Читать книгу Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf - Uli Wittstock - Страница 5
Montag
ОглавлениеDie Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten nicht viel Glück gehabt, denn sie war immer wieder heimgesucht worden von Horden aus allen Himmelsrichtungen, nicht wegen ihrer Schätze, denn als besonders reich galt der Landstrich nie, sondern wegen ihrer zentralen Lage an mehreren Handelswegen, über die sich eben auch gut Soldaten und ihre Gerätschaften transportieren ließen. Erschwerend kam hinzu, dass die Stadt sich nicht an das Ufer eines Flusses schmiegte, der einen natürlichen Schutz geboten hätte und nicht einmal ein Flussarm als Lebensader aufzuweisen hatte, sondern allenfalls ein oder zwei Rinnsale, die nur in den seltenen Fällen eines Hochwassers zu einem kräftigeren Bach anschwollen. Dies hatte das Leben der Bewohner über Jahrhunderte beeinflusst und zur Ausprägung eines Menschenschlags geführt, dessen emotionale Kargheit ein Abbild jener Verhältnisse war, in denen nun einmal nichts fließen konnte. Das hatte auch Auswirkungen auf die Kriminalstatistik, in welcher Straftaten mit emotionalem Hintergrund deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt registriert wurden. Dieser Wochenauftakt war also für Kommissar Schneider eine besonderer, denn die Installation, anders konnte das unmittelbare Umfeld der Leiche nicht bezeichnet werden, ließ eine gewaltige Portion Arglist und Hass vermuten. Jetzt allerdings blickte Schneider auf ein Blatt mit vier Buchstaben, AYCB, flammend Rot auf Schwarz, das heute Morgen hinter dem Scheibenwischer steckte, ohne Telefonnummer und Web-Adresse. Seine Frau, eine ausgewiesene Kennerin von Sonderangeboten im Netz, würde mit dem Zettel wohl mehr anfangen können. Schneider drehte das Papier zwischen den Fingern seiner rechten Hand, während er den Fleck an der Wand näher betrachtete. Das Zeug war wohl organischen Ursprungs, dem Anschein nach aber keine Körperflüssigkeit. Etwa handtellergroß war die Verfärbung, nach oben ausästelnd und von einer Corona feiner Spritzer umgeben. Die Tapete hatte die Flüssigkeit wohl rasch aufgesaugt, denn nichts war die Wand heruntergelaufen. Frohrieb hatte einen seiner berühmten gelben Klebezettel neben dem Fleck geparkt, mit einem Krakel darauf, der es später den Auswertern erleichtern sollte, die Vorgänge in diesem Raum zu rekonstruieren, vorausgesetzt jemand konnte das Gekritzel dann noch entziffern. Er hätte sich stundenlang dem Fleck und seinen filigranen Strukturen widmen können, um sich nicht mit jenem anderen Arrangement beschäftigen zu müssen, welches den übrigen Raum einnahm. Wie ein Schwarm Fliegen klebten dort Frohriebs Zettel auf einer höchst merkwürdigen und zugleich beunruhigenden Installation.
Eigentlich hätte das Gebäude zu dieser Tageszeit vor Aktivität vibrieren müssen, im Klappern der Tastaturen, dem nervösen Quengeln der Handys, dem Gezwitscher der Sondermeldungen und im Sprechgesang der Korrespondenten. Studiotüren hätten schmatzend zufallen müssen, hinter dem eiligen Schritt der Nachrichtensprecher, und Leitungen hätten geschaltet werden müssen, Regler geöffnet, Fragen gestellt und Antworten aufgezeichnet werden müssen, um sie in Halbsätze zu schneiden und anzurichten für den täglichen Gebrauch, damit sie ihren Schrecken verlören. Das alles passierte vielleicht sogar, doch davon bemerkte Schneider nichts.
Arzt, Fotograf und Techniker waren bereits abgezogen und die Männer mit dem Sarg warteten irgendwo in ihrem Wagen, der sicherlich dezent und unauffällig geparkt war.
„So wenig Aufsehen wie möglich“ – diese Bitte, oder besser gesagt diese Anweisung, war ihm vom Chef auf den Weg gegeben worden. Doch wie sollten die Bestatter unter den gegebenen Umständen ihren Job unauffällig durchführen? Den Sarg von der Tiefgarage per Aufzug zum Tatort zu transportieren, war sicherlich nicht das Problem. Wie allerdings die Leiche in den Sarg passen sollte, das war die wohl spannendere Frage. Der Tod erwischt die Menschen ja in den unmöglichsten Momenten. Schlussendlich, dank Erdanziehung, gelangt aber ziemlich jeder Leichnam in eine Post-mortem-Position, die den Abtransport in den dafür üblichen Behältnissen ermöglicht. Hier freilich stellte sich die Situation deutlich anders dar. Der Körper des Opfers war auf eine Art und Weise modelliert worden, dass der Transport in regulären Särgen wohl unmöglich war, zumal die Leichenstarre bereits eingesetzt hatte.
Seine Frau war nicht nur talentiert auf der Suche nach Sonderangeboten im Netz, sondern war auch eine engagierte Hobbyköchin. Sie behauptete gelegentlich, es am Herd zu einer gewissen Meisterschaft gebracht zu haben. Die Zurichtung des Opfers hätte sie wohl als tournieren bezeichnet. Gelenke brechend, Gurgeln kappend und allerlei Hautlappen miteinander vernähend, pflegte sie aus einem handelsüblichen Geflügel einen irgendwie zusammengepressten Haufen Fleisch herzustellen. Nach welchem Kochbuch der Täter hier vorgegangen war, musste sich allerdings erst noch erweisen. Rein instinktiv bezweifelte Kommissar Schneider jedoch, dass es für dieses Arrangement überhaupt ein kulinarisches Vorbild gab, allenfalls die asiatische Küche schien ihm artverwandt zu sein, aber vielleicht war dies nur ein Vorurteil. Das Opfer lag auf dem Bauch, der sich trotz der Überdehnung noch prall unter dem zu engen Hemd abzeichnete. Der Oberkörper war zurückgebogen und die Arme auf dem Rücken gefesselt, sodass die Hemdknöpfe gefährlich spannten. Die Beine waren ebenfalls angewinkelt. Füße und Hals des Opfers waren umwickelt mit dünnen Plastikbändern, die sich nun wie eine Sehne über den gebogenen Körper spannten. Der Tod war wohl nicht plötzlich und schnell gekommen. Auf dem feinen Hemdstoff unter den Achseln zeichneten sich großflächige Inseln der Angst ab. Der Schweiß war getrocknet und die Umrisse erinnerten Schneider an Irland. Das dünne blonde Haar lag verklebt auf der Stirn, wurde dann rechts ein wenig länger und alle Versuche des Opfers, der Verknotung zu entkommen, hatten einen beginnenden Haarausfall freigelegt. Um die Mundwinkel herum und auf der Hemdbrust waren Tränen, Schweiß, Speichel und was sonst Menschen in so einer Situation von sich zu geben pflegen zu einer Art Borke geronnen, die in einem seltsamen Widerspruch zu der ansonsten sehr gepflegten Erscheinung des Opfers stand. Wahrscheinlich stranguliert, hatte der Arzt mitgeteilt, bevor er gegangen war. Die Tatwaffen, wenn man überhaupt von solchen reden konnte, waren offensichtlich Tonbänder. Seit Jahrzehnten hatte Schneider solches Material nicht mehr gesehen. Er hatte die Existenz solcher Bänder sogar vollständig vergessen, regelrecht verdrängt, wie er sich gerade eingestand, dabei hatten solche Tonbänder in seiner Jugend einen großen Teil seiner Freizeit in Anspruch genommen. Seltene Stücke, denen der Ruf vorauseilte, verboten zu sein, wurden bis zur Unhörbarkeit kopiert. Ein Song namens Moscow fiel Schneider ein, in dem es der Legende nach um Panzer ging. Die Aufnahme klang dumpf, als hätte der Sänger einen Knebel im Mund, und die Gitarre plärrte mulmig, selbst wenn man den Tonkopf nachjustierte. Tonbänder waren der gewickelte Soundtrack seiner Jugend. Hier allerdings waren sie zu einem letzten Blues verknüpft worden – in einem Funkhaus.
„Wie lange werden Sie hier noch zu tun haben?“
Die Stimme kam ganz offensichtlich nicht vom Tonband, sondern aus dem Mund eines Menschen hinter ihm. Schneider drehte sich um.
„Udo Malchwitz, Geschäftsführer.“
In der Hand spielte er mit einer Visitenkarte, die er Schneider beinahe ein wenig zu beiläufig überreichte: Udo Malchwitz, magister artium, chief executive producer. Der Mann schien noch keine vierzig zu sein. In seiner Erscheinung erinnerte er Schneider an einen Fernsehmoderator, sorgfältig frisiert, gewinnendes Lächeln und mit einer bestimmenden, aber nicht zu aufdringlichen Körperhaltung, die sich nur durch das Tragen von Maßanzügen erreichen lässt. Zu allem Überfluss kaute der Geschäftsführer auf einem bleistiftstarken roten Gegenstand herum, den Schneider als Teil einer Mohrrübe identifizierte. In der Hand hielt Malchwitz ein ganzes Bündel sorgfältig geschnittener Möhren.
„Ich gewöhne mir gerade das Rauchen ab“, sagte er und fuhr dann unvermittelt fort: „Wir müssen die Mittagssendung schon aus unserem Unterhaltungsstudio fahren. Die Kollegen brauchen den Redaktionsraum, damit wir wenigstens den Abendreport aus dem aktuellen Studio fahren können.“
Schneider war ein lernfähiger Mensch. Im Hörfunk wurde also gefahren, und das Tempo bestimmte ein sogenannter chief executive producer. Er war allerdings Polizist und hatte nun, um im Bild zu bleiben, den Finger auf der Ampelschaltung.
„Das Büro wird versiegelt bleiben, bis die kriminaltechnischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Ein paar Stunden kann das noch dauern.“
Die Möhrenstückchen kurvten einen Sekundenbruchteil schneller im Mund des Geschäftsführers.
„Wir haben rund dreihunderttausend Hörer pro Stunde und gute Werbekunden, die auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu uns stehen. Die Konkurrenz hat seit heute Morgen allerdings einen Vorteil. Bei denen liegen nämlich keine Leichen in den Redaktionsräumen rum, oder täusche ich mich?“
„Uns ist noch nichts zu Ohren gekommen“, sagte Schneider.
So perfekt wie der Maßanzug, so geschliffen erwies sich auch die Sprache des Geschäftsführers. Die Vokale glitten ihm ohne eine geringste Färbung von der Zunge.
„Wir sollten die Redaktion gegen die Schwachköpfe vom Fernsehen komplett abschließen.“
„Vermuten Sie den oder die Täter bei Ihren Fernsehkollegen?“
Malchwitz biss ein weiteres Möhrenstück ab.
„Gehen wir doch in mein Büro“, sagte Malchwitz.
Wäre die Stadt an den Ufern eines nennenswerten Flusses errichtet worden, so hätte sich die Vorderfront des Gebäudes wohl zum Wasser hin geöffnet – ein großflächiges Ensemble aus Glas und schlanken Metallstreben, das nach den Wettbewerbsunterlagen des Architekten florale Bezüge herstellen sollte. Da es der Stadt an einem Fluss mangelte, nahm die Fassade die Sichtachse der bestimmenden Gebäude auf: Vom Getürm des Müllheizkraftwerks im äußersten Westen über die Kirchdächer und Bürgerhäuser der Altstadt bis hin zu den sich duckenden Flachbauten im Gewerbegebiet am Ostrand. Tagsüber brach sich das Licht auf der unregelmäßigen Fassade des Gebäudes und verwirrte vor allem Vögel, die regelmäßig gegen das Glas prallten, aber auch das Mondlicht sammelte sich in den Scheiben, sodass nach Sonnenuntergang vor allem Betrunkene gegen die bruchsicheren Scheiben knallten.
Auch das Büro des Geschäftsführers öffnete sich zur Stadt und ermöglichte eine mannshohe Aussicht auf das andere Machtzentrum: Landtag und Staatskanzlei, schräg gegenüber und davon nur wenig entfernt die abweisende Fassade der Landesbank. Ein Schreibtisch oder, wie Schneider eher fand, eine Schreiblandschaft, beherrschte den Raum. Die Konstruktion erinnerte an eine komplizierte Autobahnabfahrt. Mehrere Ausfahrten und Abzweigungen in Form von zusätzlichen Tischen machten es dem Benutzer möglich, auf der täglichen Irrfahrt von Sitzungen und Meetings neue Themen und Inhalte anzusteuern. Zu diesem Zweck waren Aktenordner, Hefter, Ausdrucke, Artikel, Zeitschriften, Broschüren, Bücher, Faxausdrucke, Notizzettel, Memos, Mitteilungen, Kopien und Visitenkarten auf verschiedene Stapel verteilt. Ein großflächiger Computerbildschirm sowie ein Laptop standen wie Burgwächter inmitten dieser scheinbar herrschaftsfreien Papierwelt.
„Wilkhahn war sicherlich nicht der Beliebteste hier im Hause, obwohl er als Journalist durchaus einige Qualitäten hatte. Allerdings gab er sich große Mühe, diese Eigenschaften in möglichst viel Rotwein aufzulösen.“
Malchwitz hatte ihn an einem runden Tisch platziert, den Schneider als typisches Konsensmöbel einer modernen Führungskultur identifizierte. An eben einem solchen Tisch hatte der Polizeipräsident mit Schneider ein halboffizielles Gespräch geführt, heute Morgen, nachdem das Handy ihn vorzeitig zum Dienst beordert hatte.
„Der Fall ist heikel, immerhin ist das Opfer ein anerkannter Journalist.“
Die Stirn des Präsidenten faltete sich noch tiefer.
„Sie wissen, dass wir uns um einen guten Kontakt zur Presse bemühen.“
Der Vorgänger des Präsidenten hatte erst vor einigen Monaten auch aufgrund einer Pressekampagne vorzeitig das Chefzimmer räumen müssen, und so mancher im Präsidium glaubte, der Nachfolger habe seinerzeit die Fäden gezogen. Nun jedenfalls saß Schneider noch vor der Mittagspause erneut an einem Katzentisch der Macht, nur in einem anderen Gebäude.
„Also, wie lange werden Sie brauchen, bis wir unsere Redaktionsräume wieder nutzen können?“
Der ihm zugewiesen Stuhl wirkte mit seiner Stahlrohrlehne sehr klassisch, verhinderte allerdings ein bequemes Sitzen. Schneider fühlte sich ein wenig unbehaglich.
„Die Spurensicherung wollte mir Bescheid sagen. Es kann nicht mehr lange dauern.“
Malchwitz hielt erneut eine Möhre in seiner Hand. Diesmal benutzte er sie jedoch als Taktstock, um seine Worte zu orchestrieren. „Wir können hier ganz ehrlich sein. Natürlich haben wir einen Auftrag. Seit Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen ist die Pressefreiheit ein hohes Gut, und die Medien haben eine große Macht. Aber wir haben auch eine Verpflichtung. Über was reden die Menschen morgens beim Bäcker, welches Thema bestimmt die Kaffeepause im Büro und welche Nachricht wird zu Hause am Abendbrottisch diskutiert? Wir geben unseren Hörern und Zuschauern eine Orientierung, dafür werden wir bezahlt. Und deshalb brauchen wir Arbeitsbedingungen, die uns nicht einschränken, falls Sie verstehen, was ich meine.“
„Ich verstehe Sie voll und ganz“, sagte Schneider.
Eine Stunde später gab Frohrieb den Toten zum Abtransport frei. Die Kollegen vom Bestattungsunternehmen hatten sich auf eine deckellose Variante geeinigt. In einer Art Zinkwanne, abgedeckt mit einem Tuch verließ Manfred Wilkhahn das Funkhaus mit dem Fahrstuhl, zum letzten Mal und unter den Augen der im Flur versammelten Kollegen. Die Stille wirkte fremd an diesem Ort. Ins Leere ragten die Kapseln der Studiomikrofone, die Kopfhörer lagen darunter, achtlos zwischen die Manuskripte geschoben, die Regler auf den Pulten waren in Wartestellung halb aufgezogen und einen Moment schien es so, als sei das Funkhaus von einer Stille befallen worden, bis plötzlich mit einem scharrenden Geräusch die Jalousien an der Glasfront des Gebäudes sich senkten, denn die Sonne war gerade zum ersten Mal an diesem Tag aus dem Wolkenschleier aufgetaucht.
Ein schmales Grau. Möglicherweise ein Streifen Himmel, vielleicht aber auch ein Stück Rinne oder Blech. Um mehr zu sehen, hätte er den Kopf drehen müssen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Noch nicht. Das hoffte er zumindest. Das Grau war starr. Kein Flattern, kein Flimmern. Wenn er die Augen schloss, war es nicht mehr da. In ihm war das Grau also nicht. Dies beruhigte ihn etwas. Unter den Lidern tanzten aber auch keine Punkte und Kreise. Manchmal war das anders. Auch kein Pfeifen in den Ohren. Nicht der leiseste Nachhall. Die Zunge im Mund konnte er bewegen. Sie glitt nicht über stumpfe Zähne. Dann machte er eine Pause. Er musste nachdenken. Allerdings hatte er kein Thema. Auch keine Idee. Das war das Problem. Solche Gedanken waren verboten. Dann lieber starr liegen. Im Nichts. Im grauen Nichts. Irgendetwas stimmte aber nicht. Grau. Er wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Grau. Es war irgendwie anders.
War er noch einmal weggedämmert? Er wusste es nicht. Das Grau war noch immer starr. Vielleicht sollte er jetzt den Kopf drehen. Er fühlte sich bereit dazu. Das Grau endete an einem Fensterrahmen. Er war enttäuscht. Dann sollte er es jetzt mit seiner Hand versuchen. Möglicherweise gab es da Überraschungen. Er wartete noch. Spürte er eine Spannung? Auf was konnte er hoffen? Ihm fiel nichts ein. Also blickte er wieder zum Grau. Er hatte es heller in Erinnerung. Vielleicht ging schon die Sonne unter? Blieb ihm keine Zeit mehr? Er musste handeln. Eine Hand, vielleicht die Rechte, kratzte auf Stoff. Die anderen Finger griffen nach etwas, das sich anfühlte wie Leder. Das fand er verheißungsvoll. Ein Fuß drehte ins Leere, der andere lag wohl unter einer Decke. Wenn er mehr wissen wollte, musste er seinen Kopf wohl noch weiter drehen. Der Fensterrahmen endete an einer weißen Wand, die zu einem Regal hinüber leitete. Tropenholz, das als Raumteiler sich weiter in die Tiefe zog. Er drehte den Kopf in die andere Richtung. Ein dünnes Laken, benutzt, aber nicht zerwühlt, das Kopfkissen glatt gestrichen. Er war allein. Er setzte sich aufrecht. Kein Schwindelgefühl. Er schlug die Decke zurück. Keine Stäube, Tabletten, Flecken, Krümel oder Kristalle, kein Blut, keine Tränen. Es war zehn vor zehn und er war zu früh wach geworden. Das beunruhigte ihn. Er stöpselte sich von seinen Schlafsensoren aus. Der Kabelstrang endete über seiner Schulter. Von dort führten dünnere Drähte zu den Messpunkten unter einer Gummimanschette, die wie ein Schweißband seinen Kopf umspannte. Mit einem Piepton bestätigte der Rechner den Eingang der Daten. Er setzte sich auf die Bettkante, dann wechselte er hinüber zum Arbeitstisch und rief die Schlafdateien der letzten sechs Wochen auf. Das beunruhigende Gefühl blieb. Die letzte Nacht war seit Beginn der Messungen die mit der kürzesten Tiefschlafphase. Das Grau war übrigens tatsächlich das Grau des Himmels. Die Stirnseite des Appartements war verglast, sodass er auf die Stadt herabschauen konnte. Von Zeit zu Zeit hätte er die Gebäude gerne im Dunst gesehen, doch es fehlte ein Meer oder wenigstens ein Fluss, aus dessen Niederungen der Wind Nebelschwaden in die Straßen hätten treiben können. Zudem wurde in der Stadt nicht so hoch gebaut, sodass es selbst im Dachgeschoss schwer war, einen hinreichenden Abstand zum Bordstein zu halten. Dennoch war er geblieben. Seine Laune hellte sich etwas auf, als der Bildschirm sein aktuelles Gewicht anzeigte, einhundertdreißig Gramm weniger als am Abend zuvor. Damit hätte er fast seinen Idealwert wieder erreicht.
Diesem jagte er bereits seit mehreren Tagen hinterher. Die Ursache vermutete er in einem Abendessen der letzten Woche, eigentlich einem Arbeitsessen mit seinen beiden Programmierern, flinke aber übergewichtige junge Burschen, und obwohl er den Teller fast unberührt zurückgegeben hatte, waren doch ausreichend Fettmoleküle an ihm hängen geblieben, sodass er beschlossen hatte, Übergewichtigen nun nicht mehr die Hand zu geben.
Während er noch auf der Waage stand, ließ er die übrigen Werte durchlaufen. Körpertemperatur und Ruhepuls lagen im optimalen Bereich, der Blutdruck zeigte nur eine geringe Abweichung. Dann stach er sich in den Finger, setzte einen Tropfen Blut auf den Teststreifen und schob ihn in das Messgerät. Der Blutzucker war deutlich zu niedrig. Dies erklärte wohl auch die schwierige Aufwachphase und die Probleme mit dem Tiefschlaf. Er würde den Medidoc fragen müssen. Zum Schluss pustete er seine Atemluft in den Analysestutzen. Lungenvolumen sehr gut, keine Spuren von Alkohol und kein Hinweis auf eine Infektion im Halsbereich. Kein Grund also, seine Morgenroutine zu unterbrechen.
Die hatte er vor Wochen umgestellt, nachdem sich die Probleme mit dem Blutfett zugespitzt hatten. Sein Medidoc, ein Experte, der von allen seinen Experten der geheimste war, hatte für ihn eine Folgemilchtherapie entwickelt, in Anlehnung an russische Volksmärchen. Der Medidoc war vor Jahren aus irgendeiner sibirischen Landschaft zugewandert und behauptete noch immer, dass der Morgen klüger als der Abend sei und Recken bis zur Geschlechtsreife von einer Amme gesäugt werden müssten. Ammen seien out, hatte dann allerdings das Team einstimmig beschlossen. Folgemilch tue es auch, beschied daraufhin der Medidoc.
Seit mehreren Wochen ließ er also jeden Morgen Trockenmilch in ein Glas rieseln und goss dann entwurzeltes Wasser nach, das ihm ebenfalls der Medidoc lieferte, ein Wasser, dem in einem aufwendigen Verfahren die räumliche Erinnerung genommen worden war. Bei der Herstellung spielten wohl Mondphasen, Erdmagnetismus und Kristallsiebe eine Rolle sowie ein Parcours aus Steinen, Torf, Kaffeefiltern und einer Klangschale, durch welchen das Wasser wie ein Katarakt stürzte, bis es seine Herkunft vollständig vergessen hatte. So könnten im Körper keine störenden Spannungen aufgebaut werden, hatte der Medidoc erklärt.
Er schüttelte das Gemisch auf und sah zu, wie die kleinen Blasen sich am Rand des Glases sammelten und dann allmählich platzten. Der Rechner meldete sich wieder, diesmal mit den ersten nervösen Takten aus John Zorns Recordatio, ein sicheres Zeichen, dass es einen aktuellen Statusbericht aus dem Netz gab. Er weckte den Bildschirm auf und nahm den Folgemilchshake mit hinüber zum Arbeitsplatz, der sich ein wenig versteckt hinter dem Raumteiler über zwei Tische erstreckte, vor allem wegen der beiden großen Bildschirme, auf denen jetzt Zahlen, Diagramme und kurze Einschätzungen seines Moneydocs aufliefen. Die größte Grafik zeigte die Entwicklung der Downloads seit der Veröffentlichung seiner aktuellen Single-Auskopplung, eine tagesaktuelle Auswertung, die es dem Team ermöglichte, das Marketing zielgenau einzusetzen. Die Kurve war in den ersten Tagen steil angestiegen und war nun allerdings merklich abgeflacht. Er trank ein paar Schlucke Folgemilch und wie immer nach diesem täglichen Erstkontakt sendete sein Magen merkwürdige Signale an das Hirn, das daraufhin mit einem leichten Schwindel reagierte. Er schloss die Augen. In diesen Momenten würde er gerne an einen Gott glauben, an einen personifizierten Sinn oder wenigstens an eine Frohe Botschaft, mit der er den Tag begrüßen könnte, die Stunden segnen, die vor ihm lagen, weiße Zeitabschnitte, deren Rhythmus er noch zu entdecken hatte.
„Der Zuckerspiegel ist zu niedrig.“
Der Medidoc liebte es, ohne Vorwarnung im internen Netz wie ein Geist zu erscheinen. Er hatte sich vertraglich alle Freiheiten einräumen lassen, um körperlichen Schaden von seinem Auftraggeber abzuwenden.
„Nimm zwei Stück aus der grünen Schachtel. Eine Art Traubenzucker.“
Der Medidoc wirkte ein wenig bekümmert in dem kleinen Videofenster über der Download-Kurve.
„Und lass heute Abend nicht wieder das Essen aus, Kilian.“
Den Namen nutzte der Medidoc nur, wenn er seinen Worten einen gewissen Nachdruck verleihen wollte.
Kilian nickte und trank den Rest der Folgemilch aus dem Glas.
„Wir sehen uns nachher“, sagte er und schaltete den Bildschirm ab. Dann ging er auf die andere Seite des Raumteilers, dorthin, wo sein Bett stand, und hinter einem großen Vorhang das Farb-, Sound- und Drogenlager verborgen war.
Die Dachwohnung hatte für ihn den Vorteil, den ganzen Tag nackt umhergehen zu können. Er wählte heute ein dünnes Papier, das mit seiner schimmernden Oberfläche fast an Seidenpapier erinnerte. Er breitete den Bogen auf dem Parkett aus, stellte sich davor und versuchte sich zu konzentrieren. Der Tag hatte noch keinen Farbton. Das Grau aus seiner Aufwachphase führte nicht hinüber zum Tagesrand, für Kilian einen Art Datumsgrenze, denn erst nach Sonnenuntergang wurde er wirklich produktiv. Ein helles Grün als Kontrast zum Grau schien ihm durchaus angemessen.
Er mischte sich ein leichtes Grün auf der Palette und zog dann mit einem mittelstarken Pinsel eine Linie zwischen seinen beiden Hoden. Die Berührung ließ seinen Hodensack zusammenschrumpfen. Mit einem breiteren Pinsel spritze er ein dunkles Gelb, fast schon Ocker darüber. Die Vorhaut sprenkelte er dunkelrot und entschloss sich dann, für den Schaft seines Penis ebenfalls Grün zu verwenden.
Er merkte, dass seine Erektion an Kontur gewann und ließ sich dann vornüber mit gespreizten Beinen auf das Blatt fallen, bewegte sein Becken, sodass die Farbe in das Papier hineinmassiert wurde. Er blieb mit gespreizten Armen und Beinen über der Stadt liegen. Sechzehn Stockwerke unter ihm bohrte sich ein armdicker Meißel durch den Beton einer Auffahrt und schickte ein Vibrieren über die Straße, das dann den Weg über den Bordstein nahm, sich über den Gehsteig bis an die Hauswand schlängelte, unter der Wärmedämmung hindurch ins Innere kroch, schließlich den Fahrstuhl erreichte und sich bis ins Dachgeschoss fortpflanzte, wo Kilian nackt auf den Boden gepresst den Puls der Stadt eher erahnte als spürte. In diesem Moment flammte sein Bildschirm auf: AYCB – vier rote Buchstaben auf Schwarz.
Echte rahmengenähte Schuhe konnte er sich nicht leisten. Malchwitz saß an seinem ausufernden Schreibtisch, die Beine lang gestreckt und gekreuzt, sodass die Schuhe wie die ungleichen Spitzen zweier Kirchtürme aufragten. Würde ihm jemand gegenübersitzen, so hätte dieser gesehen, dass die Nähte an der Schuhsohle nicht durchgesteppt waren, Chemie also das Schuhwerk zusammenhielt und nicht Physik. Aber sein Unbehagen verdankte Malchwitz nicht dieser Erkenntnis. Um sich rahmengenähte Schuhe leisten zu können, müsste er sich beruflich dorthin verändern, wo er vor wenigen Minuten das Telefon hatte klingeln lassen, damit er seinen unplanmäßigen Statusbericht durchgeben konnte.
„Kirchberg“ hatte der andere in das Telefon geschnarrt, mit einem angeschliffenen CH, was den beiden Silben eine sehr amerikanische Note verlieh. In der Holding war Kirchberg für den Bereich der Medienbeteiligungen zuständig, die allerdings in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hatten, da die Umsätze gegenüber den anderen Geschäftsfeldern zurückgefallen waren. Nach seinem Namen sagte Kirchberg nichts mehr.
„Ich habe eine Mail geschickt“, sagte Malchwitz.
„Wir sind informiert.“
„Ich dachte, wir stimmen unsere weiteren Schritte ab.“ Malchwitz hörte ein leichtes Quietschen in der Leitung, so als würde sich Kirchberg in seinem Sessel hin- und herdrehen. Es ging das Gerücht, dass er ein passionierter Skifahrer sei. Kirchberg sagte noch immer nichts.
„Wir werden hier eine Kommunikationsstrategie entwickeln.“
Es rumpelte jetzt in der Leitung, als hätte Kirchberg den Hörer zur Seite gelegt. Noch nie war Malchwitz in die Zentrale der Holding bestellt worden. Kirchberg kannte er nur aus der Firmenbroschüre und von gelegentlichen Telefonaten. In der Broschüre wirkte Kirchberg durchaus jugendlich, das Gesicht mit einer ungewöhnlich großen Brille verstellt, was ihm den Charme eines frühreichen Internetaktivisten verlieh. Ausgewiesen war er als director broadcast division. Und er schwieg noch immer.
„Wir werden am Nachmittag eine Presseerklärung veröffentlichen, Bestürzung, Trauer und so weiter. Und dann müssen wir die Schlagzeilen morgen abwarten.“
„Na, dann warten Sie mal schön“, schnarrte Kirchberg jetzt in die Leitung. „Aber warten Sie nicht, bis unser Controlling in Ihren Saftladen einrückt. Die Kennzahlen stimmen nämlich noch immer nicht.“
Malchwitz glaubte Papier rascheln zu hören, war sich aber nicht sicher. Die Klage über das Verfehlen von Kennzahlen gehörte zu den Standards in der Kommunikation mit Kirchberg, und Malchwitz hatte den Verdacht, damit wolle der director broadcast division eine gewisse Unkenntnis der Verhältnisse überspielen. Jetzt schwieg Malchwitz und versuchte wie sein Gegenüber, möglichst geräuschlos zu atmen. Durch die Glasfront seines Büros sah er auf das Gebäude der Staatskanzlei, hinter deren historischer Fassade die Schreibtische ebenfalls mit Glasfasern verbunden waren, ein datensattes Geäder der Macht, welches die Stadt wie eine Flechte befallen hatte.
„Auf keinen Fall darf unser Name in diesem Zusammenhang auftauchen“, sagte Kirchberg jetzt.
Die Holding legte einen großen Wert auf Verschwiegenheit, was vielerlei Gerüchten als veritable Nahrungsquelle diente: Das Unternehmen würde Pensionsfonds der US-Armee verwalten, Gelder aus zweifelhaften Quellen in Osteuropa beziehen, Flucht- und Blutzölle in Schwellenländern eintreiben oder mit Grundnahrungsmitteln spekulieren.
„Wir haben uns verstanden.“
Dann piepste es in der Leitung und Malchwitz schob den Hörer zurück in die Ladestation. Danach starrte er auf seine Schuhspitzen. Das Oberleder am linken Schuh hatte einen leichten Kratzer. Er bewegte die Zehen, konnte sich aber nicht erinnern, gegen irgendetwas getreten zu sein. Dann blickte er zu dem Fernseher neben der Fensterfront, wo seit mindestens zwanzig Minuten das Gesicht von Manfred Wilkhahn unruhig flackerte, ein Bildfehler, welchen die Freeze-Funktion des Rekorders verursachte. Malchwitz nahm die Fernbedienung, lehnte sich zurück und ließ weitere Einzelbilder durchlaufen. Wilkhahns Mundwinkel glitten erst nach unten, dann sprangen die Lippen auseinander und die Augenbrauen zogen sich zusammen. Der Mund öffnete sich noch weiter, sodass die unregelmäßige Zahnreihe des Unterkiefers sichtbar wurde, dahinter der Wulst seiner Zunge, deren Oberfläche vor Speichel glänzte. Ein paar Bilder weiter hatte der Mund seine volle Öffnung erreicht und ein Speichelfaden zog sich vom Gaumen bis zur Zunge. Wenn Wilkhahn erregt war, konnte es schon mal vorkommen, dass er beim Reden seinen Speichel wie Sprühnebel verteilte. Malchwitz ließ jetzt die Bilder schneller durchlaufen. Der Mund schloss sich fast vollständig, dann wurden die Lippen breiter, die Zunge schob sich gegen die Zähne, sprang dann zurück, während der Mund erneut breiter wurde. Es sah so aus, als würde Wilkhahn „Scheiße“ sagen. Malchwitz spulte das Band ein paar Sekunden zurück und ließ es dann normal durchlaufen.
„Auf unserem Platz sechs heute die Kreibitz-Buam aus dem Eibental im Tann.“
Malchwitz drückte wieder auf Freeze. Diesmal blieb der Mund offen stehen, und nur die Oberlippe zitterte leicht, als ob die Pixel auf der Bildzeile hin und her springen würden. Es hatte genauso schrecklich geklungen, wie Malchwitz es in seiner Erinnerung hatte.
„Team-Check.“
Eine Sekretärin namens Gudrun schnarrte diesen Begriff wie ein Klingelzeichen in die offen stehende Tür. Er war Bestandteil einer sogenannten Leitkultur, die in allen Unternehmen der Holding umgesetzt wurde, allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg. So wie sich jetzt im Funkhaus die Führungskräfte zum „Team-Check“ trafen, so geschah dies in diesem Moment auch in den Schlachthöfen, Müllverbrennungsanlagen und Zeitungshäusern, die zu der Holding gehörten, ebenso wie in den zwei Fluglinien, dem Sportartikelhersteller und den zahlreichen Pflegeeinrichtungen.
Karin Untersilch-Teetmann, die Fernsehchefin, sowie Markus Schweigert, der Leiter Hörfunk, standen bereits an dem kleinen Besprechungstisch, der sich an die Schreibtischlandschaft anschloss. In der Holding galt ein generelles Sitzverbot bei den Meetings. Der Kopf von Wilkhahn flackerte noch immer auf dem Bildschirm und bildete jetzt eine Art Hintergrundrauschen für die Besprechung.
„Die Agenturen haben noch nichts. Offenbar hat die Polizei noch keine Meldung abgesetzt.“
Karin Untersilch-Teetmann wurde ein gewisses Interesse auf den Chefposten des Funkhauses nachgesagt. Nach außen hin gab sie sich jedoch alle Mühe, dies möglichst zu verbergen, den Eindruck einer gewissen Beflissenheit konnte sie allerdings nicht verwischen. Bei den täglichen Meetings stand sie aufrecht wie ein preußischer Rittmeister, während Markus Schweigert zu lümmeln pflegte.
„Vielleicht warten die auf eine Mitteilung von uns?“
Schweigert verzog seinen Mundwinkel zu einem Grinsen. Diese Grimasse bemühte er regelmäßig, wenn die Fernsehchefin glaubte, einen Vorschlag einbringen zu müssen. Zwar waren beide als Abteilungsleiter formal gleichgestellt, allerdings verfügte Karin Untersilch-Teetmann über einen jährlichen Produktionsetat, der um ein Vielfaches über dem des Hörfunks lag. Dennoch hatte es Schweigert vor Jahren abgelehnt, als Chef in die Fernsehsparte zu wechseln. Einer der maßgeblichen Gründe seinerzeit war jener Kollege gewesen, dessen elektronisches Abbild noch immer eingefroren hinter ihnen flackerte. Entsprechend frohsinnig setzte Schweigert also fort: „Vielleicht sollten wir die Zuschauer bitten, eine Hitliste der schönsten Versprecher des Kollegen Wilkhahn zu wählen.“
Es entstand ein kurzer Moment Ruhe, denn wie immer in diesen Runden warteten die beiden jetzt auf eine Reaktion von Udo Malchwitz. Statt einer Antwort präsentierte der einen nahezu fehlerfrei geschnittenen Möhrenstift, biss ab und sagte nichts.
„Das sind doch kindische Diskussionen, Kollege Schweigert.“
Karin Untersilch-Teetmann hatte sich noch weiter aufgerichtet, sodass sie die beiden Männer jetzt deutlich überragte. Vom Geschäftsführer Malchwitz wusste der Flurfunk zu berichten, dass er nur Frauen in Bodenhaltung akzeptierte. Unbeirrt fuhr die Fernsehchefin fort: „Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass hier schon wieder die echten Zusammenhänge übersehen werden. Wilkhahn war nicht nur für das Wochenend-Programm, sondern für das ganze Haus unser journalistisches Aushängeschild.“
Schweigert lümmelte über den Tisch, den Kopf auf seine Hand gestützt, sodass sein Mund ganz schief erschien. Durch diese zerknautschten Lippen zischte er nun: „Ich sage nur Fahrzeug-Hitler.“ Der Fahrzeug-Hitler war eigentlich ein Fahrzeug-Halter und der Höhepunkt einer ganzen Serie von Versprechern, mit denen es Wilkhahn gelungen war, sich auf die Satireseiten der Zeitungen zu stammeln. Nach Rücksprache mit der Staatskanzlei hatte Malchwitz den Kollegen Wilkhahn trotz seiner zahlreichen Verdienste um das Brauchtum vom Sender genommen, dann aber nach vierzehn Tagen Leserbriefterror diese Entscheidung wieder rückgängig machen müssen.
„Schade, dass hier immer nur diese alten Geschichten aufgewärmt werden. Mit Wilkhahn haben wir einen unser fähigsten Mitarbeiter verloren.“
„Das klingt doch gut. Sie sollten weiter in diesem Stil formulieren. Damit steht nun fest, wer den Nachruf schreiben wird.“
Malchwitz biss ein weiteres Mahl von der Möhre ab.
„Das ist aber noch längst nicht alles“, setzte er fort.
„Am Wochenende kommt es zum Kampf um die Ehre. Das Stadion ist restlos ausverkauft, und wir, das muss ich Ihnen ja nicht zum ersten Mal sagen, wir sind Medienpartner. Das heißt, unser Logo flimmert in Tausende Wohnzimmer. Ich hoffe, bei Ihnen flimmert jetzt auch was.“
Schweigert stellte sich jetzt deutlich gerader hin, bevor er antwortete.
„Ü-Wagen sind an allen wichtigen Punkten, vor, während und nach dem Spiel. Im Stadion haben wir drei Kollegen sowie zwei Handyreporter in den jeweiligen Fanblocks. Wir übertragen beide Halbzeiten live.“
Karin Untersilch-Teetmann hatte während der letzten Minuten mit ihrem Füllhalter Kringel auf ihre Notizen gemalt. Sie drehte jetzt die Kappe über die titangehärtete Feder, durch welche eine handgerührte Tinte floss, um sich in der goldenen Kugel an der Federspitze zu einem perfekten Strich zu vollenden.
„Wir haben“, sagte Karin Untersilch-Teetmann, „ein umfangreiches Mentoring im Vorfeld erstellt, um die Erwartungshaltung der Zuschauer mit unserem Programmbouquet zu harmonisieren. Dabei ging es um Fragen der Produktevidenz entlang der Wertschöpfungskette, um die Ermittlung von Skaleneffekten und um die Beschreibung und Implementierung von Komplementärstrategien. In mehreren Workshops unter meiner Führung haben wir ein Thesenpapier entwickelt. Ich nenne jetzt nur die wichtigsten Kernziele. Wir wollen die Zuschauer kompetent und umfassend informieren. Wir bieten den Zuschauern emotionale Höhepunkte, um sie an der Faszination Fußball teilhaben lassen und wir präsentieren uns als ein Sendeformat mit regionaler Kompetenz.“
Schweigert grinste wieder schief und Malchwitz griff zur Fernbedienung. Der seit Minuten eingefrorene Wilkhahn sprach nun wieder: „Hier also sind sie, die Kreibitz-Buam mit ihrem aktuellen Hit – Flunker, Flunker, geh nicht an meine Klunker.“
Dr. Henning Friedbruch war eigentlich zu jung, zu dunkelhaarig und zu klein für seine Partei. Das fiel jetzt besonders auf, da er im Fonds seines Dienstwagens saß und den Eindruck hatte, nur mit Mühe durch die getönten Scheiben nach draußen blicken zu können. Was da an ihm vorbeiglitt, war eine unendliche Abfolge von Bewuchs, meist auf großen Schlägen, die bis zum Horizont reichten. Wären da nicht regelmäßig die Flügel der Windräder gewesen, die mit ihren kräftigen Schwüngen einen Rhythmus in die Landschaft setzten und das Gefühl vermittelten, wenigstens durch eine halbwegs industrialisierte Region zu fahren, dann wäre ihm die Landschaft wohl so öde wie die eines fernen Planeten erschienen. Er beglückwünschte sich erneut, nicht das Agrarressort übernommen zu haben, zumal ihm dann auch kein Personenschutz zugestanden hätte.
Die beiden Beamten fuhren in einer zweiten, ebenfalls gegen Sprengfallen, Pistolenbeschuss oder Panzerfäuste gesicherten Limousine, die dem Führungsfahrzeug auffällig folgte. Dies bot allerdings Anlass für politischen Streit im Landtag. Denn Dr. Henning Friedbruch war trotz seiner relativen Jugendlichkeit, seines fast nachtschwarzen Haares und der Körpergröße von einem Meter und achtundsechzig Zentimetern, Inhaber eines Schlüsselressorts, nämlich zuständig für Inneres, aber im Zuge einer Kabinettsreform nun auch noch für Sport und Umweltschutz. Und für Letzteren war er gerade unterwegs.
Als Innenminister stand ihm zwar nach aktueller Gefährdungslage Personenschutz zu, doch nicht als Sport- oder Umweltminister. Die Opposition kritisierte den aus ihrer Sicht teuren Einsatz von Personenschützern, wenn der Minister Sporthallen oder Biogasanlagen einweihte, was zugegebenermaßen einen großen Teil des dienstlichen Alltags von Dr. Henning Friedbruch ausmachte. Um der Opposition ein wenig entgegenzukommen, verzichtete der Minister inzwischen auf den Einsatz des Blaulichts bei allen Terminen, zu denen er nicht als Innenminister geladen war. Und so rumpelten sie jetzt auf einer Landesstraße, über deren Zustand er mit seinem Kollegen Verkehrsminister ein ernsthaftes Wort zu wechseln beabsichtigte. Sie hatten nun zwei größere Windparks passiert, allerdings drehten sich die Flügel nicht, was den Minister verwunderte, denn in den Ästen der wenigen Bäume am Feldrand zeichnete sich das Wirken eines durchaus günstigen Windes ab. Windräder waren auch der Grund, der Dr. Friedbruch aus der Stadt weit hinaus in das Land getragen hatte. Ein Pilotprojekt, die größten frei stehenden Räder auf dem Festlandsockel, jede Turbine so groß wie ein Zweifamilienhaus. Technologisch anspruchsvoll, politisch umstritten, wirtschaftlich hochinteressant. Vor einer Stunde hatte er mit dem Sprecher des Konsortiums auf jener Anhöhe gestanden, die im neuen Landesentwicklungsplan und auf sein persönliches Betreiben hin als sogenanntes windhöfiges Gebiet ausgewiesen worden war, eine Anhöhe in Sichtweite zu einem Ort namens Dunkersleben. Dort gab es einen Kirchturm, eine Schweinemastanlage und kein Schwimmbad. Der Ortsbürgermeister war ein Parteifreund des Ministers, wie viele Ortsbürgermeister in dieser Region, und weil er sich dennoch nicht sicher war, wiedergewählt zu werden, wollte er nun, wie viele andere in Dunkersleben auch, jenes fehlende Schwimmbad errichten. Als Sportminister war Dr. Friedbruch zwar für Turnhallen, aber nicht für Schwimmbäder zuständig, es sei denn, das Schwimmbad würde zu einem Leistungszentrum für den Spitzensport entwickelt, das internationalen Ansprüchen zu genügen hätte. Da das Land ein solches Leistungszentrum bereits betrieb und in Dunkersleben weniger als fünf Kinder pro Jahr geboren wurden, war es unwahrscheinlich, dass hier der richtige Ort war, um die Schwimmstars der nächsten Olympiaden zu trainieren, zumal man in und um Dunkersleben herum eine ländliche Kost bevorzugte, welche nicht nur die Ortsbürgermeister erschreckend schnell im Amt verfetten ließ, sondern auch beim Nachwuchs nicht ohne Folgen blieb, weswegen der Schulbus eigentlich als Schwerlasttransporter zu gelten habe, wie ein frustrierter Sportlehrer einem Anzeigenblatt der Region mitzuteilen für nötig erachtet hatte. Das aber war glücklicherweise das Problem des Kultusministers.
Dr. Henning Friedbruchs Problem war dennoch Dunkersleben. Vielleicht hätte er den Bürgermeister nicht den Hügel hinauf bemühen sollen. Am Ortsrand hatte der Investor ein Zelt aufbauen lassen, die Pressestelle des Ministeriums hatte die Lokalredaktionen informiert, die wiederum ihre Praktikanten geschickt hatten. Außerdem reichten vier blonde junge Damen Häppchen, mussten jedoch mehrfach nachlegen, und Dr. Friedbruch hatte nicht den Eindruck, dass der Bürgermeister und die geladenen Honoratioren von Dunkersleben wirklich satt geworden waren. Der Investor hatte zudem einen Saxofonisten aus der Stadt für diesen besonderen Vormittag gebucht, ein hoffnungsvolles Talent, das bereits im überregionalen Feuilleton Erwähnung gefunden habe, so der Investor bei seiner kurzen Ansprache, was den jungen Musiker wohl beflügelte, eine besonders virtuose Probe seines Könnens in Dunkersleben zu präsentieren. Flugwild, so der Titel seiner Improvisation über Wind, Strömung, Strom und Energie. Das waren für die nächsten zwanzig Minuten die letzten menschlichen Worte, die die Dunkerslebener hörten, denn zunächst beschwor der Musiker mit einem lang anhaltenden kreischenden Ton die vier Göttinnen der vier Himmelsrichtungen, und nicht nur Dr. Friedbruch schien in diesem Moment froh zu sein, dass der Erdkreis nur in vier solche Himmelsrichtungen aufgeteilt war. Es folgten die Anrufung der Erde, die Durchschreitung der Aura und, besonders schmerzlich, der Kampf der Titanen. Zwischenzeitlich erwog Dr. Friedbruch, seine Abteilung für Gefahrenabwehr mit einem Gutachten zu betrauen, ob die körperverletzende Nutzung von Saxofonen nicht mit ersatzlosem Einzug des Tatwerkzeugs und Vernichtung desselben belegt werden könne.
Ein wenig taub und innerlich aufgewühlt machten sich dann die Gäste an die Besteigung der Anhöhe. Im Landesentwicklungsplan war eine Höhe von dreiundvierzig Metern ausgewiesen, nicht ausgewiesen war der katastrophale Weg auf den Gipfel hinauf. Fußläufig hatte die Pressestelle des Ministeriums in der Einladung vermerkt, dabei aber übersehen, dass es sich um einen landwirtschaftlichen Nutzweg handelte, der überwiegend von Traktoren befahren wurde. In Ermangelung von Gummistiefeln hatten einige ihre Hosen bis zu einer Handbreit über dem Knöchel hochgeschlagen, was der Delegation einen gewissen interkulturellen Anstrich gab. Die Erde, ob ihrer Fruchtbarkeit seit Jahrhunderten umkämpft, wölbte sich in schwarzen Kämmen, deren Buckel zu einem schmalen Grat sich verjüngten. Wie Wellenreiter arbeiteten sich die Männer nach oben, schlammbespritzt bis zu den Knien und immer größere Lücken lassend, denn Bürgermeister und Honoratioren hatten wohl in den letzten Jahren noch nie so viele Meter zu Fuß zurückgelegt.
Auf der Höhe lag ein ziemlich großer Feldstein und den erklomm nun der Investor, zeigte mit ausladender Geste auf das Gelände rundum und verkündete den Beginn einer neuen Zeitrechnung für Dunkersleben. Es werde an diesem Ort Technologiegeschichte geschrieben, von der noch nachfolgende Generationen in den Schulbüchern lesen würden, und diese Generationen würden dankbar von mutigen Menschen erfahren, Entscheidern, die das Tor in die Zukunft auch gegen Widerstände aufgestoßen hätten.
Während der kurzen Rede hatte Dr. Friedbruch den Eindruck, als würden die Dunkerslebener Abgesandten allmählich in der schwarzen Erde versinken, eine optische Täuschung möglicherweise, denn inzwischen waren Feuchtigkeit und Morast bis zu den Oberschenkeln hoch gestiegen. Der Investor sprang vom Stein und schüttelte allen Anwesenden die Hand, indem er sie beidseitig packte und kräftig hin- und herschwenkte, was die armen Dunkerslebener noch mehr verwirrte. Dann stellte er sich zu dem Minister, schlug ihm auf die Schulter und fragte: „Ich war doch gut, oder?“
Und weil der Minister nicht antwortete, setzt er hinzu: „Ich sehe dich heute Abend beim Training.“
Der Ortsbürgermeister und Parteifreund, der ohnehin schon den Eindruck hatte, verschaukelt worden zu sein, der leider noch nie zu einem Landesparteitag eingeladen worden war, und somit auch nicht direkt den schwarzhaarigen Zwerg aus der Stadt in den Parteivorstand gewählt hatte, jener Bürgermeister, der nur unter innerem Widerstand überhaupt zwei Plakate des Kandidaten zur letzten Wahl in seiner Amtsstube aufgehängt hatte, und nun von schweren Füßen geplagt war, nicht wegen des fruchtbaren Lehms, sondern wegen des sinnlosen Ausflugs auf jenen Hügel, der zufällig der Gemeinde gehörte und von ihm als Ortsbürgermeister verwaltet wurde, einem Ortsbürgermeister übrigens, der von über siebzig Prozent aller Dunkerslebener Wahlberechtigten gewählt worden war, was ihm mal einer in der Stadt nachmachen sollte, jener Bürgermeister also stand in diesem Augenblick so dicht am Geschehen, dass er hörte, wie der Investor und der Minister sich halb vertraulich verabredeten. Auch ohne jemals von seiner Partei um Rat gefragt worden zu sein, wusste er, was zu tun war.
Während des Abstiegs hielt er sich dicht hinter dem Minister und in einem günstigen Moment, als sie zwischen zwei mächtigen Erdwulsten verschwunden waren, durch die eine Treckerspur führte, als sie also zwischen grünlichen Pfützen und glitschigen Feldsteinen balancierten, sagte der Ortsbürgermeister: „Wir brauchen eine Umgehungsstraße.“
In diesem Moment wusste der Minister, dass der Tag verloren war. Das Fahrgeräusch war inzwischen leiser geworden, denn hier im Umkreis der Stadt ließ der Verkehrsminister die Straßen regelmäßig erneuern. Auch hatten sich die Felder geändert, Raps blühte nun auf den großen Schlägen, durch die getönten Scheiben der Limousine in einem schmutzigen Braunton getaucht. Da klingelte das Handy, eine kurze Stafette von Piepstönen.
„Lief doch gut oder?“
Es war die Stimme des Investors Jens von Sasse, der zugleich als Linksaußen in der Oldie-Mannschaft jenes Klubs stürmte, in dem Dr. Henning Friedbruch im Mittelfeld spielte und zugleich Präsident war. Er drückte sich noch tiefer in die gepolsterte Rückbank. „Es wird schwierig werden. Die haben den Braten gerochen.“
„Und was nun? Sollen wir einen neuen Standort suchen?“
„Wichtig ist jetzt, Ruhe zu bewahren. Nicht dass wir einen weiteren Fehler machen.“
„Ich verlass mich ganz auf dich. Übrigens hast du gehört? Wilkhahn ist tot.“
„Der Wilkhahn vom Fernsehen?“
„Ja, der. Hat der nicht den Wahlkampf für dich organisiert?“
„Er hat zwei Podien moderiert, sonst nichts. Allerdings so fett, wie der war, das wundert mich nicht.“
„Unnatürlich.“
„Nein. So schlimm war es nun auch nicht. Unnatürlich fett sieht schon noch anders aus.“
„Er ist unnatürlich gestorben. Genauer gesagt – er wurde umgebracht. Mehr weiß ich aber auch nicht.“
„Danke für den Hinweis. Ich rufe mal den Polizeipräsidenten an. Schließlich bin ich der Innenminister.“
Dann legte er auf und blickte durch die Scheiben auf die Landschaft, in der sich nun die ersten Vorortsiedlungen mutig gegen all das Ackergrün verteidigten. Das Handy hielt er noch in der Hand, während er überlegte. Dann aber rief er nicht den Polizeipräsidenten, sondern den neuen Rechtsaußen der Profimannschaft jenes Klubs an, für dessen Wohlergehen er als Präsident zu sorgen hatte, immer darauf bedacht, zwischen seinen Aufgaben als Sportminister und den Aufgaben als Vereinschef sorgfältig zu unterscheiden.
„Kevin Sparenke.“
Alle Spieler der Profikaders waren angehalten, auch am Telefon bürgerliche Umgangsformen zu waren.
„Du gehst morgen in jedem Fall zum Lehrgang. Egal was passiert. Sag das auch den anderen. Das ist eine Frage der Ehre.“
Dann beendete er das Gespräch. Es hatte knapp zwanzig Sekunden gedauert.
Ein Feuerstoß von etwa zwanzig Millivolt, für den Zeitraum von ein paar tausendstel Sekunden, schoss durch die unzähligen Synapsenspalten im Hirn von Melinda Treu, eine Erregung, ausgelöst irgendwo vor der zentralen Furche zwischen Stirn- und Scheitellappen, dort wo sich etwa zwei Zentimeter breit der primäre Motorcortex erstreckt. Der Reiz setzte sich über die Pyramidenbahn fort, vorbei an der Medellín oblongata in das Rückenmark und von dort weiter über den rechten Arm und die Handwurzel bis zum beringten Zeigefinger von Melinda Treu. Der schwebte nur wenige Zentimeter über dem Druckschalter des Kanals von Mikrofon eins und als das Millivolt-Feuer die Wurmmuskeln des Zeigefingers erreichten, zog der sich zusammen, sodass die Fingerkuppe auf den Druckschalter des Kanals von Mikrofon eins fiel, einen Impuls auslöste, welcher zwölf Volt Wechselstrom auf einen Motor schickte, auf dessen Welle ein Zahnrad surrte, welches einen Schieberegler hochschießen ließ, sodass nach dem Erreichen der Steuerspannung der Senderechner den Mikrofonkanal freigab. Zudem löste jene Spannung ein Signal im Licht-System aus, wodurch über der Studiotür die Lampen von Gelb auf Rot wechselten, und, durch direkte Verschaltung, auch die kleinere Ausführung auf dem Sendepult nun rot aufleuchtete und damit nun einen offenen Mikrofonkanal anzeigte.
„UKW, KKW alles Schnee. Hier ist Grauzone FM, euer Sender für den Feierabend. Heute wieder mit Melinda, natürlich live und nur im Netz. Weil wir die Guten von Morgen sind.“
Dann schoss Melinda Treu auf Regler drei den Opener ab, ließ den Mikrofonfader wieder heruntersausen und schaltete auf Sendeautomatik.
„Du sollst nicht einfach bei Rotlicht hier hereintrampeln.“
„Die Tür stand auf.“
„Die Tür steht immer auf, solange wir hier keine Klimaanlage haben.“
„Außerdem hört das sowieso keiner deiner Nerds, ob hier jemand herumschlurft oder nicht.“
Rainer Kloppke hatte sich jetzt bis zur Kaffeemaschine vorgearbeitet und ließ einen schwarzen Strahl in die Tasse laufen. Früher, als Melinda Treu noch beim richtigen Radio arbeitete, wäre es undenkbar gewesen, mit Flüssigkeiten in Studioräumen zu hantieren, denn die Fehlbedienung einer Tasse konnte zu dramatischen Folgen für die Sendeabwicklung führen. Allerdings war Grauzone FM kein normales Radio und Rainer Kloppke auch kein normaler Sendeingenieur, denn als solcher hätte er die Kaffeemaschine vor die Studiotür verweisen müssen, dann allerdings hätte er auch nicht mehr Melinda Treu bei der Arbeit in ein lustiges Gespräch verwickeln können. Die rote Lampe leuchtete erneut auf.
„Da seid ihr wieder, ihr Kinder des verlorenen Tages auf dem Vorhof zur Nacht. Viel ist heute nicht passiert. Die Stadt feiert den Frühling wie ein Kriegsende. Endlich Sonne, endlich Tische vor den Cafés. Hier der passende Sound dazu.“
Sie ließ die Musik hochlaufen, mit einer weichen Blende, um die sie jeder DJ beneidet hätte.
„Mann erst Montag und trotzdem schon schlapp.“
Rainer Kloppke redete für einen Mann überraschend viel. Er war neben Melinda Treu der einzige Mitarbeiter von Grauzone FM. Beide waren fest angestellt und erhielten monatlich ein gutes Gehalt von einer beschränkt haftbaren Gesellschaft, die eigentlich im Reinigungsgewerbe tätig war. Täglich vier Stunden sendete Melinda Treu live, von achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr, zu einer Zeit also, in der die Menschen eigentlich vor dem Fernseher den Tag ausklingen ließen. Doch weil Fernsehen mindestens genauso oldschool war wie UKW, hatte Melinda Treu sofort Ja gesagt, als ihr das Angebot zugetragen worden war, zumal sie gerade wieder einmal ihren Job verloren hatte. Seit sie moderierte, waren die Zugriffszahlen im Netz beständig gestiegen, und auch als Bloggerin hatte Melinda Treu inzwischen eine gewisse Prominenz erreicht.
„Hier ist Grauzone FM – euer Programm für die Stunden im Zwielicht, und natürlich mit eurer zwielichtigen Melinda. Ihr habt es ja sicherlich schon gehört, am Sonnabend steht die Stadt Kopf. Ich meine nicht das blöde Fußballspiel. Das ist was für alte Herren. Nein ich meine den Tourstart von Kilian R. – in seiner Heimatstadt. Album und Tour heißen übrigens Apocalypso. Und ihr könnt dabei sein. Wer mir den besten Reim mit dem Begriff Apocalypso schickt, bekommt zwei Freikarten. Und hier ist Kilian R. – mit dem Monstertrack aus seinem letzten Album.“
Der Regler drei schoss nach oben, das rote Licht erlosch.
„Wolltest du nicht mit Kilian ein Interview machen?“
Rainer Kloppke hatte sich einen weiteren Kaffee geholt und lehnte am Studiofenster. Das öffnete den Blick auf das Gewerbegebiet der Stadt, Flachbauten, in denen Fleisch kühlte, Pakete gepackt oder Altkleider sortiert wurden. Es gab Hallen für Baufahrzeuge, Tiernahrung, Autoteile und Haushaltschemie. Und obwohl die Stadt nicht an einem Fluss lag, gab es sogar ein Hafenbecken. Rainer Kloppkes Kopf ragte genau in jenen vom Studio sichtbaren Teil des Hafenbeckens.
„Die Anfrage läuft. Ich denke, es wird am Freitag was. Da soll er angeblich eine Ausstellung eröffnen.“
Mit einem kurzen „Bling“ meldete sich der Studiorechner.
Melinda Treu blendete den Song mitten im Refrain, ließ dann den Mikrofonregler hochzischen.
„Jan 23 hat uns eben geschrieben: Tanz ich den Apocalypso in der Nacht, ist Omi um den Schlaf gebracht. Naja Leute, das kann noch besser werden. Strengt euch an. Schließlich geht es um zwei Freikarten, nur hier bei Grauzone FM.“
Kloppke grinste und stellte seine Kaffeetasse ab. Sein Oberkörper war in ein T-Shirt gezwängt, das inzwischen häufiger in der Stadt zu sehen war.
Im Radio nur Schnee – Schluss mit UKW. Grauzone FM.
Der Text wurde eingerahmt von zwei Sendetürmen, denen offensichtlich gerade das Fundament weggesprengt wurde.
Eine weitere Mail lief ein. Melinda Treu schaltete sich auf Sendung.
„Die Rothaarhexe schreibt: Zwei rechts zwei links, den Apocalypso tanzt jedes Kind. Naja ihr Lieben, da ist noch Luft nach oben. Nur hier bei Grauzone FM bringt euch eure Melinda in die Nacht.“
Rainer Kloppke hatte inzwischen das Studio verlassen und war auf seinem ersten von insgesamt drei Kontrollgängen unterwegs, denn er war nicht nur als Netzwerkadministrator, Sendeingenieur und Audiotechniker angestellt, sondern auch als Sicherheitsexperte, und zwar sowohl online, wie auch offline, was zur Folge hatte, dass er das gesamte Gebäude während seines Dienstes mehrfach händisch zu überprüfen hatte, so stand es in seiner Dienstanweisung. Die Flure erstreckten sich über drei Etagen mit jeweils vierzig Büroräumen, die wie ein effizientes Beißwerkzeug paarweise gegenüberlagen. Die Türschilder waren blind und Rainer Kloppke hatte nach zwei Jahren seiner stetigen Kontrollgänge nicht den Eindruck, dass die Räume irgendwie genutzt wurden. Dennoch war es seine Aufgabe, an jeder Tür zu rütteln. Meist startete er mit raschem Schritt an der rechten Flurseite, ließ seine Hand über die Türklinken laufen und schlug sie kurz herunter. Am Ende des Flurs wechselte er auf die linke Seite und wiederholte den Vorgang, wobei er gelegentlich sich selbst ein aufmunterndes „Yeah“ oder „Wow, man“ zurief. An guten Tagen schaffte er alle drei Etagen in weniger als vier Minuten. Heute allerdings ging er es deutlich ruhiger an. Es war Montag.
Im Flur zwei sah er eine zerknüllte Brötchentüte, die schon seit gestern dort lag, und nur vom Reinigungsdienst zurückgelassen worden sein konnte, denn andere hatten zu diesem Gebäude keinen Zugang.
Als er zurückkam, lief die Sendung gerade ohne Melinda. Demzufolge war sie draußen und rauchte. Kloppke schüttete sich den letzten Rest Kaffee ein, dann schaltete er die Maschine aus.
„Du siehst komisch aus. Was ist los?“, fragte er, als Melinda zurückkam.
„Da gibt es eine seltsame Meldung, schau mal.“
Melinda tippte auf die Tastatur und der Bildschirm flammte auf. wilkhahn – die sau vom schlammtal ist erstickt, an der eigenen drecks-musik.
„Ich habe dann mal die Homepage von denen gefilzt. Schau mal was da steht.“
In tiefer Trauer und Bestürzung geben wir bekannt, dass unser langjähriger Moderator Manfred Wilkhahn plötzlich verstorben ist. Voller Erschütterung können wir das Ausmaß des Verlustes noch nicht erfassen. Wilkhahn war das Gesicht und die Stimme unserer erfolgreichsten Sendeformate. Wir trauern mit seinen Fans. Möglichst zeitnah werden wir in einer Sondersendung das großartige Werk des Schlagerfreundes zu würdigen wissen.
„Und was nun? Kanntest du den Typen?“
„Ich war doch bei denen angestellt. Hast du das schon vergessen? Der Typ war eine echte Sau.“
Der Mail-Computer flammte erneut auf. Melinda blickte kurz auf den Bildschirm, dann schnellte schon der Mikrofonregler hoch.
„clearwater4 hat uns geschrieben. Wo der Apocalypso swingt, da lass dich locker nieder, denn wo die Seele schwingt, gibt’s keine tauben Glieder. Yeah, ihr Lieben da draußen, das war doch mal eine Ansage oder? Das großartigste Sendeteam vom großartigsten Grauzone FM hat nun also beschlossen – die beiden Freikarten gehen an clearwarter4. Herzlichen Glückwunsch. Und hier noch ein Gruß an alle Lebenden, wo immer ihr uns auch hört. Keep it rock.“
Der Mail-Computer blinkte erneut auf: AYCB. Nur diese vier Buchstaben.
Die Straße nach Bardorf war mit der Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen vierspurig ausgebaut worden, führte allerdings über eine viel befahrene Eisenbahnlinie, welche die Stadt weniger mit dem Umland, als vielmehr mit den anderen Metropolen verband. Dort aber, wo der motorisierte Umlandverkehr die Verkehrswege der Fernbahn kreuzte, kam es aus unerfindlichen Gründen mehrmals im Jahr zu erheblichen Störungen, die entweder den Autoverkehr oder aber die Bahn, nicht selten aber beide Verkehrswege betrafen. So war es also eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis nach dem allzu harten Winter die Frostschäden den Feierabendverkehr Richtung Bardorf zusammenbrechen lassen würden. Der Montag war dazu allerdings ein äußerst schlechter Tag, wie Frank Schneider befand, denn zum einen hatte seine Frau ihn gebeten, pünktlich zu sein, zum anderen wollte er wenigstens stichpunktartig die Sitzung für den nächsten Morgen vorbereiten, zu der er wegen der Prominenz des Opfers auch den Polizeidirektor erwartete. Vor ihm ein älterer blauer Golf Diesel mit einer dunkelhaarigen Frau am Steuer, hinter ihm ein BMW der gehobenen Preisklasse, von einem Mittfünfziger in Anzug und Krawatte gelenkt. Die Bardorfer besaßen für gewöhnlich zwei Autos, sofern sie nicht Bewohner der teuren Seniorenresidenz waren: Ein großes Auto für den Haupternährer der Familie, (Akademiker, Mitte vierzig, verheiratet, gehobenes Einkommen als Beamter oder Angestellter in der Stadt) und ein kleineres gebrauchtes Auto für die Ehefrau (Ende dreißig, Akademikerin, seit dem ersten Kind Hausfrau, seit dem zweiten Kind in Teilzeit). Platz für beide Autos, beide Kinder, ein Einfamilienhaus und auch noch einen Hund gab es in Bardorf zu unschlagbar günstigen Preisen, sodass das ehemalige Bauerndorf die Einwohnerzahl in den letzten Jahren vervierfachen konnte. Wachsen gegen den Trend nannte das der Ortsbürgermeister von Bardorf und trieb seinen Gemeinderat an, weiteres Bauland auszuweisen, als wolle er alsbald einer Kleinstadt vorstehen.
Es hupte. Das bräsige Tröten einer aufstiegsorientierten Mittelstandslimousine. Der Golf vor ihm war zwei Meter vorgerückt, Schneider setzte nach, und er war kaum angefahren, da rollte auch schon sein Nachfolger. Schneider bremste und beobachtete den Mann hinter ihm, der mit überraschter Miene beidhändig in das Lenkrad griff. Am Steuer zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen, pflegte seine Frau Irene festzustellen, und Schneider war durchaus geneigt, ihr in diesem Fall zu zustimmen. Im Übrigen waren die Schneiders untypische Bardorfer, kein Zweitwagen, kein Erst- und auch kein Zweitkind und auch keinen Hund, obwohl Schneider die Anschaffung eines solchen erwog. Was sie aber mit vielen Bardorfern einte, war der Besitz eines Reihenhauses, wobei das Wort Besitz aus Sicht ihrer Bank nicht ganz richtig war, denn erst kurz vor Erreichen der Rente würde das Häuschen abbezahlt sein, auch diesen Umstand teilten die Schneiders mit vielen anderen Bardorfern, oder besser gesagt, sie teilten die Hoffnung, diesen Umstand zu erreichen.
Die Kolonne rückte ein paar weitere Meter vor, und Schneider konnte nun zumindest das Straßenschild sehen, welches eine Fahrbahneinengung in dreihundert Metern ankündigte. Das Auto hinter ihm war jetzt so dicht aufgefahren, dass Schneider nicht mehr das Nummernschild lesen konnte. Er ließ sich etwas vorrollen, suchte in seiner Jackentasche nach einem Stift und notierte sich das Kennzeichen. In diesem Moment merkte er, wie seine Laune sich besserte. Rechts hinter der Brücke konnte er schon die Windräder von Bardorf sehen, von dort waren es nur wenige Hundert Meter bis zum Elsterweg zwölf, wo seine Frau mit den Abendessen auf ihn wartete. Und wie so oft drehten sich die Räder nicht, was Schneider immer wieder verwunderte. Selbst bei gutem Wind blieben die Flügel starr, als wären sie eingerostet. Schneider hatte sich sogar schon gefragt, wer für das Schmieren der Windräder zuständig sein könnte. Wie auf so vieles konnte er auch die Antwort darauf in Bardorf finden, denn einer der größten Windmüller hatte hier seinen Stammsitz, in einem alten Familiengehöft mitten im historischen Dorfkern. Von dem allerdings trennte ihn noch immer die Brücke. Und über die musste er erst mal kommen, denn in den letzten Minuten hatte sich die Kolonne überhaupt nicht mehr bewegt.
Missmutig schaltete er das Radio ein. In diesem Moment fiel ihm auf, dass der Sender, den er täglich auf seinem Arbeitsweg hörte, der aktuelle Tatort war.
„Das Beste aus den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern und aus dem neuen Jahrtausend“, krähte eine aufgekratzte Stimme, die eigentlich zu jung klang für die Menschen, die Schneider am Morgen im Funkhaus gesehen hatte. Aber vielleicht war das Ganze nur die Folge einer akustischen Manipulation. Schneider glaubte grundsätzlich keinem Medienprodukt, eine Haltung, die er mit seinem Erfahrungsschatz begründete und bereit war, auch gegen die eigene Pressestelle zu verteidigen. Die Musik schien der passende Soundtrack zum Stau zu sein, wann immer der Refrain einsetzte, ging es ein paar Meter nach vorn. Nach zwei weiteren Liedern änderte sich das allerdings.
„Es ist 19 Uhr – die Nachrichten. Der bekannte Entertainer Manfred Wilkhahn ist tot. Er wurde heute leblos in einem Büro unseres Senders aufgefunden. Die Polizei hat die Ermittlungen übernommen. Weitere Hintergründe sind nicht bekannt. Geschäftsführer Malchwitz sprach von einem großen Verlust für den Sender und die Fans des Moderators. Es liege im Interesse des gesamten Funkhaus-Teams, die Hintergründe des Vorfalls aufzuklären.“
Inzwischen war die Lücke vor Schneider so groß geworden, dass der Fahrer des BMW an ihm vorbeischoss, beinahe eine der Warnbarken streifte und sich im Vorbeifahren zu Schneider hinüberdrehte. Es schien so, als ob er schimpfen würde. Schneider war tatsächlich überrascht. Eigentlich war verabredet worden, die Meldung erst am späten Abend zu bringen, sodass die Zeitungen sie nicht mehr als Aufmacher auf der Seite eins bringen konnten. Jetzt allerdings hatten die Chefredakteure genügend Zeit, die Druckmaschinen anzuhalten. Schneiders Handy klingelte.
„Die reden von Vorfall. Das ist unglaublich. Woher haben die überhaupt die Information?“
Polizeipräsident Kleinjung war am Telefon.
„Ich kenne den Malchwitz sogar persönlich. Ich frage mich aber ernsthaft, wozu ich mit diesem Funkhausmenschen überhaupt in einem Verein bin, wenn der sich nicht an Absprachen hält. Fair ist das doch nicht, oder? Ist ja auch egal. In jedem Fall sehen wir uns morgen um halb acht. Vollständig. Damit das klar ist. Und ich will einen Statusbericht. Der Innenminister hat mich auch schon angerufen. Wir verstehen uns doch, oder?“
Dann legte der Polizeipräsident auf. Schneider hatte den Hörer noch in der Hand, als er über die Brücke fuhr.
Mit deutlicher Verspätung und einiger Verstimmung kam Schneider im Elsterweg an, hielt vor der Garage und riss an der Handbremse, als hinge das Auto über einem Abgrund.
Irene Schneider arbeitete als Musik- und Englischlehrerin, war also wirtschaftlich unabhängig und hatte den Umstand eigentlich nie bereut, vor nunmehr über zwanzig Jahren geheiratet zu haben. Sie waren nur wenig später nach Bardorf gezogen, wo Irene Schneider inzwischen die zweite Generation der Dorfkinder unterrichtete, auch wenn die inzwischen in der Minderheit waren. Die Brücke zur Stadt musste Irene Schneider nur selten passieren, zum Beispiel um Konzerte des städtischen Klangkörpers zu besuchen, insbesondere wenn die von ihr so geliebten Russen notenschwer auf den Pulten lagen.
„Das ist eine Wanderbaustelle. Heute Mittag fing es an.“
Irene Schneider bezog ihre Informationen aus dem Lehrerzimmer, ein überaus zuverlässiger Ort, wenn es darum ging, über die aktuellen Entwicklungen in Bardorf auf dem Laufenden zu sein. Seit den letzten Landtagswahlen hatten die Bardorfer keinen Vertreter mehr in der Landesregierung, weder im Kabinett noch auf der Ebene der Staatssekretäre. Das hatte es seit Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen nicht mehr gegeben, und entsprechend misstrauisch verfolgten die Einwohner die politischen Entscheidungen jenseits der Brücke, vor allem seitdem bekannt geworden war, dass der Verkehrsminister auf die andere Seite der Stadt gezogen war, ein Zugewanderter, der dem bislang wenig beachteten Süden den Vorzug gegeben hatte. Es war klar, dass seitdem jedes Bardorfer Schlagloch als politischer Misstrauensantrag derer da im Süden gewertet wurde, und dass die Menschen wohl informiert waren über Wanderbaustellen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Markierungs- oder Mäharbeiten. Und weil die Bardorfer Schule nicht nur mehrere Generationen verband, sondern auch Eltern aus Politik und Landesverwaltung, war die Schule jener Ort, wo alle Informationen zusammenliefen und erst in der Summe ihre glasklare Faktizität erfuhren.
„Wanderbaustelle.“
Frank Schneider wiederholte das Wort wie einen pathologischen Befund. Da saß er bereits am Tisch, den seine Frau liebevoll dekoriert hatte. Mehrere große, grüne Strünke, deren gelbe Dolden irgendwie nach Benzin rochen, versperrten den Blick auf die Schüsseln.
„Ich dachte, wir feiern heute mal diesen schönen Maitag.“
Irene Schneider griff nach dem Teller ihres Gatten, bevor der etwas sagen konnte, und schaufelte zwei Kellen einer grünen Menge auf, die Frank Schneider nach grober Begutachtung für eine Form von Spinat hielt. Dazu gab es, wie häufig im Hause Schneider, rohe geviertelte Champignons, von denen seine Frau der festen Überzeugung war, sie würden wertvolle Spurenelemente enthalten.
Es war aber kein Spinat. Die grünen Blätter schmeckten so chemisch, wie die gelben Blütenstrünke auf dem Tisch chemisch rochen. Da fiel Frank Schneider ein, warum er sich an eine Tankstelle erinnert fühlte. Sie aßen Rapsblätter.
„Mit Pinienkernen“, setzte seine Frau hinzu und Frank Schneider war froh, dass es sich nicht um frittierte Mehlwürmer handelte.
Silvia Raschke spreizte ihre Finger, ließ sie für einen Moment über der Tastatur schweben, dann schrieb sie los:
Flacher Bauch, straffer Po, vorstehende Brüste, das ist der Grund für meine hochhackigen Schuhe. Leider nur hätte ich vorher üben sollen. Jetzt stehe ich vor dem großen schmiedeeisernen Tor und drücke auf den Klingelknopf. Ganz in der Ferne höre ich ein Geräusch, das mich auf eine merkwürdige Weise berührt, wie ein sanftes Ziehen im Schoß. Das Gefühl kenne ich nur zu gut. Endlich höre ich die Schritte auf dem Kies. Eine schlanke blonde Frau, etwas jünger als ich, bewegt sich gemessenen Schrittes auf mich zu. Was gäbe ich darum, so selbstsicher über diese Auffahrt zu schreiten.
– Miss Kilsingstone?
Ihre Stimme klingt kühl, eher feststellend als fragend. Dann öffnet sie das große Tor. Ich betrete
Ti-ti-tatta-ti-ti-ti, wenn Silvia Raschkes Handy so klingelte, meldeten sich die besonders ungestümen Fans ihrer Netzgemeinde, jene, die es geschafft hatten, im Dickicht der Weiterleitungen, Werbebanner, Querverweise und Untermenüs direkt in Kontakt zu ihr zu treten. So viel Hartnäckigkeit nötigte ihr Respekt ab, sodass sie es sich angewöhnt hatte, die Nachricht gleich zu lesen. HullkHorgan, einer der regelmäßig an ihrer Arbeit Anteil nahm, meldete sich jeden Montagabend. Silvia Raschke war also nicht überrascht: hallo black swan. das war wieder eine tolle geschichte mit dem indianer und der entführten sklavin. könntest du nicht mal was über sex im weltraum schreiben. schwerelos in fesseln zum beispiel oder dark sex of the moon. vielen dank, dein fan hullkhorgan.
Silvia Raschke hatte jetzt keine Zeit. Sie schob das Handy zu Seite, spreizte ihre Finger und schrieb dann weiter:
den Kiesweg. Mit den hohen Schuhen spüre ich die Kiesel, ein kleines Ziehen, das meine Beine hinaufläuft. Vor mir wippt der blonde Pferdeschwanz der jungen Frau. Unter ihrem eng anliegenden, beigen Kostüm zeichnen sich keine Umrisse eines BHs ab und auf ihren knielangen Rock folgen perfekte Beine. Ich komme mir jetzt vor wie ein Bauernmädchen. Der Kiesweg scheint endlos zu sein, und ich habe Mühe, mit der Blonden mitzuhalten. Der Weg macht eine Biegung und das Erste, was mir auffällt, ist eine Überwachungskamera. Ich spüre einen leichten Schauer über meinen Rücken streifen, so als würde ich durch einen Nacktscanner laufen. Ich habe den Eindruck, als ob die blonde Frau nun etwas langsamer geworden ist. Soll mich die Kamera etwa länger beobachten? Über den Schlossbesitzer gibt es viele Gerüchte im Dorf. Gesehen haben ihn bislang nur ein paar Jagdhelfer, und die haben so gut wie nichts erzählt. Und dann gibt es da noch diese Andeutungen …
– Folgen Sie mir bitte hier entlang.
Wir gehen nicht die große Eingangstreppe hoch, sondern nehmen einen Seiteneingang, zu dem ein kleinerer Weg zwischen dem Kirschlorbeer führt. Die blonde Frau legt ihre gepflegte Hand auf den Türgriff und blickt mich zum ersten Mal an, als wolle sie mich prüfen. Dann öffnet sie die Tür.
Das Licht im Flur flackerte auf. Um diese Uhrzeit kam eigentlich nur noch selten jemand nach unten in das Archiv und meistens auch nur, um alte Sendekassetten aus dem Umlauf vor die Tür zu stellen, sodass Silvia Raschke sie am nächsten Morgen einsortieren konnte. Einer hatte in den letzten Monaten besonders häufig etwas in ihrem Kellerarchiv geordert, den aber konnte sie nun von der Liste streichen, denn er war tot im Hörfunktrakt gefunden worden. Von der Aufregung hätte sie in ihrem Keller beinahe nichts mitbekommen, wenn sie nicht zufällig auf dem Weg zum Bildarchiv zwei Männer in dunklen Uniformen getroffen hätte, von denen sie zunächst annahm, es handele sich um neue Mitarbeiter des Wachschutzes, bis sie auf den Jacken den Firmennamen las: „Immertreu-Bestattungen“. Sie seien wohl falsch, mutmaßte Silvia Raschke zu Recht, doch hatten sich die Herren nicht in der Hausnummer, sondern nur im Stockwerk geirrt.
„Das ist Schicksal“, hatte einer der beiden dann gesagt und Silvia Raschke war nicht umhin gekommen, ihm beizupflichten. Sie war dann wenig später ebenfalls in den dritten Stock gefahren, dorthin, wo die gesamte Belegschaft stumm zusah, wie der arme Wilkhahn abtransportiert wurde, unwürdig wie Silvia Raschke fand und das nicht nur, weil sie einen wichtigen Kunden verloren hatte.
Ti-ti-tatta-ti-ti-ti. Stormrider12 schrieb: hey black swan. Super tolle story mit dem maskenmann, besonders die stelle mit der brennesselpeitsche. Du bist unerreicht. Mach weiter so.
Silvia Raschke spreizte nun wieder ihre Finger:
Das Licht fällt von der niedrigen Decke, dann geht es eine enge Wendeltreppe hoch. Ich fühle mich ein wenig unwohl und gehe deshalb dicht hinter der Frau. Ihr Rock ist leicht verrutscht, sodass ein dünner Streifen Spitzenwäsche aufblitzt. Sie trägt einen Tangaslip. Plötzlich sind wir oben angekommen und bleiben stehen. Eine angenehme Wärme weht mir entgegen, während es von der Treppe her kühl heraufzieht. Ich fröstele.
– Die Frau des Jagdpächters.
Die Blonde deutet eine Verbeugung an, bevor sie zur Seite hin verschwindet. Dort wird wohl eine Tür sein. Ich bin nicht allein, das spüre ich, doch sehen kann ich niemanden. Es ist ein Gefühl wie bei der Videokamera. Ich traue mich nicht zu bewegen, und je länger ich stehe, umso mehr schäme ich mich, ohne zu wissen warum.
– Kommen Sie näher.
Die Stimme klingt weich und warm. Ich bin geradezu dankbar, dass sie mit mir spricht. Ich gehe vorsichtig einige Schritte in den Raum und erkenne langsam die Situation. In der Mitte des Raumes steht ein riesiges Bett und davor mit einem leicht spöttischen Lächeln ein relativ großer schlanker Mann.
– Näher kommen.
Sagt er mit seiner freundlichen Stimme und hält mir die Hand hin. Als ich vor ihm stehe, rieche ich Sandelholz und ganz leicht ein wenig Tabak. Er greift meine Hand und führt sie kurz an seine Lippen. Ich spüre, wie sich alle meine Poren öffnen, sehnsüchtig nach einer Berührung von IHM. Ich kann nichts sagen. Der Mann steht mit verschränkten Armen vor mir und lächelt mich an.
– Nicht so eilig, junges Kind.
Er nimmt meine Hand und führt mich an einen Tisch.
– Ein wenig Kirschlikör. Aus dem eigenen Garten und nach einem alten Rezept hergestellt. Wirkt belebend.
Er gießt eine tiefrote Flüssigkeit ein, reicht mir das Glas.
Es ist kein Brennen, sondern eine Art Schmeicheln, das meine Kehle herabfließt, sich in meinem Magen ausbreitet und von dort weiterstrahlt, weiter nach unten, wo eine tiefe Sehnsucht
Krawitt krawitt krawitt krawitt. So klang das Handy nur bei einem speziellen Anrufer. Silvia Raschke kannte allerdings nur die Stimme, die sich hinter dieser Telefonnummer verbarg. Eine Telefonnummer, die sie selbst nie anrufen durfte und die ihr immer nur kurze Anweisungen gab. Die Stimme klang ungehalten.
„Das dauert zu lange. Gang B, rechte Seite, vorletztes Regal. Laufende Archivnummer STZ 22-03-74. Lieferung morgen.“
Dann wurde die Leitung unterbrochen. Silvia Raschke hielt das Telefon noch einen Moment in der Hand, bevor sie aufstand, um den Archivschlüssel aus dem Kasten zu holen.
STZ 22-03-74 hatte einen vergilbten Rücken und auf der Vorderseite einen Aufdruck, der als Produktionsort ein Studio Z aufwies. In den Spalten für Toningenieur, Aufnahmeleiter und Komponist hatte jemand unleserliche Krakel hinterlassen. Auf ihrem Weg zurück in das Büro kam es ihr so vor, als hörte sie eine Tür klappen. Sie blieb kurz stehen, doch Schritte hörte sie nicht.
Die Docstation lag unter dem Penthouse und erstreckte sich über den Südflügel des Gebäudes. Kilian hatte ein spezielles Glas einbauen lassen, das auch tagsüber für einen hohen Verschattungsgrad sorgte, doch richtig produktiv wurde er nur, wenn es auch draußen dunkel war. Und jetzt war es dunkel. Das Herz der Docstation bestand aus einem achteckigen gläsernen Aufnahmebereich sowie einem Steuerungsmodul, das wie ein Mond dem Studio treu zur Seite stand. Für beide Bereiche galten strenge Regeln: keine Zigaretten, keine Flüssigkeiten, keine elektronischen Geräte und Zutritt nur mit speziellen Schafwollsocken, die alle zwei Stunden gewechselt wurden, um sie zu entmagnetisieren. Kilian hatte unter anderem Angst vor Kriechströmen. Derzeit standen drei paar Schuhe vor dem Studiokomplex, die Ledersneakers von Kilian, die abgelatschten Sharks vom Sounddoc und die lang gezogenen Budapester vom Specialdoc. Die Schuhbesitzer lümmelten vor der großen Aufnahmekonsole. Der Zugriff auf die Regler war aber nur Kilian und dem Sounddoc gestattet. Es tickte ein Metronom und Kilian tippte mit dem Finger mit. Dann sagte er: „Das ist heute Morgen kurz nach zehn. 68 pro Minute.“
„Es ist mir zu verschleppt.“
Der Sounddoc tippte jetzt mit, setzte mit dem Fuß ein paar Synkopen.
„Wir könnten es verdoppeln“, sagte er.
Kilian schüttelte den Kopf und rief eine neue Datei auf.
„Hier Messpunkt zwei, kurz nach vierzehn Uhr“
Der Rhythmus lief nun etwas schneller.
„Was hast du da gemacht?“, fragte der Sounddoc.
Kilian blätterte in seiner Stundenkladde.
„Ich habe einen Beitrag über die armen Bienen gesehen. Ich hatte Mitleid.“
„Das ist gut, du liegst stabil bei 74.“
„Also versuchen wir es mit dem.“
Der Sounddoc nahm zwei Kabel von der Wand und ließ ihre vergoldeten Klinken in vier Buchsen des Steckfeldes einrasten. Dann fuhr er mit der Hand noch einmal über beide Verbindungen, bevor er zwei Regler aufzog.
„Das ist jetzt die Bassdrum, also völlig roh.“
Kilian hörte mit geschlossenen Augen zu. Niemand sagte ein Wort. Allmählich übertrug sich der Beat auf Kilians Körper, erst lösten sich die Finger seiner linken Hand, dann setzte der rechte Fuß ein. Noch immer sagte niemand ein Wort, bis schließlich Kilian erst die Augen und dann den Mund öffnete.
„Das könnte gehen. Und was hast du uns angeschleppt?“
Die Frage ging an den Specialdoc, der die ganz Zeit schweigend zugehört hatte.
„Ein saucooles Teil. Rot, analog und sehr selten.“
Er stand auf und griff hinter seinen Stuhl, um ein langes und offensichtlich nicht ganz leichtes Paket hervorzuziehen. Es war mit alten Decken umwickelt und wurde von einem dünnen Strick zusammengehalten.
„Ne typische Dachmumie. Ein wenig muffig.“
Alle drei beugten sich nun über den Tisch und ließen die Luft durch ihre Nasen strömen.
„Riecht kaum feucht“, sagte Kilian.
„Lag wohl neben altem Bettzeug“, sagte der Sounddoc.
„Typisch Nordseite“, sagte der Specialdoc und zog sein Taschenmesser heraus.
„Halt, noch nicht. Zerstör nicht diesen wunderbaren Augenblick. Was hat der letzte Besitzer gedacht, als er sein Instrument so verpackte?“
Kilian fuhr mit seiner Hand über die Decken, dann ließ er sie dort liegen, wo wohl der Instrumentenhals war.
„Wenn man sich konzentriert, kann man vielleicht noch ein Restschwingen spüren. Sollten später mal die Söhne auf dem Instrument spielen? Warum kam es dazu nicht? Das sind Fragen, die wir zum Klingen bringen müssen.“
Vorsichtig stellte Kilian das Paket auf die schmale Seite und alle drei suchten so lange nach dem Knoten, bis der Sounddoc ihn gefunden hatte.
„Vorsichtig. Ich will so viel Original wie möglich erhalten. Macht mal ein Foto, damit wir später den Knoten rekonstruieren können.“ Der Specialdoc ließ sein Handy aufblitzen, dann löste er vorsichtig die Verschnürung. Das Seil wickelte sich problemlos ab, dann löste sich an einer Stelle die Decke und der obere Teil eines feuerroten Corpus wurde sichtbar.
„Unglaublich. Wie bei einer jungen Frau, wenn der Rock hochfliegt.“
Kilian trat zurück und versuchte sich zu beruhigen, denn seine Hände zitterten bereits leicht. Die anderen beiden übernahmen den Rest, bis schließlich das Instrument vor ihnen lag.
„Frühe Siebzigerjahre, tschechisches Bass-Modell. Damals unter dem Namen Jolana eingeführt.“
Der Hals war breiter, als Kilian erwartet hatte. Am Steg und dort wo die Regler für Sound und Lautstärke aus dem Korpus ragten, waren leichte Gebrauchsspuren zu erkennen. So weit war alles in Ordnung, aber es fehlten zwei Saiten. Der Sounddoc sah die Enttäuschung in Kilians Gesicht. Er hatte jetzt nur wenige Sekunden, um den Abend zu retten.
„Das ist schade, aber wir können das sampeln.“
Kilian zeigte keine Regung. Mit dem Finger schnipste er an der tieferen der beiden Saiten, die, obwohl sie kaum gespannt war, ein ganz leises Schnarren hören ließ. Kilian lächelte.
„Wir machen das.“
Der Sounddoc griff sich den Bass und wechselte in das Studio, wo er das Instrument verkabelte. Dann drehte er einen der Mikrofongalgen näher zu sich heran und gab Kilian mit der Hand ein Aufnahmezeichen.
„Jolana Bass Rot, Erstkontakt“, sprach er in das Mikrofon, dann ließ er die Saite schwingen und drehte vorsichtig die Lautstärke hoch. Die Saite schlug gegen die Bundstäbe, sodass ein Klirren das Signal begleitete. Die tiefere Seite klang etwas klarer.
„Wir müssen das Baby aufwecken“, rief der Sounddoc in das Mikrofon und drehte vorsichtig an den Wirbeln. Die anderen beiden schauten ihm durch das Studioglas zu. Das war einer der riskantesten Augenblicke überhaupt, denn es konnte durchaus passieren, dass die alten Saiten beim Stimmen rissen.
„Die D-Saite habe ich jetzt auf C gebracht. Hier lasse ich sie erst mal.“
Er riss erneut die Saite an. Ein mulmiger Ton ließ die Boxen mehr brummen als klingen, und dass da eigentlich Metallsaiten schwangen, war kaum zu hören.
„Großartig“, schrie Kilian hinüber ins Studio.
„Voll der Siebziger-Sound. Jetzt brauchen wir nur noch ein fettes Originalsample.“
„Schon in Arbeit“, sagte der Specialdoc.
„Morgen kann ich liefern.“
Montag war Zahltag, immer nach zwanzig Uhr, wenn die Einnahmen vom Sonntag längst überwiesen und die Wochenrationen für Bier und billiges Fleisch schon geordert waren und die neue Woche frisches Geld für die schwarzen Kassen erwarten ließ. Der Zahltag hatte eine lange Tradition in dem Viertel hinter den Gleisen, die in der Stadt den Fluss ersetzten. Und dort, im Karree von Bahnhofstraße, Eichweg, Hanseplatz und Scheunenstraße, zahlten die Besitzer von Trinkhallen, Stundenhotels, Wettbüros und Spielsalons ihr Schutzgeld, als wäre das eine Art Brauchtum, denn der Grund für den Schutz war längst in Vergessenheit geraten. Im trüben Licht ihres Feierabends und mit schwerer Zunge erinnerten sich die alten Kellner manchmal noch an jene Zeiten, als zur Abschreckung tote Katzen an die Tür genagelt wurden, widerspenstigen Wirten Flaschen in den Hals und anderswohin geschoben wurden, manchmal auch mit einem Baseballschläger, bis sie wimmernd zur losen Diele zeigten, unter der das Geld versteckt war. Der Legende nach war es ein brauner Transporter, der dieses Unheil brachte, und noch immer gab es Kioskbesitzer oder Hähnchenbrater, die nervös wurden, wenn zufällig ein braunes Fahrzeug hielt, und sei es nur, um eine Cola zu kaufen. Jetzt kurvte stattdessen ein Transporter der Firma Transgenclean durch das Viertel, auf der Rücktour vom Pflegeheim, mit Wäschesäcken auf der Ladefläche und drei Männern im Fahrerhaus, drei Männer, die auf dieser Rücktour ihre weißen Einteiler von Transgenclean abstreiften, um dann in Jeans und T-Shirts zu zweit aus dem laufenden Fahrzeug zu springen. Sie sammelten schmale Briefumschläge ein, deren Inhalt sie nicht nachzählten, denn in dem Viertel galt ein Ehrenwort noch immer mehr als eine Zahlungsaufforderung per E-Mail.
Für gewöhnlich brauchten die drei Männer etwa eine Stunde, um die Couverts einzusammeln, auf einer Route, die für alle zur Routine geworden war. Torsten Dudeck und Holger Wirtz sprangen aus dem Auto, während der füllige Erik Karipke mit laufendem Motor hinter dem Steuer wartete. Das hatte ihr Chef zwar verboten, vor allem wegen der Spritkosten, aber die drei fanden, dass ein laufender Motor schon aus Gründen der Nostalgie zu einem Gangsterleben gehörte. Sie starteten stets in der Bahnhofstraße, denn hier gab es am frühen Abend die meisten Parkplätze für den Transporter.
„Hey Elsi. Alles klar bei euch?“
Holger Wirtz klopfte zur Begrüßung auf den alten, speckigen Tresen, während Torsten Dudeck am Eingang stehen blieb. Die Tour begann am Roten Baum, der Lieblingskneipe des Chefs, der von hier aus das ganze Viertel erobert hatte. Schon damals waren Elsi und vor allem ihr Bier so eine Art Mutterersatz für den Chef, was aber keinen Einfluss auf ihre geschäftliche Beziehung hatte. Elsi schob den Umschlag über den Tisch. Dann noch einen zweiten.
„Der ist von Thai Lin. Die ist gerade mit einem Kunden oben. Der sah aus wie ein Zivilbulle.“
„Danke für den Tipp. Wir sehen uns.“
Holger Wirtz klopfte erneut auf den Tresen, steuerte dann zum Ausgang, vorbei an Dudeck, der sich noch einmal umsah und dann folgte. Vom Roten Baum ging es weiter zum Excelsior, einer verrauchten Spielhalle, in denen die Automaten zu dieser Uhrzeit noch vor sich hin dösten, dann zum Sexy Land, in dem sich tagsüber ältere Männer im Dunkel der Videokabinen befleckten und abends Neugierige aus den Vorstädten verlegen herumstanden. Vom Sexy Land ging es noch einmal treppab in Basti’s-Tattoo-Shop. Diesmal blieb Torsten Dudeck draußen. Gegen das Geländer gelehnt winkte er zum Transporter, der sich nun langsam näherte. Als er anhielt, sprang Dudeck hinein und verdrehte den Rückspiegel.
„Erstes Fenster rechts, bei dem Thai-Mädchen. Da soll ein Zivilbulle sein.“
Erik Karipke wischte mit der Hand über das Lenkrad.
„Machen können wir nichts. Wir haben den falschen Wagen.“
„Wir sollen ja auch gar nichts machen. Ich will den Vogel nur sehen.“
„Ich kann hier nicht ewig stehen. Hier ist Halteverbot.“
Der Chef war geizig und ließ die Jungs die Parkscheine und Strafzettel selbst bezahlen. Dies war in seinen Augen aber vor allem eine erzieherische Maßnahme, damit seine Mitarbeiter so unauffällig wie möglich ihre Runde drehten.
„Die Kleine ist wieder frei.“
Tatsächlich leuchtete ein roter Lampenschirm hinter der Gardine und Torsten Dudeck drehte den Spiegel tiefer, bis er den Eingang vom Roten Baum sehen konnte.
„Diese scheiß Stromsparerei. Man sieht überhaupt nichts.“
Es war tatsächlich schon ziemlich dunkel geworden, aber die meisten Leuchtreklamen hingen noch wie schattige Nester an den Häusern. Holger Wirtz klopfte jetzt gegen das Fenster und Dudeck rutschte in die Mitte. Er hasste es, dort sitzen zu müssen.
„Hat er dir die Eichel tätowiert oder warum hat das so lange gedauert?“
Holger Wirtz schob die Couverts in eine Tasche unter dem Sitz. Er sprach wie immer leise.
„Wie oft soll ich dir das noch sagen. Wir sind ein Service-Unternehmen. Und da gehört die Kommunikation mit dem Kunden dazu. Warum fahren wir eigentlich nicht los?“
„Ich will sehen, wer da bei der Thai-Mieze war.“
„Der Tätowierer sagt, das ist ein Geheimbulle. Kommt jeden Montag. Blümchensex, legt für Streicheln noch einen Zehner drauf. Das ist der Vorteil bei richtigem Service: Die Leute reden mit mir, auch ohne dass ich ihnen die Arme breche.“
Von der Bahnhofstraße fuhren sie jetzt hinüber zum Hanseplatz, hielten kurz vor dem Vierundzwanzig-Stunden-Markt, wo Holger Wirtz eine Cola kaufte, dann ging es weiter zum Netzpoint. Der Inhaber war möglicherweise ein Araber, vielleicht aber auch ein Asiat oder Europäer, so richtig wusste das niemand im Viertel. Hingegen wussten alle, dass die gebrauchten Handys in der Auslage nicht der wirkliche Geschäftszweck des Ladens sein konnten, denn die Modelle wirkten so altertümlich, dass es fraglich schien, ob die klobigen Akkus überhaupt noch ein paar Millivolt Strom bei sich halten würden. Womit der schweigsame Mann hinter der verstaubten Auslage stattdessen seinen Lebensunterhalt bestritt, war also Anlass für zahlreiche Spekulationen und Gerüchte. Der Chef schien jedenfalls einigen Respekt zu haben, denn er hatte das Team angewiesen, einen betont höflichen Umgangston mit dem Inhaber zu pflegen, was auch deswegen eine Herausforderung war, weil der Mann noch nie etwas gesagt hatte.
„Entschuldigung. Wir sind leider etwas aufgehalten worden.“
Holger Wirtz brauchte nur fünf Schritte von der Ladentür zur Verkaufstheke. Der Mann saß wie immer auf einer Art Barhocker hinter einem alten Bildschirm, auf dem für gewöhnlich Programmzeilen flackerten. Das Couvert lag schon auf dem Tisch. Holger Wirtz griff danach.
„Dann wünsche ich noch einen schönen Feierabend.“
„Ich habe gestern Abend einen braunen Transporter gesehen.“
Holger Wirtz drehte sich überrascht um. Der Mann hatte eine fast kindliche Stimme und sah ihn mit einem leichten Lächeln an. „Danke für die Hinweis“, sagte Holger Wirtz und verließ den Laden.
„Wir müssen noch mal in die Drei Goldenen Kugeln“, sagte er, als er zu den beiden anderen in das Auto stieg.
„Und kein Wort zum Chef.“
Inzwischen war es so dunkel geworden, dass auch der geizigste Wirt sein Neon eingeschaltet hatte. Die drei goldenen Kugeln leuchteten über einem Eingang, der links und rechts von zwei Recken aus Gips und Plastik gesäumt war. Die echten Aufpasser warteten jedoch hinter der Tür, bullige junge Männer, aus deren zu kurzen Anzugjacken die Tattoos herauswucherten.
„Wir nehmen den Kundenparkplatz“, sagte Wirtz und der dicke Erik Karipke lenkte den Transporter in eine dunkle Einfahrt. Der Kundenparkplatz war noch nicht sehr voll.
„Umdrehen und warten“, sagte Holger Wirtz zu Karipke, tippte Dudeck dann auf die Schulter und sie gingen zum Hintereingang, vorbei an den Gemüsekisten, bei denen es immer nach Urin stank, weiter an den Boxen für Frischfisch und Pasta, die drei Stufen hinauf bis zur Tür, die in die Küche führte, grußlos vorbei an den Herden und Fritteusen, dann rechts an der Spüle entlang bis zu einer Tür mit der Aufschrift „Geschäftsführung“, die Holger Wirtz ohne anzuklopfen öffnete.
„Was wollt ihr denn schon wieder hier?“
Alex Striese hatte seine Brille in die Stirn geschoben und eine Hand auf einem Stapel Rechnungen, während er mit der anderen auf einem Taschenrechner tippte.
„Wie immer kommt ihr ungelegen.“
Die Drei Goldenen Kugeln gehörten direkt in die Firmengruppe des Chefs, sodass alle hier im Raum auf Augenhöhe miteinander redeten.
„Hast du irgendetwas gehört wegen gestern Abend?“, fragte Holger Wirtz. Alex Striese ließ sich mit der Antwort Zeit. Er blätterte in seinen Unterlagen und tippte weitere Zahlen. Dann sagte er: „Ich weiß ja nicht, was euer Auftrag war, das Geld hat der Typ aber heute nicht vorbeigebracht. Das ist sicher.“
Holger Wirtz sah ihn überrascht an.
„Hast du heute noch keine Nachrichten gehört? Der Typ ist tot. Das läuft auf allen Kanälen.“
Alex Striese grinste.
„Da habt ihr jetzt aber ein Problem oder? Ihr und euer brauner Transporter.“