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Vom Uhrsprung
ОглавлениеEs war einmal ein Land, das weder Jahre noch Sekunden kannte. Dieses Land wurde von einem Königspaar regiert, aber das störte eigentlich niemanden, denn weder der König noch die Königin machten sich Gedanken darüber, wann sie ihren Amtsgeschäften nachgehen oder wann sie Urlaub machen sollten. Wie ihr Volk lebten sie in den Tag hinein, und wenn sie um einen Rat gefragt wurden, antworteten sie nur „Komm nach dem Essen wieder“ oder „Komm, nachdem wir geschlafen haben“.
Allerdings wussten weder das Königspaar noch die Ratsuchenden, wann das nun sein würde. Die Leute fanden dann meistens ihre eigene Lösung, nachdem sie selbst in Ruhe gegessen oder ihre Frage überschlafen hatten.
Und solange niemand klagte, waren alle zufrieden.
Einmal aber – keiner weiß mehr, wann das war – kam irgendjemand auf die Idee, das, was es nicht gab, zu erfinden. Weil es ihn zuerst auch nicht gab, erfand er sich kurzerhand selbst und nannte sich: WISSENSCHAFTLER.
Der Titel gefiel ihm. Stolz stellte er sich vor den Spiegel, und es kam ihm vor, als wäre er ein Stück gewachsen. Zog er nun noch sein Bäuchlein ein und tat er dasselbe mit den Wangen, schien ihm seine ganze Erscheinung zudem kühn und bewundernswert nachdenklich. Dieser Mann würde endlich Ordnung schaffen!
Und er begann sein großes Werk in den eigenen vier Wänden. Irgendwie musste es doch zu überprüfen sein, wie groß das Zimmer war. Einer ersten Eingebung folgend, zog er den Schnürsenkel aus seinem linken Schuh und rutschte auf den Knien immer an der Wand lang.
Neunmal passte der Schnürsenkel an die längere Zimmerwand. Bei der kürzeren blieb ein Rest übrig, nachdem er den Senkel siebenmal angelegt hatte.
Sein Blick fiel auf den Schuh, den er bei der wissenschaftlichen Rutscherei verloren hatte, und einer zweiten Eingebung gehorchend, versuchte er nun, das fehlende Stück in der Ecke mit dem Schuh auszufüllen.
Passt!
Dies alles galt es festzuhalten. In fein säuberlicher Schrift übertrug er die Ergebnisse seiner ersten wissenschaftlichen Untersuchung auf ein Blatt Papier.
Aber was war die beste Wissenschaft ohne die gebührende Anerkennung durch die Repräsentanten der Macht?
Den linken Schuh in der rechten Hand, Schnürsenkel, Stift und Papier in der linken, hüpfte er die Treppen zum Schlosstor hinauf. Den obersten Treppenabsatz zierte ein in großen Lettern eingemeißelter Sinnspruch:
ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH.
„Darauf ließe sich wohl manches entgegnen“, dachte der frischgebackene Wissenschaftler, „aber eins nach dem andern.“
Hätte er erst einmal die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Königspaares, würde er auch hierzu einige Neuerungen vorschlagen. Nur – soweit kam es nicht.
„Komm nachher wieder, jetzt wollen wir beim Spiel nicht gestört werden“, hieß es.
„Wann ist denn nachher?“, wollte der neugierige Wissenschaftler wissen.
„Was soll diese Frage?“, knurrte der König. „Natürlich dann, wenn es uns keinen Spaß mehr macht zu spielen!“
Und damit war die Audienz beendet, und er wurde wie alle anderen zuvor wieder hinauskomplimentiert.
Da stand er nun – mit einem bloßen Fuß und vielen Ideen im Kopf. Aber entmutigen ließ er sich deswegen noch lange nicht. Spürte er doch ganz deutlich, dass er dabei war, etwas Umwerfendes einzuleiten – etwas, das vielleicht sogar seinen Namen tragen würde. Nur musste ihm endlich jemand zuhören, der seine Arbeit auch zu würdigen wusste.
Dem König und der Königin jedoch bereitete das Spielen ein solches Vergnügen, dass ihr Lachen noch am Schlosstor zu hören war. So setzte sich der Mann, der mit seinem Schnürsenkel das Längenmaß erfunden hatte, auf die oberste Stufe der Schlosstreppe und starrte auf die Buchstaben zwischen den Beinen.
In einem dieser Momente, als er da so saß – keiner weiß mehr, wann das war –, folgte er einer dritten Eingebung, die ihn beinah das Leben gekostet hätte.
Nach dem angeregten Spiel war das Königspaar zu einem Spaziergang aufgebrochen. Da sah es den Wissenschaftler mitten auf dem schönen Sinnspruch sitzen. Von dem ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH war nur noch das ZUM FREU und das RUH zu erkennen, und hin und wieder lugte auch noch ein H zwischen den Beinen des Mannes hervor. Es war aber vor allem das ungewöhnliche Gehabe dieses Menschen, was den Blick des Königspaares auf sich zog.
Gerade legte der Mann einen seiner Schuhe rechts von sich auf dem steinernen Treppenabsatz ab, um nun ein schon eng beschriebenes Blatt Papier aufzunehmen und darin etwas einzutragen. Dann legte er das Blatt beiseite, ließ den Schuh links von sich auftippen, dann zwischen den Beinen, dann rechts, nahm das Papier – und das immer wieder von vorne.
Das Königspaar schaute ihm dabei eine Weile zu, bis die Königin wissen wollte: „Was machst du da?“
Um die Antwort war der Mann nicht lang verlegen: „Ich übe den U-H-R-Sprung und messe dabei, wie lange etwas dauert.“ Während er das zum Besten gab, hörte der Wissenschaftler nicht auf, den Schuh vom U des FREU zum H zwischen den Beinen auf das R des RUH zu tippen. Und jeder dieser Vorgänge wurde schriftlich bearbeitet – er war wirklich sehr gewissenhaft. Endlich schien der Wissenschaftler die gewünschte Aufmerksamkeit erreicht zu haben.
„Und wie lange dauert es?“, fragte der König etwas herablassend.
„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete er. „Erst wollte ich messen, wie lange ihr spielt, und dann, wie lange ihr lacht, und nun messe ich gerade, wie lange ihr euch mit mir unterhaltet – aber das dauert und dauert ...“
„Aha“, sagte der König und verstand nichts.
„Hm“, machte die Königin, und dann gingen die beiden spazieren.
Der Wissenschaftler jedoch begann sofort, nun auch die Dauer des königlichen Spaziergangs zu erfassen.
Das Blatt wies nur noch wenig Weißes auf, als dem Wissenschaftler der Magen knurrte, da er wohl beim Messen reden, nicht aber messen und gleichzeitig zu essen vermochte. Gerade dachte der gewissenhafte Wissenschaftler daran, wie schön es wäre, Durst und Hunger in der Schenke zu stillen, da wurde er schon wieder angesprochen.
„Was machst du da?“, hörte er erneut die Frage des Königspaars neben sich. Aber diesmal kam sie aus dem Munde einer strahlenden Fee. Der verdutzte Wissenschaftler antwortete, wie er dem Königspaar geantwortet hatte, ohne dabei auch nur für einen Augenblick seine Messungen zu unterbrechen.
„Das muss ein schlimmer Zauber sein“, meinte die Fee. „Ich will dich davon erlösen, denn ich bin eine gute Fee.“
Und gerade als der Wissenschaftler wieder das Papier zur Hand nehmen wollte, spürte er einen warmen Kuss auf seinem Mund.
Mit immer noch leeren Händen den Nachgeschmack des Kusses genießend, fragte er sich, was er jetzt weiter tun sollte. Das fragte er auch die Fee. Da küsste sie ihn ein zweites Mal, leckte sich danach mit der Zunge über die Lippen und forderte ihn auf: „Komm doch mit, dann können wir uns noch öfter küssen.“
Endlich überzeugt stand der Wissenschaftler von den kalten Stufen auf und verschwand Hand in Hand mit der Fee in ihr Feenreich.
Als das Königspaar in der Dämmerung von seinem Spaziergang zurückkam, war der Mann mit dem merkwürdigen Gehabe nicht mehr zu sehen. Nur seine Utensilien lagen noch auf dem Treppenabsatz. Der König bückte sich und hob sie auf. Im Schuh entdeckte er ein gefaltetes Stück Papier. Das gab er seiner Frau, damit sie es ihm vorlese.
„Neun Schnürsenkel lang, sieben Schnürsenkel und einen Schuh breit. Was kleiner als ein Schnürsenkel ist, ist so lang wie ein Schuh.
Der U-H-R-Sprung der Zeit, kurz Uhrsprung genannt, wird gemessen wie folgt: 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, ... – lieber Gemahl, hier sind lauter Einsen. Soll ich sie dir alle vorlesen?“
„Nein, lieber nicht. Ich habe Hunger. Lass uns zu Tisch gehen, Liebste.“
So sprach der König und zog dabei den Schnürsenkel durch die Löcher im Schuh. Vielleicht könnte ihn ja irgendwer noch einmal gebrauchen. Die Königin hakte sich alsdann beim König ein und steckte den ersten wissenschaftlichen Forschungsbericht des Landes in ihre Rocktasche – wo er schnell vergessen war und dieses Land deshalb von der Zeitmessung unberührt blieb.
Nur wann das alles war, das weiß keiner mehr.