Читать книгу Rossi - Ulf Kramer - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL 2
»Er hat nie irgendeinen
Blödsinn gemacht«
Die Jugend
»Ich war in meiner Jugend so gut wie nie verletzt, habe früh Erfolge feiern können, es ging stetig bergauf«, erzählt mir Jörg Roßkopf am Telefon. »Klar kam auch die eine oder andere Niederlage, die wehgetan hat, aber für mich war das nur Anreiz, weiterzuarbeiten.«
Dann klingelt es bei mir an der Tür, mein Hund springt auf und bellt wie ein Verrückter.
»Herr Rossi, halt die Klappe«, rufe ich und stutze. Am anderen Ende der Leitung verstummt auch Roßkopf. Nur mein Hund kläfft ungerührt weiter.
»Ich meine nicht dich«, sage ich, »mein Hund heißt Herr Rossi.«
Roßkopf lacht. »Herr Rossi sucht das Glück, verstehe«, sagt er.
Seinen Spitznamen »Rossi« hat er schon als kleiner Junge erhalten. Einen Bezug zur italienischen Zeichentrickfigur aus den siebziger Jahren gibt es nicht. Bis heute nennen ihn viele Freunde, Bekannte und Spieler so.
Ich selbst hatte nie einen Spitznamen, dafür ist mein Vorname zu kurz und der Nachname zu normal. Auch sonst gibt es keine wirklichen Parallelen zwischen mir und Rossi, mit einer Ausnahme. Wir kommen beide aus einer Tischtennisfamilie. Allein meine Mutter weiß mit einem Schläger nichts anzufangen, sonst sind mein Vater, meine Geschwister und ich, das gescheiterte Talent der Sippe, der Zelluloidkugel verfallen. Tischtennis ist in solchen Familien Dauerbrenner. Da werden die Ergebnisse des letzten Spieltags besprochen, wird über Beläge diskutiert, das Training koordiniert (Mama fährt hin, Papa holt ab), die Technik des Rückhand-Topspins kritisiert, Vorbilder genannt und die Trikotfarbe der Damenmannschaft gelobt.
Auch bei der Familie Roßkopf mit den Brüdern Thomas und Jörg drehte sich alles um den kleinen weißen Ball. Am Wochenende wurden die Sporttaschen gepackt, Beläge geklebt und fast die gesamte freie Zeit in Turnhallen verbracht. Der Verein wird schnell zu einer zweiten Heimat, man hat dort seine Vertrauten und Freunde, kennt die Abläufe und ist Teil eines eigenständigen Systems. Die Arbeit und Leistungen der Vereine im Breitensport sind nicht hoch genug einzuschätzen. Dort entstehen oft enge Gemeinschaften, die Mitglieder werden zu gegenseitigen Wegbegleitern auch weit über den Sport hinaus. Obwohl Tischtennis als Einzelsportart gilt, ist gerade das Vereinswesen in diesem Sport stark ausgeprägt. Das Mannschaftsgefühl ist bei Meisterschaftsspielen in den Ligen oft ebenso präsent wie bei klassischen Teamsportarten. Spiele der Freunde werden nervös beobachtet, Punkte beklatscht, es wird für die Mannschaft gestritten und gejubelt, mitgefiebert und am Ende oft zusammen gefeiert. Das werden viele kennen. Im Anschluss an die Spiele hockt man beieinander und spricht alles noch einmal durch. Jedes Detail kann schier endlos diskutiert werden. Nach einem Wochenende liegen dann montags die Wäscheberge im Keller, während bereits das Training für die nächsten Tage geplant wird. Das ist Alltag in vielen Familien. Doch zu den Roßkopfs gibt es natürlich den einen entscheidenden Unterschied: Der kleine Jörg wird eine große Karriere hinlegen, und das bahnt sich recht früh an.
Angefangen hat er mit fünf Jahren in seiner Heimatstadt bei der DJK Blau-Weiß Münster in Hessen. Das 15.000-Einwohner-Örtchen im Rhein-Main-Gebiet liegt zwischen Aschaffenburg, Frankfurt und Darmstadt und garantiert eine beschauliche Kindheit. In den siebziger Jahren wird hochklassiges Tischtennis in der Umgebung bei den Bundesligisten Eintracht Frankfurt, der FTG Frankfurt und dem TTC Mörfelden gespielt. Früh ist Roßkopf dort Zaungast, und ebenso früh entwickelt sich in seinem Kopf die Idee, selbst einmal dort aufschlagen zu wollen. In der ersten Liga spielen damals schon einige, gegen die Roßkopf später antreten sollte, wie Engelbert Hüging, Wilfried Lieck, Peter Engel und auch internationale Stars, etwa der junge Mikael Appelgren oder Desmond Douglas.
Im Verein profitiert Jörg schnell von einem guten Trainer, Horst Heckwolf, der noch heute Verbandstrainer in Hessen ist. Roßkopf erinnert sich nach wie vor gern an die Zeit seiner Anfänge. Heckwolf macht ein tolles Training, die Einheiten sind vielfältig und motivieren die Nachwuchsspieler, besonders Jörg. Schnell stellen sich erste Erfolge ein. Dietmar Günther, der mit Jörg seit dem Kindergarten befreundet und damit einiger der wenigen ist, die ihn schon vor Beginn seiner Leidenschaft Tischtennis kannten, erinnert sich, wie früh der spätere Europameister allen anderen überlegen war. Wenn es darum ging, in einer Übung Schläge zu trainieren, macht Jörg spätestens beim zehnten Ball schon etwas anderes, etwas Überraschendes. Er probiert Bälle, die in den Augen der anderen eigentlich gar nicht gehen. An seinen Spielwitz kommt keiner ansatzweise heran.
1981 wird Jörg Roßkopf deutscher Schülermeister im Doppel, der Startschuss zu einer ganzen Reihe von Siegen und guten Platzierungen in den Nachwuchswettbewerben des DTTB. So zeigten auch die Ergebnisse, dass aus dem Jungen etwas werden könnte.
Der hessische Verband wird schnell aufmerksam und lädt Jörg ins Landesleistungszentrum nach Frankfurt ein, wo er zuerst zweimal und später sogar viermal die Woche trainiert. Schon seit 1979 hat Jörg einen Sponsor – damals ist er gerade zehn Jahre alt. Die Firma JOOLA zeigt Interesse, und die Eltern unterschreiben einen Ausrüstervertrag für ihren Sohn. Seitdem ist Roßkopf eng mit dem Unternehmen aus Siebeldingen und dessen Geschäftsführer Michael Bachtler, bis heute sein Manager, verbunden.
In Hessen endet Anfang der achtziger Jahre mit den Abstiegen von der FTG Frankfurt (schon 1977), Eintracht Frankfurt und Mörfelden, immerhin Gründungsmitglied der Bundesliga und mehrfacher Deutscher Meister, eine kleine Ära. Der Hessische Tischtennisverband ruft in Kooperation mit der FTG Frankfurt ein Projekt ins Leben, um in absehbarer Zeit wieder eine Mannschaft des Landesverbandes ins Oberhaus zu führen. Zu diesem Zweck sollen die besten Nachwuchsspieler des Landes zusammengeholt werden und bei der FTG Frankfurt in der zweiten Liga antreten. Als verantwortlicher Spielertrainer wird Helmut Hampl, selbst lange in der ersten Bundesliga aktiv, ernannt. Er ist bekannt für sein gutes Auge und sein »Händchen« im Umgang mit jungen Spielern. Auf der Liste der größten Talente steht neben Namen wie Hans-Jürgen Fischer und Thomas Roßkopf auch der des jungen Jörg Roßkopf von der DJK Blau-Weiß Münster.
1984 wechselt Jörg nach Frankfurt. Bei der DJK war er zuvor in der zweiten Herrenmannschaft aufgestellt – in der Bezirksliga. Jetzt spielt er in der zweithöchsten deutschen Klasse. Ein gewaltiger und gewagter Sprung. Roßkopf hat Glück, denn er rutscht spät in die neue Mannschaft, weil ein anderer Spieler, der bereits zugesagt hatte, kurzfristig abgesprungen ist. Doch Hampl glaubt schon früh an den Jungen aus Münster. Er erinnert sich, dass Roßkopf bereits als Schüler ein harter Arbeiter und immer sehr konzentriert im Training war. »Er hat nie irgendeinen Blödsinn gemacht«, sagt er, »sondern war immer sehr ehrgeizig.« Selten hat er einen Elf- oder Zwölfjährigen gesehen, der bereits solch eine Fokussierung auf seinen Sport entwickelt hat. Der junge Roßkopf weiß, was er will und was er tun muss, um seine Ziele zu erreichen: hart an sich arbeiten. Zusammen mit Hampl wagt er den Sprung ins kalte Wasser der zweiten Liga, denn er vertraut dem Trainer und spürt, dass dieser ihn schützen wird, sollte es einmal Rückschläge geben.
Doch neben Tischtennis hat ein Schüler noch andere Verpflichtungen. Jeder hat das mitgemacht, diese Konflikte um das geliebte Hobby, das man am liebsten den ganzen Tag ausüben würde. Die meisten Jungs treiben sich auf den Fußballplätzen rum, viele Mädchen gehen reiten, und heute – folgt man den Klischees – sitzen alle vor dem Computer und verirren sich zwischen Facebook und SchülerVZ. Daneben gibt es das große Übel Schule samt Lehrern sowie die Eltern, die doch so gern gute Noten auf den Zeugnissen sehen möchten. Auch Jörg muss Schule und Hobby unter einen Hut bringen, nur dass Tischtennis bei ihm schnell über eine normale Freizeitbeschäftigung hinausgeht. Er ist von Anfang an auf Tischtennis fixiert, andere Hobbys interessieren ihn nicht wirklich. Schon früh ist er auch außerhalb Deutschlands unterwegs. Sein Freund Dietmar Günther erinnert sich, dass Roßkopf irgendwann in der Schule fehlte, weil er in China einen Lehrgang besuchte. Viele seiner Mitschüler haben wahrscheinlich noch Mühe, die Hauptstadt und den Kontinent zu nennen, der kleine Jörg ist schon dagewesen. Oft kommt er erst um zehn Uhr abends nach Hause, muss ab und zu noch seine Hausaufgaben erledigen – das stresst natürlich. In seinem Kopf formt sich das Bild, eines Tages an einer Platte zu stehen, ein wichtiges Spiel zu bestreiten, drumherum die Zuschauer, die mitfiebern. Viele Jugendliche haben solche Träume. Der eine will Rockstar werden, der andere sich selbst im Kino sehen, der nächste möchte Bücher schreiben. Jörg will Tischtennis spielen. Nicht viele verwirklichen ihre Träume.
»Der Jörg hat eigentlich gar keine richtige Jugend wie wir anderen gehabt«, erzählt Dietmar Günther. »Wenn wir mit Freunden auf dem Bolzplatz unterwegs waren, ist der Rossi zum Kadertraining nach Frankfurt gefahren.« Hat Jörg mal Zeit, ist er auch beim Fußball dabei, doch er ist ein bisschen weich, so Günther, und hat schon früh Angst, sich zu verletzten. Das wäre natürlich eine Katastrophe, denn ein paar Tage nicht an die Platte gehen zu können, ist für Jörg eine Horrorvision. Stundenlang hält er sich mit seinen Freunden und Kollegen in der Trainingshalle auf. Bald wird er von einigen mit dem Hausmeister verglichen, denn oft schließt er die Halle mittags auf und abends wieder ab. Er geht voll in der Tischtennis-Gemeinschaft auf, interessiert sich nur wenig für andere Dinge. Natürlich geht er auch mal auf eine Party, schaut einem Mädchen hinterher, doch seine Aufmerksamkeit gilt sonst nur dem Sport. Diese Ernsthaftigkeit beruhigt auch seine Eltern und schafft Vertrauen. Für seine Freunde ist bald klar, dass es ihr Kumpel schaffen wird, ganz nach oben zu kommen.
Trotz des konstanten Aufstiegs des Nachwuchsspielers Roßkopf erlebt er die ganz alltäglichen Aufs und Abs eines Jugendlichen. Jörg holt seinen Freund Dietmar jeden Morgen zuhause ab, um mit ihm zusammen zur Schule zu radeln. Dietmar Günther erinnert sich lebhaft an das gelbe Bonanza-Fahrrad, mit dem Jörg in seiner Jugend immer unterwegs war. »Das war sein Markenzeichen«, sagt Dietmar Günther. Eines Morgens kommt er, wie immer pünktlich, vorgefahren, stellt sein Rad ab, klingelt und wartet, bis geöffnet wird. Dietmar macht die Tür auf und fällt beinahe in Ohnmacht. Jörg steht mit Dauerwellen vor ihm. »Der hat immer glatte Haare gehabt«, erzählt Günther gutgelaunt. »Und dann hat er Dauerwellen. Mein Vater wollte die Tür am liebsten sofort wieder zuma chen.« Auch in der Schule trifft Roßkopfs neue Frisur überraschenderweise auf keine allzu positive Resonanz, sodass am Nachmittag ein erneuter Gang zum Friseur erfolgt. Auch Jörg Roßkopf ist eben nur ein Teenager mit all seinen Irrungen und Wirrungen. Wie sagt man gern beim Anblick eines Fotos aus der eigenen Jugendzeit: Ich war jung und brauchte das Geld.
Bei der FTG Frankfurt wird der nun 15-jährige Jörg in der ersten Saison an Position sechs im hinteren Paarkreuz aufgestellt. In der Mannschaft spielt auch sein zwei Jahre älterer Bruder Thomas zusammen mit einer ganzen Reihe hoffnungsvoller deutscher Talente. Jörg startet gut und gewinnt gleich seine ersten beiden Spiele – 20 Mark pro Sieg macht 40 Mark Prämie. Für einen Jungen in Roßkopfs Alter in den achtziger Jahren keine kleine Summe. Doch schon damals denkt er weiter. Mit den Erfolgen wächst auch der Ehrgeiz. 1983 hat er die deutschen Schülermeisterschaften gegen Steffen Fetzner gewonnen. Die beiden kennen sich bereits seit einem Lehrgang der Schüler-Nationalmannschaft in Osnabrück. Ein Jahr später holen sie sich zusammen in Linz Silber im Doppel bei den Jugend-Europameisterschaften, geschlagen nur von zwei jungen Jugoslawen namens Primorac und Lupulesku. Früh trifft er auf Kontrahenten, von denen ihn einige über 20 Jahre seiner Profikarriere begleiten werden. Tatsächlich sagt Roßkopf heute, dass er schon damals an eine internationale Karriere gedacht hat.
Im Dezember 1984 macht er sein erstes Länderspiel für Deutschland gegen Jugoslawien – Folge einer radikalen Verjüngungskur, die Bundestrainer Charles Roesch und Eva Jeler in die Wege geleitet haben und der einige prominente Spieler wie Peter Stellwag zum Opfer fallen. Doch vor allem ist es eine Anerkennung von Roßkopfs Einstellung und Leistung. Sein Ehrgeiz ist nahezu grenzenlos. Er möchte nicht einer unter vielen guten Tischtennisspielern sein, sondern das Maximum aus seinen Möglichkeiten machen. Das klingt ganz einfach, ist aber mit einem ungeheuren Aufwand verbunden.
Das Leben in der Familie Roßkopf ist, wie erwähnt, vom Tischtennis geprägt. Die Eltern sind beide aktiv, der Vater spielt bis heute, und die Söhne treten bereits als Teenager in der zweiten Bundesliga an. Das bestimmt den Rhythmus der Familie. Die vielen Trainingseinheiten sowie die Spiele und Turniere am Wochenende sind mit einem großen logistischen Aufwand verbunden, denn Thomas und Jörg müssen viel gefahren werden und das kostet Zeit. Die Eltern haben das Talent ihrer Söhne schnell erkannt und wissen, was für eine Chance sich den beiden bietet, im Tischtennis nach oben zu kommen. Dem wollen sie nicht im Wege stehen. Nicht nur Jörg sticht dabei hervor, vorneweg geht der ältere Bruder Thomas, der 1984 deutscher Jugendmeister wird. Dennoch entscheidet sich Thomas nach der Schule für eine Ausbildung – ein rationaler Entschluss und scheinbar vernünftig. Tischtennis professionell zu betreiben, scheint damals keine echte Perspektive zu sein, denn noch sind die Verträge der meisten Spieler nicht besonders gut dotiert.
Der jüngere Bruder geht einen anderen Weg, und heute ist Jörg Roßkopf froh über seine Entscheidung. Eine Ausbildung hätte ihn viel Zeit gekostet, Zeit, die er für das Training brauchte. Die Weichen werden so schon früh auf eine Karriere als Profisportler gestellt – eine mutige Entscheidung der ganzen Familie. Die Eltern sprechen natürlich auch mit Helmut Hampl über die Zukunft ihres Sohnes. Der Trainer hat eine klare Haltung. In seinen Augen ist es zu verschmerzen, wenn man nach dem Realschulabschluss zwei Jahre lang alles auf die Karte Profisport setzt. »Danach kann man immer noch sein Abitur machen, wenn es nicht funktioniert«, sagt Hampl überzeugt. Bei einer Karriere im Hochleistungssport dagegen ist das beste Lernalter, die Zeit zwischen dem 16. und 19. Lebensjahr, nicht zu kompensieren. Was man in dieser Zeit verpasst, ist im Sport nicht aufzuholen, auf der Schulbank schon. Eine Gewährleistung, ganz oben anzukommen, gibt es natürlich nie, das weiß Hampl. Schnell kann sich ein Spieler verletzen, krank werden oder der mentalen Belastung nicht gewachsen sein. Doch er ist sicher, in Roßkopf alle Voraussetzungen für eine Karriere als Tischtennisspieler zu entdecken.
Nach einem Jahr in Frankfurt bekommt Roßkopf das Angebot, im Internat des neu eingerichteten Deutschen Tischtennis-Zentrums in Duisburg-Wedau zu leben und zu trainieren. Der bundesweite Trainingsstützpunkt soll vier Jahre vor der WM 1989 im eigenen Land die Förderung des Nachwuchses und die landesweite Sichtung verbessern. Die ausgewählten Jugendlichen sollen in der Kombination Schule, Sport und Wohnen ideal auf die Zukunft vorbereitet werden und die Perspektive für eine Karriere als Profi aufgezeigt bekommen. Bundestrainer Charles Roesch ist Mitinitiator des Projekts und verspricht sich durch die Zentralisierung schon kurzfristig Ergebnisse. Trainiert und gelebt wird in der Sportschule des Fußballverbands Niederrhein, wo dem Tischtennis-Zentrum zwei kleine Hallen und ein Wohntrakt zur Verfügung stehen. Dort zieht auch Roßkopf ein, um mit den anderen größten Talenten im Land, unter ihnen auch Steffen Fetzner und Nicole Struse, Tischtennis zu spielen und ganz nebenbei die Schulbank zu drücken.
Der Wechsel ins Internat ist ein weiterer großer Schritt, denn Roßkopf muss sein Heimatland Hessen verlassen und ins Ruhrgebiet ziehen – eine andere Welt. Die Eltern sind vor dem Auszug ihres Sohnes zuerst skeptisch. Jörg selbst muss gar nicht überlegen. Sein Ehrgeiz ist ausgeprägt, er möchte unbedingt diesen Schritt gehen. Das Wort seiner Eltern ist ihm wichtig, doch sie hätten ihn niemals umstimmen können, etwas anderes zu machen. Natürlich geht er ein Risiko ein. In diesem Alter sein Elternhaus zu verlassen, alles auf die Karte Tischtennis zu setzen, die Schule eigentlich nur noch nebenbei zu machen – das weckt natürlich Sorgen. Der Verband mit Hans-Wilhelm Gäb und die Firma JOOLA erklären sich bereit, einen Beitrag zu den anfallenden Kosten des Internats zu leisten, um ein finanzielles Risiko für die Familie auszuschließen. Helmut Hampls Zuspruch dämpft mögliche Sorgen auf der sportlichen Seite, denn er ist von der Leistungsfähigkeit Roßkopfs überzeugt.
Von diesen wichtigen Akteuren unterstützt, lassen die Eltern ihren Schützling ziehen. Sie geben ihm emotionalen Rückhalt, vermitteln ihm wichtige Werte und Moralvorstellungen. Er weiß, dass er immer zu seinen Eltern zurückgehen kann, wenn es mit dem Tischtennis wider Erwarten doch nicht klappen sollte. Und Roßkopf ist wichtig zu erwähnen, dass er immer seinem eigenen Antrieb folgte, seine Eltern niemals Druck auf ihn ausübten und gute Ergebnisse verlangten. Er ist keines dieser Kinder gewesen, die stellvertretend die Träume ihrer Eltern von einer Sportlerkarriere verwirklichen sollte. Den Ehrgeiz dafür hat er ganz allein, er will es nicht anders. Training, Turniere, Lehrgänge, Spiele – all das bestimmt Jörg Roßkopfs Leben, seit er ein kleiner Knirps war. Er ist ein Kind dieser speziellen Tischtennis-Gesellschaft und wurde schnell zu deren Aushängeschild. Auch rückblickend ist er noch froh über die Unterstützung seines gesamten Umfelds, denn er ist sich bewusst, wie groß der Schritt nach Duisburg für einen Jugendlichen seines Alters war. »Ich weiß nicht, ob ich das meinen Kindern heute ohne Weiteres erlauben würde«, sagt er nachdenklich. »Das war schon mutig damals, und ich würde gucken, ob ich nicht eine Lösung finden könnte, die näher an der Heimat läge.«
Trotz der räumlichen Distanz zwischen Duisburg und Frankfurt läuft er weiterhin für die FTG in der zweiten Bundesliga auf, in der Saison 1985/86 im oberen Paarkreuz. Die Hessen können sich glücklich schätzen, denn Roßkopfs Leistungen in der zweiten Liga sind anderen neugierigen Augen nicht verborgen geblieben. Im Frühjahr 1985 war der ATSV Saarbrücken mit Manager Georg Rebmann an Roßkopf herangetreten. Die Mannschaft aus dem Saarland ist damals in der Bundesliga eine große Nummer, genießt die Unterstützung des Bürgermeisters und späteren Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine, hat unter anderem Jan-Ove Waldner unter Vertrag und ist von 1983 bis 1985 dreimal in Folge Deutscher Meister geworden. »Die haben für damalige Verhältnisse ordentlich Geld auf den Tisch gelegt«, erinnert sich Michael Bachtler. »Aber nach einem langen Gespräch hat Jörg akzeptiert, dass dieser Schritt in die erste Liga, in dieses Haifischbecken, zu früh käme.«
Zu dieser Zeit waren die spielerische Entwicklung und das Training noch wichtiger als der Wettkampf und womöglich ein erster Titel mit einer Vereinsmannschaft. Zudem ist die Begeisterung in der Mannschaft um Helmut Hampl nach wie vor groß. Die Spieler halten zusammen und treten gern für die FTG an. Die Mannschaft ist stark und spielt um den Aufstieg in die erste Liga mit. Auch seine persönliche Karriere geht immer weiter bergauf. Echte Rückschläge gibt es nicht. Tatsächlich sollte es lange dauern, bis Roßkopf seine erste echte sportliche Krise überstehen muss. 1986 gewinnt er die Jugend-Europameisterschaft an der Seite von Steffen Fetzner und wird Zweiter beim Europäischen Top 12 in derselben Klasse – übrigens vor Jean-Michel Saive und Jean-Philippe Gatien. Er hat sich in seiner Generation auch außerhalb Deutschlands schnell einen Namen gemacht. Nur dass ein großer Titel im Einzel ausbleibt, wurmt ihn ein wenig. Viele spätere Größen der Szene treten früh in Erscheinung. Waldner, Persson, Appelgren, Kalinic, Mazunov oder Kreanga tauchen alle in den Siegerlisten der europäischen Nachwuchswettbewerbe auf. Allerdings stößt man in den Annalen auch auf viele Namen von Talenten, die den Sprung in den Profisport nicht geschafft haben und im Niemandsland des Tischtennis verschwunden sind.
Im Internat von Duisburg bieten sich Roßkopf ideale Möglichkeiten. Die Gemeinschaft passt, und zu Beginn ist Roßkopf auch in der Schule noch motiviert. Das Training leiten Martin Ostermann und Li Xian Ju, von den Spielern Mister Li genannt. Auch Charles Roesch, Istvan Korpa, Eva Jeler und Klaus Schmittinger sind immer wieder in Duisburg, um den Nachwuchs zu beobachten und zu unterstützen. Montags und dienstags kommen die Spieler von Borussia Düsseldorf nach Duisburg, um dort als Sparringspartner zu fungieren. Andreas Preuß, damals Spieler und später Manager und Trainer der Borussia, erinnert sich gern an diese Zeit zurück. Schnell hatte er einen guten Draht zu Roßkopf. Ab und zu geht man auch mal zusammen feiern, doch diese Gelegenheiten sind neben Training und Spielen selten. Schnell überflügelt Roßkopf auch altgediente Spieler. »Er konnte mir immer ein paar Punkte vorgeben«, sagt Preuß heute schmunzelnd, »aber meinen Vorhandaufschlag hat er immer schlecht angenommen.«
Das Programm in Duisburg ist hart. Die Schüler im Internat sind im positiven Sinne besessen von Tischtennis. Das erste Mal gehen sie von halb sechs bis halb sieben Uhr morgens in die Trainingshalle, drücken anschließend die Schulbank, trainieren dann am Nachmittag und Abend erneut. Irgendwann reicht es den Lehrern, sie wollen keinen Haufen schlafender Tischtennisspieler vor sich sitzen haben und verbieten das frühe Training. Die Doppelbelastung Schule und Tischtennis wird Roßkopf irgendwann zu viel. Nach dem Realschulabschluss bricht er in der elften Klasse ab. Er kommt einfach nicht mehr mit, hat des intensiven Trainings wegen zu viele Fehlstunden, um dem Stoff noch folgen zu können. Ihm ist die Zeit in der Halle wichtiger als die im Klassenzimmer. »Die jungen Spieler trainieren nicht mehr genug«, sagt er heute, »spielen schon zu früh zu viele Turniere und vergessen, eine Basis zu legen.« Bei ihm war das anders. Er sucht von Beginn an die ständige Verbesserung, nicht einfach nur die schnellen Erfolge.
Mit der FTG Frankfurt gelingt in der Saison 1985/86 der Aufstieg in die erste Liga. Früh lernt er, den gemeinsam errungenen Triumph zu schätzen. Ein Gefühl, das er bei seinen späteren Vereinen immer wieder erleben wird. Doch mit der Freude über den vermeintlichen Aufstieg mischt sich die Enttäuschung über die finanziellen Schwierigkeiten des Vereins. Die FTG kann den Platz in der ersten Liga nicht annehmen. Damit bricht die Mannschaft auseinander, denn die Spieler haben sich unter Helmut Hampl so gut entwickelt, dass die meisten von ihrem Können her in die erste Liga gehören. Auch Roßkopf sieht sich zum Wechsel gezwungen, denn noch ein Jahr in der zweiten Liga würde seine Entwicklung bremsen. Mit Freude wäre er in seiner Heimat geblieben, der Abschied fällt nicht leicht. Zu Hampl sagt er, gern werde er zurückkommen, wenn in Hessen mal ein Verein in der ersten Bundesliga etabliert sein sollte. Er wird sein Versprechen viele Jahre später wahrmachen.
Als der Branchenprimus aus Düsseldorf anklopft, hat Roßkopf bereits ein Angebot aus Jülich vorliegen, der Wechsel ist fast klar. Doch die Anfrage der Borussia kann er nicht ausschlagen. Nach dem Engagement bei Frankfurt unter Helmut Hampl und dem Umzug ins Deutsche Tischtennis-Zentrum nach Duisburg ist dies der dritte Glücksfall der frühen Phase in Roßkopfs Karriere. Düsseldorf ist schon damals die erste Adresse in Tischtennis-Deutschland, mehrfacher Deutscher Meister und Pokalsieger. Hans Wilhelm Gäb, Eberhard Schöler, Wilfried Micke, Wilfried Lieck, Peter Hübner, Jochen Leiß, Ralf Wosik, Desmond Douglas – ein kurzer Auszug der Spieler, die in Düsseldorf unter Vertrag standen. Auch Steffen Fetzner ist dort gelandet und bereits einmal mit der Borussia Meister geworden. Spitzenspieler ist 1986 der Schwede Jörgen Persson, der im Frühjahr Europameister geworden ist; als Trainer hat man im selben Jahr den jungen Kroaten Mario Amizic verpflichtet, der zuvor Zoran Primorac in die internationale Elite geführt hat. Geleitet wird der Verein von Wilfried Micke, der alle Fäden in der Hand hält, starken Einfluss auf die Mannschaft nimmt und professionelle Strukturen garantiert. Die Voraussetzungen für Tischtennis der Extraklasse könnten nicht besser sein.
Roßkopfs Leben spielt sich nun zwischen Rhein und Ruhr, Düsseldorf und Duisburg ab. Alles in seinem Umfeld ist auf eine Karriere als Tischtennisprofi ausgerichtet, und 1986 hat niemand mehr echte Zweifel, dass Rossi es schaffen wird. Er hat nicht nur in Deutschland viele überzeugt. Der Franzose Jacques Secretin, Europameister von 1976, bezeichnet seinen Landsmann Jean-Philippe Gatien und Jörg Roßkopf als größte Talente des Kontinents. Besonders die stabile Psyche Roßkopfs und seine Härte in der Vorbereitung haben viele im Tischtenniszirkus beeindruckt. Noch sind die Verdienstmöglichkeiten zwar überschaubar, viele Akteure in der ersten Liga bestreiten oder erlernen nebenbei einen Beruf, doch der Markt entwickelt sich positiv. Vorreiter ist Ralf Wosik, der als Profi alle Energie dem Tischtennis widmet und damit gut über die Runden kommt.
Roßkopf geht seinen Weg kompromisslos. Ein »Spiegel«-Artikel über ihn und Steffen Fetzner aus den späten achtziger Jahren ist mit »Volles Risiko« überschrieben und meint damit die Einstellung der beiden, unbedingt in den Profisport einsteigen zu wollen. Auch Michael Bachtler wird zitiert, der für die absoluten Spitzenspieler in Deutschland ein Jahreseinkommen von bis zu 200.000 Mark prophezeit. Roßkopf selbst hat während seiner gesamten Jugendzeit nicht ein einzige Mal wirkliche Bedenken, dass er es nicht nach oben schaffen könnte. Unsicherheit und Selbstzweifel scheint er nicht zu kennen. »Es ging immer weiter, ich habe immer Erfolg gehabt und einen Schritt nach dem anderen genommen, sodass ich kaum Zeit hatte, über all das kritisch nachzudenken«, erinnert er sich.
Seine Vorbilder damals sind zwei Schweden; die Kombination ihrer Stärken beschreibt den Spieler Roßkopf hervorragend. »Das war zuerst Stellan Bengtsson«, sagt er. »Der war bekannt für seinen unermüdlichen Trainingseifer.« Die meisten Jugendlichen suchen sich ein Idol aus, weil es gut aussieht, verrückte Sachen macht, auf den Titelblättern der Zeitschriften ist oder besonders cool erscheint. Roßkopf wählt jemanden, der über seine Einstellung zum Erfolg gelangt. Bengtsson gewann 1971 Gold bei der WM und 1972 bei der EM und spielt in den achtziger Jahren lange in der Bundesliga. »Als zweites Erik Lindh«, fährt Roßkopf fort, »weil er ein sehr modernes Spiel hatte, sehr nah am Tisch spielte und früh den Ball nahm.«
Nach seinem Durchbruch in der Bundesliga und Nationalmannschaft traf Roßkopf zwar nicht mehr auf Bengtsson, aber immer wieder auf den fünf Jahre älteren Lindh. Sein einprägsamstes Erlebnis ist die knappe Niederlage gegen sein Idol bei der WM 1987 in Neu Delhi. Im Viertelfinale der Mannschaftswettbewerbe traf die deutsche Mannschaft auf die favorisierten Schweden und hielt das Spiel bis zu einem 4:4 offen. Das Duell des 17-jährigen Roßkopf gegen Erik Lindh musste die Entscheidung bringen. »Das war schon schwierig damals«, erinnert er sich. »Immerhin ging es um den Einzug ins Halbfinale, und dann musste ich gegen mein Idol antreten.« Das Spiel ging mit einem bitteren 19:21 im dritten Satz an den Schweden. »Wir saßen da auf der Bank und haben fast geweint«, erinnert sich Michael Bachtler. Dennoch war es für Roßkopf etwas Besonderes zu merken, dass er mit den Spielern, die er einst bewundert hat, plötzlich auf Augenhöhe mithalten konnte. Er hat sich die Einstellung eines Bengtsson und den aggressiven Spielstil Lindhs zu Eigen gemacht und ist so selbst zum Vorbild tausender Nachwuchsspieler geworden.
Dem jungen Roßkopf kommt bei Borussia Düsseldorf auch die Erfahrung der dort spielenden gestandenen Profis zugute. Mannschaftskollege Ralf Wosik etwa lebt ihm vor, was es heißt, Tischtennis beruflich zu spielen. Auch der frischgebackene Europameister Jörgen Persson, drei Jahre älter, weist ihm den Weg. Der Schwede hat auch international große Erfolge gefeiert und setzt ebenfalls alles auf die Karte Tischtennis. Bei der Borussia lernt Roßkopf zudem früh, mit extremem Druck umzugehen. Mit Jülich liefert sich Düsseldorf damals regelrechte »Hassduelle«, die Spieler werden von den Zuschauer angepöbelt, die Stimmung bei den ausverkauften Spielen kocht. Das ist schon etwas anderes als in der zweiten Liga. In den Vereinen, bei den Spielern und vielen Zuschauern ist Tischtennis eine Lebenseinstellung, viele Klubs wie Steinhagen, Grenzau, Lübeck oder Reutlingen haben eine lange Tradition.
Die Zeiten sind damals noch andere. Roßkopf steigt in einer Phase ein, als der Sport vor seinem großen Boom steht – dessen Träger er bald werden sollte. Die ersten Jahre aber spielt er noch gegen die alte Generation des Tischtennis. Die Mannschaftsduelle in der Bundesliga gehen – wie bis heute in den Amateurklassen – bis neun gewonnene Einzel- oder Doppelspiele über viele Stunden, entfalten eine ganz andere Intensität als heute. Auch die Identifikation der Spieler und Fans mit einem Verein ist noch ausgeprägter. Damals lernt Roßkopf Erfolge mit der Mannschaft schätzen, die oft schöner sind als individuelle Titel, denn man bereitet sich zusammen vor, kämpft zusammen und kann am Ende – läuft es gut – auch gemeinsam feiern. Während der Saison geht man schon mal mit den Mannschaftskameraden einen trinken, am nächsten Tag treffen sich alle wieder in der Halle zum Training. Roßkopf ist ein geselliger Typ, ihm liegt das. In einer funktionierenden Gemeinschaft fühlt er sich wohl.
Schon in dieser frühen Phase seiner Karriere erlebt er viel, sammelt wichtige Erfahrungen, positive wie negative. Gemeinsame Siege zu erringen ist ebenso wichtig, wie nach einer Niederlage mit schlechter Mannschaftsleistung vom Manager in der Kabine zur Sau gemacht zu werden. In der Bundesliga reift Roßkopf zu einem internationalen Star. Über die FTG Frankfurt nimmt er den Weg nach Düsseldorf, um dort für den Vorzeigeverein Deutschlands an die Platte zu gehen. Das ist das Maximum, was ein junger Spieler erreichen kann und entspricht damit zu hundert Prozent Roßkopfs Philosophie. »Mich hätten damals nur eine Verletzung oder irgendwelche privaten Probleme stoppen können«, sagt er heute.
Sicher gehört auch immer eine Portion Glück dazu, in wichtigen Momenten die richtigen Leute und Entscheidungen zu treffen. Roßkopf hatte dieses Glück mit Helmut Hampl, seinem wichtigen Förderer in den Jugendjahren, später mit Zlatko Cordas sowie Mario Amizic, die ihn – der eine als Teamcoach in der Nationalmannschaft, der andere als Trainer von Düsseldorf – in die absolute Weltspitze führten. Zudem konnte er sich auf sein Umfeld, seine Familie verlassen, die ihm nie Druck gemacht hat, dafür stets Rückhalt war. Diese Voraussetzungen sind nötig, um ans Limit der Leistungsfähigkeit zu gelangen. Bemerkenswert ist Roßkopfs frühe Fokussierung, seine Beharrlichkeit und die geistige Klarheit, mit der er die Dinge angeht. Er hat schon als Jugendlicher mehr trainiert als nahezu alle anderen, mehr investiert, mehr geopfert – auch wenn ihm das nicht so vorkam – und auch mehr davon profitiert. Die Titel kamen schnell und zu Beginn doch noch überraschend.