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1. EINLEITUNG: GOTTFRIED KELLER UND SELDWYLA Ein wonniger und sonniger Ort

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In Gottfried Kellers Werken tummeln sich viele plastisch geschilderte und mitunter recht skurrile Figuren, die sich dem Gedächtnis des Lesers tief einprägen, zum Beispiel der grüne Heinrich, Hauptfigur und Titelheld seines ersten Romans, der notorische Schmoller Pankraz, die drei ‚gerechten Kammmacher‘ und ihre Angebetete mit dem wundervollen Namen Züs Bünzlin, der kluge Kater Spiegel oder jener Wenzel Strapinski, dessen Schicksal so eindrucksvoll demonstriert, wie Kleider Leute machen können. Kellers populärste Erfindung ist aber keine einzelne Gestalt, sondern eine ganze Stadt, der er den Namen Seldwyla gab und die „irgendwo in der Schweiz“ liegen soll (4, S. 7).1 Hier sind Pankraz und Spiegel zuhause, hier pflegen die drei Kammmacher ihre fragwürdige Gerechtigkeit, und von hier bricht Strapinski zu seiner Wanderung ins benachbarte Goldach auf, wo man den braven Schneidergesellen wegen seiner vornehmen Aufmachung für einen Grafen hält. Das Licht der Welt erblickte Kellers fiktive Schweizerstadt 1856, als er unter dem Sammeltitel Die Leute von Seldwyla eine Reihe von fünf Erzählungen veröffentlichte, der achtzehn Jahre später ein zweiter Teil von gleichem Umfang folgen sollte. Die kurze Einleitung, die den ersten Band eröffnet, macht die Leserschaft mit dem Schauplatz der Geschichten und seinen Eigenarten bekannt.

Ein kurioses Städtchen ist dieses Seldwyla, und der Erzähler der Vorrede – offensichtlich kein Einheimischer! – betrachtet seinen Gegenstand auch mit gehöriger Skepsis und einer gewissen spöttischen Herablassung. Die „Gründer der Stadt“, so verkündet er gleich anfangs, hätten „dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden sollte“ (S. 7). Tatsächlich sind die Seldwyler allesamt ausgemachte Taugenichtse, denn von redlicher Mühe und saurem Fleiß halten sie herzlich wenig. Das Sagen haben unter ihnen die „jungen Leute von etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig Jahren“, die „die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen“, sich aber bloß durch ihre Virtuosität in der „Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres“ auszeichnen und am liebsten „fremde Leute für sich arbeiten“ lassen (S. 8). Nur wer dieser „Aristokratie der Jugend“ entwachsen ist und daher keinen Kredit mehr genießt, muss ernstlich für sich selber sorgen, indem er entweder auswärts sein Glück sucht oder durch irgendeine „krabbelige Arbeit“ wenigstens das Lebensnotwendige herbeischafft (S. 8f.). Reichtümer gibt es bei den Seldwylern begreiflicherweise nicht, und niemand kann so recht sagen, „wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich leben“ (S. 7).

Gerne und ausgiebig befassen sie sich mit politischen Fragen – immerhin ist die Schweiz eine Republik, die ihren Bürgern umfassende Mitbestimmungsrechte gewährt. Wirklich ernst nehmen kann man allerdings auch die „große politische Beweglichkeit“ der Seldwyler nicht, denn im Grunde haben sie lediglich ihre Freude am Lärm des Parteiengezänks und stehen deshalb „stets den Tag darauf, nachdem eine Regierung gewählt ist, in der Opposition gegen dieselbe“ (S. 9f.). Nehmen ihr Geschrei und ihre Unruhe einmal überhand, „so schickt ihnen die Regierung gewöhnlich als Beruhigungsmittel eine Untersuchungskommission auf den Hals, welche die Verwaltung des Seldwyler Gemeindeguts regulieren soll“; dann sind sie bis auf weiteres mit sich selbst beschäftigt und auf heilsame Weise abgelenkt. Das einzige Rauschmittel der Seldwyler, das die Politik an Wirksamkeit noch übertrifft, ist der „junge Wein“, den sie allherbstlich in großen Mengen konsumieren (S. 11). In dieser Zeit kann man mit ihnen, wie der Erzähler versichert, überhaupt nichts Vernünftiges mehr anfangen.

Als prototypischer Ort der Narren reiht sich Kellers „lustige und seltsame Stadt“ (S. 12), Seite an Seite mit dem griechischen Abdera oder dem deutschen Schilda, in eine lange literarische und volkstümliche Tradition ein. Doch die satirisch gezeichnete ‚verkehrte Welt‘ Seldwylas lässt sich noch genauer bestimmen, nämlich als eine Sphäre des Unbürgerlichen, ja des Anti-Bürgerlichen schlechthin. Die Vorrede zum ersten Band der Leute von Seldwyla entwirft ein Panorama der bürgerlichen Werte und Normen, wie sie sich aus Kellers schweizerisch gefärbter Sicht darbieten, aber sie tut es auf indirekte Weise, in der Negation, im Gegenbild: Ein rechter Bürger müsste just das sein, was der typische Seldwyler nicht ist. Disziplin, Tüchtigkeit und Erwerbsfleiß bildeten die Elemente, die im 19. Jahrhundert und noch weit darüber hinaus das Selbstverständnis bürgerlicher Sozialgruppen ausmachten. In einem solchen Ethos wurzelt das bekannte Sprichwort, nach dem „Müßiggang aller Laster Anfang ist“ und das auch der Erzähler von Kellers Vorrede im Munde führt (S. 12). So erklärt sich die kritisch-ironische Einstellung dieses Erzählers zu der seldwylischen Nichtsnutzigkeit: Er selbst steht in weltanschaulicher Hinsicht ganz auf dem Boden der anständigen bürgerlichen Normalität. Im Geschäftsleben von Seldwyla grassieren dagegen Schwindel und falscher Schein. Hier wird nichts produziert, nichts erworben und nichts gespart, hier werden keine soliden Existenzen und keine gesicherten Verhältnisse begründet. Nur wer der Stadt den Rücken kehrt oder sich zumindest innerlich von ihren Gepflogenheiten distanziert, hat eine Chance, diesem Sumpf zu entrinnen. In fremden Kriegsdiensten lernt so mancher Seldwyler in vorgerückten Jahren, sich „steif aufrecht zu halten“ (S. 8), und gewinnt damit doch noch jene innere Festigkeit, die den idealen bürgerlichen Sozialcharakter auszeichnet. Dem Schmoller Pankraz gelingt das zum Beispiel, auch wenn er dafür bis nach Indien und Afrika reisen muss, und Fritz Amrain, der Protagonist einer anderen Geschichte, bleibt dank einer erzieherischen Meisterleistung seiner Mutter Regula ebenfalls zeitlebens „vor dem Untergang gesichert“ (S. 214), mit dem ihn der Schlendrian Seldwylas bedroht.

Dass Keller der politischen Verantwortung einen wichtigen Platz im System der bürgerlichen Werte einräumt, verweist auf die besondere historische Entwicklung und die republikanische Verfassung der Schweiz. Unter einem mustergültigen Bürger versteht er eben nicht nur den Bourgeois als ein auf den eigenen Vorteil bedachtes Wirtschaftssubjekt, sondern auch den Citoyen, den mündigen Staatsbürger, der das Wohl des Gemeinwesens im Auge hat. Die Seldwyler betrachten die Politik aber, wie alles andere auch, als ein bloßes Spiel, mit dem sie sich amüsieren, wenn sie in der rechten Stimmung sind. Haben sie einmal keine Lust dazu, so „stellen sie sich übermüdet und blasiert in öffentlichen Dingen und lassen ein halbes Dutzend alte Stillständer, die vor dreißig Jahren falliert und sich seither stillschweigend rehabilitiert haben, die Wahlen besorgen“ (S. 10) – in der Schweiz zu Kellers Zeiten ein Skandal, denn wer ‚fallierte‘, also in Konkurs ging und seine wirtschaftliche Selbständigkeit einbüßte, verlor damit automatisch auch die politischen Mitwirkungsrechte. Dass ein solcher Mann nach dem Gesetz „bürgerlich tot sei“ (S. 208), muss der aufgeweckte Fritz Amrain seinen verdutzten Mitbürgern in einer Wahlversammlung erst einmal klar machen! Staatsbürgerliches Wirken und produktive Berufstätigkeit sind in Kellers Augen nicht voneinander zu trennen. Auf dem Feld der Politik wie auf dem der Ökonomie soll das bürgerliche Individuum verantwortungsbewusst und autonom agieren.

Auch die Lebenslaufkurve eines durchschnittlichen Seldwylers weicht auf bezeichnende Weise von der bürgerlichen Norm ab. Wenn er mit Mitte dreißig aus dem Kreis der bevorrechtigten Jugend und dem „Paradies des Credites“ verstoßen wird und somit „fertig“ ist, befindet er sich gerade in einem Alter, in dem „die Männer anderer Städtlein etwa anfangen, erst recht in sich zu gehen und zu erstarken“ (S. 8). Statt jetzt, vollständig sozialisiert, durch einige Erfahrung gereift und beruflich wie familiär fest etabliert, auf den Höhepunkt seines Daseins zuzusteuern, gleitet er aus der überlangen Jugend direkt in ein armseliges Alter hinüber, während die glänzende Lebensmitte mit den besten Jahren eines gestandenen Mannes gänzlich verloren geht. Dass hier, wie in der gesamten Vorrede, ausschließlich von Männern gesprochen wird, kann übrigens nicht verwundern, denn das Ideal eines Bürgers, das Keller seinen Lesern über das Kontrastbild der Seldwyler Narren indirekt vorhält, ist zunächst einmal das Ideal eines vorbildlichen Mannes. Über die Geschlechterrollen in der bürgerlichen Welt und speziell bei Keller wird später noch ausführlich zu reden sein.

Deuten sich die Konturen wahrer Bürgerlichkeit in der Schilderung Seldwylas nur mittelbar an, so findet man in Kellers Erzählwerk anderswo auch unverzerrte, positive Entwürfe dieser Leitvorstellung. Ein echter Musterbürger scheint der frühverstorbene Vater des grünen Heinrich gewesen zu sein, sofern der schwärmerisch gefärbte Rückblick des Sohnes halbwegs Glauben verdient.2 Vater Lee stammt aus bäuerlichen Verhältnissen, erlernt aber auf eigene Initiative ein Handwerk und arbeitet sich mit Enthusiasmus und zäher Energie nach oben, bis er sich als rühriger Steinmetz und Baumeister in der Stadt niederlassen kann. Dabei ist er keineswegs aufs Geldverdienen fixiert, sondern trachtet bei seinen Bauten stets danach, „das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden“ (11, S. 74), und widmet sich überdies allerlei gesellschaftlichen und kulturellen Aufgaben, die jenseits seines eigentlichen Berufs liegen. Gemeinsam mit einigen Handwerksgenossen stiftet er wohltätige Vereine und Schulen, um eine aufgeklärte Volkserziehung zu fördern, und bemüht sich auch selbst mit großem Eifer um eine höhere Bildung. Keller zeichnet hier eine bürgerliche Existenz, die Schöpferkraft, praktische Bewährung, noble ideelle Ziele und öffentliche Verantwortung miteinander verknüpft, ohne auch nur einen Hauch von philiströser Spießigkeit aufzuweisen: „Arbeit und Fleiß, Streben nach Selbstentwicklung und Bildung, nach materiellem Besitz, Sicherheit, Stetigkeit, Neigung zu Vernunft, Mäßigkeit und Ausgleich, Gleichgewicht von eigenen und Gemeinschaftsinteressen, das heißt auch von Individualismus und Einordnung“3, machen zusammen eine absolut un-seldwylische Lebensform aus. Dass der durch pure Überanstrengung bedingte frühe Tod von Heinrichs Vater „in einem Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erst beginnen“ (S. 79), gleichwohl einen tiefen Schatten auf diese leuchtende Vorbildfigur wirft, sei vorerst nur am Rande erwähnt.

Es gibt bei Keller sogar ganze Ortschaften, die im schroffen Gegensatz zum liederlichen Seldwyla wie Manifestationen vollendeter Bürgerlichkeit anmuten. So fährt der grüne Heinrich auf seinem Weg nach Deutschland „durch ein großes ansehnliches Dorf, wie sie in der flachern Schweiz häufig sind, wo Fleiß und Betriebsamkeit, im Lichte fröhlicher Aufklärung und unter oder vielmehr auf den Flügeln der Freiheit, aus dem schönen Lande nur Eine freie und offene Stadt erbauen“ (S. 33). Sauber und reinlich stehen die Häuser da, umgeben von Gärten, die in wohlgepflegtem Blumenschmuck strahlen. „Hell und aufgeweckt erschien das Dorf“ (S. 34), dem sein Wohlstand und die vielen Gewerbe schon einen halb urbanen Charakter verleihen. Das „schönste Gebäude“ ist das Schulhaus, dessen Äußeres an einen Tempel erinnert und das den Mittelpunkt der Siedlung bildet, wo sich die Bewohner zu Gesprächen treffen wie früher wohl unter den „alten Dorflinden“. Man tauscht aber nicht bloß Klatsch und Tratsch aus:

[E]ine Gruppe älterer und jüngerer Männer unterhielt sich hier behaglich, sie schienen zu politisiren; aber ihre Unterredung war um so ruhiger, bewußter und ernster, als sie vielleicht, dieselbe bethätigend, noch am gleichen Tage einer wichtigen öffentlichen Pflichterfüllung beizuwohnen hatten. Die Physiognomien dieser Männer waren durchaus nicht national über Einen Leisten geschlagen, auch war da nichts Pittoreskes, weder in Tracht, noch in Haar- und Bartwuchs zu bemerken; es herrschte jene Verschiedenheit und Individualität, wie sie durch die unbeschränkte persönliche Freiheit erzeugt wird, jene Freiheit, welche bei einer unerschütterlichen Strenge der Gesetze Jedem sein Schicksal läßt und ihn zum Schmied seines eigenen Glückes macht. (S. 35)

Gestört wird der Hymnus auf Wohlstand, bürgerliche Freiheit und staatsbürgerliche Verantwortung lediglich durch die Beschreibung der Kirche, die als düsterer Fremdkörper wie ein „unnützes sonderbares Möbel“ das schöne Ensemble der Bauten durchbricht (S. 36). Tatsächlich war Keller auf Religion und Kirche nicht gut zu sprechen – dem weltanschaulichen Hintergrund dieser Feindseligkeit wird das nächste Kapitel nachgehen.

Ist Seldwyla also nur eine Negativfolie, die der Dichter schuf, um vor ihrem trüben Hintergrund seine Wunschbilder einer makellosen bürgerlichen Welt umso glänzender in Szene setzen zu können? Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Der Erzähler der Vorrede räumt ein, dass die Seldwyler zumindest eine Kunst vortrefflich beherrschen, nämlich die Kunst, vergnügt zu sein und das Dasein in vollen Zügen zu genießen. „Und sie leben sehr lustig und guter Dinge“, liest man gleich im ersten Absatz (4, S. 7f.), und bald darauf: „Aber immer sind sie im ganzen zufrieden und munter“ (S. 9). Klingt in den kritischen Worten des Sprechers nicht sogar ein heimlicher Neid auf diese unbeschwerte Existenz an, die sich mit jeder Verantwortung auch aller Sorgen entledigt? „Alles dies macht ihnen großen Spaß“, heißt es über die lärmenden politischen Aktivitäten der Seldwyler und ihre regelmäßigen herbstlichen Zechgelage (S. 11). „Spaß“ ist ein sehr unbürgerliches Wort, denkbar fern von Solidität und Seriosität, vom Ernst der Pflichten, die ein erwachsener Mann im Beruf, in der Familie und in der Öffentlichkeit zu übernehmen hat. Aber die Lebenskunst der Bewohner von Seldwyla besteht im Grunde eben darin, dass sie das Erwachsenwerden verweigern und ewig Kinder bleiben, denen die Angelegenheiten des Erwerbs und der Politik bloß einen willkommenen Stoff für spielerische Vergnügungen liefern. Der Habitus des vorbildlichen Bürgers, der sich allzeit „steif aufrecht zu halten“ hat (S. 8), wenn er seinem rigiden Arbeits- und Pflichtethos genügen will, setzt ein beträchtliches Maß an Selbstzwang und Versagung voraus, einen Verzicht auf die Befriedigung vieler Sehnsüchte und affektiver Bedürfnisse. Die Seldwyler dagegen fühlen sich allezeit „zufrieden und munter“, weil sie gar nicht daran denken, sich solch unbequemen Einschränkungen zu unterwerfen.

Und weil seine Bewohner so sind, wie sie sind, ändert sich in Seldwyla auch nie etwas. Die Stadt „steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen, wie vor dreihundert Jahren, und ist also immer das gleiche Nest“ (S. 7), schreibt Keller, der als Jugendlicher miterlebt hatte, wie die Befestigungsanlagen seiner Heimatstadt Zürich niedergerissen wurden: In ganz handgreiflicher Weise fiel damit die starre Enge einer noch stark mittelalterlich geprägten Welt der entfesselten modernen Dynamik von Gesellschaft, Technik und Verkehr zum Opfer. Seldwyla dagegen behält seine uralten Mauern, und sie sind nicht der einzige Gürtel, der sich um das Städtchen legt, denn „rings um die alte Stadtmauer“ gedeiht jener Wein, dem die Seldwyler so eifrig zusprechen, und die ganze Siedlung liegt wiederum „mitten in grünen Bergen“ (S. 7). So korrespondiert dem „unveränderliche[n] Kreislauf der Dinge“ zu Seldwyla (S. 9) auch auf der räumlichen Ebene die Form des Kreises: Hier scheint alles, dem historischen Wandel entrückt, abgeschlossen in sich zu ruhen. Nach den Maßstäben eines zukunftsfrohen Fortschrittsdenkens mutet ein derartiger Zustand gewiss provinziell und rückständig an, doch bei der Lektüre der Vorrede drängen sich andere, freundlichere Assoziationen auf. Nicht nur die Merkmale der Zeitlosigkeit und der Abgeschlossenheit verleihen Seldwyla Züge einer Idylle, ja eines förmlichen Paradieses. Auffallend begünstigt ist schon seine geographische Lage, da die erwähnten „grünen Berge […] nach der Mittagsseite zu offen sind, so daß wohl die Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen.“ In einer schier unerschöpflich fruchtbaren Natur, nämlich in den „unabsehbare[n] Waldungen“, die die Berghänge ringsumher bedecken (S. 7), besteht überdies das einzige wirkliche „Vermögen“ der Stadt, das den Einwohnern ihre ungewöhnliche Lebensweise überhaupt erst ermöglicht: „Holz haben alle Bürger die Fülle und die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Teil, woraus die große Armut unterstützt und genährt wird“ (S. 9).

Zu guter Letzt verdient auch der von Keller erfundene Name seines (vermeintlichen) Narrenstädtchens einige Aufmerksamkeit. „Seldwyla“, so wird der Leser der Vorrede gleich eingangs belehrt, „bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort“ (S. 7). Obwohl das schon aussagekräftig genug wäre, muss man noch ein wenig tiefer bohren, denn etymologisch kann diese Erklärung nicht ganz befriedigen. „Wyl“ entspricht dem neuhochdeutschen „Weiler“, bezeichnet also ein kleines Dorf. Der erste Bestandteil des Namens geht aber auf das mittelhochdeutsche „sælde“ zurück, das so viel wie Glück oder Seligkeit bedeutet.4 Seldwyla ist demnach, wörtlich genommen, ein Ort des Heils, eine Insel der Seligen, womit sich erneut bestätigt, dass Keller die abfälligen Urteile, die er seinem Erzähler in den Mund legt, zugleich auf subtile Weise unterläuft und ein ausgesprochen ambivalentes Bild von der gegenbürgerlichen Existenz der Seldwyler zeichnet. Wer mit kindlichem Gemüt ohne jede Rücksicht auf Fortschritt, materiellen Wohlstand, angestrengten Fleiß und Tüchtigkeit munter in den Tag hinein lebt, kann sich wie im Elysium fühlen. Seldwyla ist nicht nur ein negativer Kontrastentwurf zum bürgerlichen Dasein, sondern auch ein geheimes Sehnsuchtsziel all jener, die tagtäglich den Zwängen dieses Daseins ausgeliefert sind.

Georg Lukács hat behauptet, „die Erziehung eines Menschen zum Staatsbürger“ sei das eigentliche Thema sämtlicher Erzähltexte Kellers.5 Das ist stark überspitzt, trifft aber doch etwas Wesentliches, denn das Werk des Schweizers zeugt in der Tat von einem lebenslangen regen Interesse an den Voraussetzungen und Grundlagen einer gelingenden bürgerlichen Existenz – und, wie sich in der Seldwyla-Vorrede bereits versteckt andeutet, auch an manchen Schattenseiten der bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen. Wenn man die Ursprünge dieses Interesses verstehen will, tut man gut daran, sich zunächst Kellers persönlichen Werdegang zu vergegenwärtigen. Deshalb soll hier eine knappe biographische Skizze folgen, die dem Leser zugleich als grober chronologischer Rahmen die Orientierung in den späteren Kapiteln erleichtern mag.6

Gottfried Keller

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