Читать книгу Gegen die Laufrichtung - Ulf Engel - Страница 7

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Dabei

Dabei sein – 1972

Es ist ganz still. Das Stadion ist ausverkauft: 80.000 sind da. Die meiste Zeit haben sie für eine Geräuschkulisse gesorgt, wie ich sie später nie mehr erleben würde: an- und abschwellender Applaus; oft ein Raunen zuvor; momenteweise kurze Explosionen von Erstaunen, Bedauern und Jubel. Kein Geschrei, kein rhythmisches Klatschen, das später solche Ereignisse prägen sollte. Länger laut wird es nur bei den Laufwettbewerben: Anfeuerung für die Athleten.

Der Stadionsprecher hat vor einigen Augenblicken um Ruhe gebeten. Janis Lusis, vier Jahre zuvor Olympiasieger, konzentriert sich auf seinen letzten Wurf. Es ist seine besondere Stärke, im letzten Versuch noch einmal nachzusetzen. In Mexiko holte er, am Ende eines hochdramatischen Finals, das zwischenzeitlich zwei weitere Athleten im Wechsel vorne sah, mit dem sechsten Versuch die Goldmedaille. Auch andere Wettbewerbe hat er auf diese Weise gewonnen.

Es könnte heute wieder passieren. Klaus Wolfermann hat ihm im fünften Durchgang mit dem ersten Wurf des Wettbewerbs, der über die neunzig Meter hinausging, die Führung abgenommen. Lusis wird den vorletzten oder vielleicht auch den letzten Wurf liefern, je nachdem, ob er noch einmal in Führung geht, oder ob ihm das nicht gelingt – im letzteren Falle wird Wolfermann wohl nicht mehr werfen.

Stille, als Lusis anläuft und wirft. In dem Moment, als der Speer seine Hand verlässt, setzt das Raunen ein. Man sieht sofort: es ist ein guter Wurf, der Speer ist sehr lange unterwegs und bleibt knapp hinter der 90-Meter-Markierung im Rasen stecken – fürs Auge des Zuschauers ist nicht zu erkennen, ob Lusis mit Wolfermann gleichgezogen oder ihn gar überboten hat. Aus dem Raunen wird donnernder Applaus. Für eine gefühlte Ewigkeit herrscht vibrierende Unruhe, dann erscheint Lusis‘ Weite auf dem Monitor, der auf dem Rasen steht. Der Monitor zeigt das Ergebnis auf beiden Seiten, aber eben nur auf zwei; dafür dreht er sich. So setzt der befreite Jubel der meisten, die Wolfermann die Daumen gedrückt haben, nicht gleichzeitig ein, wird dafür umso eindrücklicher.

Wolfermann ist Olympiasieger, denn Lusis ist um zwei Zentimeter hinter ihm geblieben. Überraschenderweise wirft der Deutsche noch einmal, jedoch mit unbedeutendem Ergebnis. Zuvor hat es fast den Anschein, als würde er sich bei seinem Konkurrenten entschuldigen.

Binnen einer Stunde wird der deutsche Leichtathletikverband mit Hildegard Falcks Sieg über 800 Meter die zweite Goldmedaille des Tages feiern, und als der Geher Bernd Kannenberg durchs Marathontor zur Stadionrunde einläuft, kommt die dritte dazu. Es ist ein Tag der deutschen Leichtathletik, wie er nie mehr wiederkommt.

Ich hätte das alles gerne im Stadion erlebt. Habe ich aber nicht. Mein Vater und mein Onkel hatten sich für den Versuch entschieden, an Tageskarten zu kommen. Mich nahmen sie mit. Wir waren im Olympiapark, schließlich höchstens fünfzehn Meter von den abgesperrten Durchgängen entfernt. Man sah das Zeltdach des Stadions, fast von oben, denn das Stadion selbst befand sich in einem leicht abgesenkten Bereich hinter dem Hügel, auf dem wir uns gerade bewegten. Zu sehen war außer dem Dach nichts. Die Atmosphäre übertrug sich durch das, was man hörte. Und das allein wirkte gewaltig.

Wir waren nicht alleine. Dutzende – Hunderte? – andere hatten die gleiche Idee gehabt wie wir. In all dem Gewühle sah man einzelne Gestalten, die mit Tickets wedelten und mit möglichen Käufern verhandelten. Geldscheine wurden gegen Tickets getauscht. Wir zogen letztendlich unverrichteter Dinge wieder ab. Wir hätten Karten bekommen können: drei für zusammen 150 D-Mark. Weder für meinen Onkel, der als Orchestermusiker sein Geld verdiente, noch für meinen Vater war das machbar.

So erlebten wir das eingangs Beschriebene nicht im Stadion, sondern vor dem Fernseher. Aus der offenen Bühne wird plötzlich ein Guckkasten. Und trotzdem schlug uns, dann insgesamt zu siebt, die letzte Phase des Speewurfwettkampfs völlig in ihren Bann. „Man hört gar nix“, sagte meine Tante, als Lusis zum Anlauf schritt.

Wir hatten zuvor die Ferien auf Baltrum verbracht. Ich las dort Ferien auf Saltkrokan, am Ende etwas abgesetzt von den anderen. Die späte und plötzliche Wendung zum Guten, nachdem alles verloren scheint, packte und bewegte mich. Vielleicht liegt dort der Kern meiner Neigung zu Geschichten verborgen, die durch derartige möglichst späte Wendungen geprägt sind, vielleicht eine Erklärung für dieses Buch.

Unmittelbar hatte ich aus dem Sommerurlaub noch etwas anderes mitgenommen. Der Amerikaner Bobby Fischer hatte dem sowjetischen Titelverteidiger Boris Spasski die Schachweltmeisterschaft entrissen, mitten im Kalten Krieg ein Medienereignis, weil der Titel seit 1948 fest in sowjetischer Hand gewesen war. Die Regeln des Spiels kannte ich schon, seit ich etwa acht war; nun, auf Baltrum, tigerten mein Vater und ich fast täglich zu einem kleinen Laden, der einige Tageszeitungen anbot, wobei man nehmen musste, was man bekam: nicht nur einmal blieb nur die BILD übrig. Mit etwas Glück fanden wir die Notation der aktuell gespielten Partie schon abgedruckt. In der Ferienwohnung spielten wir sie nach und verwendeten dabei ein Spiel, das mein Vater noch aus seiner Jugend, den Vierzigerjahren, besaß. Die Spielsteine waren nicht etwa rund, sondern quasi zweidimensional, schmal und mit einer Vorder- und einer gleich aussehenden Rückseite, dabei grob geschnitzt. Das Brett bestand aus zwei Teilen, die, ineinandergelegt und mit einer hölzernen Schraube verschlossen, den Kasten bildeten.

Nach zehn Partien hatte Fischer drei Punkte Vorsprung und schien seinen Kontrahenten in Grund und Boden zu spielen. Dann kam die elfte Partie, in der Fischer sich mit seiner Dame auf Spasskis Seite des Bretts verrannte und am Ende überhaupt keine Steine des Gegners mehr schlug, sondern irgendwelche sinnlos aussehenden Züge machte. Spasski hatte einen Punkt aufgeholt. Von der Partie träumte ich noch lange Zeit; das Schicksal der schwarzen Dame, die alleine im feindlichen Gestrüpp gejagt wurde und verloren ging, übte eine eigenartige, fast morbide Faszination auf mich aus. Ähnlich erging es mir mit der dreizehnten Partie, der längsten des Matches. Spasski drückte Fischers Spiel zusammen und schien das Brett zu beherrschen; schließlich eroberte er sogar einen Läufer, für den er aber einige Bauern geben musste. In der dramatischen Endphase konnte er die gegnerische Bauernlawine nicht mehr aufhalten. Statt um einen weiteren Punkt zu verkürzen, lag er nun wieder drei zurück; das war praktisch die Entscheidung im Wettkampf. Es waren eindrückliche Bilder, die in den Konstellationen auf dem Brett aufschienen; Fischers viele Bauern auf der einen Seite und Spasskis einzelner, von einer Mehrfigur unterstützt, auf der anderen. Sie fesseln mich noch heute, auch an das Spiel, das ich bisweilen noch selbst im Wettkampf betreibe.

Nun waren wir also seit zwei Tagen während der Zeit der Olympischen Spiele in München zu Besuch. Wir fuhren viel mit der U-Bahn, deren wichtigste Strecken rechtzeitig zum Beginn des Großereignisses fertig geworden waren. Einiges erinnerte mich an Stuttgart, vor allem frisch aufgerissene U-Bahn-Schächte, wobei München nicht nur in dieser Hinsicht einen Vorsprung hatte. Schräge Typen wie den Hippie, der eine sich als waschechter Ozelot entpuppende Katze an der Leine mit sich führte, bekam man in den öffentlichen Verkehrsmitteln Stuttgarts eher nicht zu sehen. Ober- und unterhalb der Erde war zu spüren, wie die Stadt pulsierte und die Spiele mit der Heiterkeit und schieren Freude des Gastgebers umrahmte: das ist der Eindruck, den ich damals unmittelbar aufnahm, ich würde auch im Rückblick noch sagen, dass diese positiven Vibrationen tatsächlich vorhanden und nicht herbeigeredet waren. Bekanntlich setzte der terroristische Anschlag auf die israelische Mannschaft am Morgen des 5. September dem ein Ende, auch wenn die Spiele fortgesetzt wurden.

Jener Sonntag im September 1972 ist mir dennoch im Gedächtnis geblieben. Es kam vieles zusammen: die Stadt und ihre Atmosphäre, das Zeltdach und die Geräusche dahinter, und nicht zuletzt eine Ahnung davon, was großer Sport sein kann. Die noch Jahrzehnte später von Beteiligten gepriesene Fairness des Publikums, beispielhaft verdichtet in der Stille, die dem Konkurrenten des Lokalmatadors gewährt wurde, sprang auch am Bildschirm über. Ich war tief beeindruckt.

Bei den meisten der Sportereignisse, die ich in einem Stadion, auf einem Sportplatz oder auch im Fernsehen und am Radio erlebt habe, gab es etwas, das nicht zwingend unmittelbar mit dem rein Sportlichen selbst zu tun hatte und doch jenes Ereignis überhaupt zu etwas Erzählenswertem machte. Es hing fast immer mit einer Wechselwirkung zwischen den Zuschauern und den Sportlern zusammen, mit einer Verbindung, die beide Seiten dorthin brachte, wohin sie ohne einander nicht gekommen wären. Und oft genug sah man die Athleten dann fassungslos und demütig, wie zum Beispiel Steffi Graf, die sich nach ihrem ersten Sieg in Paris erst einmal in ihr Handtuch vergrub, um sich anschließend in ihrer kurzen Dankesrede bei Martina Navratilova für ihren Sieg zu entschuldigen, ratlos gar und verlegen wie Wolfermann, oft überhaupt nicht strahlend triumphierend. Auch Jimmy Connors, gewiss nicht bekannt für durchgehend einwandfreies Benehmen während seiner Auftritte, wartete in Wimbledon auf Mikael Pernfors, den er, mit 1:6, 1:6, 1:4 nahezu aussichtslos zurückliegend, noch bezwungen hatte. Er wollte sich mit ihm gemeinsam von den Royals verabschieden – die Etikette hätte das nicht verlangt. Aber der stürmische Beifall des Publikums galt beiden Spielern, auch dieser Kampf war in seiner dramatischen Entwicklung ein Werk aller Anwesenden. Connors zeigte sich dessen bewusst und zollte dem Co-Autor seinen Respekt.

Ein Highlight der letzten Jahre war die Kür von Aljona Savchenko und Bruno Massot im Paarlauf von PyengChang 2018. Bruno hatte im Kurzprogramm gepatzt, und das Paar lag vor der Kür auf dem vierten Platz, mit einer gewissen Chance auf Bronze, doch weit entfernt vom Anspruch, um Gold mitzulaufen. Was die beiden dann zeigten, war und ist für mich eine der größtmöglichen menschlichen Annäherungen an so etwas wie künstlerische Vollkommenheit – was mehr, weit mehr umfasst als schiere Perfektion im Sinne von Fehlerlosigkeit. Das Publikum spürte früh, auf welchem Weg die beiden waren, und trug sie mit zur Goldmedaille, die es dann hauchdünn doch noch wurde.

Ein auf die Bedeutung des Ereignisses eingestimmtes Publikum kann der Entstehung großer Geschichten einen guten Dienst erweisen. Annäherungen an künstlerische Vollkommenheit (wie beim Eiskunstlauf) oder auch nur technische Perfektion (wie beim Speerwurf) mag es im Fußball in einigen Augenblicken geben; über ein ganzes Spiel ist es unmöglich, weil man ja gegen- und nicht miteinander spielt. Aus nahezu allen Spielen bleiben auch Szenen in Erinnerung, die individuelle oder auch kollektive Fehlbarkeit zeigen, Schwäche und regelrechtes Versagen.

Umso höher einzuschätzen sind die großen Spiele, die um die vielen Fehler herum und trotz des Widerstandes der jeweils gegnerischen Mannschaft entstehen: auch weil sie von einer Einstellung zeugen, von einem Spirit, dessen Wesen es ist, Fehler zu riskieren, hinzunehmen, wegzustecken. Es von neuem zu versuchen und über all das hinaus, entweder aus dem Nichts oder als Frucht einer kontinuierlichen Steigerung, den magischen Moment zu erschaffen, der ein Spiel in eine Geschichte einbettet oder auch schlicht eine Geschichte vollendet. Und das, daran halte ich fest, ist auf die Dauer ohne Zuschauer undenkbar. Um nicht missverstanden zu werden: selbstverständlich waren und sind die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 in den Stadien und deren Umfeld richtig und notwendig, notfalls auch anzupassen. Auf lange Sicht aber gilt: Die Stille eines anwesenden Publikums kann große Kraft ausstrahlen; ein leeres Stadion ist einfach nur leer.

Kicks

Klar, wir kickten alle auf Bolzplätzen im Umfeld unserer Wohnungen; meine allerersten Fußballspiele bestritt ich zwischen zwei Garagenreihen in der Herschelstraße im Stuttgarter Dürrlewang. Wir kuckten uns willkürlich zwei Garagentore aus, die sich mehr oder weniger gegenüberstanden, vielleicht 25 Meter zwischen ihnen, und dann bolzten wir - anders kann man das, was wir da taten, kaum nennen, abgesehen von den Kunststücken, die ein wirklich begabter Dribbler zelebrierte. Er spielte in der E-Jugend des TSV Rohr, konnte wirklich was mit dem Ball anfangen, und wenn er ihn mal hatte, gab er ihn nicht mehr her, bis er aufs Tor geschossen hatte und meistens auch hinein.

Da schoss ich auch mein erstes Tor. In Gummistiefeln, die interessanterweise die meisten von uns zum Kicken trugen, ich nehme an, weil das das einzige Schuhwerk war, das die Eltern dafür zuließen. Straßenschuhe waren dafür zu wertvoll, desgleichen auch das eine Paar Turnschuhe, das doch fast alle von uns hatten, das aber ausdrücklich nur in der Turnhalle im Sportunterricht angezogen werden durfte. Das Wort „Kickstiefel“ lässt daher auch heute noch als Allererstes ein paar roter oder gelber Gummistiefel vor meinem inneren Auge erscheinen.

Das Tor war ein Zufallsprodukt, ein Schlenzer aus einem Gerangel um eine bunte Plastikpille, die vielleicht einmal in irgendeinem Strandbad an der Nordsee gekauft worden war. Daraus wurde eine Bogenlampe, für die der Sechsjährige, der das gegnerische Garagentor hütete, schlicht zu klein war.

Es war der „Anschlusstreffer“ zum 1:11; der Dribbler spielte in der gegnerischen Mannschaft. Ich war wie von Sinnen – ohne „wie“, wenn ich es recht bedenke –, rannte minutenlang nur hin und her und rief immer wieder „elf zu eins nur noch“. Als die Rauschwirkung abebbte, stand es 17 oder 18 zu 2.

Das war etwa 1969. 1970 versuchten wir, einen Schritt weiter zu gehen, indem wir die auch heute noch freiliegende Wiese im rückwärtigen Bereich der ungeraden Hausnummern als möglichen Fußballrasen ausmachten – zumindest nach der städtischen Mähaktion im Frühjahr ging das einige Wochen lang recht gut. Tore versuchten wir mit Holzstecken zu bauen, wobei es natürlich nie gelang, einen verlässlichen Querbalken zu montieren. Das behinderte den Spielbetrieb nicht ernsthaft, und wir befanden uns sogar im Vorstadium einer Vereinsgründung – „SV Dürrlewang“ wollten wir heißen, mit den Farben schwarze Hosen, weißes Oberteil, rein zufällig an die Nationalmannschaft angelehnt. Das weiße Oberteil war freilich nichts weiter als ein ärmelloses Feinrippunterhemd; so etwas wie ein Fanartikelmarketing existierte damals nicht. (Noch in den späten 70ern waren es die Omas oder die Schwestern, die uns die rot-weißen Mützen für den Besuch des Neckarstadions häkelten.)

1970 zog meine Familie aus dem Dürrlewang weg ins Österfeld. Auf der dortigen Grundschule verbrachte ich ein Jahr; unser Klassenlehrer, der zugleich Sportlehrer der Jungs war, ließ uns stets unter dem Kommando „Links – zwo – drei – vier“ zwei Runden über die Ecken der Turnhalle drehen. Anschließend wurde ein bisschen geturnt und die letzten 20 Minuten fast immer Korbball gespielt. Fußball kam nicht vor. Da im Neubaugebiet viele der noch freien Flächen nicht nutzbar waren (bevor etwa 1972 ein echter Bolzplatz mit Wäschestangentoren und Fanggittern eingerichtet wurde), wichen wir tatsächlich auf die Straßen aus, meist die Othellostraße. Das dürfte kaum mehr etwas mit der einstigen Romantik des Straßenfußballs gemein gehabt haben; allzu oft hatten wir nur drei oder vier Minuten, bevor wir dem nächsten Auto Platz machen mussten. Einmal stellte ich mich, im Schlepptau eines Freundes aus dem Dürrlewang, beim TSV Rohr vor (zu den eigentlich näher gelegenen Vereinen SV Vaihingen oder Georgii Allianz traute ich mich nicht, da spielten einige aus meiner neuen Umgebung, denen ich mich nicht gewachsen fühlte). Der Übungsleiter meinte anschließend, für die Dritte der D-Jugend könnte es reichen. Mein nonverbaler Eingangskanal war verstopft; auf dem Heimweg sagte mein Freund dann leise und vorsichtig, weißt du, wir haben eigentlich keine Dritte. Dennoch versuchte ich im neuen Umfeld eine Zeit lang zu streuen, ich spielte jetzt auch im Verein; selbstverständlich klappte dieses Kartenhaus bald zusammen.

Nach Eröffnung des erwähnten Bolzplatzes im Österfeld und dem Beginn meiner Gymnasialzeit in der Stuttgarter Innenstadt entwickelte ich in fußballerischer Hinsicht zwei Existenzen. Auf dem Bolzplatz war ich meist das, was man heute den klassischen Loser nennt; mein Versuch der Hochstapelei wirkte sich noch lange aus, „constant karma“ könnte man es wohl nennen. Ich wurde meist als Letzter gewählt, zumindest solange nicht noch deutlich jüngere und kleinere Mitspieler zur Wahl standen. Am besten war es, wenn wir mit ungerader Zahl spielten, dann kam ich zu denen, die einer mehr waren, und niemand beschwerte sich.

Auf dem Karlsgymnasium unten im Talkessel lief es anders. Zwar war ich nicht der beste Kicker in meiner Klasse – unerreicht blieb über die ganzen Jahre Uli, der überhaupt unser bester Sportler war und von dem in späteren Jahren einige sagten, wenn er gewollt hätte, hätte er auch Fußballprofi werden können. Er war in fußballerischer Hinsicht komplett, schlug Pässe aus dem Fußgelenk, war nicht auszuspielen, umspielte aber bei Bedarf alle anderen mit der größten Leichtigkeit, konnte Kopfball, war technisch überhaupt überragend und ging sogar ins Tor, wenn es sein musste. Das Einzige, was ich nie von ihm gesehen habe, war ein Fallrückzieher; dafür praktizierte er beidfüßig den Scherenschlag – den konnte sonst keiner. Er wurde schließlich Gymnasiallehrer für Deutsch und Sport; als er, schon im zarten Alter von fast 50, beim Kick mit Schülern einen Elfmeter an den Pfosten setzte, unterstellten die Schüler, das müsse er mit Absicht gemacht haben. Aber auch andere waren am Ball klar vor mir, zudem war ich nie der Schnellste.

Aber wir hatten ein tägliches Techniktraining, dessen Wirkung sogar ich mich nicht entziehen konnte. Das „KG“, wie jeder es nannte, verfügte über einen Schulhof, der zum größten Teil aus einem mit Linien abgegrenzten Hartplatz bestand, theoretisch ein Handballfeld mit Siebenmeterkreis und den entsprechenden Toren. Auf der schulhausentfernten Seite war noch mehr Platz und außerdem die Weitsprunggrube.

Auf diesem Schulhof wurde in jeder Pause unablässig gekickt, mit bis zu etwa 12 Mannschaften gleichzeitig, immer nur auf ein Tor – glücklich, wer eins der Handballtore erwischt hatte, aber ansonsten legte man halt irgendwo zwei Jacken hin, die die Pfosten markierten.

Das erwähnte Techniktraining war deswegen speziell, weil das Kicken mit großen Bällen in den Pausen verboten war; aber in jeder Klasse waren schätzungsweise fünf bis zehn gebrauchte Tennisbälle vorhanden. Das reguläre Spielgerät war, zumindest in den Pausen, ein Tennisball. Und damit lernte man im Spiel entweder klarzukommen, oder man bekam einfach keinen Ball. Man sah ihn nicht einmal.

Anfang, Mitte der 70er war es besonders schick, den Ball mit dem Außenrist spielen zu können. Beckenbauer, schon damals „Kaiser“, regierte auch die Schulhöfe. Überhaupt galten uns einfache Pässe ohne Effet als primitiv; und Außenrist war besser, weil schwieriger zu praktizieren als Innenrist. Und siehe da, Außenrist konnte ich, sogar ziemlich gut; da ich außerdem gerade den Tennisball gut aus dem Stand lupfen konnte, hatte ich plötzlich den Ruf eines „Technikers“.

1971-1980, das war auch die Zeit der Klassenkicks am KG. Unser erster fand im Sommer 1972 allerdings oben in Degerloch statt, irgendwo dort, wo auch die Stuttgarter Kickers spielten, wir, die 5c, gegen die 5b. Einer von uns hatte den Platz organisiert, weil er in der Gegend wohnte, einen echten Rasenplatz mit echten Toren (es waren noch die „alter“ Machart, eckige Pfosten aus Holz; Netze waren natürlich keine da) und mit echten Markierungen (die schon reichlich blass waren); sogar ein Schiedsrichter war dabei, ein älterer Schüler, so in etwa aus der Neunten.

Wir wollten „richtig“ spielen, elf gegen elf (jede Klasse bot etwa 15 oder 16 Jungs auf), zwei Mal 45 Minuten; nur Abseits, das beschlossen wir sein zu lassen.

Es verlief so dramatisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Uli dribbelte sich unablässig durch die Gegenspieler, spielte ab oder schoss selbst; wir hatten die sprichwörtlichen Chancen für drei Spiele, aber keiner brachte den Ball über die Linie. In der Halbzeitpause Tränen, weil einer mit seiner vorab besprochenen Auswechslung nicht mehr einverstanden war. Etwa 10 Minuten vor Schluss gingen nach einem unübersichtlichen Getümmel in unserem Fünfmeterraum plötzlich die anderen in Führung. Die Zeit verrann, und einige, auch ich, waren schon am Heulen. Dann setzte Uli noch einmal zu einem Solo an, traf mit seinem Schuss die Querlatte, ein anderer stand bereit und schoss den Ball tatsächlich ins Tor. Es war verrückt, wir sprangen meterhoch und schrien uns die Seele aus dem Leib.

Verlängerung. Ja, wirklich. An einem heißen Sommertag im Juli 1972 waren uns 10-, 11-Jährigen 90 Minuten nicht genug. Kein Unentschieden, bitte, nach all dem Aufwand musste es einen Sieger geben.

Wieder ein Solo, noch ein Schuss, und diesmal ging er rein, 2:1 für uns. Kurz darauf kam meine Chance, aufs Spiel Einfluss zu nehmen. Bis dahin war ich kaum am Ball gewesen. Jetzt versuchte ich im eigenen Strafraum, einen hoch hereinfliegenden Ball zu klären. Ich traf aber nicht richtig, der Ball kam zu einem Gegenspieler. 2:2.

Ende. Schluss? Nein – Elfmeterschießen. Die anderen versiebten gleich den ersten, dann hätte ich uns in Führung bringen können. Aber ich schoss den Torwart an. Letztlich trafen wir nur ein-, die anderen dreimal. Wir hatten verloren.

Die allermeisten Klassenkicks in den folgenden Jahren fanden aber am KG im Schulhof statt. Der erste nur wenige Wochen nach Wiederbeginn des Schuljahres, natürlich, da in einem offiziell angemeldeten Spiel, mit einem regulären Fußball. Jetzt als 6c spielten wir gegen die neue 5c, ich denke mit sieben gegen sieben; die Handballtore waren aus einem unerfindlichen Grund flachgelegt, sodass sie effektiv vielleicht 80 oder 90 Zentimeter hoch waren. Unterlegen waren uns die Jüngeren keinesfalls; sie hatten schon richtig gute Leute. Aber an diesem Tag hatte ich mal Glück und schoss unsere beiden Tore zum knappen Sieg.

Ich wurde im Lauf der Jahre besser, war jedoch meistens genau der erste, der nicht in der Startformation spielte. Es reichte immer gerade nicht, und das in Tateinheit mit dem Faktum, dass wir, je älter wir wurden, mit umso weniger Feldspielern spielten, in den obersten Jahrgängen nur noch mit vier. Die Aufstellung lag in der Hand des Sportwarts – das war derjenige Mitschüler, den die Klasse dafür bestimmt hatte, in unserem Fall einstimmig Uli.

Ich schaute also oft zu, zum Beispiel, als Gert ein Spiel in allerletzter Sekunde, mit dem Rücken zum Tor und aus sehr spitzem Winkel, mit einer artistischen Drehung des Fußgelenks entschied. Ich glaube wirklich, der Fuß war das einzige Körperteil, das Gert in diesem Moment bewegte – er war da ökonomisch. Das hatte schon einen Anflug von Gerd Müller.

Elfte Klasse, es wird im Spätsommer 1977 gewesen sein, eine der ersten Schulwochen. Für den Freitag jener Woche stand der vielleicht bedeutendste Vergleich für unsere Klasse an: gegen die Fußballklasse der Schule schlechthin, aus dem Jahrgang über uns. Alle von denen spielten im Verein, sie waren technisch und physisch stark, alle gefühlt einen halben Kopf größer als unsere Leute, dazu kräftiger gebaut. Zwei Tage davor hatten wir Sportunterricht. Wir kickten; im Grunde waren das spätestens ab der Achten unsere Sportstunden: fast nur Fußball. Unser Sportlehrer machte mit, denn Uli hatte ihn gebeten, sich uns mal genauer anzuschauen und Tipps zu geben, wie die Erste am Freitag bestehen könnte.

Bei der internen Wahl kam ich in die Mannschaft, die gegen die stärker besetzte Hälfte deutlich verlor. Aber mir gelangen ein paar Sachen, und unseren einzigen Treffer bereitete ich direkt vor. Im Anschluss gab der Lehrer die klare Empfehlung, mich am Freitag spielen zu lassen. Uli war skeptisch: er arbeitete die ganzen Jahre daran, mich zu mehr Körperlichkeit zu ermutigen. In heutiger Sprache ausgedrückt, machte ich in der Tat oft „den letzten Schritt“ nicht; und in Zweikämpfen mit dem ballführenden Gegenspieler war ich meistens von vornherein passiv und rein reaktiv. Selbst am Ball, kam ich kaum je im Eins-gegen-Eins vorbei; gut war ich im Weiterleiten, und dass mittlerweile viele, nicht zuletzt eben auch Uli, mir gute Übersicht bescheinigten, hieß schon etwas.

Aber es reichte nicht. Uli konnte sich nicht durchringen, ich schaute an jenem Freitag wieder einmal zu, und das erwies sich als die richtige Entscheidung.

Es wurde vielleicht einer der besten Klassenkicks überhaupt am KG, ein Bombenspiel mit einem unwahrscheinlichen Tempo. Die unseren wirkten voll konzentriert, sie gingen mit, hatten überraschenderweise oft selbst den Ball. Gespielt wurden 2x30 Minuten; wir gingen in Führung, und legten kurz vor der Pause das 2:0 nach. Das war nicht der Halbzeitstand, denn direkt danach traten die anderen einen Freistoß mit Wucht ins Tor. Der zweite Durchgang versprach eng zu werden. Aber unsere zogen auf 4:1 davon. Es folgte der einzige Torwartpatzer, doch das 5:2 kam fast prompt. Etwa zehn Minuten vor Schluss ließ einer unserer Spieler vorne einen Ball, den die Gegner eigentlich schon so gut wie abgefangen hatten, nicht los, der Torwart stürzte ihm entgegen, unser Mann schob die Kugel unten durch. 6:2, es nahm jetzt phantastische Züge an. Sie verkürzten am Ende noch auf 6:4, aber das sensationelle Ergebnis war nicht mehr zu erschüttern. Insgesamt hatten etwa 20, 25 Schüler aus anderen Klassen zugeschaut, die jetzt anerkennenden Applaus spendeten. Und ich musste mir eingestehen, dass meine Qualitäten für dieses Spiel nicht gereicht hätten. Zu schnell, zu körperlich, zu wenig Zeit, um die Bälle zu verarbeiten. So gut war meine Technik eben doch nicht.

Im Frühsommer 1980 dann, wir hatten das Abi schon in der Tasche, fand auf dem Schulhof an zwei aufeinanderfolgenden Montagen ein Turnier statt, natürlich keineswegs das erste. Als eine von drei Klassen unseres Jahrgangs hatten wir leider nie etwas gerissen, auch nicht in unserem mutmaßlich besten Jahr in der Elften. Nun waren wir in den letzten beiden Jahrgängen durchmischt, das Klassenprinzip war ja aufgehoben. Wir versuchten, zu unserem Abschied von der Schule noch irgendeine Truppe zusammenzubekommen. Uli war aus einem Grund, den ich nicht mehr erinnere, nicht dabei, dafür aber einige aus unserer alten Klasse sowie zwei aus ehemaligen Parallelklassen.

Ich erwähne das Turnier nicht wegen sensationeller Auftritte unsererseits – siehe unten. Nein, im Rückblick finde ich es erstaunlich, wie sehr sich schon damals zwischen einzelnen Klassen die Spielauffassungen unterschieden, und dass man recht klar sagen kann, dass eine der damaligen Auffassungen, wie sie auf einem Pausenhof einer Stuttgarter Innenstadtschule zu bestaunen war, sich aus heutiger Sicht als absolut „modern“ darstellt.

Wir drangen ins Halbfinale vor, ohne besonders zu spielen; dass es so weit reichen würde, hatten wir nicht direkt erwartet. Dort wartete eine Zehnte auf uns, von der wir wussten, dass sie gut waren; aber richtig hingeschaut hatten wir wohl nicht. Sie überrannten uns, wir hatten nicht den Hauch einer Chance. Es begann mit der schieren Geschwindigkeit: jeder von ihnen nahm jedem von uns auf zwanzig Metern fünf ab, zumindest fühlte es sich so an. Dazu waren sie beweglicher und ließen uns mit einfachen Körpertäuschungen wie Besenstiele aussehen. Und sie trafen nahezu beliebig. Sie kombinierten uns nicht einmal in Grund und Boden; sie schossen einfach, auch wenn man den Angriff noch hätte ausspielen können, und schon wieder war der Ball drin. Ich erinnere die genauen Spielzeiten nicht mehr; 2x15 Minuten maximal, vielleicht sogar nur 2x12. Gut, dass es schnell vorbei war. Zweistellig wurde es aber trotzdem: 10:2 war das Endergebnis.

Im Spiel um den dritten Platz bekamen wir es gar mit einer Achten zu tun. Diese Jungs waren die Sensation des Turniers, und ich will kurz dabei verweilen, weil es das wirklich wert ist. In der Klasse war ein portugiesischer Junge, der zumindest beim Fußballspielen Regie führte, und was soll ich sagen: der Ball lief. Wir alle hatten so etwas in all den Jahren auf unserem Schulhof nicht gesehen; es war auch gar nicht die Art von Fußball, der man normalerweise in Deutschland Aufmerksamkeit schenkte, wo man immer noch versuchte, die weiten Steilpässe zu schlagen oder Flanke und Kopfball zu üben (ja, sogar für den Kick auf dem Asphalt des Schulhofs). Das war kein Sportschau-Fußball, den diese Jungs boten; wenn immer – es ereignete sich selten genug – eine Mannschaft mal über eine gewisse Zeit innerhalb eines Spiels „den Ball laufen ließ“, hieß das im Kommentatoren-Deutsch verlässlich „…kombinierten gefällig“, mit dem Unterton: aber ineffektiv. Diese Achtklässler jedoch spielten in der Tat konsequent am Boden, flott und immer so, dass sie Eins-gegen-eins-Situationen mit großer Leichtigkeit vermieden. Eine Absicherung hatten sie durch ihren Torwart, der diese Position auch im Handballverein einnahm und beeindruckende Reflexe zeigte. Im Halbfinale waren sie an einer Elften gescheitert, an den späteren Turniersiegern, die es vermochten, ihnen rechtzeitig den Ball abzunehmen und ihrerseits ein Kombinationsspiel aufzuziehen, und natürlich spielte auch die körperliche Überlegenheit eine Rolle.

Die waren also etwa fünf Jahre jünger als wir. Wir waren uns im Klaren darüber, dass wir ihnen nicht ins offene Messer laufen wollten. Und in engen Situationen, im Kampf um den Ball, da müssten wir uns doch schlicht und einfach durchsetzen können, oder?!

Konnte ich vom Halbfinale noch berichten, dass unsere Gegner uns nicht in Grund und Boden kombiniert hätten (zugegeben: weil sie es nicht nötig hatten), so passierte genau das im Spiel um den dritten Platz.

Es war ein bisschen wie elf Jahre zuvor zwischen den Garagen. Mit dem Unterschied, dass damals ein Solist unterwegs war, den niemand stoppen konnte. Nun war es eine Mannschaft, die den Ball immer in großer Entfernung von uns hielt und ihn dennoch permanent nach vorne trug. Die Jungs spielten uns erbarmungslos her. Es stand 6:0, bevor wir die ersten zwei machten und in unserer besseren Phase auf 4:7 verkürzten. Aber selbst zu diesen vier Toren muss man sagen: die waren ihnen wurscht. Sie störten uns nur pro forma ein bisschen, weil sie wussten, mit dem Anstoß würde die nächste Chance kommen, uns auszuspielen. Am Ende stand es 9:4.

Für den Turniersieg waren sie noch zu schmächtig; aber fußballerisch hatten sie einen neuen Maßstab gesetzt. Sogar Lehrer, die zugeschaut hatten, waren hingerissen.

Und wir? Es war seltsam. Natürlich waren wir verdutzt; aber irgendwie war uns nicht danach, uns vor Peinlichkeit zu verkriechen. Das mag daran gelegen haben, dass niemand, wirklich niemand sich vor uns hinstellte und uns auslachte oder auch nur augenzwinkernd stichelte. Vielleicht rechnete man uns unser sportliches Betragen an. Beim Schlusspfiff hatte einer von uns kurz in die Hände geklatscht, wir antworteten reflexartig, ebenso kurz, ich würde aus der Erinnerung heraus sagen, dass das einfach unsere Art war zu sagen „Das war’s“; die zahlreichen Zuschauer (sicherlich 50 oder 60) verstanden das vielleicht als Respektsbezeugung für unsere Gegner. Und dann kamen einige auf uns zu, vielleicht fünf oder sechs alles in allem, gaben uns die Hand und sagten irgendwas. Das war der Moment, als uns klar wurde, dass es das jetzt war für uns mit den Kicks auf dem Schulhof, und es waren nette Gesten.

Für mich trat eine Pause ein, was das Fußballspielen anging; es begannen Irrungen und Wirrungen hinsichtlich meiner Zukunftspläne. Als sich zumindest die Richtung geklärt hatte, begann ich im Sommer 1982 meinen Zivildienst, und zugleich kam ich wieder einigermaßen regelmäßig an den Ball, worüber ich kurz im Kapitel „Die Reservebank der Jahrhundertspiele“ berichte. Diese Phase dauerte immerhin fast eineinhalb Jahre an.

Mein Musikstudium verschlug mich im Frühjahr 1984 nach Mainz. Zumindest die ersten fünf bis sechs Semester nahmen mich so in Beschlag, dass an Fußballspielen kaum zu denken war. Allerdings stand ich im Sommer 1986 bei einigen Spielen des jährlichen Uni-Fußballturniers an den Spielfeldrändern der beiden Sportwiesen auf Bretzenheimer Gemarkung. Ich bemerkte erstaunt, wie gut einige Mannschaften spielten, und auch, wie ernst und teilweise erbittert gekämpft wurde. In einem Halbfinale gab es drei oder vier rote Karten (keine unmittelbar wegen eines Foulspiels, sondern alle aufgrund von Tätlichkeiten) und am Ende ein Elfmeterschießen, bei dem nahezu jeder Schuss, gehalten oder verwandelt, wegen vermeintlich nicht regelgerechter Ausführung angezweifelt wurde. Das alles musste der Schiedsrichter ohne jegliche Unterstützung durchstehen: Linienrichter gab es nicht, sogar die Abseitsentscheidungen musste der Schiri alleine fällen.

Für die Zusammensetzung der Teams gab es keine einheitliche Kategorie außer der Vorgabe, dass alle Spieler an der Mainzer Universität eingeschrieben sein mussten (ich habe nie erlebt, dass das überprüft wurde); viele Fachbereiche hatten eine Mannschaft gemeldet, fast immer mit Phantasienamen aus der Kategorie „Blinde Bolzer“, „Break a Leg“ oder „FC Lattenschuss“, aber es gab, quer dazu, auch ein Team, das ausschließlich aus iranischen Studenten bestand. Sie fielen auf mehrfache Weise auf: sie pflegten ein Passspiel am Boden wie sonst keine andere Mannschaft, sie führten oft früh und verloren gegen Ende den Faden; und dann gab es Stress. Sie stellten auch eine der beiden Mannschaften der erwähnten Halbfinalpartie. Die andere Mannschaft vertrat irgendeine Fakultät, die ich vergessen habe. Mit deren Torwart kam ich ein bisschen ins Gespräch, wenn seine Stürmer weit vorne Druck machten: er erinnerte mich irgendwie an Werner Vollack, kam aus Trier (wo Vollack ja auch einmal gespielt hatte); und er stoppte mehrfach Angriffe, indem er sich den Stürmern sprichwörtlich „furchtlos“ entgegenwarf und ihnen den Ball vom Fuß pflückte. Das machte schon Eindruck auf mich, und als er mal wieder Pause hatte, fragte ich ihn, ob er bei solchen Aktionen keine Angst habe: der Stürmer hat mehr Schiss, meinte er.

Seine Mannschaft holte ein 0:2 auf. Im Elfmeterschießen hielt er zwei, doch seine Leute schossen schlechter, und gegen Ende verschoss er selbst einen. Er nahm es sportlich, doch bei einigen anderen – auf beiden Seiten – brannten die Sicherungen durch, und eine komplette Eskalation konnte nur knapp abgewendet werden.

Trotz dieses ambivalenten Erlebnisses war ich angefixt. Und in den kommenden drei Jahren schickten wir Musiker unter dem Namen „Comedian Disharmonists“ tatsächlich eine Mannschaft ins Uniturnier. Wir dürften die bunteste Truppe gewesen sein, die jemals an diesem Turnier teilnahm.

Da waren zunächst mal sogar einige, die früher mal im Verein gespielt (aber auch schon länger keinen Ball mehr gesehen) hatten; dann unser Methusalem Erik, fast schon Mitte dreißig, der um die einsneunzig maß, mit einer Thekenmannschaft gekickt hatte und schlicht der Abräumer im Abwehrzentrum war, was mit seinem instrumentalen Hauptfach Blockflöte auf merkwürdige Art korrespondierte. Da war sogar, beim ersten Mal, unser Dozent für Schulpraktisches Klavierspiel, der sich vor dem Kopfball immer noch schnell die John-Lennon-Brille von der Nase riss, und einer mit Katholischer Theologie als zweitem Fach, der heute ein hochrangiger Geistlicher in Österreich ist. Aber die meisten waren, wie ich, einfach Freizeitkicker gewesen, und einige traten sogar zum ersten Mal wirklich gegen einen Ball – wir hatten durchaus Schwierigkeiten, elf bis dreizehn Leute für die Termine zusammen zu bekommen, die Studienpläne waren sehr individuell, und eine Verletzung, die zum Ausfall am Instrument führen konnte, wollte auch nicht jeder riskieren.

Wir überstanden nie die Gruppenphase. Aber unseren Spaß hatten wir ebenso wie das eine oder andere respektable Resultat. Im ersten Jahr musste ich im letzten Spiel gegen die Lateiner ins Tor und hatte plötzlich Gelegenheit, das ein Jahr zuvor bei der Plauderei mit dem Torwart erworbene Wissen anzuwenden. „Fliegen“, mich werfen, das konnte ich überhaupt nicht, aber ich beschloss, mich durchbrechenden Stürmern blitzschnell entgegenzustürzen. Und es funktionierte famos, ich bekam die Bälle zwar nicht, aber die nervös gewordenen Stürmer schossen weit daneben oder drüber. Natürlich gingen trotzdem welche rein, aber unsere hielten vorne dagegen. In der letzten Minute rannte ich ins Toreck (wie gesagt: Flugparaden hatte ich nicht drauf), um einen Fernschuss zu erwischen, konnte ihn wegfausten und das 4:4 retten: unser erster Punktgewinn, den wir lautstark feierten.

In den drei Jahren gelang uns ein Sieg; es war die erste Partie im zweiten Jahr. Gegner war eine Mannschaft namens „Rotation B“. Für die war es bereits das zweite Spiel. Sie hatten das erste knapp verloren, schön flüssig spielend, aber im Abschluss glücklos. Uns beherrschten sie zunächst klar, führten früh und ließen uns nicht oft an den Ball. Dann schnappte sich unsere Sturmspitze Lothar, Pianist mit zweitem Fach: Sport, was noch eine Rolle spielen sollte, den luschigen Querpass eines gegnerischen Abwehrspielers und schob zum Ausgleich ein – mehr „aus dem Nichts“ geht nicht.

Auf einmal waren wir immerhin ab und zu am Ball. Wenn Lothar ihn vorne hatte, foppte er fintenreich die Gegenspieler, drehte gefühlt minutenlang irgendwelche Pirouetten und behauptete so die Kugel manchmal auch gegen drei, sodass unsere Hintermannschaft durchatmen konnte; im Mittelfeld konnte ich öfters einem durchstartenden Mitspieler den Ball in den Lauf spielen – einer kündigte den nächsten Start immer mit einem tiefen Schnaufer an und brauchte wie ein Diesel etliche Meter, bis er wirklich in seiner Geschwindigkeit war, aber dann zog er den Spurt durch; rechts vorne lief einer unserer Cellisten oft irgendwohin, aber immer so, dass die anderen aufpassen mussten, was er machte; und hinten kloppten Erik und zwei andere nach alter Väter Sitte alles weg, was da wegzukloppen war.

1:1 zur Pause. Es waren, wenn ich mich nicht komplett täusche, 30-Minuten-Halbzeiten, und während wir schon hinter unserem neuen Tor saßen und knieten, Wasser tranken und Sprüche klopften, der Schock. Unser Torwart, Klarinettist, stand plötzlich mit geschulterter Sporttasche vor uns: er müsse weg, Probe für irgendeinen Auftritt am Wochenende.

Wir hatten jetzt keinen mehr, der ernsthaft als Torwart in Betracht kam, also war es eh mumpe. Ich musste rein. Und einer oder zwei sagten, letztes Jahr, das war doch OK, das klappt schon.

Die Gegner waren aus dem Tief nach dem geschenkten Ausgleichstor heraus und spielten uns ziemlich an die Wand. Immer sehr überlegt, saubere Kombinationen im Dreieck, es sah schon gut aus. Unser Gegenmittel waren Lothars Pirouetten – wenn es so weit kam, dass er angespielt werden konnte. Der Cellist bekam kaum noch einen Ball, andere stemmten irgendwo die Arme in die Hüften. Hinter meinem Tor unsere Fans, etwa zehn bis zwölf an der Zahl, unter ihnen auch etliche Kommilitoninnen, ebenso wie Armin, Fagottist, der in den ersten Minuten noch mitgewirkt hatte, sich aber dann seinem fürchterlichen Heuschnupfen geschlagen geben musste. Er trompetete im Minutentakt mit neunzig Dezibel in sein Taschentuch.

Jetzt waren sie durch, Pass auf die Grundlinie, ich ging hin, um den Querpass zu stoppen, aber erstens war ich zu spät und zweitens bleibt man bei so einer Situation zwischen den Pfosten. Kopfball am Fünfer, drin. Aber der Schiri war sofort da und gab Freistoß für uns – keiner wusste genau, wieso. Einige sagten, dass der Pfiff schon vor dem letzten Pass gekommen war (Armin hatte das womöglich übertönt), und die anderen protestierten nicht. Vielleicht war es Abseits.

Das war aber auch schon nahezu alles, was gefährlich auf unser Tor kam. Die hohen Bälle köpfte Erik weg, ein anderer blockte einen Schuss mit dem Hintern; einmal musste ich einen Ball, der sich wahrscheinlich hinter mir hineingesenkt hätte, über den Balken wischen, aber ich hatte Zeit für die Reaktion. Ansonsten kamen einige Schüsse direkt auf mich; ein paar hielt ich fest, und drei oder vier bolzte ich direkt mit dem Fuß raus. Ich wartete auf den unhaltbaren Schuss ins Kreuzeck, aber der kam nicht.

Sieben oder acht Minuten noch, vorne wieder die Pirouetten, und auf einmal hatte er drei Leute hinter und nur noch den Torwart vor sich. „Des gibt’s net“, hörte ich hinter mir, zwischen zwei Trompetenstößen. Kaum einer hatte noch Kraft, zu Lothar hinzulaufen, um das Tor zu feiern. In den letzten Minuten war’s dann doch ein ziemliches Getümmel vor meinem Kasten, aber es kam nichts durch, für mich gab es weniger zu tun als bis dahin. Vorne hatte der Cellist nochmal die Kugel und entschwand irgendwo in einem Paralleluniversum; zum gegnerischen Tor lief er jedenfalls nicht. Dafür brachte es Zeit.

In den letzten zwei Minuten signalisierte Lothar, dass man ihn besser nicht mehr anspielen sollte, er hatte irgendwas. Nun hatten wir gar nichts Konstruktives mehr aufzubieten. Aber es reichte.

In all unserer Euphorie vergaßen wir nicht, unseren Doppeltorschützen zu fragen, was denn sei. Seine Antwort: In einem Wettkampf einige Jahre zuvor hatte er sich einen Muskelfaserriss eingefangen und war nun anfällig; er hatte gespürt, dass sich da wieder etwas anbahnte, und sich so weit wie möglich rausgenommen. Seine Anwesenheit auf dem Platz hatte dennoch bewirkt, dass zwei Gegner bis zum Schluss auf ihn aufpassten.

Uns standen noch zwei Spiele bevor, aus denen uns, so war die Konstellation, ein einziges Unentschieden fürs Viertelfinale reichen würde. Im folgenden Spiel waren wir einige Zeit dran, hielten zur Pause ein 1:1. Am Ende kamen wir nicht mehr mit und verloren 1:4. Schlimmer war aber, dass Lothar trotz Bedenken mitspielte und nach fünf Minuten runter musste – der Muskelfaserriss, jetzt war er da. Im letzten Spiel gingen wir, nach einem noch Hoffnung heischenden 0:1 zur Pause, mit einer Packung unter.

Der Sieg gegen „Rotation B“ begründete keine jahrzehntelange Legende. So wichtig wurde das Kicken drunten am Binger Schlag, wo sich damals noch der Fachbereich Musik befand (heute ist er unter dem Namen „Staatliche Musikhochschule Rheinland-Pfalz“ auf dem Campus angesiedelt) nicht genommen. Aber ein Highlight war es für den Moment schon.

1989 spielten zwei oder drei Kommilitoninnen mit, keine von ihnen ausdrücklich sportaffin (dennoch absolut gewandt), aber das war in diesem dritten Jahr kaum einer von uns. In einem Spiel fing es irgendwann an zu regnen, und weil die wenigsten von uns Stollen- oder Nockenschuhe hatten, flutschten wir immer wieder über den Rasen wie über eine Eisbahn. Im Kontrast zu unserer reinen Spaßtruppe agierten zwei gar finstere Gesellen auf der Gegenseite, die, auch noch, als wir mit etwa sieben Toren hinten lagen, allen Ernstes mit Herbergerschem sliding tackling in uns hineingrätschten und nicht nur einmal völlig unnötig Verletzungen riskierten; zum Glück passierte nichts.

Ich verließ Mainz nach jenem Sommer. Ob es eine Fortsetzung der Geschichte der „Comedian Disharmonists“ gegeben hat, ist mir nicht bekannt.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde Kicken zur absoluten Ausnahme, aber eine Erinnerung ragt heraus. An meiner zweiten Ausbildungsschule auf dem Weg ins Lehramt, im Mannheimer Norden gelegen, war auch ein ehemaliger Profi dabei: Wolfgang Platz, einst in Diensten des VfR Mannheim und des KSC, ein ganz feiner Techniker, der an dem durchschnittlichen Gekicke von uns anderen wohl nicht immer Freude hatte und sich trotzdem für nichts zu schade war. Im Sommer 1991 spielten wir auf dem großen Feld elf gegen elf gegen eine Schülerauswahl aus der Oberstufe. Wir gewannen nach für uns zähem Beginn mit 8:1. Erstaunlich war dabei, dass wir Lehrer samt und sonders eigentlich schon nach 45 Minuten – als es erst 1:1 stand! – vollkommen platt waren und (erfolgreich) um eine Verlängerung der Pause bettelten und die eigentlich fitteren Schüler gerade in der zweiten Halbzeit überhaupt nichts mehr zu bestellen hatten: der Herr Platz organisierte uns durch laute Zurufe, und wenn wir mal Ruhe brauchten, legte er ein Dribbling ein. Das war schon beeindruckend, irgendwie der Sieg des Geistes über die Materie.

Wiederum nach etlichen Jahren, in denen ich maximal einmal pro Jahr für zwanzig Minuten irgendwo mit dabei war, begann an meiner Schule eine Serie eines ebenfalls lediglich jährlich stattfindenden Ereignisses: der Abi-Kick, mit dem die Abiturienten sich am Ende des Abi-Scherzes von den Lehrern verabschiedeten. Der Untergrund war der Rasen des Parks, holprig und alles andere als zum Fußballspielen geeignet. Wir benutzten Jugend-Tore, und über die Jahre gewannen mal die Schüler, mal die Lehrer. Das Wichtigste war die Gaudi für die dicht an dicht um das Spielfeld stehenden jüngeren Schüler. Mein letzter Auftritt endete im Desaster. Die keinesfalls völlig nüchternen Abiturienten, fast alle barfuß und vollkommen aufgedreht, hatten uns bereits niedergespielt, die Krönung war ein Seitfallzieher zum 7:0 gegen uns. Nun aber prallte mir der Ball nach dem Pfostenschuss eines Kollegen entgegen, und nichts würde verhindern können, dass ich den Ehrentreffer erzielte.

Dann lag ich da und hielt das Knie. Es war ein Patellasehnenriss, passend zum Tag; schon vor mir hatten zwei Kollegen das Gelände wegen Verletzungen verlassen müssen (kein einziges Mal, auch in meinem Fall nicht, aufgrund eines Kontakts).

Ab da kickte ich nur noch mit meinen zwei ältesten Söhnen, und irgendwann war ich auch denen nicht mehr gewachsen. Derzeit fordert mich noch der Jüngste, und wirklich, mehr muss es nicht mehr sein. Auch wenn ich immer noch den Kick spüre, wenn ich einen Ball sehe.

Gegen die Laufrichtung

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