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Wurst und Wahn

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Wie gebannt steht er da, mit weichen Knien, kann seine Augen nicht losreißen von den drallen Leibern, die sich hinter dem großen Schaufenster im rot-violetten Licht räkeln. Kann sich nicht satt sehen an ihren üppigen Rundungen, die sich ihm in ihrer rosigen, feuchten Pracht in Lendenhöhe offenherzig darbieten. Die hemmungslosen Luder gewähren ihm einen tiefen Blick in ihr Allerinnerstes und er weiß schnell, dass er eine von ihnen gleich nehmen wird. Da tritt aus dem Hintergrund, gewandet allein in einen blutbefleckten, straffen Zuchtkittel, die gestrenge Domina an ihn heran und als er zu ihr aufsieht, kann er in ihrem Blick lesen: »Womit kann ich’s dir denn besorgen, du mieser, kleiner Struller?« Doch noch bevor sie etwas sagen kann, bricht es auch schon aus ihm heraus: »Leberwurst! Grob! Fett! 200 … nein … 500 Gramm! Und vier dicke Bauchscheiben … schnell bitte!«

Hier geht’s um die Wurst. Ich muss da nämlich für mich mal was klären … und das geht nur hier. Mit wem sollte ich sonst über meine besondere Beziehung zu Wurst reden? Man muss sich nur folgenden Dialog vorstellen:

»Du, … ich brauch‘ mal deine Meinung. So von Mann zu Mann.«

»Klar, gerne. Worum geht’s?«

»Tja, also … ich weiß gar nicht, wie ich … ähmm, … also – ich glaube, ich habe eine erotische Beziehung zu einer Dauerwurst aufgebaut.«

»Äh, … was? Sag‘ das noch mal.«

»Ich habe mich in eine Dauerwurst verliebt. Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll.«

»In eine Dauerwurst??!«

»Dauerwurst, genau.«

»Sag‘ mal, spinnst du? Ist dir jetzt nichts mehr heilig? Vor zwei Tagen hast du mir noch erzählt, dass du mit der Rügenwalder zusammen ziehen willst.«

»Die dicke Teewurst? Nee, zwischen uns ist es aus …«

Mit wem sollte ich solch ein Gespräch führen? – den Schließer in der Klapse mal außen vor gelassen? Da werde ich jedoch eines Tages punktgenau landen, wenn ich meine besondere Beziehung zu Wurst nicht in den Griff kriege. Heroin ist eine weltweit verfemte Droge, Kokain global verboten, selbst Marihuana ist in unserem Kulturkreis in Verruf geraten und deshalb illegal. Was aber ist mit Wurst? Die Wursttheke in einem großen Supermarkt kann leicht die Ausmaße der Reeperbahn erreichen, eine Peep-Show im Naturdarm, ein legaler Umschlagplatz für die ganz harten Sachen – und am Samstag vor Ostern ein soziales Pulverfass!

Ich bin wurstsüchtig. Ich führe das darauf zurück, dass entweder eines meiner Gene deformiert ist, oder … – das geht mir jetzt nicht so leicht über die Lippen – … oder meine Mutter ist daran schuld. Um eines vorab klar zu stellen: Ich liebe meine Mutter, selbst das, was von ihr bei Pflegestufe II noch übrig ist, aber ich kann ihr diese Feststellung nicht ersparen. Doch, ich denke, ihr habe ich meine Wurstsucht zu verdanken.

So erinnere ich mich bis heute lebhaft an die samstäglichen Einkaufsfahrten mit meinen Eltern nach Gelsenkirchen, als wäre ich gerade erst von dem letzten Ausflug dorthin zurückgekehrt. Das Kernziel der Versorgungsfahrt war stets eine kleine Metzgerei in der Stadtmitte, die wir allerdings erst nach dem vorherigen Pflichtbesuch im Westfalen-Kaufhaus in der Fußgängerzone ansteuerten. In unserer Stadt gab es so etwas nicht, wer in die mehrstöckige Konsumwelt eines Kaufhauses wollte, musste mindestens bis nach Gelsenkirchen.

Und meine Mutter wollte immer ins Kaufhaus, auch wenn ich sie dort nie etwas kaufen sah. Aber es machte sich gut, wenn man in der Folgewoche im Treppenhaus davon erzählen konnte, welche Blusen man anprobiert, am Ende schweren Herzens aber nicht gekauft hatte, weil die Farbe dann doch nicht so stimmte. Ich wusste es besser, denn was in der Regel nicht stimmte, waren die verfügbaren Größen – meine Mutter teilte mit Luciano Pavarotti ganz sicher nicht den Musikgeschmack, wohl aber die Konfektionsgröße. Aber sie versuchte es immer wieder, scheiterte immer wieder und steuerte trotzdem nach dem Kaufhaus immer wieder ihre Stamm-Metzgerei in der Nähe des Marktplatzes an. Immer ging es direkt nach dem Kaufhaus an die Wursttheke.

Diese Reihenfolge hatte sich in der Praxis bewährt, es machte schließlich so gar keinen Sinn, erst nach dem Einkauf beim Metzger ins Kaufhaus zu gehen, um dann einen gefühlten Doppelzentner Fleisch- und Wurstwaren eine Stunde lang durch die Damenoberbekleidung zu schleppen. Zumal es seinerzeit nur Papiertüten gab und es beim Fachpersonal – übrigens auch in der Herrenabteilung für Sondergrößen – nur bedingt gut ankam, wenn mir das Blut aus der Tüte tropfte, was bisweilen vorkam. Ich war es nämlich, der immer die Fleischtüte tragen musste, die war leichter als die Wursttüte, die mein Vater stets wie ein Baby in seinen Armen hielt, weil ansonsten spätestens nach drei Metern die papiernen Henkel ausrissen.

Das alles war für mich vollkommen normal. Ich war ein kleiner Junge von sechs oder sieben Jahren und stand mit meinem Vater immer auf der Straße vor dem Laden, denn in der Metzgerei wollte meine Mutter uns nicht haben. Das war allein ihre Bühne. Doch wir konnten sie durch das große Schaufenster von draußen beobachten, wie sie mal hierhin rannte und mal dorthin zeigte, wie sie unschlüssig den Kopf auf die Seite legte, ganz oft nickte und sich nach einer halben Ewigkeit dann doch noch zu uns umdrehte. Mein Vater war schon entsprechend konditioniert: »Komm, ich glaub‘, jetzt könn’ we rein.« Dann zückte er seine Brieftasche und zahlte murrend in großen Scheinen.

Das Bild meines Vaters, klein von Wuchs, der sich mit beiden Armen eine zum Bersten volle Tüte mit Wurst an die Brust drückt und im Wettermännchen-Gang versucht, die stramme Pace meiner Mutter zu halten, hat sich mir unauslöschlich eingebrannt. Und das wir solche Mengen Fleisch und Wurst einkauften, war für mich samstäglicher Alltag. Ich kannte es nicht anders, von Kindesbeinen an war ich es gewohnt, dass der Kühlschrank wie ein Schlachtfeld roch, wie mein Vater des Öfteren beiläufig erwähnte. Er war während des Krieges in Russland und wird gewusst haben, wovon er sprach.

Aber meine Mutter konnte wohl nicht anders, ich denke, bei ihr war das in gewisser Weise eine Kriegsverletzung. Sie hatte nämlich all das mitgemacht, was man selber nur aus den Dokumentationen auf Phönix kennt: in kalten Kellerlöchern kauernd kleine Kartoffeln kauen, Schwarzwurzeln ausgraben, Blumen essen, Hunde essen – all diese Scheiße. Monatelang, um bloß nicht zu verrecken. In diesem schlechten Film hatte sie wahrscheinlich mehrfach eine Marienerscheinung, nur dass die nicht das Jesuskind im Arm trug, sondern einen Rollbraten mit Kräuterkruste. Sie war ein junges Mädchen zu der Zeit, gerade mal siebzehn Jahre alt. Für sie gab es kein Morgen mehr. Doch sie überlebte knapp, auch ihre große Liebe kam vollständig erhalten aus dem Felde zurück und es kam die Zeit des Wiederaufbaus. Und dann die fetten Jahre, das Land setzte wieder Speck an. Und Mudder vorneweg.

Ich mache ihr deshalb keinen Vorwurf. Ich denke, sie wollte Depots anlegen, falls so etwas noch einmal passiert. Auch an uns. Meinen Vater mästete sie innerhalb weniger Jahre derart, dass er aufgrund seiner spärlichen Größe etwas kubisches hatte, sie selber überragte ihn um Kopfeslänge und stand ihm auch sonst in Nichts nach. Dabei verkannte sie völlig ihre eigenen Dimensionen, denn ich weiß nicht, wie oft ich sie habe sagen hören: »Boh … kumma, … die da drüben … die is‘ aber viel dicker als ich!« Sie lag fast immer daneben, doch bei meinem Bruder und mir hatte sie ein Abo auf die immer gleiche Antwort: »Klar, Mudder. Die is‘ dicker. Viel sogar …«

Als meine Mutter aus ihrer Wohnung ins Pflegeheim umgezogen wurde, fiel mir beim Sortieren ihrer Habseligkeiten eine Kiste mit alten Fotos in die Hand. Bei der Sichtung stieß ich auf etliche entlarvende Kinderfotos von mir, auf denen meine Mutter ihre große Wertschätzung des Fleischerhandwerks quasi manifestiert hatte: Ich im Kinderwagen, mit einem Würstchen in der Hand. Ich auf dem Karussell, mit einem Würstchen in der Hand. Ich fand ein Strandfoto von einem Norderney-Urlaub, da winke ich mit einer Krakauer aus der Sandburg – ich bin da höchstens vier Jahre alt! Dann noch ein Schnappschuss von meinem elften Geburtstag, als mir eine Nachbarin ein Paket mit elf Mettwürsten geschenkt hatte, für jedes Jahr eine. Sie dachte tatsächlich, sie könne mir damit eine Freude machen, womit sie vollkommen richtig lag. Für das Bild haben sie mir die Würste wie eine Halskette angelegt, eine habe ich offensichtlich schon in den Backen verteilt, denn mein glücksschwangeres Grinsen offenbart auch die vielen Mettfetzen, die mir zwischen den Zähnen hängen.

Dann noch diese unsäglichen Bilder von mir und meinen Freunden mit der Beute unserer gemeinsamen Konfirmation. Sie zeigen eine Gruppe debil grinsender, dicklicher Zombies mit unterirdischen Ponyfrisuren, die sich wie Bolle über die viele Kohle freuen, die ihnen an diesem Tag in etlichen Briefumschlägen zugesteckt wurde und die sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet haben – neben einer gigantischen Wurstplatte.

Etwas später hatte ich dann den Handball für mich entdeckt und das viele Training straffte mich zusehends, zumal ich innerhalb von nur zwei Jahren um beinahe zwanzig Zentimeter wuchs. Wenn ich heute Bilder von mir aus dieser Zeit sehe, frage ich mich, warum ich mich auch da noch immer zu dick fühlte. Ich denke, ich war schon damals vor allem mental adipös.

Insofern bin ich mir verhältnismäßig sicher, dass allein meine Mutter schuld ist an meinen Gewichtsproblemen. Genau genommen habe also auch ich noch unter den Spätfolgen des Krieges zu leiden. Vielleicht ist deshalb der Pazifismus so tief in mir verwurzelt.

ZU DICK ZUM BEAMEN

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