklich möchtest. Immer und sofort !“
Kanaj’s Worte klingen in Lenny nach und verhallen in seinem Inneren. Er schaut auf den See und was er sieht, ist plötzlich voller Farben, voller Schönheit. Etwas hat seine Seele zum Klingen gebracht. Er ist angekommen, bei sich und dem, was ihm gut tut.
Lenny erhebt sich. „Ich danke Dir Kanaj. Ich weiß noch nicht genau, was passiert ist. Aber ich fühle mich richtig gut. Ich denke, dass ich das, was ich gerade gelernt habe, in Zukunft befolgen werde. Wenn nicht, gib‘ mir bitte ein Zeichen und dabei grinst er Kanaj verschmitzt an. Lass uns loslegen. Wir haben genug geschwätzt.“