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Оглавление2. Strohtod
Sommersonnenwende.
Ich schwelge in Erinnerungen – ich bin vielleicht elf oder zwölf Jahre alt.
Der heilige Platz ist nach genau festgelegten Maßen gebaut. Unsere Ahnen haben vor vielen, vielen Sonnenumläufen diesen Kreis aus Pfählen errichtet. Sie sind so hoch, dass auch unser größter Kämpfer ihre Spitze nicht mit den Händen erreichen kann. An ihrem oberen Ende laufen die Pfähle spitz zu.
Wir haben edle Pelze an die Stämme oben im Norden geliefert und dafür weißen Stein erhalten – er bildet ihre Küste und sie nennen ihn Kreide. Mit dieser Kreide haben wir den Innenraum des Pfahlkreises geweißt. Der Kreis wurde von einer unberührten Maid abgeschritten und umfasst genau 365 ihrer Schritte – für jeden Tag des Jahreskreises einen Schritt. An der Außenseite umgibt ein breiter Hochweg aus schweren Holzbohlen den Pfahlkreis. Auf ihm stehen die Menschen unseres Stammes, um in den Innenraum sehen zu können.
Der so umfriedete Platz hat zwei große Tore. Eines zeigt zum Sonnenaufgang, das Zweite zum Sonnenuntergang. Sie liegen sich genau gegenüber. Heute, am heiligen Tag der Sommersonnenwende, betreten und verlassen wir den Platz nur durch das Tor an der Sonnenaufgangsseite. Die Mittagszeit ist angebrochen, und die Sonne nähert sich dem höchsten Punkt, den sie im Jahreskreis erreichen wird. Genau in diesem Moment muss das Opfer erbracht werden.
Golon, der Jahre später mein verehrter Lehrer werden soll, betritt den Kreis. Er ist nackt. Sein Körper ist von oben bis unten mit Kreide geheiligt und symbolisiert für alle sichtbar die erhabene Reinheit des Goden. Adlerschwingen gleich breitet Golon die Arme aus.
Er dreht sich in alle Richtungen des Himmelrades und ruft:
Götter des Nordens – ich sehe euch!
Götter des Ostens – ich sehe euch!
Götter des Südens – ich sehe euch!
Götter des Westens – ich sehe euch!
Wieder dreht er sich:
Götter des Nord-Ostens – ich sehe euch!
Götter des Süd-Ostens – ich sehe euch!
Götter des Süd-Westens – ich sehe euch!
Götter des Nord-Westens – ich sehe euch!
Golon vollführt eine ganze Drehung um seine Körperachse:
Geschöpfe in Midgard – ich sehe euch!
Er öffnet seine Arme zum Himmel:
Götter in Asgard – ich sehe euch!
Er öffnet seine Arme zur Erde:
Götter in Utgard – ich sehe euch!
Golon kniet nieder:
Götter allhier – seht mich!
Götter allhier – seht uns!
Auf dem Hochweg haben alle Stammesmitglieder Aufstellung genommen.
Zwölf Mondkreise hat ein Sonnenkreis. Zwölf tapfere Mannen schlagen zwölf riesige Trommeln zwölf Mal im Zwölferzyklus.
Die ersten sechs Durchläufe sind den sechs Mondphasen gewidmet, die zwischen den Sonnenwenden verstreichen. Die siebte Zwölferkette symbolisiert die erste Mondphase des neuen Halbjahreszyklus. Sie spielt eine ganz besondere Rolle in den Zeremonien unseres Volkes, denn sie erinnert an die ständige Erneuerung, an den Neuanfang, der jedem Ende innewohnt. Wir haben unzählige Geschichten, in denen die Sieben eine Rolle spielt – sieben Lämmer, sieben Vögel, sieben Recken oder Jäger. Immer sind sechs von ihnen in unrettbare Situationen geraten und der siebte, meist jüngste oder kleinste, rettet seine Gefährten aus der Not.
Während der achten Trommelstrophe führt eine unbefleckte Maid einen kräftigen Stier in den Ring. Sie trägt ein Gewand aus Blumen, und Blumen umkränzen ihr langes blondes Haar. Der Stier ist weiß wie Schnee. Weiße Stiere leben nur für diesen einen Tag. Immer, wenn eines unserer braunschwarzen Rinder ein weißes Bullenkalb gebiert, wissen wir, dass die Götter uns ihre Huld geschenkt haben und dass es unsere Aufgabe ist, dieses eine himmlische Wesen zwölf Jahre zu hüten, um es dann den Göttern zurückzugeben. Wir hegen und pflegen es stellvertretend für all die anderen Tiere, die die Götter uns schenken. Jedes Jahr wird mindestens ein weißes Kalb geboren. Sind es mehr, hüten wir sie alle und opfern den Göttern das kräftigste von ihnen.
Golon und der Stier stehen sich nun Auge in Auge gegenüber. In der neunten Runde schlagen die Trommeln zwölf Mal. Der gleichmäßige Ton und das reine Weiß alles Sichtbaren beruhigen das Tier. Nicht den geringsten Anflug von Angst darf es verspüren.
In den zehnten Zyklus zu weiteren zwölf Trommelschlägen stimmen die Kinder ein:
HOW – HOW – HOW …
Ihre hohen Stimmen ergänzen und bereichern den tiefen Schall der Trommelschläge:
HOW – HOW – HOW …
Die elfte Strophe mit zwölf Schlägen – nun singen Kinder und Frauen:
HOW – HOW – HOW …
Der Gesang erreicht seinen Höhepunkt in dem Moment, in dem die Trommeln zum letzten, zum zwölften Mal, erklingen. Der Jahreskreis schließt sich in ihrem markerschütternden Hall. Zwölf Schläge, zu denen nun auch die tiefen Bässe aller Männer erklingen:
HOW – HOW – HOW …
Der gesamte Stamm ist nun gebunden in diesen einen heiligen Gesang. Stimmen, Atem und Herzschläge finden zusammen und bilden ein einziges mächtiges Wesen. Der stärkste unserer Recken ist, von dem Stier unbemerkt, neben das Tier getreten. Weit erhebt er sein scharfes Schwert, während die letzten zwölf Trommelschläge über dem Ring schweben. Beim letzten Schlag, beim letzten HOW saust das Schwert auf den Hals des weißen Stiers nieder. In einem einzigen Augenblick fällt der riesige, hornbewehrte Schädel zu Boden.
Der kopflose Stier steht noch immer vor Golon, der von einer tiefroten Fontaine getroffen wird. Das geheiligte Blut des Tiers fängt sich in einer goldenen Schüssel, die auf dem Boden vor Golon steht. Er hebt die Schale auf und trägt sie durch das Tor des Sonnenaufgangs. Alle Stammesmitglieder verlassen den Hochweg und reihen sich hinter Golon – die Hälfte der Männer zuerst, nach ihnen die erste Hälfte der Frauen, dann die Kinder. Ihnen folgt die zweite Hälfte der Frauen und am Ende des Zuges die zweite Hälfte der Männer. So ziehen wir, nach außen stark, für die Zukunft in der Mitte, die es zu schützen gilt. So zieht der Stamm zu den Feldern am Rand der Siedlungslichtung. Wir erreichen das Feld und stellen uns reihum auf. Wir beginnen wieder zu singen:
HOW – HOW – HOW …
Unter unserem Gesang tränkt Golon den Boden mit heiligem Blut.
Das Opferritual ist zu Ende.
Es ist Mittag. Die Sonne hat den allerhöchsten Stand für dieses Jahr erreicht. Das Opferfest kann beginnen.
Wie in den Tausenden und Abertausenden Sonnenumläufen zuvor, begehen wir das große Fest des ewigen Wandels. Der längste Tag des Jahres taucht in die kürzeste Nacht. Noch immer opfern wir den Göttern und danken für die Gaben der vergangenen Monde. Wir bitten um eine reiche Ernte und essen und trinken zügellos.
~
So ist es damals gewesen, und so war es auch in all den Jahren davor. Viele Sonnenumläufe sind seither vergangen – und doch hat sich während der letzten etwas verändert. Die Feste, die wir für die Götter feiern, haben langsam ihren tieferen Sinn verloren. Heimlich, wie eine giftige Schlange, kroch eine formlose Kälte in unsere Dörfer. Unmerklich tröpfelte sie ihr Gift in die Herzen der Menschen – Midgard begann, die alten Götter zu vergessen. Kaum jemand an den großen Feuern gedachte noch ihrer in der Tiefe seines Herzens. Die Köpfe waren voll – doch die Herzen waren leer. Wo sich alles dem Verstand erschließt, verliert das Leben seinen Zauber. Alles scheint erklärbar. Nichts ist noch rätselhaft – nichts ist magisch. Doch will mir scheinen, gerade der Glaube an die Allmacht des Verstandes ist der Trugschluss, ist ein Selbstbetrug, und führt in die Verzweiflung durch den Irrtum, das eigene Schicksal lenken zu können.
Die Erkenntnis, dass wir den großen Belangen des Lebens gegenüber vollkommen machtlos sind, gebiert den Glauben an eine höhere Macht – egal, wie wir sie nennen: Götter, Schicksal oder Zufall. So wundert es nicht, dass tief in unseren Seelen die Suche nach dem großen Zauber nie endet.
~
So erging es mir, als ich mit dem Apfel in die Siedlung kam. In der Öffentlichkeit erklärten die Ältesten das Vorhandensein dieser reifen Frucht mit allerlei klugen Worten. Sie sprachen von der Kühle des vergangenen Winters, von der Lagerung im Sumpf und vom zufälligen Zusammentreffen günstiger Umstände. Hinter verschlossenen Türen jedoch murmelten sie die alten Texte, baten Odin und Freyja um Rat. Das Volk Midgards sah sich bestätigt im alten Glauben. Jene, welche die Götter zur Sonnenwende am lautesten verhöhnt hatten, lagen nun als erste auf den Knien. Nur zu gern ließen sie die alten Riten auferstehen – sprachen vom Zeichen der Götter. Und ich war der Überbringer, der Wanderer zwischen den Welten.
Diese Entwicklung ängstigte mich. Zu tief wäre der Fall nach schnellem Aufstieg. Doch all meine Erklärungsversuche verebbten erfolglos. So fügte ich mich in mein Schicksal, und auch, wenn ich im Herzen um meine Einfachheit wusste, gefiel mir der Gedanke, von den anderen Welten berichten zu dürfen.
~
Der Abend war still, an dem ein Mann namens Rieger nach mir rufen ließ. Ich kannte ihn leidlich. Er war lange Zeit berühmt gewesen für seine Weisheit und hatte den Ältesten als Ratgeber gedient. Ich wusste nicht mehr, wann er aus dem Bild der Siedlung verschwunden war. Schweigend hatte er sich in sein Langhaus zurückgezogen. Schweigend erwartete er, auf seinem Lager aus Stroh, das Ende. Nun schien es nah, und er wünschte ein letztes erleichterndes Gespräch.
„Lange Jahre habe ich gekämpft. Ich war Sieger in unzähligen Schlachten, und nicht ein einziges Mal drehte ich dem Feind den Rücken zu – außer, um ihm meinen entblößten Hintern zu zeigen.“ Rieger lachte. „Doch Odin war das wohl nicht genug. Er verweigerte mir den Ehrentot auf dem Schlachtfeld. Er lässt mich nicht nach Walhalla. All meine Gefährten sitzen nun an den langen Tischen. Sie fressen und saufen und genießen die Weiber. Was mir bleibt, ist der schmähliche Tod auf dem Lager. Was mir bleibt, ist der Strohtod!“ Er sah mich an. „Du aber, Ulan, warst bei Iduna. Hast mit der Göttin gesprochen. Sage mir nun, was wird Hel mit mir machen? Ist sie so grausam und unnachgiebig, wie man sagt?“
„Ich weiß es nicht, Rieger. Ich bin ein einfacher Mann“, sagte ich leise. „Auch, wie ich zu Iduna gelangte, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich ihr wirklich begegnet bin.“
Rieger hob die Hand in meine Richtung. „Ich bin alt, und viele Jahre lobte man mich für meine Weisheit. Ich weiß nicht, ob ich weise bin, aber eines weiß ich ganz gewiss: ob ein Mann ein Wanderer ist oder nicht, darauf hat er keinen Einfluss. Die Götter berufen dich, und es ist ihnen gleich, ob du damit einverstanden bist oder nicht. Dir widerfuhr diese Ehre, als dich Iduna rief. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, du hättest sie gefunden, wenn sie es nicht gewollt hätte!“
So hatte ich die Sache noch nicht betrachtet. Langsam erkannte ich die Last meines Weges. „Aber, wie kann ich dir helfen?“
„Nimm mir die Angst vor Hel … und mach schnell! Meine Zeit rinnt davon …“
Als ich Riegers Langhaus verließ, war es Nacht. Die Sterne standen hoch am Himmel und der Mond erhellte meinen Weg. Weg? Welchen Weg? Wo geht es hier zu Hel?, dachte ich mutlos. ‚Oh, Odin! Hilf!‘, bat ich.
War es Odin, war es Verzweiflung – irgendeine Macht lenkte meine Schritte zum heiligen Steinkreis. Ich legte mich flach auf den Rücken und schaute in den Himmel. Langsam begann das Firmament sich zu drehen. Unmerklich wurde es bunt. Es waren die Farben des Regenbogens, und je schneller der Himmel sich drehte, desto mehr verschwammen diese Farben – und der Himmel wurde weiß!
Selbstvergessen ergab ich mich dem unheimlichen Zauber. Dann wurde das Weiß zunehmend dunkler – grau erst, dann braun. Es nahm die Farbe der Erde an. Vorsichtig setzte ich mich auf und sah, dass ich mich in einer geräumigen Höhle befand. Die Höhle bildete einen Saal, der von unzähligen Säulen getragen wurde. Direkt unter der Mitte der Kuppel standen drei Spinnräder, an denen jedoch niemand spann. Ein wundersamer Schein gab dem Raum einen unwirklichen Glanz. Es war angenehm warm, und die gesamte Szenerie ließ in mir eine nicht erklärbare Geborgenheit aufkommen. Wieso kam ich mir so behütet vor, hier, an diesem finsteren Ort?
„Du befindest dich im Schoß der Erde“, hörte ich eine weibliche Stimme sagen.
Auf einem steinernen Thron am Rande des Saals saß eine blasse Frau. Sie schaute mich nicht an, sondern wandte mir ihre rechte Seite zu. Sie blickte nach oben, zu einem Punkt an der Höhlenkuppel. Das Gesicht der Frau war fast weiß. Ebenmäßige Züge umgaben ihr strahlend blaues Auge. Ich war nicht in der Lage, den Blick von ihr zu wenden. Noch nie hatte ich in ein Antlitz geschaut, von dem eine solche Faszination ausging. In Wellen durchflutete eine nie gekannte Wärme meinen Körper.
‚Das also ist Liebe auf den ersten Blick!‘, dachte ich.
In diesem Augenblick änderte die weiße Schönheit ihre Blickrichtung. Sie drehte mir ihre linke Seite zu und sah nun auf einen Punkt links von mir. Ich erschrak! Ein unangenehmer Fäulnisgeruch streifte meine Nase in dem Moment, als sie den Kopf wendete. Der Gestank musste von ihrer linken Gesichtshälfte ausgehen.
An der Stelle, an der einmal ein Auge gewesen sein musste, klaffte eine blutunterlaufene Höhle. Die Lippen waren großflächig verwest und gaben in unregelmäßigen Reihen gelbe Zähne frei. Die Teile der Haut, die noch übrig waren, zeigten sich übersät mit unzähligen Wunden. Blut, Eiter und Grind wechselten einander ab.
Dann sah die Frau mich direkt an und sofort senkte ich den Blick.
„Die Tatsache, dass jedes Ding zwei Seiten hat, hat mein Vater zuweilen etwas übertrieben gesehen“, sagte sie, nicht ohne Bitterkeit. Während ihre rechte Gesichtshälfte lächelte, verzog sich der linke Teil zu einer schaurigen Grimasse.
Aus der Liebe Lokis zu der Riesin Angrboda waren drei Kinder entstanden: der Fenriswolf, die Mitgardschlange und … dies hier war ganz eindeutig Hel.
„Sind wir in Helheim?“ Mir schauderte. Nirgends wollte ich weniger sein als in Helheim, der letzten Heimat der Toten, die nicht als Helden auf dem Schlachtfeld gestorben waren.
Sie zeigte auf die Spinnräder. „Nein! Die Nornen haben mir ihren Palast geliehen, um dich treffen zu können.“
„Die Nornen?“, fragte ich ungläubig. „Ich glaube, von ihnen gehört zu haben, aber um ehrlich zu sein, weiß ich gerade nicht mehr, wo und was.“ Entschuldigend hob ich meine Schultern.
Hel sah nachdenklich zu mir herüber. Dann hob sie an und sang mit rauchiger Stimme, in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, in der ich aber jedes Wort verstand, eine alte, längst vergessene Weise:
Urd – du hast uns erdacht!
Verdandi – du hast uns gemacht!
Skuld – du nimmst uns wieder fort!
Jeder Ort ist euer Ort!
Unter der Erde, so unendlich weit,
drehen drei Weiber die Räder der Zeit,
weben ein Garn, in blutigen Längen,
weben die Fäden, an denen wir hängen.
Urd – das Schicksal liegt in deiner Hand.
Legst deine Fäden über das Land.
Legst die Fäden im Gewirr,
webst die Leben von Mensch und Tier.
Verdandi – der Moment ist dein,
der Augenblick, das Jetzt, das Sein.
Kein Gestern kennst du und kein Morgen.
Der Augenblick kennt keine Sorgen.
Skuld – kein Mensch kann leben,
ohne dir die Hand zu geben.
Nistest dich ein in zitternde Herzen,
löschst das Licht auf unseren Kerzen.
Urd – dein Blick geht so weit!
Verdandi – in Raum und Zeit!
Skuld – in Schatten und Licht!
Sind wir – oder sind wir nicht?
Hels Gesang verklang in der hohen Kuppel des Saales. Ich war wie gebannt. Nie hatte ich Ähnliches gehört. Wo mochte die Welt sein, in der solche Lieder gesungen wurden? Wie alt ihre Geschichten! Wie weise ihre Dichter!
„Wie kann ich dir danken … und den Nornen?“, fragte ich zaghaft.
Hel machte eine abweisende Geste. „Für heute reicht es, ihnen für ihre großzügige Gastfreundschaft zu danken. Würdest du auch nur einen Fuß auf den Boden Helheims setzen, könnte ich dich nicht wieder gehen lassen, und das möchtest du doch … wieder gehen, oder?“
„Bitte, ja!“, rief ich. Mir war angst und bange.
„Aber, du wolltest mich treffen? Oder habe ich das falsch verstanden, an Riegers Totenbett?“
„Du weißt davon?“
„Ich stand neben ihm.“
„Er hat Angst vor seiner Zeit in Helheim,“ sagte ich wahrheitsgetreu. „Darum kann er nicht loslassen.“
Hel lachte. „Der Tod wird überbewertet. Bevor du geboren wurdest, warst du doch schon einmal tot, oder?“
„Wohl ja … aber …“
„Und? War es schlimm?“ Jetzt lächelte sie, und diesmal achtete sie darauf, mir nur die gesunde Gesichtshälfte zu zeigen. „Schau mein Antlitz! Solange du nur eine Seite davon siehst, bist du dir sicher, Herr der Situation zu sein. Dabei ist es egal, welche der beiden. Aber dann, kaum siehst du mich ganz, zerfällt deine schöne heile Welt in tausend Scherben. Dann erkennst du, dass da etwas ist, von dem du nichts weißt. Und weil du nicht weißt, was du nicht weißt, bleibt nur die Erkenntnis, dass du nicht weißt, was du weißt. Wenn du das verstanden hast, bist du wahrlich frei!
Auch der Tod hat nicht nur eine Seite. Er ist nicht nur Qual und Ende. Er ist auch Erlösung und Neubeginn. Es ist nicht besonders klug, zu glauben, das ewige Glück lasse sich in einem frühen Tod finden, möglichst in einer Schlacht.“ Sie sah mich prüfend an. „Wo wären all die tapferen Krieger ohne den Rat der Alten, die auf die Erfahrung eines vergangenen, langen Lebens zurückgreifen können? Wer spricht zu den Kindern an den Feuern? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wem der Tod auf dem Schlachtfeld nützt? Glaub mir, der Leiche nicht!
Alt zu werden, bedarf eines hohen Maßes an Mut. Während man auf dem Schlachtfeld bis zuletzt hoffen kann, unverletzt zu bleiben, darf man der Schmerzen des Alters durchaus sicher sein. Rieger hat nichts zu bereuen! Er kann kommen! Ich werde ihm ein angenehmes Willkommen bereiten.
Ist dir einmal aufgefallen, dass ihr in Midgard irgendeinen Ort ‚Heimat‘ nennt, gerade da, wo ihr seid? Eine einfache Hütte kann mehr Heimat sein als ein prächtiger Palast. Vielleicht ist Heimat eher in euch. So gesehen, ist es egal, wo ihr seid, wichtiger ist, mit wem. Rieger wird Freunde und Bekannte hier treffen.“
Hel lachte hell auf. „Bedenke ich es recht, sind fast alle seine Ahnen hier – nicht in Walhalla. Es ist wohl ein echter Fluch, wenn die Kriege knapp werden.“ Während ihrer langen Rede hatte ich zu Boden gesehen. All ihre Worte berührten mich tief – und doch da war immer noch eine große Angst vor dem Tod, die nicht so schnell weichen wollte. Langsam hob ich meinen Kopf, um ihr erneut ins Gesicht zu blicken. Ich wagte kaum zu atmen, bereitete mich auf den Anblick vor und hielt die Luft an – doch nun hatte sich etwas verändert. Sie hatte sich verändert. Ich konnte sie ansehen – das Leben und den Tod. Mir dämmerte, dass beides zusammengehörte, dass beides zum Dasein gehört, untrennbar, und zaghaft wich meine Angst. Ich öffnete meine Augen vollends und blickte in zwei blaue Augen, in ein Gesicht, dessen zwei Hälften wunderschön waren…
„Da staunst du, was!“, lachte sie schallend. „Wenn der Tod seinen Schrecken verliert, ist er nicht mehr hässlich. Glaub mir, der weise Witz meines Vaters ist wahrhaft göttlich.“ Sie wurde schlagartig wieder ernst. „Geh! Geh nun zu Rieger, er kann nicht mehr warten.“
Als ich ging, brach der neue Tag an. Hels letzte Worte hallten in meinen Ohren nach: „Sorge dich nicht, wir sehen uns wieder – ob du willst oder nicht!“
~
Die Morgendämmerung stieg über die Siedlungsmauer und ich stand wieder am Strohbett des Sterbenden. In leisen, aber sicher gesetzten Worten, berichtete in von meinem Besuch bei Hel. Rieger hörte geduldig zu. Mit jedem Satz, den ich sprach, kehrte mehr Klarheit in seinen Blick zurück. Seine leidgeplagten Züge entspannten sich und der Hauch eines Lächelns zeichnete sein Gesicht.
„Vor unendlich vielen Jahren“, begann er ein letztes Mal zu sprechen, „kam ein Fremder in unser Dorf. Es war Krieg ringsum, und Not, Hunger und Elend überzogen das Land mit grenzenlosem Schrecken. Ich war Ältester in diesen Tagen. Auf mein Geheiß hin gewährten wir ihm Schutz. Er hing dem alten Glauben an – ein Diar-Gode, ein Gode höheren Ranges der großen Göttin Freyja. Die umliegenden Stämme verfielen zu dieser Zeit allmählich den Versprechungen eines neuen Gottes. In blindem Eifer erschlugen sie alles und jeden, der den neuen Weg nicht mit ihnen beschreiten wollte. Der Fremde war in großer Gefahr. Er war vielleicht vier oder fünf Tage bei uns, da umstellten sie unser Dorf.
Unsere Siedlung galt als unbezwingbar, und auch diese Belagerung würden wir mit Leichtigkeit überstehen. Doch sie hatten ihre Frauen und Kinder dabei, und keiner von uns konnte sich erklären, warum. Dann zeigte sich der neue Glaube in seiner ganzen Bosheit. Wir hatten immer Göttinnen und Götter verehrt. So nahm es nicht Wunder, dass Frauen und Männer den gleichen Stand im Stamm und in der Familie hatten. Der neue Gott lehrte jedoch die Unreinheit des Weibes und stellte es dem Manne nach. Dies begründete die Grausamkeit unserer Belagerer. Sie wussten, dass wir niemals auf wehrlose Frauen und Kinder schießen würden. So trieb jeder ihrer Krieger eine Frau oder ein Kind vor sich her auf die Siedlungsmauer zu. Je näher sie kamen, je deutlicher sahen wir die Gesichter ihrer lebenden Schilde – Angst, Verzweiflung und stille Bitte lag in jedem. Keiner von uns brachte es über das Herz, seinen Bogen zu spannen, den Tod durch die Luft zu tragen – bis die Feinde die Mauer erreichten.
Der Fremde kam zu mir. In der Hand hielt er einige dünne, in Leder gebundene Runenstäbe. „Dies sind die letzten Lieder der alten Dichtung“, sprach er. „Eines Tages wird ein Mann kommen. Frag nicht – du wirst ihn erkennen! Gib ihm die Stäbe.“ Dann stellte er sich auf den Wall und sang einen Runenzauber.
Ein erster Pfeil traf seine Brust, ein zweiter seinen Bauch, weitere folgten. Ein dünnes Rinnsal aus Blut sickerte aus seinem Mund, wuchs an zu einem breiten, dunkelroten Band, doch er sang sein Lied. Sang es bis zum letzten Ton. Dann starb er – aufrecht!
Die Jahre vergingen, und aus dem jungen Mann, der ich einmal war, wurde ein Greis. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, dem angekündigten Mann zu begegnen, als die Leute von dir und dem Apfel erzählten und wie du dazu gekommen bist. Da ahnte ich, dass du der Auserwählte bist. Aber ich war nicht sicher. Ich musste dich prüfen. Die schwerste Prüfung, die es auf Erden gibt, ist der Weg zu Hel. Also bat ich dich, zu ihr zu gehen und einen guten Platz in ihrem Reich für mich auszuhandeln. Glaube mir, ich habe jeden Tod und jedes Sterben schon gesehen – ich habe keine Fragen mehr. Einzig der Gedanke, die Liederstäbe nicht übergeben zu können, verbot mir bisher, zu sterben.
Nimm nun die Stäbe! Du bist der Mann und ich sehe dich …“ Rieger war tot.