Читать книгу Unter Freunden - Udo Staber - Страница 8
ОглавлениеDie falsche Krawatte
Wir werden viel zu spät da sein, aber wie sage ich ihm das, ohne dass er sauer wird? Wenn ich zu einem besonderen Anlass nett angezogen sein will, denke ich schon Wochen im Voraus darüber nach, welches Outfit das Passende wäre, und zur Friseuse gehe ich einen Tag davor. Aber Detlef macht gar nichts, um sich vorzubereiten, und dann, eine halbe Stunde, bevor wir fahren müssen, gerät er in Panik. Wegen einer Krawatte! Er hat es furchtbar wichtig mit seinen Krawatten, wegen des guten Tons. Krawatten gehören zum guten Ton wie Lackschuhe zum Tanzunterricht, sagt er. Jeden Januar lässt er sich in seinem Lieblingsherrenladen erklären, welcher Stil in diesem Jahr für welchen Anlass angesagt ist. Er sagt, er will bei Regine und ihrem Neuen einen guten Eindruck machen. Das sei ihm sehr wichtig, weil es mir wichtig sei. Er wisse, wie nahe Regine und ich uns stehen, und deshalb wolle er für mich gut aussehen. Ich weiß das zu schätzen, und das sage ich ihm auch. Regine und ich haben uns seit unserer Studienzeit über die Männer ausgetauscht, mit denen wir gerade zusammen sind. Ich habe ihr gesagt, dass ich endlich einen Mann gefunden habe, der ganz anders ist als Rainer. Heute Abend wird sie es selbst sehen können.
Auch ich will bei Regines Freund gut dastehen. Ich will nicht, dass sie glaubt, Detlef sei nur eine Übergangslösung für mich, oder dass ich ihm nur als Lückenbüßerin diene, zur Erholung von seiner Ex, die unmöglich gewesen sein muss, so wie er sie mir beschreibt, eine Furie, der er nie etwas recht machen konnte, die weibliche Schamlosigkeit in Person, wie er sagt. Hermann scheint ja furchtbar nett zu sein. Er hat einen gewissen Zauber an sich, sagt Regine. Nun ja, Zauber klingt schon etwas übertrieben, aber ich kann das verstehen, nach diesen vielen verhunzten Jahren, die sie mit Sigmund hatte.
Mir geht’s ja auch nicht anders. Rainer war zuletzt nicht mehr auszuhalten, seine Sammelwut hat mich fast umgebracht. Jeden Tag hat er irgendetwas gekauft, was er nicht braucht, und dann hat er es irgendwo im Haus verstaut oder einfach herumliegen lassen. Der Keller war immer voll mit Toilettenpapier, sogar auf den Kellerstufen stolperte man über Klopapier. In allen möglichen Varianten, in rosa, weiß, und babyblau, einfarbig, getüpfelt und mit Blümchen Muster, weich und weniger weich, doppel- und dreilagig. Zum Kotzen. Jede Woche kauft er eine ganze Familienpackung für den Fall, dass Gäste unangemeldet an der Tür stehen, was praktisch nie geschieht, weil unsere Bekannten schon früh gelernt haben, dass er niemand ins Haus lässt, wenn er die Person nicht mindestens sechs Wochen vorher eingeladen hat. Auch unser Gartenschuppen ist gerammelt voll mit allem möglichen Zeug. Dachplatten, Zaundraht, Schrauben, Nägel, Glühbirnen, was weiß ich, was er sonst noch alles dort lagert. Wenn es im Baumarkt etwas zum Sonderpreis gibt, steht er viertel vor acht vor dem Eingang. Weil er im Schuppen Platz für seine Einmachgläser braucht, hat er den Rasenmäher, die zwanzig Schaufeln und Gartenrechen und die fünf Gartenschläuche in die Garage verfrachtet. Jetzt ist dort kein Platz mehr fürs Auto, also steht der Wagen auf der Straße vor dem Haus, was die Nachbarin furchtbar aufregt. Sie droht schon seit Jahren mit der Polizei, und als Gegenmaßnahme droht er ihr, seine Hecke zu ihrem Grundstück zu entfernen. Was sie maßlos ärgert, weil sie sich vor ihren Besuchern schämt, wenn die sehen, dass sie neben einem Irren wohnt, dem der Zustand seines Rasens egal ist. Den Rasen mähen kann er nicht, weil er an den Rasenmäher nicht mehr rankommt, der hinten in der Garage steht und mit Werkzeugen, Pfandflaschen, Gartengeräten und Streugut für den Winter zugemüllt ist. Vor ein paar Jahren hat er angefangen, Essiggurken zu kaufen, tonnenweise. Er sagt, er braucht die Gläser als Behälter für seine Dübel, Nägel und Schrauben. Wenn er wenigstens seine Gurken verzehren würde. Aber er kriegt nicht mehr als eine halbe Gurke am Tag runter, weil er sonst Durchfall bekommt, und er will nicht so viel Klopapier kaufen müssen, sagt er. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Ich habe ihm das schon so oft gesagt, doch er will das einfach nicht einsehen. Die Essiggurken vergräbt er neuerdings im Garten, und weil er kein Loch buddeln wollte, hat er jetzt den Swimmingpool entfernt, wie Erich mir sagte, damit er eine Grube hat, in die er seine Gurken reinwerfen kann.
Zwanzig Jahre lang habe ich das mitgemacht. Die Leute in der Nachbarschaft haben sich das Maul zerrissen, wegen mir, weil ich ihn nicht stoppte. Eine Freundin fragte mich oft, warum ich ihn machen lasse. Aber was heißt das, seinen Ehemann machen lassen? Soll ich ihn vielleicht in Ketten zum Psychiater schleifen? Ich weiß nicht, was mich endlich dazu brachte, auszuziehen. Wahrscheinlich war es etwas, das ich im Apothekerblättchen gelesen habe, etwas über Stressbewältigung, glaube ich. Da standen Sachen drin wie, ich soll mir im Kopf alle fünf Minuten den Satz vorsagen, nimm ihn wie er ist, der Mensch kann sich nur selbst ändern. Oder wenn das nicht hilft, soll ich mich vor den Spiegel stellen und laut sagen, ich bin ein Mensch, ich achte und respektiere mich. Einen Stressball hatte ich mir auch schon zugelegt. Wochenlang drückte ich wie verrückt, aber es tat sich nichts, außer dass meine Finger steif wurden. Rainer sammelt leere Flaschen, Dübel, Glühbirnen und Schlüsselringe, und ich drücke diesen blöden Ball, bis meine Kunden mich fragen, ob ich unter Arthritis leide. Ich hatte schon Angst, ich muss meinen Beruf an den Nagel hängen, wenn meine ganze Hand irgendwann mal völlig steif ist und ich kein Buch mehr halten kann. In meinem letzten gemeinsamen Jahr mit Rainer habe ich wochenlang einen Stift durch meine Hände gleiten lassen, zur Entspannung, so wie es im Apothekerblatt stand, aber das half auch nicht. Vielleicht war es die Talkshow im Fernsehen, die mir den Todesstoß versetzte und mich zum Ausziehen bewog. Da ging es um Wiedergeburt, um die Frage, ob nach dem Tod alles vorbei ist, oder ob alles wieder von vorne anfängt. Da sagte ich mir, du großer Gott, was passiert, wenn ich Rainer wieder begegnen muss? Ich schaff das nicht. Ich geistere nachts oft im Haus herum. Einmal bin ich auf der Treppe auf einem Stapel Kopierpapier ausgerutscht. Er hat im ganzen Haus Kopierpapier herumliegen, wo er doch gar keinen Kopierer oder Drucker hat. Er braucht das als Schreibpapier, sagt er, es sei das beste Papier für seinen Lieblingsfüller, den er aus seiner Schulzeit vor fünfzig Jahren gerettet hat, zusammen mit drei Federmäppchen und seiner Schiefertafel aus der ersten Klasse. Wenn er mit diesem Füller auf etwas anderem als Kopierpapier schreibt, könnte es Flecken geben, und er will sich nicht Nachlässigkeit nachsagen lassen. Wie er dieses Problem vor fünfzig Jahren löste, als es noch kein Kopierpaper gab, hat er mir nie erklärt.
Ach, ich weiß gar nicht, warum ich so lange gewartet habe. Rainer, sagte ich zu ihm an einem Samstagvormittag, als er gerade mit einer Doppelfamilienpackung Klopapier aus dem Supermarkt nach Hause kam, jetzt ist Schluss, wisch dir deinen Arsch doch mit Zeitungspapier ab, ich zieh aus. Eine ganze Woche lang hat er getobt. Ich sei komplett verrückt, brüllte er, ich sei undankbar, wo er doch alles für mich täte und mir ein warmes Heim gebe. Ich sagte, ja, ein Heim vollgestopft mit Klopapier und Gurkengläser, und eine Garage, in der man kein Auto abstellen kann, weil sie mit Streugut zugemüllt ist. Ob ich einen anderen hätte, wollte er wissen. Ob ich zum Beispiel mit dem Mann der Nachbarin angebandelt hätte. Ich glaubte, ich hörte nicht recht. Ausgerechnet der Nachbarin, die ihm seit Jahren mit der Polizei droht. Dabei grüßt ihr Mann mich nicht einmal. Hat er noch nie, außer er wollte etwas von mir, seinen Mülleimer hinausschleppen zum Beispiel, wenn er einen seiner Migräneanfälle hatte. Seine Frau sei an seiner Migräne schuld, sagte er, und sie halte sich für zu fein, um den Mülleimer überhaupt anzufassen.
Detlef sammelt überhaupt nichts, weder Gurken noch Klopapier. Wenn er Lebensmittel einkaufen geht, kommt er gerade mit dem Notwendigsten nach Hause. Er braucht einen Grund, alle zwei Tage in den Supermarkt zu gehen. Er könnte dort an der Kasse wichtige Leute treffen, sagt er. Er redet über diese Leute, als seien sie Oligarchen, mit Geld wie Dreck und geradezu fürstlichem Einfluss im Stadtrat und Bauamt. Er findet sie widerlich, doch er versteht es, mit ihnen umzugehen. Die Psychologie des Menschen verstehen sei die eigentliche Kunst im Immobiliengeschäft, behauptet er. Mit Charme macht er das, so wie er auch mit Frauen umgeht. Das kann er, da ist er ein Engel.
Nicht dass mich das eifersüchtig macht. Im Gegenteil, es macht mich richtig stolz, wenn ich sehe, wie nett er zu den Leuten ist, die mir wichtig sind. Neulich kam er früher als sonst nach Hause, weil er wusste, dass ich eine Freundin zu mir zum Tee eingeladen hatte. Er kam mit einem wunderschönen Blumenstrauß für mich, und meiner Freundin hat er Pralinen mitgebracht. Ich hatte an dem Tag einen schlimmen Schnupfen, und er rannte sofort ins Schlafzimmer und holte für mich ein Taschentuch, eins aus Stoff, nicht aus Papier. Das war echt rührend von ihm. Auch meiner Freundin hat das imponiert. Tagelang hat sie davon gesprochen. Wenn nur ihr eigener Mann so nett wäre, sagte sie. Der mache ihr nur an Weihnachten Geschenke, und dann seien es immer nur Dinge für den Haushalt.
Detlef schenkt mir Schmuck und Reisen. Vor zwei Monaten waren wir zusammen in Venedig. Er hatte ein Hotelzimmer ganz nahe am Markusplatz gebucht, damit wir schon in der Früh um fünf dort sein können und den ganzen Platz praktisch für uns allein haben. Es war so furchtbar romantisch, im Frühnebel mit ihm Hand in Hand über den Markusplatz zu schlendern. Rainer würde in diesem Hotel bis zehn Uhr am Frühstückstisch sitzen und lieber die Zeitung lesen, als ein einziges Mal zum Fenster hinausschauen oder zur Abwechslung mal mich ansehen. Nicht dass Detlef beim Frühstück keine Zeitung liest, aber er legt sie sofort zur Seite, wenn er sieht, dass ich mit ihm reden will.
Aber Zeitungen sind etwas anderes als Krawatten. Das muss ich erst noch lernen. Als ich ihm sagte, wir müssen jetzt wirklich gehen, weil wir Regines Freunde nicht warten lassen wollen, machte er mit der Suche nach der passenden Krawatte noch eine ganze Weile weiter. Er konnte sich nicht entscheiden. Dann werde ich eben etwas schneller fahren, Sabinchen, sagte er. Ich mag es, wenn er mich Sabinchen nennt. Ich komme mir dann vor wie Doris Day in Bettgeflüster. Ich schaue mir diesen Film einmal im Jahr an. Es ist eine Dummheit zu glauben, Filme hätten nichts mit dem richtigen Leben zu tun.
Ich weiß nicht, was ich den anderen als Entschuldigung für unser Zuspätkommen sagen könnte. Bei Regine ist das nicht so schlimm, aber für Roland muss ich mir was ausdenken, der nimmt alles immer ganz genau. Hängt bestimmt mit seinem Beruf zusammen, Steuerbeamter. Ich kann ihm nicht sagen, dass Detlef sich für keine seiner vier oder fünf Dutzend Krawatten entscheiden konnte. Er würde das nicht verstehen. Oder dass wir wegen Glatteis langsamer fahren mussten. Das würde er mir nicht abnehmen. Ich frage Detlef, was wir meinen Freunden als Erklärung für unsere Verspätung sagen sollten, ob er vielleicht einen Vorschlag hat. Aber er antwortet nicht. Ich finde es beklemmend, wenn er keinen Hauch von sich gibt. Das macht er öfters. Er erwidert auch nichts, nachdem ich sage, dass wir mit der Erklärung nicht unbedingt groß lügen müssten. Es seien schließlich unsere Freunde, und Freunde zeigen Verständnis für alles.
Oh, bitte kein Streit, nicht jetzt, wo ich mich doch so auf dieses Abendessen freue. Ich habe ihn nur um einen Vorschlag gebeten, aber er glaubt wohl, ich hätte ihn gemaßregelt. Vielleicht habe ich nur zu laut geredet, oder ihm passt das Wort Verspätung nicht. Er sagt, er muss kurz halten, er muss auf die Toilette. „Aber Detlef“, sage ich, „könntest du nicht warten, bis wir im Restaurant sind?“ Ich sage das so, dass es nicht wie ein Vorwurf klingt, doch er antwortet nicht. Ich lege meine Hand auf seinen Arm. „Habe ich was Falsches gesagt, Detti?“ Er reagiert nicht, er schaut stur auf den Verkehr vor uns. Wenn ich sein Gesicht sehen könnte, würde ich vielleicht sehen, dass er eine Schnute zieht. Rainer hat auch oft eine Schnute gezogen, aber bei ihm war es mehr ein Ausdruck von Freudlosigkeit als von Kränkung. „Du musst ja nicht so furchtbar schnell fahren“, sage ich und berühre ganz sanft seine Schulter. Eisiges Schweigen, bis er einen Rastplatz sieht, auf den er abbiegt und dann den Wagen direkt neben dem Toilettenhäuschen abstellt. Ohne ein Wort zu sagen, steigt er aus. Ich könnte mir die Beine vertreten, wenn ich wüsste, wie lange er weg sein wird. Aber ich bleibe lieber im Auto sitzen, damit wir sofort weiterfahren können, wenn er zurückkommt. Es dauert mindestens fünf Minuten, bis er am Eingang erscheint und zweimal um das Toilettenhäuschen herumläuft, warum auch immer, bevor er zum Auto zurückkehrt.
Ich ahne, was mir jetzt bevorsteht. Statt weiterzufahren, wird er eine Weile schweigend dasitzen, die Hände auf dem Schoß und den Zündschlüssel in einer Hand. Und genauso ist es. Eisige Stille, kein Schnaufen, nichts. Er würdigt mich keines Blickes. Dann, nach zwei oder drei Minuten, kommt plötzlich das Donnerwetter. Ich soll doch auch mal seine Bedürfnisse in Betracht ziehen, schreit er mich an. Er sei immer nett zu mir und zu meinen Freunden, und er kümmere sich ganz rührend um mich, also wäre es doch schön, wenn ich wenigstens ab und zu auch mal nach ihm fragen würde. Ich hätte ihn gedrängt, loszufahren, er sei sogar viel schneller gefahren als sonst, was bei diesen Straßenverhältnissen knapp über Null nicht ungefährlich sei, das solle ich mir doch bitte vor Augen führen. Mir zuliebe habe er sich mit der Krawatte keine Zeit genommen, und das habe er jetzt davon. In der Eile habe er die falsche Krawatte erwischt, wie er jetzt im Toilettenspiegel festgestellt habe. „Du hast mir den ganzen Abend versaut“, brüllt er. „Wo ich mich doch so gefreut habe, deine Freunde kennenzulernen.“
Ich muss jetzt die passenden Worte finden. „Aber das hat doch nichts mit deiner Krawatte zu tun, du kannst dich doch immer noch freuen“, sage ich.
„Nein, das kann ich nicht. Ich kann nicht einfach eine entspannte Miene aufsetzen und so tun als sei nichts geschehen.“
Ich sitze da wie ein gegossener Pudel und frage ihn ganz sachte, warum eine Krawatte für ihn so wichtig sei. „Es ist doch nur eine Krawatte, Detti.“
„Nein, eben nicht. Es ist nicht nur eine Krawatte. Es geht um Gefühle, zur Abwechslung mal meine Gefühle. Ich denke an dich, ich sorge mich um dich. Sag mir etwas, das ich nicht für dich tun würde. Aber du, hast du denn gar kein Gespür für meine Gefühle?“
„Aber Schatz, eine Krawatte ist doch nur ein Stück Stoff, das hat doch nichts mit Gefühlen zu tun. Und auch wenn diese Krawatte hier nicht die richtige ist, das macht doch nichts.“
„Das macht sehr wohl was. Hörst du denn überhaupt nicht, was ich sage?“
„Doch, ich höre, aber Regine ist es egal, welche Krawatte du trägst. Ich kenne sie. Mit oder ohne Krawatte, sie will dich kennenlernen so wie du bist. Wir sind unter Freunden. Die werden alle darüber hinwegsehen.“
„Aber ich will nicht darüber hinwegsehen“, schreit er. „Ich kann doch so nicht daherkommen. Wenn es um eine Bluse von dir ginge, würden wir jetzt immer noch zu Hause sein und du würdest noch eine Stunde in deinem Schrank herumwühlen wie eine Irre. Du weißt, wie wichtig mein Aussehen ist in meinem Beruf, wenn ich mit meinen Klienten zusammen bin. Wer will sich schon von jemand beraten lassen, der schlecht angezogen ist?“
„Aber du bist doch gut angezogen. Ich wette, Regines Freund und die anderen werden sich einen Dreck um deine Krawatte scheren.“
„Das sagst du jetzt. Vor ein paar Stunden hast du ganz anders geklungen. Ich habe sehr wohl die Signale in deinen Worten verstanden, ich bin ja nicht schwerhörig. Gerade bei einem, der sich in der Kunstwelt auskennt, gerade bei dem ist tadelloses Aussehen von Bedeutung. Architekten sind so, das weiß ich, ich habe schon öfters mit Architekten zu tun gehabt. Was glaubst du denn, warum er mit einer Raumdesignerin zusammenlebt? Bestimmt nicht, weil sie beide gern Müll trennen. Ich habe mich weiß Gott bemüht, und jetzt sagst du, ihrem Freund ist es egal, wie ich angezogen bin.“
„Es ist ihm vielleicht nicht egal, aber ob du Hermann mit einer roten oder blauen Krawatte gegenüber sitzt, ist für ihn bestimmt genauso wenig ausschlaggebend, wie wenn du deinen Kunden eine Wohnung in einem weißen oder blauen Hemd zeigst.“
„Hallo, willst du damit sagen, ich weiß nicht, wie man Wohnungen verkauft?“
„Nein, so habe ich das nicht gemeint.“
„Aber so hast du es gesagt. Du hast gesagt, meinen Klienten ist es egal, wie ich angezogen bin. Aber das ist es eben nicht! Du tust so, als hätte ich dir noch nie von meiner Arbeit erzählt, auf was ich in meinem Beruf alles achten muss. Eigentlich sollte ich jetzt daheim sein und mir überlegen, wie ich mit meinem Kunden morgen Vormittag vorgehen soll. Stattdessen nehme ich mir die Zeit und geh mit dir zu deinen Freunden, denen es offenbar egal ist, wie ich daherkomme, oder ob ich überhaupt komme.“
Ich hab’s geahnt, als ich sagte, wir würden zu spät kommen. Jetzt glaube ich fast, er will absichtlich zu spät kommen. Ich weiß nur nicht, was er damit bezwecken will. Das Ganze macht gar keinen Sinn. Er will bei meinen Freunden einen guten Eindruck hinterlassen, aber er nimmt ein Zuspätkommen in Kauf, weil er mir eine Lektion erteilen will. Ist es das? Ich weiß nicht, warum ich mir das gefallen lasse. Jede andere würde ihn jetzt geradebügeln, aber ich entschuldige mich und sage, „Tut mir leid, Detti, ich hab das so nicht gemeint, glaub mir, aber jetzt fahr doch bitte. Wenn wir hier noch länger herumsitzen, sind wir um Mitternacht noch nicht in Tübingen.“
„Glaubst du wirklich, ich will in dieser miesen Stimmung jetzt noch Autofahren?“, brüllt er mich an. Ich bin mir selbst ein Rätsel, ich beginne mich jetzt doch tatsächlich schuldig zu fühlen, obwohl er diesen Aufruhr angezettelt hat. Von einer Minute zur anderen ist er ein völlig anderer Mensch geworden. Das hat er schon öfters so gemacht. Den ganzen Tag über ist er furchtbar nett zu mir, und dann, kurz bevor wir ins Bett gehen, fängt er wegen irgendeiner Kleinigkeit Streit an, weil ich zum Beispiel vergessen habe, die Stehlampe im Wohnzimmer auszuschalten, oder weil ich ihn nicht gefragt habe, welches Programm er im Fernsehen anschauen möchte. Ist das denn normal? Und ich bin so blöd und bemühe mich um Gegenargumente, die ihn nicht beleidigen, wobei ich weiß, dass es in dieser Situation solche Argumente gar nicht gibt. Ich will rational mit ihm reden, ihn beschwichtigen, wo ich doch einfach still sein könnte. Wenn er streiten will, und ich wehre mich nicht und bringe nichts gegen seine Argumente vor, sondern lasse ihn einfach reden, dann muss es auch keinen Streit geben, dann verläuft alles im Sand, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. So einfach könnte das sein. Aber so einfach ist das nicht, einfach nichts sagen. Ich will auch nicht wie eine Person rüberkommen, die immer nur frotzelt. Ich sage nochmal: „Tut mir leid, Schatz, ich wollte dich wirklich nicht drängen. Fahr jetzt einfach weiter, so schnell oder so langsam wie du willst. Die fangen bestimmt nicht um sieben mit dem Essen an. Der Tisch ist für sieben bestellt, das heißt, das Essen wird um acht serviert, frühestens. So ist das in einem feinen französischen Restaurant. Man setzt sich nicht einfach an den Tisch und fängt fünf Minuten danach mit dem Essen an. Und ob wir jetzt beim Aperitif dabei sind oder nicht, das ist unseren Freunden bestimmt nicht so wichtig. Hauptsache, wir kommen heil an.“ Ich streichle seinen Arm und schiebe eine CD mit Rudi Carrell Schlagern in den CD Player, die ich ihm zum Namenstag geschenkt habe. Plötzlich wird er ganz ruhig und lauscht dem Rhythmus der Musik. Dabei wiegt er den Kopf hin und her und trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. Dann endlich startet er den Motor und wir setzen uns in Richtung Tübingen in Bewegung.